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Beziehung und Beziehungsfähigkeit: Unterschied zwischen den Versionen
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== WAHRHEIT ALS WIRKLICHKEIT IN DER BEZIEHUNG == | |||
''Wie wirkt sich der Umgang mit Wahrheit bzw. Unwahrheit in Beziehungen aus?'' | |||
Die Qualität jeder menschlichen Beziehung ist von der Pflege der drei Kernideale für die menschliche Entwicklung – Wahrheit, Liebe, Freiheit – abhängig. Dabei kommt der Wahrheitsfrage eine besondere Stellung zu, denn mit ihr hängt auch die Gesundheit jeder Beziehung zusammen. Das Ringen um Wahrheit ist immer auch ein Ringen um geistige und soziale Gesundheit. | |||
Bei der Frage nach der Wahrheit ist es entscheidend, welchen Bezug zur Wirklichkeit wir haben und was wir mit Hilfe des als wahr Erkannten schaffen bzw. verwirklichen wollen. Der Bezug zur Wirklichkeit erstreckt sich jedoch nicht nur auf Tatsachen der Sinneswelt. | |||
=== ''Die Wahrheit über Christkind und Osterhase'' === | |||
''Wie verhält es sich mit Begriffen wie „Christkind“ und „Osterhase“?'' | |||
''Lügen wir die Kinder damit an, um ihnen die Spannung und Freude am Fest zu erhöhen?'' | |||
Oder anders gefragt: '' '' | |||
''Welcher Realität entsprechen das „Christkind“ und der „Osterhase“?'' | |||
Wer Kindern vom Christkind oder vom Osterhasen erzählt und dabei so tut, als wären sie Realität, selbst aber mit dieser Vorstellung nichts „Wirkliches“ verbindet, macht den Kindern etwas vor. Wer jedoch das Beschenkt-Werden seitens der Natur, die uns die Möglichkeit zur Entwicklung gibt, in das Bild des Hasen kleidet, der Ostereier bringt, als Symbol des Werdens und der Entwicklung, versucht mit diesem Wahrbild seinen Kindern eine Wahrheit zu vermitteln: Ostern ist, wenn wir es ernsthaft feiern, für uns Erwachsene ein Erlebnis von Tod und Auferstehung, von Wandlung durch Entwicklung. | |||
Der Erwachsene kann den Kraftzuwachs empfinden, der durch die Nähe und Anwesenheit des Auferstandenen gegeben ist. Das können Kinder nicht direkt erleben. Was es jedoch bedeutet, von einer neuen Kraft beseelt und gestärkt zu werden, können sie dadurch mitempfinden, dass sie bei diesem Fest wohlschmeckende Süßigkeiten bzw. Ostereier suchen dürfen. Sie erleben am sinnlichen Genuss und am physischen Wohlgefühl Stärkung, Freude und Kraft und werden still, wenn sie die andächtige Stimmung der Erwachsenen miterleben. So erfahren sie auf ihre Art mehr äußerlich – was der Erwachsene durch innere Arbeit auf seelisch-geistiger Ebene erfahren kann. | |||
=== ''Geistige Realitäten für Kinder versinnlichen'' === | |||
Je kleiner Kinder sind, umso mehr erleben sie noch alles über die Sinne und den Leib. Das vom Körper sich zunehmend emanzipierende Seelen- und Geistesleben ist noch nicht voll entwickelt. Daher ist es richtig, geistige Realitäten für die Kinder zu „versinnlichen“ und physisch-körperlich erlebbar zu machen. Die Erwachsenen dürfen jedoch die geistige Wirklichkeit, die in und hinter diesen physischen Realitäten lebt, nicht vernachlässigen, sonst wird das Feiern des Festes zu etwas Unwahrem und damit hohl und oberflächlich. | |||
Wenn die Kinder eines Tages entdecken, dass sich hinter dem Osterhasen oder dem Weihnachtsmann die Eltern verborgen haben, ist es wichtig, diese Entdeckung wahrheitsgemäß zu kommentieren. Sind die Kinder noch im Vorschulalter oder ersten Schulalter und haben es nur von anderen gehört, und man spürt, wie die Hoffnung in ihnen lebt, doch noch einmal bestätigt zu bekommen, dass es den Osterhasen wirklich gibt, kann man ruhig sagen: ''„Weißt du, bei uns kommt er eben noch, weil wir so fest an ihn glauben und uns auf ihn freuen.“'' Ist ein Kind in seinen eigenen Überlegungen schon so weit gekommen, dass es die „Wahrheit“ von den Eltern wissen möchte und damit auch vorbereitet ist, sie zu verarbeiten, kann man dem Kind in einem besonders schönen Gespräch erklären, dass geistige Realitäten und Werte Menschen als Vermittler brauchen, um in der Welt wirksam sein zu können. | |||
=== ''Wahrheit als Verhältnis zur Wirklichkeit begriffen'' === | |||
Dieses Beispiel kann deutlich machen, dass Wahrheit in diesem Zusammenhang nicht nur etwas absolut „Richtiges“, „So-Seiendes“, „Gegebenes“ ist, sondern unser jeweiliges Verhältnis zur Wirklichkeit zum Ausdruck bringt. Wir lernen, „in der Wahrheit“ zu leben, wenn wir uns unausgesetzt bemühen, die Welt der Erscheinungen, der Sinneswelt, zu der Welt unserer Vorstellungen und Gedanken in ein den Tatsachen entsprechendes Verhältnis zu setzen. Dadurch arbeiten wir selbst mit an der Wahrheit der Welt.[1] Ohne diese Mitarbeit des Menschen bliebe sie unvollständig. Wer sich auf Wahrheiten beruft, ohne sie zu „erleben“ und ihre Verwirklichung zu erstreben, ist – so gesehen – bereits auf dem Weg zu lügen, so paradox das auch klingen mag. | |||
Persönliche Verantwortung gegenüber dem, was man denkt und für wahr hält, wird meist erst im Alter von sechzehn, siebzehn Jahren erlebt. Besonders schön und prägnant hat dies ''Jacques Lusseyran'' in seiner Autobiographie beschrieben. Er fasste mit seinem Freund, beide 16jährig, eines Tages den Entschluss: „''Wir hatten geschworen, uns die Wahrheit zu sagen, die reine Wahrheit, und wenn wir das nicht können, zu schweigen.“''[2] Dann beschreibt ''Lusseyran'', wie er mit seinem Freund oft stundenlang in Paris spazieren ging – und beide schwiegen. Hin und wieder blickten sie sich mit einem wissenden Lächeln an, um dann wieder wegzuschauen. Keiner von beiden wagte es, unmittelbar etwas zu sagen, obwohl sie sonst stundenlang diskutierten. Das Schweigen machte ihnen bewusst, wie wenig sie genau genommen wirklich wussten. Während sie äußerlich schwiegen, arbeitete es im Inneren „auf Hochtouren“. Die Frage nach der Wahrheit verband sie und bewirkte eine beglückende Vertiefung ihrer Freundschaft. | |||
Diese Begebenheit kann deutlich machen, in welchem Maß Wahrheit und Lüge die menschlichen Beziehungen mitgestalten. Sie sind nicht nur Qualitäten für sich, sie sind darüber hinaus ein wesentlicher Teil dessen, was Menschen verbindet oder trennt. Sie sind Realitäten, die zwischen Menschen Mauern aufrichten und auch wieder einreißen, die verletzen und heilen können. Es gibt wohl kaum etwas in einer menschlichen Beziehung, was sich als trennender und schmerzhafter erweist als der Eindruck, dass der andere nicht aufrichtig zu einem ist. | |||
So drückt das Vorhaben von ''Jacques Lusseyran'' und seinem Freund, sich nur noch die Wahrheit zu sagen, gleichzeitig den Wunsch aus, eine ganz ehrliche, reine Beziehung von Ich zu Ich zu pflegen und in die zwischenmenschliche Begegnung nichts Fremdes mehr hereinzulassen. Wer sich der Wahrheit verpflichtet, wird in seinem ganzen Verhalten „wesentlicher“. | |||
=== ''Wahrheit und eigenes Wesen'' === | |||
''Was bedeutet letztlich das Ringen um Wahrheit?'' | |||
In dem Augenblick, in dem wir an uns selbst die Wahrheitsfrage stellen, beginnt ein energisches inneres Fragen, Suchen, Prüfen und Abwägen. Wer also beim Grüßen „guten Morgen“ sagt, müsste in sich in diesem Moment auch den Bezug zur Realität eines „guten Morgens“ herstellen und etwas von dessen Reinheit, Frische und Kraft empfinden. Dadurch, dass wir uns bemühen, die Wahrheit zu denken und zu sagen, rufen wir unsere Seele zu höchster Geistesgegenwart auf, zur Anwesenheit unseres Ich. Denn ohne die geistesgegenwärtige Anwesenheit des Ich kann beim Denken und Sprechen nicht der innere Bezug zu dem, worüber gedacht und gesprochen wird, hergestellt werden. | |||
Auf diesen Bezug zur Wirklichkeit, zur Realität des Gedachten und Gesagten, kommt es jedoch bei der Wahrheitsfrage ganz entschieden an: Wahrheit stellt Beziehung her, ist Begegnung, Innewerden, Verbunden-Sein. Und so verbindet sie auch Menschen miteinander und ermöglicht spirituelle Kommunion. Unwahrheit hingegen trennt und lässt einen Abgrund zwischen den Menschen – aber auch gegenüber der geistigen Welt – entstehen. | |||
Solche Einsichten helfen, ganz neue Maßstäbe für die Pflege menschlicher Beziehungen anzulegen, lassen aber auch erkennen, dass das eigene Wesen seiner Natur nach „wahr“ ist. | |||
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 4. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997'' | |||
----[1] Vgl. Rudolf Steiner, ''Wahrheit und Wissenschaft.'' GA 3. | |||
[2] Jacques Lusseyran, ''Das wiedergefundene Licht,'' Stuttgart 1966. | |||
== BEZIEHUNGSFÄHIGKEIT ENTWICKELN == | |||
''Wie kann die Beziehungs- und Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen bewusst gepflegt und gestärkt werden?'' | |||
Es liegt im Wesen des menschlichen Ich, dass es zu allem in der Welt – auch zu sich selbst – Beziehung aufnehmen kann. Sein Bewusstsein und seine Kraft werden so groß oder so klein sein, wie reich oder arm ein Mensch an Beziehung zu seiner Mitwelt ist. Ohne Beziehung und ohne Interesse an der Welt, wie das bei schweren Depressionen der Fall ist, verstummt und erstarrt der Mensch in sich und wird sich selbst fremd. | |||
=== ''Dankbarkeit für die Beziehungen im Laufe des Lebens entwickeln'' === | |||
Um sich der Vielfältigkeit seiner Beziehungen bewusst zu werden, kann jeder in seine eigene Biographie zurückschauen und sich fragen: | |||
''Mit wem stehe ich in Beziehung?'' | |||
''Womit habe ich mich im Laufe meines Lebens verbunden?'' | |||
''Wie bin ich damit umgegangen?'' | |||
Bei einem solchen Rückblick ist es hilfreich, eine Anregung Rudolf Steiners aufzugreifen und sich zusätzlich zu fragen: | |||
''Was habe ich durch all die Menschen, mit denen ich bislang zu tun hatte, gelernt?'' | |||
''Was verdanke ich ihnen im Hinblick auf meine Entwicklung?'' | |||
Wer das noch nie getan hat und nun damit anfängt, dem wird auffallen, wie wenig Dankbarkeit er bisher der eigenen Biographie gegenüber empfunden hat: Dass man Beziehungen zu Menschen hatte, über die man bisher nur negativ dachte, weil man sie einfach nicht leiden konnte oder weil sie einem geschadet oder Schwierigkeiten in den Weg gelegt hatten. Jetzt hat man Gelegenheit, solche Konstellationen nochmals anzuschauen und sich zu fragen: | |||
''Was habe ich gerade durch diese Antipathie oder durch jene Schwierigkeit lernen können?'' | |||
Und plötzlich bemerkt man, dass man gerade durch schmerzliche Beziehungen wachgerüttelt und für vieles sensibilisiert wurde, und sei es nur, dass man sich vornahm, selbst nie wie ein bestimmter Mensch zu handeln. Auch das ist etwas ungemein Wesentliches für die eigene Biographie. | |||
''Und wie steht es mit den erfreulichen Beziehungen?'' | |||
Auch hier kann im Rückblick noch deutlicher werden, was man durch diese Menschen erfahren und bekommen hat und was man vielleicht als viel zu selbstverständlich genommen hat. Möglicherweise erlebt man, dass die schönen Erlebnisse weniger Einsichten mit sich brachten, dafür aber umso mehr Freude und Kraft zum Leben schenkten. | |||
=== ''Schicksalsbeziehungen als zu sich gehörig würdigen'' === | |||
Ein solcher Blick in die Vergangenheit macht einen wach für das Beziehungsgefüge, das sich im Laufe des Lebens aufgebaut hat. Man bemerkt, wie wohltuend es ist, wenn man keine Ereignisse, keine Lebensbereiche, keine Menschen mehr aus der eigenen Biographie ausgrenzen und sie als belanglos oder unangenehm abtun muss. Man lernt so, die Gesamtheit der Schicksalsbeziehungen als zu sich gehörig zu akzeptieren und erlebt den Kraftzuwachs einfach dadurch, dass nichts mehr abgewiesen werden muss, was zum eigenen Schicksal gehört. | |||
Die Dankbarkeit gibt einem die Möglichkeit, auch Schwieriges wieder einzubeziehen. Nichts ist uns jemals begegnet, das uns nur zum Ärger oder Schaden gereichte. Alles hat – auch wenn sich das oft erst viel später herausstellt – immer auch eine liebevolle Seite. Man kann entdecken, dass das Schicksal im Grunde immer lebensfreundlich, immer liebevoll ist und nie lebensfeindlich und lieblos, wenn man ihm nur mit der richtigen Haltung begegnet. | |||
Ein nächster Schritt kann sein, dass man sich entschließt, sich auch Menschen gegenüber zu öffnen und sich für sie zu interessieren, an denen man sonst vorbeigegangen wäre, weil kein Grund bestand, eine Beziehung aufzunehmen. Es gibt Beziehungen, die kommen dadurch zustande, dass Menschen auf einen zukommen. Andere entstehen nur aufgrund eigener Initiative, indem man selbst auf andere Menschen zugeht. In beiden Fällen können unerwartete wertvolle menschliche Beziehungen entstehen. | |||
=== ''Gemeinsames Leid als Verbindendes erkennen'' === | |||
Eine weitere gute Übung besteht darin, sich klar zu machen, mit wie vielen Menschen, die man gar nicht kennt, man ein ähnliches Schicksal teilt, sei es dadurch, dass man den gleichen Beruf hat, sei es dadurch, dass man die gleiche Anzahl von Kindern hat, oder dadurch, dass man in einer kleinen Wohnung beengt lebt oder in einem schönen großen, geräumigen Haus, oder dadurch, dass man die gleiche Krankheit hat oder einen ähnlich gelagerten Ehescheidungskonflikt. | |||
Es gibt viele Erlebnisse und Lebensumstände, durch die man mit einer großen Anzahl von Menschen weltweit verbunden ist. Sich das zu Bewusstsein zu bringen und zu versuchen, all die Freuden- und Leidensgenossen zu erahnen und sich das Gemeinsame und Gemeinschaftliche zu vergegenwärtigen, vertieft die Bereitschaft, Beziehungen einzugehen. Gerade das ist das tragende Element in Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Alkoholikern oder anderen Interessengemeinschaften: Das gemeinsame Leid ist das Verbindende und schafft eine Atmosphäre des Vertrauens, wie sie der persönliche Lebensumkreis oft nicht bieten kann. | |||
''Vgl. „Wie ist Entwicklung zur Selbständigkeit und Gemeinschaftsbildung vereinbar?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
== INDIVIDUELLE BEZIEHUNGSGESTALTUNG == | |||
''Welche Bedeutung wird dem Faktor „Beziehung“ für die kindliche Entwicklung beigemessen?'' | |||
''Ist es wichtig, alle Kinder gleich zu behandeln?'' | |||
''Was beeinflusst die Charakterbildung eines Menschen?'' | |||
=== ''Einflüsse auf den Charakter'' === | |||
Als ich Anfang der Siebziger Jahre Medizin studierte, hat man uns Studenten beigebracht, der menschliche Charakter forme sich durch die Gene und durch das Milieu. ''Aristoteles'' nannte es „Herkunft und Erziehung“. Das war das Paradigma jener Zeit. | |||
Vor etwa 25 Jahren wurde die Beziehung als dritte die Entwicklung beeinflussende Kraft erkannt, die sich vor allem auf die Individualisierung des Kindes auswirkt. Würden nur Erbgut und Milieu wirken, müssten Menschen einander viel ähnlicher sein. Man fragte sich also, wie es kommt, dass Geschwister so unterschiedlich sind, obwohl Erbgut und Milieu oft ähnlich sind. | |||
Der unterschiedlichen Qualität von Beziehungen ist es zu verdanken, dass sich in einer einzigen Familie desselben Milieus, derselben Religion, derselben Schule, bei demselben Tageslauf usw. die unterschiedlichsten Charaktere entwickeln. Das geht bis hin zu „schwarzen Schafen”, die sich mehr von den anderen Familienmitgliedern unterscheiden als Menschen, die gar nicht miteinander verwandt und unter völlig anderen Bedingungen aufgewachsen sind. | |||
=== ''Angemessener Umgang mit der Unterschiedlichkeit'' === | |||
Manche Mütter behaupten, sie würden alle Kinder gleich behandeln. In Wirklichkeit können sie das gar nicht. Selbst wenn sie es täten, würden die Kinder ihre Behandlung dennoch ganz unterschiedlich erleben. Manchmal sagten Eltern zu mir, sie seien zu allen Kindern gleich streng. Dann antwortete ich immer: ''„Das ist ungerecht! Ihr legt an eure Kinder ein Einheitsmaß an, obwohl Fritz so empfindlich ist, dass er schon tief verletzt ist, wenn ihr nur ein wenig schimpft, während Lisa eine deutlichere Sprache vertragen kann. Kinder sind so unterschiedlich, man kann sie nicht alle gleich behandeln.”'' | |||
Wenn man z.B. durchsetzen möchte, dass alle morgens um acht pünktlich am Tisch sitzen, muss man jedes Kind individuell behandeln, damit das klappt. Man kann das gewünschte Ergebnis nicht bei allen auf die gleiche Weise erreichen. | |||
Das muss natürlich geübt werden und gehört zum täglichen Rüstzeug, wenn in einer Kindergruppe beispielsweise vier Babys, drei Kleinkinder und dazu noch einige „Große”, also Fünfjährige, beieinander sind. | |||
=== ''Den Faktor Beziehung ernst nehmen'' === | |||
Wenn wir den Faktor „Beziehung” ernst nehmen, müssen wir fragen: | |||
''Wie gestalte ich die Beziehung zu jedem Kind so individuell, dass sich dieses Kind in seinem So-Sein angenommen fühlt, dass es mich als streng, aber auch als gerecht und liebevoll erlebt?'' | |||
''Wie mache ich im richtigen Moment eine Ausnahme, z.B. mit einem Lächeln, sodass ein Freiraum entsteht und gerade dieses Kind wieder Atem schöpfen kann?'' | |||
Denn Erziehung muss merkuriell und flexibel vonstattengehen und wechseln zwischen Entgegenkommen und Grenzen-Setzen, Raum-Geben und Forderungen-Stellen. Diese Flexibilität kann sich nur entwickeln, wenn wir Kinder so lieben, wie sie sind. | |||
Langzeitstudien belegen, dass die Frage, ob ein Kind mit seinen genetischen und milieubedingten, traumatischen Gegebenheiten zurechtkommt, davon abhängt, ob es einen Menschen findet, der es liebt, der es versteht, der es anerkennt, der es so nimmt wie es ist – der ihm ein seelisch-geistiges Zuhause gibt. Nicht ein Haus schenkt einem Kind Geborgenheit, sondern eine gute Beziehung, in der es sich zuhause und angekommen fühlt, durch sie es sich entfalten kann. Die ihm helfen kann, mit körperlichen und seelischen Lebenshemmnissen zurechtzukommen. | |||
Das lernt ein Kind nur mit anderen Menschen. Wenn es diese Menschen im Leben eines Kindes nicht gibt, nützen ihm die „schönsten“ Gene und die größte Intelligenz nichts. Trotz Intelligenz und wunderbaren Anlagen kann es auf Abwege geraten, wenn es den Weg der Entwicklung zur Freude und zur Menschlichkeit nicht findet, weil es ihn eben nur im Umgang mit anderen Menschen finden kann. | |||
''Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 3. Vortrag, Persephone, Kongressband Nr. 2'' | |||
== DIE BEZIEHUNG ZUM WELTGANZEN PFLEGEN == | |||
Beziehungspflege ist nicht nur im persönlichen Bereich einer Partnerschaft, Freundschaft oder Familie möglich und nötig, sondern auch im überpersönlichen Bereich. | |||
=== ''Brücken schlagende Fragen'' === | |||
Man kann sich dem annähern, indem man sich fragt: | |||
''Mit wem alles lebe ich in dieser Stadt, in diesem Land zusammen?'' | |||
''Mit wem alles bin ich verbunden durch die Muttersprache?'' | |||
''Wie viele verschiedene religiöse Bekenntnisse gibt es an dem Ort, an dem ich lebe?'' | |||
''Was sagen mir der Koran oder die Reden des Buddha?'' | |||
''Mit welchen Fragestellungen, Ereignissen und Menschen bin ich als Zeitgenosse dadurch verbunden, dass ich in diesem Jahrhundert lebe?'' | |||
''Welche Beziehung habe ich zu unserer Zeit und ihren Herausforderungen? '' | |||
''Wie vieles gibt es, von dem ich meine, dass es nur andere betrifft, aber nicht mich?'' | |||
''Ist die Drogenproblematik nur ein Problem von Menschen, die aus welchen Gründen auch immer ihr Leben nicht richtig in die Hand bekommen?'' | |||
''Habe ich nicht selbst auch Suchttendenzen?'' | |||
''Sind Korruption und Steuerhinterziehung, von denen ich in der Zeitung lese, nicht etwas, zu dem ich die Veranlagung im Kleinen auch habe?'' | |||
''Kann ich verstehen, was geschehen muss, damit man sich in so etwas hereinziehen lässt?'' | |||
''Was muss denn geschehen, damit ein Mensch zum Verbrecher wird?'' | |||
''Was alles verdanke ich meinem eigenen Schicksal, meinem Umfeld und meiner Erziehung, dass mein Weg nicht ins Gefängnis führte?'' | |||
Wer sich ernsthaft mit diesen Fragen auseinandersetzt, wird bemerken, dass es im Grunde nichts gibt, zu dem man nicht auch eine innere Neigung in sich entdecken kann – und sei sie noch so verborgen. | |||
=== ''Dem Negativen und Bösen in sich auf der Spur'' === | |||
Jeder Mensch trägt die Anlagen zum Guten wie auch zum Bösen in sich. ''Goethe'', der zu sich rigoros ehrlich war, brachte wiederholt zum Ausdruck, dass er im Laufe seines Lebens zahlreiche Neigungen zum Bösen in sich entdeckt habe. Er dankte seinem gütigen Geschick, dass es ihm die Kraft gab, das Böse seine Handlungen und sein Verhalten nicht bestimmen zu lassen, sondern es in sich zu halten und zu verwandeln. Er wusste – und hat dies im ''Faust'' dargestellt –, dass jeder Mensch heute, bewusst oder unbewusst, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Alles hängt davon ab, ob man sich dieser Tatsache bewusstwird und entsprechend an sich arbeitet. | |||
Je mehr man in sich selbst die Neigungen und Tendenzen zu dem Tun und Lassen in der Welt wiederfindet, desto mehr erwacht durch diesen Weltbezug im Ich ein globales Bewusstsein. Dann beginnt man auch Probleme wie Jugendkriminalität und Gewalt zu verstehen. Man kann sich fragen: | |||
''Wann reagiere ich aggressiv und bin geneigt „auszurasten"?'' | |||
Wenn man entdeckt, dass man immer gereizt reagiert, wenn man müde oder hungrig ist oder unter Stress steht, wird mit einem Male angesichts eines aggressiven Jugendlichen oder Erwachsenen in einem die mitfühlende Frage auftauchen: | |||
''Warum fühlte sich dieser Mensch so wenig wohl, dass er so handeln musste?'' | |||
Anstatt emotionaler Verneinung und Verurteilung beginnt sich Verständnis und die Frage nach den wahren Ursachen zu regen. Das tiefe Interesse am anderen, der Wunsch, wirklich zu verstehen, erweckt und befähigt, mit den Herausforderungen und Auswüchsen unserer Zeit sinnstiftend umzugehen. | |||
''Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
== HIMMEL UND HÖLLE IN BEZIEHUNGEN == | |||
''Was ist unter Himmel und Hölle im Sozialen zu verstehen?'' | |||
''Warum erscheint uns die Hölle heutzutage so viel näher als der Himmel?'' | |||
''Welche Chance birgt die verstärkte Auseinandersetzung mit den menschlichen Schwächen, im Großen wie im Kleinen?'' | |||
=== ''Himmel und Hölle im Alltag und im Miteinander'' === | |||
In dem Augenblick, in dem man sich im Sozialen miteinander verbindet, begibt man sich an eine Art Schwelle zwischen Himmel und Hölle. Wo Menschen es miteinander zu tun bekommen, sind beide „Bereiche“ im wahrsten Sinn des Wortes stets greifbar nahe. Nur haben wir uns abgewöhnt, die uns verbindenden und beglückenden Zustände „Himmel“ nennen und die uns peinigenden Versagenszustände, die Aggressionen und Bosheiten unserer Mitmenschen als „Hölle“ zu bezeichnen. Und so haben wir auch verlernt, die Wesen beim Namen zu nennen, die Himmel und Hölle bewohnen. | |||
Ideale können die Menschen beflügeln, die sich mit ihnen verbinden. Ob nun in der Zweierbeziehung, in der Interessen- oder Arbeitsgemeinschaft oder in der Situation am Arbeitsplatz – sie erweisen sich als Kraftquelle. Wenn man diese Ideale jedoch beim Namen nennt und gar noch von der „Kraft der Gemeinsamkeit“ spricht, werden viele Menschen verbittert anmerken: „Seitdem ich mit anderen zusammenleben und -arbeiten muss, habe ich viel weniger Kraft als zu der Zeit, in der ich nur für mich selbst geradestehen musste.“ Wahr ist, die verbindliche Anteilnahme in und an Gemeinschaften kann Ursache für einen erhöhten Kraftverschleiß, erheblichen Stress, seelische Zusammenbrüche, Krisen, große persönliche Einsamkeit, für Verzweiflung und durchwachte Nächte sein. All das als Ergebnis der Verbindlichkeit im Sozialen! Aufgrund der Brutalität und Bosheit unter Menschen erscheint uns die Hölle oft näher als der Himmel, nehmen wir doch das stillschweigende Gute, das um und mit uns ist, nicht so intensiv wahr, da wir es oft als allzu selbstverständlich erleben, denn es entspricht ja dem, „wie es sein sollte“, dem Ideal... | |||
Was der menschlichen Natur im Großen entspringen kann und sich in Gewalt und Krieg oder aber in segensreichen Taten äußert, ist das Gleiche wie dasjenige, was im Kleinen das Familienleben, die Situation am Arbeitsplatz oder das Zusammenleben und -arbeiten in der Partnerschaft vergiftet oder heilt: Hölle und Himmel ragen bis in jedes einzelne Menschenleben herein. Welche Entscheidung und Wahl an der Schwelle zwischen Himmel und Hölle getroffen wird, liegt in jedem Menschen ganz allein begründet. | |||
Das ist heute der wundeste Punkt: Ohne konsequente Selbsterziehung und Persönlichkeitsschulung ist das soziale Leben nicht mehr zu meistern. Ohne eine Erziehung mit einer entsprechenden Ausrichtung wird es im Miteinander nur immer schwieriger und unerträglicher werden. | |||
=== ''Von Dämonischem und Schwächen fasziniert'' === | |||
Wir sind heute an einem Punkt angelangt, an dem Menschen zunehmend fasziniert sind vom Dämonischen. Man sieht förmlich, wie die menschliche Phantasie sich mit der übersinnlichen Welt befassen will: Science-Fiction- und Fantasie-Filme und Psychothriller sind unmittelbarer Ausdruck davon.[1] Selten nur kann man Filme sehen wie den vor Jahren so erfolgreich durch die Kinos wandernden Film ''„Der Himmel über Berlin“,[2]'' in dem eindrucksvoll das Wirken der Engel dargestellt wird. | |||
* Man hat den Eindruck, dass der Sinn für das Dämonische gegenwärtig stärker ist als das Interesse am Hilfreichen und Guten, weil man Ersteres überall unter den Menschen als so schmerzlich präsent erlebt und deshalb bestrebt ist, sich davon „ein Bild zu machen“. | |||
* Auch zeigt die Zeitkrankheit „Depression“, dass die Menschen sich heute bedeutend intensiver mit ihren Schwächen und Versagenszuständen auseinandersetzen als mit ihren bereits vorhandenen Möglichkeiten und Stärken, über die sie sich freuen und die sie im Leben einsetzen könnten. | |||
=== ''Himmlisches will errungen sein'' === | |||
Das muss auch so sein. Denn die guten Wesen und Kräfte in der Welt respektieren unsere Freiheit, wohingegen die destruktiven Mächte sich aufdrängen und bestrebt sind, ungefragt Einfluss zu gewinnen. Sie provozieren mit Notwendigkeit und halten sich nicht zurück. Auch in unserer eigenen menschlichen Natur müssen wir uns die Schwächen nicht erarbeiten – sie sind ganz von selber da und stets in der Lage, uns zu behindern und auf Abwege zu bringen. Die Stärken hingegen müssen wir uns erarbeiten und – wenn wir sie erworben haben – sie pflegen und darauf achten, dass wir sie menschenwürdig einsetzen. | |||
* ''Auf der Seite des „Himmels“'' geht nichts von selbst – da wird an unsere Freiheit, unsere Liebe, unseren Wahrheitssinn und unseren Willen zur Entwicklung appelliert. Hier wird uns die Arbeit nie abgenommen, jedoch immer wieder durch Gnadengeschenke des Schicksals gesegnet. | |||
* ''Auf Seiten der „Hölle“'' ist das grundsätzlich anders – da ist es einfach und bequem. Stärkste Kräfte der Zerstörung wirken durch uns, wenn wir uns ihnen nur überlassen – im Kleinen wie im Großen. | |||
=== ''Gutes in Freiheit erringen'' === | |||
Die höchsten Ideale der Menschlichkeit lassen sich nur erarbeiten, wenn wir es selbständig und aus uns heraus tun. Für diese Selbständigkeit jedoch sorgen paradoxerweise unsere Schwächen, Irrtümer, Behinderungen und schlechten Neigungen. Gäbe es keine „schlechten Eigenschaften“, wäre die Entwicklung zur Freiheit als höchstes Gut im Sinne der Menschenwürde nicht möglich. Wir hätten keine Wahl, keinen Widerstand und keine Besinnungsmöglichkeit – wir wären abhängig vom Guten und könnten das nicht erlangen, was uns als das Menschenwürdigste erscheint: eine liebevolle selbständige Persönlichkeit. Deshalb müssen wir lernen, in jeder Schwäche, und sei sie noch so furchtbar, den Keim einer zukünftigen Stärke zu sehen. Jede Schwäche stellt, wenn an ihr gearbeitet wird und sie überwunden worden sein wird, eine Stärke, eine neue menschliche Fähigkeit dar, mit der wir Gutes tun können. | |||
Viele Partnerschaften gehen auseinander, wenn die Schwächen zu sehr überwiegen. Man sucht eine neue Beziehung, die für eine gewisse Zeit über die Schwächen des jeweils anderen hinwegtäuscht. So bleiben die Betroffenen unreifer als Menschen, die sich durch die Schwächen des anderen nicht irritieren lassen, sondern den förderlichen Umgang damit erlernen. | |||
Der schwäbische Dichter Hölderlin hat die Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten und Hindernissen des Schicksals in einem seiner Gedichte wie folgt formuliert: | |||
''Des Herzens Woge'' | |||
''Schäumte nie so schön empor'' | |||
''Und würde Geist,'' | |||
''Wenn nicht der alte, stumme Fels, -'' | |||
''Das Schicksal –'' | |||
''Ihr entgegenstände.'' | |||
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997'' | |||
----[1] Symptomatisch hierfür ist der ungebrochene Trend bei Film und Fernsehen zu „übersinnlichen“ Inhalten und außerirdisch-dämonischen Lebewesen; Beispiele hierfür sind: ''lndependence Day'' (Roland Emmerich, 1996), ''Das fünfte Element'' (Luc Besson, 1997) oder ''Akte X - Die unheimlichen Fälle des FBI'' (Rob Bowman, 1998). | |||
[2] ''Der Himmel über Berlin'', Film von Wim Wenders 1987. | |||
== BEZIEHUNG UND SCHICKSAL == | |||
''Inwiefern wirken unsere Beziehungen auf unser Schicksal und umgekehrt?'' | |||
''Wie sind Schicksal und Beziehungen miteinander verwoben?'' | |||
=== ''Verwobene Schicksale'' === | |||
Auf der Beziehungsebene tritt der astrale Aspekt des Menschen in Erscheinung. Die Beziehungsfrage ist immer eine Schicksalsfrage. Da lernt jeder von jedem. Im Umgang miteinander machen wir Fehler und sind ständig in Gefahr, aneinander schuldig zu werden und uns von eigener Schuld freisprechen zu wollen. | |||
Wir sollten nicht bedauern, dass das so ist, sondern sollten uns dem bewusst aussetzen, weil wir durch unsere Fehler Einsicht und Authentizität entwickeln. Vieles von dem, was wir richtig machen, verdanken wir, wenn wir ehrlich sind, unserer Konditionierung und den Regeln, die wir nachspielen. Unser Handeln entspricht oft gar nicht dem, was wir selbst wirklich könnten und wollen. Durch das Fehler-Machen und das Verletzen von Regeln stellen wir plötzlich die Frage: | |||
''Entspricht mein Handeln dem, was ich selbst wirklich will und auch könnte?'' | |||
Dadurch entsteht eine völlig neue Grundlage im menschlichen Miteinander, aus der echte Toleranz und die Fähigkeit zu verzeihen erwachsen können. Man ist dann in der Lage, jedem auch seine Fehler zuzugestehen und nicht nur Stärken zu erwarten. Nur so wird die Beziehungs- und Schicksalsfrage konkret, nur so bilden wir eine Schicksalsgemeinschaft, in der wir voneinander lernen. | |||
''Vgl. Festvortrag zum vierzigjährigen Jubiläum von Herdecke am 10. November 2009'' | |||
== BEZIEHUNG ALS HEILQUELLE == | |||
''Was lässt sich den Belastungen des heutigen Lebens entgegensetzen?'' | |||
''Was können wir unseren Kindern als Schutz bieten?'' | |||
=== ''Immunität durch Identifikation'' === | |||
Interessanterweise entwickelte sich ein neuer Forschungszweig in der Medizin genau in den Jahrzehnten, in denen die Umweltbelastungen und unsichtbaren Schäden immer mehr zunahmen. Seit Mitte der 70er Jahre gibt es den Forschungszweig der Immunologie. Man entdeckte, dass die körperliche Abwehr viel mehr vermag, als man bisher dachte. Der Mensch kann mit fast allem fertig werden, wenn er voll über seine Abwehrkräfte verfügt. | |||
Man weiß heute sehr genau, womit man die Abwehr am besten stärkt: Die das Immunsystem unterstützenden Qualitäten decken sich mit einer positiven Identifizierung mit sich selbst und dem Leben. An der Stärkung das Immunsystems zu arbeiten und das Bewusstsein der eigenen Identität zu erweitern, sind praktisch ein und derselbe Prozess. Diesen bedeutsamen Zusammenhang entdeckte man im Rahmen der Salutogenese-Forschung anhand von zwei Studien: | |||
* bei einer groß angelegten Untersuchung an Opfern des Holocaust | |||
* und in Langzeitstudien bei Kindern und Jugendlichen aus gewaltbereiten Milieus. | |||
Unter den Opfern des Holocaust fielen einige auf, die sich besonders guter Gesundheit erfreuten. Es gibt offensichtlich Widerstandsquellen im Menschen, denen nicht einmal die Menschenverachtung des Holocaust etwas anhaben konnte. In Interviews berichteten diese Menschen offen darüber, dass sie sich stärkten und schützten, indem sie „Ja“ sagten und einen Sinn fanden in dem Schicksal, das ihnen widerfahren war, und indem sie nach und nach umsetzten, was sie dadurch gelernt hatten. | |||
=== ''Resilienz durch Beziehung'' === | |||
Im Rahmen der Resilienz-Forschung bewiesen Kinder und Jugendliche aus gewaltbereiten Milieus, dass eine gute menschliche Beziehung die größte Ressource ist. Man suchte daraufhin nach Kriterien einer guten Beziehung und fand folgende drei Punkte: | |||
* ''Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit'' im Umgang miteinander | |||
* ''Echtes Interesse und Verständnis'' für den anderen | |||
* ''Respekt vor der Autonomie des anderen'', vor seiner Eigenwürde und Integrität. | |||
Je mehr von diesen drei Qualitäten in einer Beziehung lebt, desto besser und gesundheitsfördernder, das Immunsystem stärkender, wirkt sie sich aus. | |||
Ob man den anderen verstanden hat, bekommt man durch Fragen heraus. Denn der andere weiß ganz genau, ob er sich verstanden fühlt oder nicht. Wenn beide sich bemühen, den jeweils anderen zu verstehen, verbessert sich die Beziehung von beiden Seiten her. Doch auch wenn das Bemühen um Verständnis eine Einbahnstraße ist, führt es wenigstens dazu, dass der eine den anderen versteht. | |||
Das ist vor allem im Umgang mit Kindern wichtig, wo das Verständnis altersbedingt oft einseitig ist. Wenn Kinder in der Schule schwierig sind und der Lehrer sie trotzdem liebt und sie nicht fallen lässt, sondern an einer positiven Beziehung arbeitet, kann so ein Kinderschicksal eine völlig andere Wendung nehmen. | |||
''Vgl. Vortrag „Angst in Krankheit und Gesundheit“, 14. Februar 2007'' |
Aktuelle Version vom 22. März 2025, 11:20 Uhr
Beziehung und Beziehungsfähigkeit – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
WAHRHEIT ALS WIRKLICHKEIT IN DER BEZIEHUNG
Wie wirkt sich der Umgang mit Wahrheit bzw. Unwahrheit in Beziehungen aus?
Die Qualität jeder menschlichen Beziehung ist von der Pflege der drei Kernideale für die menschliche Entwicklung – Wahrheit, Liebe, Freiheit – abhängig. Dabei kommt der Wahrheitsfrage eine besondere Stellung zu, denn mit ihr hängt auch die Gesundheit jeder Beziehung zusammen. Das Ringen um Wahrheit ist immer auch ein Ringen um geistige und soziale Gesundheit.
Bei der Frage nach der Wahrheit ist es entscheidend, welchen Bezug zur Wirklichkeit wir haben und was wir mit Hilfe des als wahr Erkannten schaffen bzw. verwirklichen wollen. Der Bezug zur Wirklichkeit erstreckt sich jedoch nicht nur auf Tatsachen der Sinneswelt.
Die Wahrheit über Christkind und Osterhase
Wie verhält es sich mit Begriffen wie „Christkind“ und „Osterhase“?
Lügen wir die Kinder damit an, um ihnen die Spannung und Freude am Fest zu erhöhen?
Oder anders gefragt:
Welcher Realität entsprechen das „Christkind“ und der „Osterhase“?
Wer Kindern vom Christkind oder vom Osterhasen erzählt und dabei so tut, als wären sie Realität, selbst aber mit dieser Vorstellung nichts „Wirkliches“ verbindet, macht den Kindern etwas vor. Wer jedoch das Beschenkt-Werden seitens der Natur, die uns die Möglichkeit zur Entwicklung gibt, in das Bild des Hasen kleidet, der Ostereier bringt, als Symbol des Werdens und der Entwicklung, versucht mit diesem Wahrbild seinen Kindern eine Wahrheit zu vermitteln: Ostern ist, wenn wir es ernsthaft feiern, für uns Erwachsene ein Erlebnis von Tod und Auferstehung, von Wandlung durch Entwicklung.
Der Erwachsene kann den Kraftzuwachs empfinden, der durch die Nähe und Anwesenheit des Auferstandenen gegeben ist. Das können Kinder nicht direkt erleben. Was es jedoch bedeutet, von einer neuen Kraft beseelt und gestärkt zu werden, können sie dadurch mitempfinden, dass sie bei diesem Fest wohlschmeckende Süßigkeiten bzw. Ostereier suchen dürfen. Sie erleben am sinnlichen Genuss und am physischen Wohlgefühl Stärkung, Freude und Kraft und werden still, wenn sie die andächtige Stimmung der Erwachsenen miterleben. So erfahren sie auf ihre Art mehr äußerlich – was der Erwachsene durch innere Arbeit auf seelisch-geistiger Ebene erfahren kann.
Geistige Realitäten für Kinder versinnlichen
Je kleiner Kinder sind, umso mehr erleben sie noch alles über die Sinne und den Leib. Das vom Körper sich zunehmend emanzipierende Seelen- und Geistesleben ist noch nicht voll entwickelt. Daher ist es richtig, geistige Realitäten für die Kinder zu „versinnlichen“ und physisch-körperlich erlebbar zu machen. Die Erwachsenen dürfen jedoch die geistige Wirklichkeit, die in und hinter diesen physischen Realitäten lebt, nicht vernachlässigen, sonst wird das Feiern des Festes zu etwas Unwahrem und damit hohl und oberflächlich.
Wenn die Kinder eines Tages entdecken, dass sich hinter dem Osterhasen oder dem Weihnachtsmann die Eltern verborgen haben, ist es wichtig, diese Entdeckung wahrheitsgemäß zu kommentieren. Sind die Kinder noch im Vorschulalter oder ersten Schulalter und haben es nur von anderen gehört, und man spürt, wie die Hoffnung in ihnen lebt, doch noch einmal bestätigt zu bekommen, dass es den Osterhasen wirklich gibt, kann man ruhig sagen: „Weißt du, bei uns kommt er eben noch, weil wir so fest an ihn glauben und uns auf ihn freuen.“ Ist ein Kind in seinen eigenen Überlegungen schon so weit gekommen, dass es die „Wahrheit“ von den Eltern wissen möchte und damit auch vorbereitet ist, sie zu verarbeiten, kann man dem Kind in einem besonders schönen Gespräch erklären, dass geistige Realitäten und Werte Menschen als Vermittler brauchen, um in der Welt wirksam sein zu können.
Wahrheit als Verhältnis zur Wirklichkeit begriffen
Dieses Beispiel kann deutlich machen, dass Wahrheit in diesem Zusammenhang nicht nur etwas absolut „Richtiges“, „So-Seiendes“, „Gegebenes“ ist, sondern unser jeweiliges Verhältnis zur Wirklichkeit zum Ausdruck bringt. Wir lernen, „in der Wahrheit“ zu leben, wenn wir uns unausgesetzt bemühen, die Welt der Erscheinungen, der Sinneswelt, zu der Welt unserer Vorstellungen und Gedanken in ein den Tatsachen entsprechendes Verhältnis zu setzen. Dadurch arbeiten wir selbst mit an der Wahrheit der Welt.[1] Ohne diese Mitarbeit des Menschen bliebe sie unvollständig. Wer sich auf Wahrheiten beruft, ohne sie zu „erleben“ und ihre Verwirklichung zu erstreben, ist – so gesehen – bereits auf dem Weg zu lügen, so paradox das auch klingen mag.
Persönliche Verantwortung gegenüber dem, was man denkt und für wahr hält, wird meist erst im Alter von sechzehn, siebzehn Jahren erlebt. Besonders schön und prägnant hat dies Jacques Lusseyran in seiner Autobiographie beschrieben. Er fasste mit seinem Freund, beide 16jährig, eines Tages den Entschluss: „Wir hatten geschworen, uns die Wahrheit zu sagen, die reine Wahrheit, und wenn wir das nicht können, zu schweigen.“[2] Dann beschreibt Lusseyran, wie er mit seinem Freund oft stundenlang in Paris spazieren ging – und beide schwiegen. Hin und wieder blickten sie sich mit einem wissenden Lächeln an, um dann wieder wegzuschauen. Keiner von beiden wagte es, unmittelbar etwas zu sagen, obwohl sie sonst stundenlang diskutierten. Das Schweigen machte ihnen bewusst, wie wenig sie genau genommen wirklich wussten. Während sie äußerlich schwiegen, arbeitete es im Inneren „auf Hochtouren“. Die Frage nach der Wahrheit verband sie und bewirkte eine beglückende Vertiefung ihrer Freundschaft.
Diese Begebenheit kann deutlich machen, in welchem Maß Wahrheit und Lüge die menschlichen Beziehungen mitgestalten. Sie sind nicht nur Qualitäten für sich, sie sind darüber hinaus ein wesentlicher Teil dessen, was Menschen verbindet oder trennt. Sie sind Realitäten, die zwischen Menschen Mauern aufrichten und auch wieder einreißen, die verletzen und heilen können. Es gibt wohl kaum etwas in einer menschlichen Beziehung, was sich als trennender und schmerzhafter erweist als der Eindruck, dass der andere nicht aufrichtig zu einem ist.
So drückt das Vorhaben von Jacques Lusseyran und seinem Freund, sich nur noch die Wahrheit zu sagen, gleichzeitig den Wunsch aus, eine ganz ehrliche, reine Beziehung von Ich zu Ich zu pflegen und in die zwischenmenschliche Begegnung nichts Fremdes mehr hereinzulassen. Wer sich der Wahrheit verpflichtet, wird in seinem ganzen Verhalten „wesentlicher“.
Wahrheit und eigenes Wesen
Was bedeutet letztlich das Ringen um Wahrheit?
In dem Augenblick, in dem wir an uns selbst die Wahrheitsfrage stellen, beginnt ein energisches inneres Fragen, Suchen, Prüfen und Abwägen. Wer also beim Grüßen „guten Morgen“ sagt, müsste in sich in diesem Moment auch den Bezug zur Realität eines „guten Morgens“ herstellen und etwas von dessen Reinheit, Frische und Kraft empfinden. Dadurch, dass wir uns bemühen, die Wahrheit zu denken und zu sagen, rufen wir unsere Seele zu höchster Geistesgegenwart auf, zur Anwesenheit unseres Ich. Denn ohne die geistesgegenwärtige Anwesenheit des Ich kann beim Denken und Sprechen nicht der innere Bezug zu dem, worüber gedacht und gesprochen wird, hergestellt werden.
Auf diesen Bezug zur Wirklichkeit, zur Realität des Gedachten und Gesagten, kommt es jedoch bei der Wahrheitsfrage ganz entschieden an: Wahrheit stellt Beziehung her, ist Begegnung, Innewerden, Verbunden-Sein. Und so verbindet sie auch Menschen miteinander und ermöglicht spirituelle Kommunion. Unwahrheit hingegen trennt und lässt einen Abgrund zwischen den Menschen – aber auch gegenüber der geistigen Welt – entstehen.
Solche Einsichten helfen, ganz neue Maßstäbe für die Pflege menschlicher Beziehungen anzulegen, lassen aber auch erkennen, dass das eigene Wesen seiner Natur nach „wahr“ ist.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 4. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
[1] Vgl. Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft. GA 3.
[2] Jacques Lusseyran, Das wiedergefundene Licht, Stuttgart 1966.
BEZIEHUNGSFÄHIGKEIT ENTWICKELN
Wie kann die Beziehungs- und Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen bewusst gepflegt und gestärkt werden?
Es liegt im Wesen des menschlichen Ich, dass es zu allem in der Welt – auch zu sich selbst – Beziehung aufnehmen kann. Sein Bewusstsein und seine Kraft werden so groß oder so klein sein, wie reich oder arm ein Mensch an Beziehung zu seiner Mitwelt ist. Ohne Beziehung und ohne Interesse an der Welt, wie das bei schweren Depressionen der Fall ist, verstummt und erstarrt der Mensch in sich und wird sich selbst fremd.
Dankbarkeit für die Beziehungen im Laufe des Lebens entwickeln
Um sich der Vielfältigkeit seiner Beziehungen bewusst zu werden, kann jeder in seine eigene Biographie zurückschauen und sich fragen:
Mit wem stehe ich in Beziehung?
Womit habe ich mich im Laufe meines Lebens verbunden?
Wie bin ich damit umgegangen?
Bei einem solchen Rückblick ist es hilfreich, eine Anregung Rudolf Steiners aufzugreifen und sich zusätzlich zu fragen:
Was habe ich durch all die Menschen, mit denen ich bislang zu tun hatte, gelernt?
Was verdanke ich ihnen im Hinblick auf meine Entwicklung?
Wer das noch nie getan hat und nun damit anfängt, dem wird auffallen, wie wenig Dankbarkeit er bisher der eigenen Biographie gegenüber empfunden hat: Dass man Beziehungen zu Menschen hatte, über die man bisher nur negativ dachte, weil man sie einfach nicht leiden konnte oder weil sie einem geschadet oder Schwierigkeiten in den Weg gelegt hatten. Jetzt hat man Gelegenheit, solche Konstellationen nochmals anzuschauen und sich zu fragen:
Was habe ich gerade durch diese Antipathie oder durch jene Schwierigkeit lernen können?
Und plötzlich bemerkt man, dass man gerade durch schmerzliche Beziehungen wachgerüttelt und für vieles sensibilisiert wurde, und sei es nur, dass man sich vornahm, selbst nie wie ein bestimmter Mensch zu handeln. Auch das ist etwas ungemein Wesentliches für die eigene Biographie.
Und wie steht es mit den erfreulichen Beziehungen?
Auch hier kann im Rückblick noch deutlicher werden, was man durch diese Menschen erfahren und bekommen hat und was man vielleicht als viel zu selbstverständlich genommen hat. Möglicherweise erlebt man, dass die schönen Erlebnisse weniger Einsichten mit sich brachten, dafür aber umso mehr Freude und Kraft zum Leben schenkten.
Schicksalsbeziehungen als zu sich gehörig würdigen
Ein solcher Blick in die Vergangenheit macht einen wach für das Beziehungsgefüge, das sich im Laufe des Lebens aufgebaut hat. Man bemerkt, wie wohltuend es ist, wenn man keine Ereignisse, keine Lebensbereiche, keine Menschen mehr aus der eigenen Biographie ausgrenzen und sie als belanglos oder unangenehm abtun muss. Man lernt so, die Gesamtheit der Schicksalsbeziehungen als zu sich gehörig zu akzeptieren und erlebt den Kraftzuwachs einfach dadurch, dass nichts mehr abgewiesen werden muss, was zum eigenen Schicksal gehört.
Die Dankbarkeit gibt einem die Möglichkeit, auch Schwieriges wieder einzubeziehen. Nichts ist uns jemals begegnet, das uns nur zum Ärger oder Schaden gereichte. Alles hat – auch wenn sich das oft erst viel später herausstellt – immer auch eine liebevolle Seite. Man kann entdecken, dass das Schicksal im Grunde immer lebensfreundlich, immer liebevoll ist und nie lebensfeindlich und lieblos, wenn man ihm nur mit der richtigen Haltung begegnet.
Ein nächster Schritt kann sein, dass man sich entschließt, sich auch Menschen gegenüber zu öffnen und sich für sie zu interessieren, an denen man sonst vorbeigegangen wäre, weil kein Grund bestand, eine Beziehung aufzunehmen. Es gibt Beziehungen, die kommen dadurch zustande, dass Menschen auf einen zukommen. Andere entstehen nur aufgrund eigener Initiative, indem man selbst auf andere Menschen zugeht. In beiden Fällen können unerwartete wertvolle menschliche Beziehungen entstehen.
Gemeinsames Leid als Verbindendes erkennen
Eine weitere gute Übung besteht darin, sich klar zu machen, mit wie vielen Menschen, die man gar nicht kennt, man ein ähnliches Schicksal teilt, sei es dadurch, dass man den gleichen Beruf hat, sei es dadurch, dass man die gleiche Anzahl von Kindern hat, oder dadurch, dass man in einer kleinen Wohnung beengt lebt oder in einem schönen großen, geräumigen Haus, oder dadurch, dass man die gleiche Krankheit hat oder einen ähnlich gelagerten Ehescheidungskonflikt.
Es gibt viele Erlebnisse und Lebensumstände, durch die man mit einer großen Anzahl von Menschen weltweit verbunden ist. Sich das zu Bewusstsein zu bringen und zu versuchen, all die Freuden- und Leidensgenossen zu erahnen und sich das Gemeinsame und Gemeinschaftliche zu vergegenwärtigen, vertieft die Bereitschaft, Beziehungen einzugehen. Gerade das ist das tragende Element in Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Alkoholikern oder anderen Interessengemeinschaften: Das gemeinsame Leid ist das Verbindende und schafft eine Atmosphäre des Vertrauens, wie sie der persönliche Lebensumkreis oft nicht bieten kann.
Vgl. „Wie ist Entwicklung zur Selbständigkeit und Gemeinschaftsbildung vereinbar?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
INDIVIDUELLE BEZIEHUNGSGESTALTUNG
Welche Bedeutung wird dem Faktor „Beziehung“ für die kindliche Entwicklung beigemessen?
Ist es wichtig, alle Kinder gleich zu behandeln?
Was beeinflusst die Charakterbildung eines Menschen?
Einflüsse auf den Charakter
Als ich Anfang der Siebziger Jahre Medizin studierte, hat man uns Studenten beigebracht, der menschliche Charakter forme sich durch die Gene und durch das Milieu. Aristoteles nannte es „Herkunft und Erziehung“. Das war das Paradigma jener Zeit.
Vor etwa 25 Jahren wurde die Beziehung als dritte die Entwicklung beeinflussende Kraft erkannt, die sich vor allem auf die Individualisierung des Kindes auswirkt. Würden nur Erbgut und Milieu wirken, müssten Menschen einander viel ähnlicher sein. Man fragte sich also, wie es kommt, dass Geschwister so unterschiedlich sind, obwohl Erbgut und Milieu oft ähnlich sind.
Der unterschiedlichen Qualität von Beziehungen ist es zu verdanken, dass sich in einer einzigen Familie desselben Milieus, derselben Religion, derselben Schule, bei demselben Tageslauf usw. die unterschiedlichsten Charaktere entwickeln. Das geht bis hin zu „schwarzen Schafen”, die sich mehr von den anderen Familienmitgliedern unterscheiden als Menschen, die gar nicht miteinander verwandt und unter völlig anderen Bedingungen aufgewachsen sind.
Angemessener Umgang mit der Unterschiedlichkeit
Manche Mütter behaupten, sie würden alle Kinder gleich behandeln. In Wirklichkeit können sie das gar nicht. Selbst wenn sie es täten, würden die Kinder ihre Behandlung dennoch ganz unterschiedlich erleben. Manchmal sagten Eltern zu mir, sie seien zu allen Kindern gleich streng. Dann antwortete ich immer: „Das ist ungerecht! Ihr legt an eure Kinder ein Einheitsmaß an, obwohl Fritz so empfindlich ist, dass er schon tief verletzt ist, wenn ihr nur ein wenig schimpft, während Lisa eine deutlichere Sprache vertragen kann. Kinder sind so unterschiedlich, man kann sie nicht alle gleich behandeln.”
Wenn man z.B. durchsetzen möchte, dass alle morgens um acht pünktlich am Tisch sitzen, muss man jedes Kind individuell behandeln, damit das klappt. Man kann das gewünschte Ergebnis nicht bei allen auf die gleiche Weise erreichen.
Das muss natürlich geübt werden und gehört zum täglichen Rüstzeug, wenn in einer Kindergruppe beispielsweise vier Babys, drei Kleinkinder und dazu noch einige „Große”, also Fünfjährige, beieinander sind.
Den Faktor Beziehung ernst nehmen
Wenn wir den Faktor „Beziehung” ernst nehmen, müssen wir fragen:
Wie gestalte ich die Beziehung zu jedem Kind so individuell, dass sich dieses Kind in seinem So-Sein angenommen fühlt, dass es mich als streng, aber auch als gerecht und liebevoll erlebt?
Wie mache ich im richtigen Moment eine Ausnahme, z.B. mit einem Lächeln, sodass ein Freiraum entsteht und gerade dieses Kind wieder Atem schöpfen kann?
Denn Erziehung muss merkuriell und flexibel vonstattengehen und wechseln zwischen Entgegenkommen und Grenzen-Setzen, Raum-Geben und Forderungen-Stellen. Diese Flexibilität kann sich nur entwickeln, wenn wir Kinder so lieben, wie sie sind.
Langzeitstudien belegen, dass die Frage, ob ein Kind mit seinen genetischen und milieubedingten, traumatischen Gegebenheiten zurechtkommt, davon abhängt, ob es einen Menschen findet, der es liebt, der es versteht, der es anerkennt, der es so nimmt wie es ist – der ihm ein seelisch-geistiges Zuhause gibt. Nicht ein Haus schenkt einem Kind Geborgenheit, sondern eine gute Beziehung, in der es sich zuhause und angekommen fühlt, durch sie es sich entfalten kann. Die ihm helfen kann, mit körperlichen und seelischen Lebenshemmnissen zurechtzukommen.
Das lernt ein Kind nur mit anderen Menschen. Wenn es diese Menschen im Leben eines Kindes nicht gibt, nützen ihm die „schönsten“ Gene und die größte Intelligenz nichts. Trotz Intelligenz und wunderbaren Anlagen kann es auf Abwege geraten, wenn es den Weg der Entwicklung zur Freude und zur Menschlichkeit nicht findet, weil es ihn eben nur im Umgang mit anderen Menschen finden kann.
Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 3. Vortrag, Persephone, Kongressband Nr. 2
DIE BEZIEHUNG ZUM WELTGANZEN PFLEGEN
Beziehungspflege ist nicht nur im persönlichen Bereich einer Partnerschaft, Freundschaft oder Familie möglich und nötig, sondern auch im überpersönlichen Bereich.
Brücken schlagende Fragen
Man kann sich dem annähern, indem man sich fragt:
Mit wem alles lebe ich in dieser Stadt, in diesem Land zusammen?
Mit wem alles bin ich verbunden durch die Muttersprache?
Wie viele verschiedene religiöse Bekenntnisse gibt es an dem Ort, an dem ich lebe?
Was sagen mir der Koran oder die Reden des Buddha?
Mit welchen Fragestellungen, Ereignissen und Menschen bin ich als Zeitgenosse dadurch verbunden, dass ich in diesem Jahrhundert lebe?
Welche Beziehung habe ich zu unserer Zeit und ihren Herausforderungen?
Wie vieles gibt es, von dem ich meine, dass es nur andere betrifft, aber nicht mich?
Ist die Drogenproblematik nur ein Problem von Menschen, die aus welchen Gründen auch immer ihr Leben nicht richtig in die Hand bekommen?
Habe ich nicht selbst auch Suchttendenzen?
Sind Korruption und Steuerhinterziehung, von denen ich in der Zeitung lese, nicht etwas, zu dem ich die Veranlagung im Kleinen auch habe?
Kann ich verstehen, was geschehen muss, damit man sich in so etwas hereinziehen lässt?
Was muss denn geschehen, damit ein Mensch zum Verbrecher wird?
Was alles verdanke ich meinem eigenen Schicksal, meinem Umfeld und meiner Erziehung, dass mein Weg nicht ins Gefängnis führte?
Wer sich ernsthaft mit diesen Fragen auseinandersetzt, wird bemerken, dass es im Grunde nichts gibt, zu dem man nicht auch eine innere Neigung in sich entdecken kann – und sei sie noch so verborgen.
Dem Negativen und Bösen in sich auf der Spur
Jeder Mensch trägt die Anlagen zum Guten wie auch zum Bösen in sich. Goethe, der zu sich rigoros ehrlich war, brachte wiederholt zum Ausdruck, dass er im Laufe seines Lebens zahlreiche Neigungen zum Bösen in sich entdeckt habe. Er dankte seinem gütigen Geschick, dass es ihm die Kraft gab, das Böse seine Handlungen und sein Verhalten nicht bestimmen zu lassen, sondern es in sich zu halten und zu verwandeln. Er wusste – und hat dies im Faust dargestellt –, dass jeder Mensch heute, bewusst oder unbewusst, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Alles hängt davon ab, ob man sich dieser Tatsache bewusstwird und entsprechend an sich arbeitet.
Je mehr man in sich selbst die Neigungen und Tendenzen zu dem Tun und Lassen in der Welt wiederfindet, desto mehr erwacht durch diesen Weltbezug im Ich ein globales Bewusstsein. Dann beginnt man auch Probleme wie Jugendkriminalität und Gewalt zu verstehen. Man kann sich fragen:
Wann reagiere ich aggressiv und bin geneigt „auszurasten"?
Wenn man entdeckt, dass man immer gereizt reagiert, wenn man müde oder hungrig ist oder unter Stress steht, wird mit einem Male angesichts eines aggressiven Jugendlichen oder Erwachsenen in einem die mitfühlende Frage auftauchen:
Warum fühlte sich dieser Mensch so wenig wohl, dass er so handeln musste?
Anstatt emotionaler Verneinung und Verurteilung beginnt sich Verständnis und die Frage nach den wahren Ursachen zu regen. Das tiefe Interesse am anderen, der Wunsch, wirklich zu verstehen, erweckt und befähigt, mit den Herausforderungen und Auswüchsen unserer Zeit sinnstiftend umzugehen.
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
HIMMEL UND HÖLLE IN BEZIEHUNGEN
Was ist unter Himmel und Hölle im Sozialen zu verstehen?
Warum erscheint uns die Hölle heutzutage so viel näher als der Himmel?
Welche Chance birgt die verstärkte Auseinandersetzung mit den menschlichen Schwächen, im Großen wie im Kleinen?
Himmel und Hölle im Alltag und im Miteinander
In dem Augenblick, in dem man sich im Sozialen miteinander verbindet, begibt man sich an eine Art Schwelle zwischen Himmel und Hölle. Wo Menschen es miteinander zu tun bekommen, sind beide „Bereiche“ im wahrsten Sinn des Wortes stets greifbar nahe. Nur haben wir uns abgewöhnt, die uns verbindenden und beglückenden Zustände „Himmel“ nennen und die uns peinigenden Versagenszustände, die Aggressionen und Bosheiten unserer Mitmenschen als „Hölle“ zu bezeichnen. Und so haben wir auch verlernt, die Wesen beim Namen zu nennen, die Himmel und Hölle bewohnen.
Ideale können die Menschen beflügeln, die sich mit ihnen verbinden. Ob nun in der Zweierbeziehung, in der Interessen- oder Arbeitsgemeinschaft oder in der Situation am Arbeitsplatz – sie erweisen sich als Kraftquelle. Wenn man diese Ideale jedoch beim Namen nennt und gar noch von der „Kraft der Gemeinsamkeit“ spricht, werden viele Menschen verbittert anmerken: „Seitdem ich mit anderen zusammenleben und -arbeiten muss, habe ich viel weniger Kraft als zu der Zeit, in der ich nur für mich selbst geradestehen musste.“ Wahr ist, die verbindliche Anteilnahme in und an Gemeinschaften kann Ursache für einen erhöhten Kraftverschleiß, erheblichen Stress, seelische Zusammenbrüche, Krisen, große persönliche Einsamkeit, für Verzweiflung und durchwachte Nächte sein. All das als Ergebnis der Verbindlichkeit im Sozialen! Aufgrund der Brutalität und Bosheit unter Menschen erscheint uns die Hölle oft näher als der Himmel, nehmen wir doch das stillschweigende Gute, das um und mit uns ist, nicht so intensiv wahr, da wir es oft als allzu selbstverständlich erleben, denn es entspricht ja dem, „wie es sein sollte“, dem Ideal...
Was der menschlichen Natur im Großen entspringen kann und sich in Gewalt und Krieg oder aber in segensreichen Taten äußert, ist das Gleiche wie dasjenige, was im Kleinen das Familienleben, die Situation am Arbeitsplatz oder das Zusammenleben und -arbeiten in der Partnerschaft vergiftet oder heilt: Hölle und Himmel ragen bis in jedes einzelne Menschenleben herein. Welche Entscheidung und Wahl an der Schwelle zwischen Himmel und Hölle getroffen wird, liegt in jedem Menschen ganz allein begründet.
Das ist heute der wundeste Punkt: Ohne konsequente Selbsterziehung und Persönlichkeitsschulung ist das soziale Leben nicht mehr zu meistern. Ohne eine Erziehung mit einer entsprechenden Ausrichtung wird es im Miteinander nur immer schwieriger und unerträglicher werden.
Von Dämonischem und Schwächen fasziniert
Wir sind heute an einem Punkt angelangt, an dem Menschen zunehmend fasziniert sind vom Dämonischen. Man sieht förmlich, wie die menschliche Phantasie sich mit der übersinnlichen Welt befassen will: Science-Fiction- und Fantasie-Filme und Psychothriller sind unmittelbarer Ausdruck davon.[1] Selten nur kann man Filme sehen wie den vor Jahren so erfolgreich durch die Kinos wandernden Film „Der Himmel über Berlin“,[2] in dem eindrucksvoll das Wirken der Engel dargestellt wird.
- Man hat den Eindruck, dass der Sinn für das Dämonische gegenwärtig stärker ist als das Interesse am Hilfreichen und Guten, weil man Ersteres überall unter den Menschen als so schmerzlich präsent erlebt und deshalb bestrebt ist, sich davon „ein Bild zu machen“.
- Auch zeigt die Zeitkrankheit „Depression“, dass die Menschen sich heute bedeutend intensiver mit ihren Schwächen und Versagenszuständen auseinandersetzen als mit ihren bereits vorhandenen Möglichkeiten und Stärken, über die sie sich freuen und die sie im Leben einsetzen könnten.
Himmlisches will errungen sein
Das muss auch so sein. Denn die guten Wesen und Kräfte in der Welt respektieren unsere Freiheit, wohingegen die destruktiven Mächte sich aufdrängen und bestrebt sind, ungefragt Einfluss zu gewinnen. Sie provozieren mit Notwendigkeit und halten sich nicht zurück. Auch in unserer eigenen menschlichen Natur müssen wir uns die Schwächen nicht erarbeiten – sie sind ganz von selber da und stets in der Lage, uns zu behindern und auf Abwege zu bringen. Die Stärken hingegen müssen wir uns erarbeiten und – wenn wir sie erworben haben – sie pflegen und darauf achten, dass wir sie menschenwürdig einsetzen.
- Auf der Seite des „Himmels“ geht nichts von selbst – da wird an unsere Freiheit, unsere Liebe, unseren Wahrheitssinn und unseren Willen zur Entwicklung appelliert. Hier wird uns die Arbeit nie abgenommen, jedoch immer wieder durch Gnadengeschenke des Schicksals gesegnet.
- Auf Seiten der „Hölle“ ist das grundsätzlich anders – da ist es einfach und bequem. Stärkste Kräfte der Zerstörung wirken durch uns, wenn wir uns ihnen nur überlassen – im Kleinen wie im Großen.
Gutes in Freiheit erringen
Die höchsten Ideale der Menschlichkeit lassen sich nur erarbeiten, wenn wir es selbständig und aus uns heraus tun. Für diese Selbständigkeit jedoch sorgen paradoxerweise unsere Schwächen, Irrtümer, Behinderungen und schlechten Neigungen. Gäbe es keine „schlechten Eigenschaften“, wäre die Entwicklung zur Freiheit als höchstes Gut im Sinne der Menschenwürde nicht möglich. Wir hätten keine Wahl, keinen Widerstand und keine Besinnungsmöglichkeit – wir wären abhängig vom Guten und könnten das nicht erlangen, was uns als das Menschenwürdigste erscheint: eine liebevolle selbständige Persönlichkeit. Deshalb müssen wir lernen, in jeder Schwäche, und sei sie noch so furchtbar, den Keim einer zukünftigen Stärke zu sehen. Jede Schwäche stellt, wenn an ihr gearbeitet wird und sie überwunden worden sein wird, eine Stärke, eine neue menschliche Fähigkeit dar, mit der wir Gutes tun können.
Viele Partnerschaften gehen auseinander, wenn die Schwächen zu sehr überwiegen. Man sucht eine neue Beziehung, die für eine gewisse Zeit über die Schwächen des jeweils anderen hinwegtäuscht. So bleiben die Betroffenen unreifer als Menschen, die sich durch die Schwächen des anderen nicht irritieren lassen, sondern den förderlichen Umgang damit erlernen.
Der schwäbische Dichter Hölderlin hat die Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten und Hindernissen des Schicksals in einem seiner Gedichte wie folgt formuliert:
Des Herzens Woge
Schäumte nie so schön empor
Und würde Geist,
Wenn nicht der alte, stumme Fels, -
Das Schicksal –
Ihr entgegenstände.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
[1] Symptomatisch hierfür ist der ungebrochene Trend bei Film und Fernsehen zu „übersinnlichen“ Inhalten und außerirdisch-dämonischen Lebewesen; Beispiele hierfür sind: lndependence Day (Roland Emmerich, 1996), Das fünfte Element (Luc Besson, 1997) oder Akte X - Die unheimlichen Fälle des FBI (Rob Bowman, 1998).
[2] Der Himmel über Berlin, Film von Wim Wenders 1987.
BEZIEHUNG UND SCHICKSAL
Inwiefern wirken unsere Beziehungen auf unser Schicksal und umgekehrt?
Wie sind Schicksal und Beziehungen miteinander verwoben?
Verwobene Schicksale
Auf der Beziehungsebene tritt der astrale Aspekt des Menschen in Erscheinung. Die Beziehungsfrage ist immer eine Schicksalsfrage. Da lernt jeder von jedem. Im Umgang miteinander machen wir Fehler und sind ständig in Gefahr, aneinander schuldig zu werden und uns von eigener Schuld freisprechen zu wollen.
Wir sollten nicht bedauern, dass das so ist, sondern sollten uns dem bewusst aussetzen, weil wir durch unsere Fehler Einsicht und Authentizität entwickeln. Vieles von dem, was wir richtig machen, verdanken wir, wenn wir ehrlich sind, unserer Konditionierung und den Regeln, die wir nachspielen. Unser Handeln entspricht oft gar nicht dem, was wir selbst wirklich könnten und wollen. Durch das Fehler-Machen und das Verletzen von Regeln stellen wir plötzlich die Frage:
Entspricht mein Handeln dem, was ich selbst wirklich will und auch könnte?
Dadurch entsteht eine völlig neue Grundlage im menschlichen Miteinander, aus der echte Toleranz und die Fähigkeit zu verzeihen erwachsen können. Man ist dann in der Lage, jedem auch seine Fehler zuzugestehen und nicht nur Stärken zu erwarten. Nur so wird die Beziehungs- und Schicksalsfrage konkret, nur so bilden wir eine Schicksalsgemeinschaft, in der wir voneinander lernen.
Vgl. Festvortrag zum vierzigjährigen Jubiläum von Herdecke am 10. November 2009
BEZIEHUNG ALS HEILQUELLE
Was lässt sich den Belastungen des heutigen Lebens entgegensetzen?
Was können wir unseren Kindern als Schutz bieten?
Immunität durch Identifikation
Interessanterweise entwickelte sich ein neuer Forschungszweig in der Medizin genau in den Jahrzehnten, in denen die Umweltbelastungen und unsichtbaren Schäden immer mehr zunahmen. Seit Mitte der 70er Jahre gibt es den Forschungszweig der Immunologie. Man entdeckte, dass die körperliche Abwehr viel mehr vermag, als man bisher dachte. Der Mensch kann mit fast allem fertig werden, wenn er voll über seine Abwehrkräfte verfügt.
Man weiß heute sehr genau, womit man die Abwehr am besten stärkt: Die das Immunsystem unterstützenden Qualitäten decken sich mit einer positiven Identifizierung mit sich selbst und dem Leben. An der Stärkung das Immunsystems zu arbeiten und das Bewusstsein der eigenen Identität zu erweitern, sind praktisch ein und derselbe Prozess. Diesen bedeutsamen Zusammenhang entdeckte man im Rahmen der Salutogenese-Forschung anhand von zwei Studien:
- bei einer groß angelegten Untersuchung an Opfern des Holocaust
- und in Langzeitstudien bei Kindern und Jugendlichen aus gewaltbereiten Milieus.
Unter den Opfern des Holocaust fielen einige auf, die sich besonders guter Gesundheit erfreuten. Es gibt offensichtlich Widerstandsquellen im Menschen, denen nicht einmal die Menschenverachtung des Holocaust etwas anhaben konnte. In Interviews berichteten diese Menschen offen darüber, dass sie sich stärkten und schützten, indem sie „Ja“ sagten und einen Sinn fanden in dem Schicksal, das ihnen widerfahren war, und indem sie nach und nach umsetzten, was sie dadurch gelernt hatten.
Resilienz durch Beziehung
Im Rahmen der Resilienz-Forschung bewiesen Kinder und Jugendliche aus gewaltbereiten Milieus, dass eine gute menschliche Beziehung die größte Ressource ist. Man suchte daraufhin nach Kriterien einer guten Beziehung und fand folgende drei Punkte:
- Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander
- Echtes Interesse und Verständnis für den anderen
- Respekt vor der Autonomie des anderen, vor seiner Eigenwürde und Integrität.
Je mehr von diesen drei Qualitäten in einer Beziehung lebt, desto besser und gesundheitsfördernder, das Immunsystem stärkender, wirkt sie sich aus.
Ob man den anderen verstanden hat, bekommt man durch Fragen heraus. Denn der andere weiß ganz genau, ob er sich verstanden fühlt oder nicht. Wenn beide sich bemühen, den jeweils anderen zu verstehen, verbessert sich die Beziehung von beiden Seiten her. Doch auch wenn das Bemühen um Verständnis eine Einbahnstraße ist, führt es wenigstens dazu, dass der eine den anderen versteht.
Das ist vor allem im Umgang mit Kindern wichtig, wo das Verständnis altersbedingt oft einseitig ist. Wenn Kinder in der Schule schwierig sind und der Lehrer sie trotzdem liebt und sie nicht fallen lässt, sondern an einer positiven Beziehung arbeitet, kann so ein Kinderschicksal eine völlig andere Wendung nehmen.
Vgl. Vortrag „Angst in Krankheit und Gesundheit“, 14. Februar 2007