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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | ||
== | == ALTERN IM LICHT DER METAMORPHOSE DER WESENSGLIEDER == | ||
''Was ist mit Evolution und Involution des Menschen gemeint und wie hängen diese polaren Entwicklungsdynamiken zusammen?'' | ''Was ist mit Evolution und Involution des Menschen gemeint und wie hängen diese polaren Entwicklungsdynamiken zusammen?'' | ||
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''In welcher Form werden die Wachstumskräfte des Ätherleibes bzw. die Differenzierungskräfte des Astralleibes sowie die Integrationskräfte des Ich im Zuge der Entwicklung wieder freigesetzt?'' | ''In welcher Form werden die Wachstumskräfte des Ätherleibes bzw. die Differenzierungskräfte des Astralleibes sowie die Integrationskräfte des Ich im Zuge der Entwicklung wieder freigesetzt?'' | ||
=== | === ''Die Wesensglieder in ihrer Bedeutung für unsere Entwicklung'' === | ||
Altwerden ist keine Krankheit, genauso wenig wie Schwanger-Sein. In beiden Fällen können jedoch Komplikationen und Schwierigkeiten auftreten, die dann behandlungsbedürftig sind. Rudolf Steiner sagt: Die Involutionsphasen spiegeln die Inkarnations- oder Evolutionsphasen. | Altwerden ist keine Krankheit, genauso wenig wie Schwanger-Sein. In beiden Fällen können jedoch Komplikationen und Schwierigkeiten auftreten, die dann behandlungsbedürftig sind. Rudolf Steiner sagt: Die Involutionsphasen spiegeln die Inkarnations- oder Evolutionsphasen. | ||
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Das ist die eine Geste. | Das ist die eine Geste. | ||
=== | === ''Zusammenhang von Lebenskraft und Denkvermögen'' === | ||
Die andere Geste drückt sich über die schrittweisen „Geburten“ der Wesensglieder aus. Sie kann mit dem Paradigma der Metamorphose der Wesensglieder sehr gut erklärt werden. Im ersten Kapitel von ''„Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“'''[1]''''' sind drei Absätze diesem Paradigma gewidmet. Dort heisst es sinngemäß ohne jegliche Einleitung: ''„Es ist von größter Bedeutung zu wissen, dass die Wachstumskräfte des Lebensorganismus dieselben Kräfte sind, die der Mensch zum normalen Denken braucht.“'' | Die andere Geste drückt sich über die schrittweisen „Geburten“ der Wesensglieder aus. Sie kann mit dem Paradigma der Metamorphose der Wesensglieder sehr gut erklärt werden. Im ersten Kapitel von ''„Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“'''[1]''''' sind drei Absätze diesem Paradigma gewidmet. Dort heisst es sinngemäß ohne jegliche Einleitung: ''„Es ist von größter Bedeutung zu wissen, dass die Wachstumskräfte des Lebensorganismus dieselben Kräfte sind, die der Mensch zum normalen Denken braucht.“'' | ||
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Diese beiden Ausprägungen des Ätherischen wirken polar und bilden somit ein Gegensatzpaar. | Diese beiden Ausprägungen des Ätherischen wirken polar und bilden somit ein Gegensatzpaar. | ||
=== | === ''Schrittweise Geburten der Wesensglieder'' === | ||
Nun zu den Geburten der Wesensglieder in Jahrsiebten. Eine Geburt bedeutet grundsätzlich das Heraustreten aus einem Körper: | Nun zu den Geburten der Wesensglieder in Jahrsiebten. Eine Geburt bedeutet grundsätzlich das Heraustreten aus einem Körper: | ||
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So beschreibt Steiner diesen Vorgang, der sich im Zuge der Inkarnation vollzieht. Das ist das einzige Paradigma, das Steiner uns für die Anthroposophische Medizin gegeben hat, um egal welche psychosomatische Verbindung, aber auch die Herausforderungen rund um den Alterungsprozess zu begreifen. | So beschreibt Steiner diesen Vorgang, der sich im Zuge der Inkarnation vollzieht. Das ist das einzige Paradigma, das Steiner uns für die Anthroposophische Medizin gegeben hat, um egal welche psychosomatische Verbindung, aber auch die Herausforderungen rund um den Alterungsprozess zu begreifen. | ||
=== | === ''Die Diastase als Exkarnationsmoment'' === | ||
''Durch welches Tor verlassen nun diese Kräfte den physischen Leib?'' | ''Durch welches Tor verlassen nun diese Kräfte den physischen Leib?'' | ||
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Alle Aufbaukräfte aus den Wesensgliedern, die der Evolution dienen, werden, nachdem sie ihre Arbeit im Körper getan haben, wieder leibfrei und dienen jetzt der Involution. Sie verschwinden nicht einfach, sondern durchlaufen eine Metamorphose und stehen uns dann als unser leibfreies seelisch-geistiges Potential zur Verfügung. Doch wie bereits angedeutet entstammen sie, je nach unserem Entwicklungsalter, schwerpunktmäßig anderen Funktionssystemen unseres physischen Leibes. | Alle Aufbaukräfte aus den Wesensgliedern, die der Evolution dienen, werden, nachdem sie ihre Arbeit im Körper getan haben, wieder leibfrei und dienen jetzt der Involution. Sie verschwinden nicht einfach, sondern durchlaufen eine Metamorphose und stehen uns dann als unser leibfreies seelisch-geistiges Potential zur Verfügung. Doch wie bereits angedeutet entstammen sie, je nach unserem Entwicklungsalter, schwerpunktmäßig anderen Funktionssystemen unseres physischen Leibes. | ||
=== | === ''Das Freiwerden von Ätherkräften als kontinuierlicher Prozess'' === | ||
Rudolf Steiner sagt, dass auch die höheren Kompetenzen, das Astralische und das Ich – man könnte auch sagen, das Emotionale und die willensgebundenen sozialen Fähigkeiten – sich lebenslang aus dem Physischen befreien. Sie vermögen das allerdings nur «auf den Flügeln des Ätherischen», nicht aus eigenem Antrieb, da sie nicht in Zeit und Raum leben. Sie sind vollkommen übersinnlicher Natur. Das Ätherische als unser Zeitenleib, der uns in die Zeit einbettet, ist mit der Zeit verbunden. Der physische Körper beheimatet uns im Raum. | Rudolf Steiner sagt, dass auch die höheren Kompetenzen, das Astralische und das Ich – man könnte auch sagen, das Emotionale und die willensgebundenen sozialen Fähigkeiten – sich lebenslang aus dem Physischen befreien. Sie vermögen das allerdings nur «auf den Flügeln des Ätherischen», nicht aus eigenem Antrieb, da sie nicht in Zeit und Raum leben. Sie sind vollkommen übersinnlicher Natur. Das Ätherische als unser Zeitenleib, der uns in die Zeit einbettet, ist mit der Zeit verbunden. Der physische Körper beheimatet uns im Raum. | ||
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''Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart'' | ''Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart'' | ||
----[1] Rudolf Steiner, Ita Wegman, ''Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst,'' GA 27. | ----[1] Rudolf Steiner, Ita Wegman, ''Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst,'' GA 27. | ||
== | == ALTERN ALS SPIEGEL DES HERANREIFENS == | ||
''Inwiefern spiegeln sich die Inkarnationsprozesse im Zuge der Entwicklung im Alter?'' | ''Inwiefern spiegeln sich die Inkarnationsprozesse im Zuge der Entwicklung im Alter?'' | ||
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''Lassen sich schwächende Dispositionen aus Kindheit und Jugend wieder ausgleichen?'' | ''Lassen sich schwächende Dispositionen aus Kindheit und Jugend wieder ausgleichen?'' | ||
=== | === ''Involution als Spiegel der Evolution'' === | ||
Altwerden ist keine Krankheit, es können jedoch Komplikationen auftreten, die dann behandelt werden müssen. Woher diese Schwierigkeiten möglicherweise herrühren bzw. wie man sie durch eine „alterungsbewusste“ Pädagogik in vielen Fällen vermeiden könnte, möchte ich im Folgenden aus Sicht der anthroposophischen Menschenkunde erläutern. | Altwerden ist keine Krankheit, es können jedoch Komplikationen auftreten, die dann behandelt werden müssen. Woher diese Schwierigkeiten möglicherweise herrühren bzw. wie man sie durch eine „alterungsbewusste“ Pädagogik in vielen Fällen vermeiden könnte, möchte ich im Folgenden aus Sicht der anthroposophischen Menschenkunde erläutern. | ||
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Das bedeutet, was zuletzt herangereift ist, bildet sich zuerst zurück. Der Abbau der Organsysteme vollzieht sich spiegelbildlich zu ihrer Entwicklung. Die folgende Gegenüberstellung der einander spiegelnden Lebensabschnitte soll das verdeutlichen. | Das bedeutet, was zuletzt herangereift ist, bildet sich zuerst zurück. Der Abbau der Organsysteme vollzieht sich spiegelbildlich zu ihrer Entwicklung. Die folgende Gegenüberstellung der einander spiegelnden Lebensabschnitte soll das verdeutlichen. | ||
=== | === EVOLUTION IM 3. JAHRSIEBT UND INVOLUTION ZWISCHEN 40 UND 50 JAHREN === | ||
==== · | ==== '''·''' Evolution im Zuge der Inkarnation ==== | ||
Zwischen '''vierzehn und einundzwanzig''' Jahren reift das ''Stoffwechsel-Gliedmaßensystem'' aus. Skelett und Stoffwechsel brauchen also am längsten, bis sie vollkommen ausgereift sind und eine Stabilisierung des Hormonhaushaltes erreicht wird. Das dauert manchmal bis zum 23. Lebensjahr. Vom spirituellen Gesichtspunkt her würden wir sagen: Es dauert 21 bis 23 Jahre, bis der Mensch „vollständig inkarniert“ ist und sein Ich den Leib vollkommen ergriffen hat. Im 3. Jahrsiebt erwacht dank der aus der Ich-Organisation freiwerdenden Kräfte auch das eigenständige Denken am Umkreis. Jetzt geht es darum, dass der Jugendliche lernt, Idealismus zu entwickeln und zu lernen, sich geistig eigenständig ganz neu zu orientieren, sich aufzurichten, beweglich zu werden, das Instrument des Leibes von innen bewusst zu ergreifen. Wem das nicht gelingt, der ist prädisponiert für Erkrankungen, die die Erdenschwere und -belastung spürbar machen. | Zwischen '''vierzehn und einundzwanzig''' Jahren reift das ''Stoffwechsel-Gliedmaßensystem'' aus. Skelett und Stoffwechsel brauchen also am längsten, bis sie vollkommen ausgereift sind und eine Stabilisierung des Hormonhaushaltes erreicht wird. Das dauert manchmal bis zum 23. Lebensjahr. Vom spirituellen Gesichtspunkt her würden wir sagen: Es dauert 21 bis 23 Jahre, bis der Mensch „vollständig inkarniert“ ist und sein Ich den Leib vollkommen ergriffen hat. Im 3. Jahrsiebt erwacht dank der aus der Ich-Organisation freiwerdenden Kräfte auch das eigenständige Denken am Umkreis. Jetzt geht es darum, dass der Jugendliche lernt, Idealismus zu entwickeln und zu lernen, sich geistig eigenständig ganz neu zu orientieren, sich aufzurichten, beweglich zu werden, das Instrument des Leibes von innen bewusst zu ergreifen. Wem das nicht gelingt, der ist prädisponiert für Erkrankungen, die die Erdenschwere und -belastung spürbar machen. | ||
==== · | ==== '''·''' Involution im Zuge der Exkarnation ==== | ||
Das zuletzt herangereifte Stoffwechsel-Gliedmaßensystem sowie das hormonelle System bilden sich '''zwischen 40 und 50''' als Erste wieder zurück: Das Klimakterium setzt ein und führt zur Menopause, die eine totale hormonelle Umschaltung bei der Frau bedeutet. Beginnend beim Knochenbau und Hormonhaushalt devitalisiert sich der Organismus, d.h. die Regenerationskraft lässt nach. Wer dafür disponiert ist, hat Probleme mit dem Rücken, der Schulter, dem Nacken, bekommt Diabetes Typ II, Gallen- und Nierenprobleme, metabolische Syndrome und rheumatische Erkrankungen. Das heißt, es kommt zu chronischen Erkrankun-gen des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems. Das ganze System tritt in die Involutionsphase ein. | Das zuletzt herangereifte Stoffwechsel-Gliedmaßensystem sowie das hormonelle System bilden sich '''zwischen 40 und 50''' als Erste wieder zurück: Das Klimakterium setzt ein und führt zur Menopause, die eine totale hormonelle Umschaltung bei der Frau bedeutet. Beginnend beim Knochenbau und Hormonhaushalt devitalisiert sich der Organismus, d.h. die Regenerationskraft lässt nach. Wer dafür disponiert ist, hat Probleme mit dem Rücken, der Schulter, dem Nacken, bekommt Diabetes Typ II, Gallen- und Nierenprobleme, metabolische Syndrome und rheumatische Erkrankungen. Das heißt, es kommt zu chronischen Erkrankun-gen des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems. Das ganze System tritt in die Involutionsphase ein. | ||
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Gedanklich erwacht jedoch in der Regel ein neuer Idealismus, Lebensformen und Werte werden hinterfragt, man möchte sich beruflich verändern oder auf andere Weise „neu beginnen“, will endlich wirklich das eigene Leben leben. | Gedanklich erwacht jedoch in der Regel ein neuer Idealismus, Lebensformen und Werte werden hinterfragt, man möchte sich beruflich verändern oder auf andere Weise „neu beginnen“, will endlich wirklich das eigene Leben leben. | ||
=== | === EVOLUTION IM 2. JAHRSIEBT UND INVOLUTION ZWISCHEN 50 UND 60 JAHREN === | ||
==== · | ==== '''·''' Evolution im Zuge der Inkarnation ==== | ||
'''Nach dem ersten Jahrsiebt bis zur Pubertät''' reifen die ''rhythmischen Funktionssysteme'', insbesondere von Atmung und Kreislauf. Bei einem Zwölfjährigen haben wir noch ein Kinder-EKG, einen schnelleren Herzrhythmus und eine schnellere Atmung, als es der Erwachsene hat. Erst mit fünfzehn Jahren reift das Kreislaufsystem zur Erwachsenenkompetenz heran und die Atmungsorgane bilden einen ruhigeren, langsamen Erwachsenenrhythmus aus. Dann ist auch die Frequenzabstimmung zwischen Atem- und Herzrhythmus abgeschlossen. | '''Nach dem ersten Jahrsiebt bis zur Pubertät''' reifen die ''rhythmischen Funktionssysteme'', insbesondere von Atmung und Kreislauf. Bei einem Zwölfjährigen haben wir noch ein Kinder-EKG, einen schnelleren Herzrhythmus und eine schnellere Atmung, als es der Erwachsene hat. Erst mit fünfzehn Jahren reift das Kreislaufsystem zur Erwachsenenkompetenz heran und die Atmungsorgane bilden einen ruhigeren, langsamen Erwachsenenrhythmus aus. Dann ist auch die Frequenzabstimmung zwischen Atem- und Herzrhythmus abgeschlossen. | ||
Die wichtigste Stimulation bzw. Unterstützung der Reifung besteht darin, das Gefühlsleben zu kultivieren. Denn nichts regt Atem und Herzschlag besser an als das Pendeln zwischen den Polen tiefer Gefühle. Die Pflege tiefer Gefühle ist demnach ''die'' Prävention gegen vaskuläre Demenz, vor allem wenn eine familiäre Disposition vorliegt. | Die wichtigste Stimulation bzw. Unterstützung der Reifung besteht darin, das Gefühlsleben zu kultivieren. Denn nichts regt Atem und Herzschlag besser an als das Pendeln zwischen den Polen tiefer Gefühle. Die Pflege tiefer Gefühle ist demnach ''die'' Prävention gegen vaskuläre Demenz, vor allem wenn eine familiäre Disposition vorliegt. | ||
==== · | ==== '''·''' Involution im Zuge der Exkarnation ==== | ||
'''Zwischen 50 und 60''' stehen laut Statistik kardiovaskuläre Erkrankungen und die Chronifizierung von Lungenerkrankungen im Vordergrund, das heißt, die Abbauerscheinungen greifen auf ''das rhythmische System'', auf Herz und Lunge, über: Es kommt zu Bluthochdruck, Rhythmusstörungen, zu koronaren Herzkrankheiten, bei einer entsprechenden Disposition tritt der erste Infarkt auf. Viele haben in ihrem Bekanntenkreis jemanden in diesem Alter, der an COPT, Angina Pectoris oder Herzrhythmusstörungen leidet. In jedem Fall lässt die Atemkapazität spürbar nach. | '''Zwischen 50 und 60''' stehen laut Statistik kardiovaskuläre Erkrankungen und die Chronifizierung von Lungenerkrankungen im Vordergrund, das heißt, die Abbauerscheinungen greifen auf ''das rhythmische System'', auf Herz und Lunge, über: Es kommt zu Bluthochdruck, Rhythmusstörungen, zu koronaren Herzkrankheiten, bei einer entsprechenden Disposition tritt der erste Infarkt auf. Viele haben in ihrem Bekanntenkreis jemanden in diesem Alter, der an COPT, Angina Pectoris oder Herzrhythmusstörungen leidet. In jedem Fall lässt die Atemkapazität spürbar nach. | ||
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Gedanklich hingegen stellt sich ein objektiveres, reifes Urteilsvermögen ein, die Fähigkeit, Gegensätze vermitteln und bewusst abwägen zu können. | Gedanklich hingegen stellt sich ein objektiveres, reifes Urteilsvermögen ein, die Fähigkeit, Gegensätze vermitteln und bewusst abwägen zu können. | ||
=== | === EVOLUTION IM 1. JAHRSIEBT UND INVOLUTION ZWISCHEN 60 UND 70 JAHREN === | ||
==== · | ==== '''·''' Evolution im Zuge der Inkarnation ==== | ||
Die Grundreifung der ''Sinnesfunktionen und etwa 90% der Kapazitäten des Zentralnervensystems'' erreichen schon '''in den ersten neun Lebensjahren''' die volle Funktionstüchtigkeit: Das Ohr ist mit etwa vier Jahren voll funktionstüchtig. Das Auge braucht acht Jahre, bis es in allen Feinheiten ausgereift ist: in Bezug auf die Perspektive, das Farbensehen, auf feinsten Abstufungen der Wahrnehmung und die Verknüpfung mit den anderen Sinnen. Das ist ein langer Reifungsprozess. Wir unterstützen diesen Prozess interessanterweise nicht dadurch, dass wir dem Zweijährigen Kopfrechnen beizubringen versuchen, sondern durch intensive Sinnespflege und Tatsachenlogik – durch sinnvolle Tätigkeiten, sinnvolle Zusammen-hänge, sinnvolles Sprechen, gedankenvolle Unterhaltung. Aber auch künstlerische Tätigkeiten und Eindrücke sind äußerst förderlich. | Die Grundreifung der ''Sinnesfunktionen und etwa 90% der Kapazitäten des Zentralnervensystems'' erreichen schon '''in den ersten neun Lebensjahren''' die volle Funktionstüchtigkeit: Das Ohr ist mit etwa vier Jahren voll funktionstüchtig. Das Auge braucht acht Jahre, bis es in allen Feinheiten ausgereift ist: in Bezug auf die Perspektive, das Farbensehen, auf feinsten Abstufungen der Wahrnehmung und die Verknüpfung mit den anderen Sinnen. Das ist ein langer Reifungsprozess. Wir unterstützen diesen Prozess interessanterweise nicht dadurch, dass wir dem Zweijährigen Kopfrechnen beizubringen versuchen, sondern durch intensive Sinnespflege und Tatsachenlogik – durch sinnvolle Tätigkeiten, sinnvolle Zusammen-hänge, sinnvolles Sprechen, gedankenvolle Unterhaltung. Aber auch künstlerische Tätigkeiten und Eindrücke sind äußerst förderlich. | ||
Wenn die Stimulation durch Sinnvolles und Künstlerisches in einer Biographie fehlt oder das Denken ganz materialistisch einseitig erzogen wird und die Sinneserfahrungen korrumpiert und verfälscht werden von Fernsehen und Computer, sind die Betroffenen prädisponiert dafür, im Alter verstärkt Probleme mit ihrem Nervensinnessystem zu bekommen. | Wenn die Stimulation durch Sinnvolles und Künstlerisches in einer Biographie fehlt oder das Denken ganz materialistisch einseitig erzogen wird und die Sinneserfahrungen korrumpiert und verfälscht werden von Fernsehen und Computer, sind die Betroffenen prädisponiert dafür, im Alter verstärkt Probleme mit ihrem Nervensinnessystem zu bekommen. | ||
==== · | ==== '''·''' Involution im Zuge der Exkarnation ==== | ||
Gott sei Dank lassen die Gehirn- und Sinnesleistungen '''zwischen 60 und 70 Jahren''' erst ganz zuletzt schrittweise nach: Jetzt treten gehäuft Degenerationserscheinungen am ''Nervensinnessystem'', an den Sinnesorganen und dem Zentralnervensystem auf. Unser Gedächtnis und unsere Seh- und Hörkraft lassen nach, das heißt, dass die Regenerationsfähigkeit des Sinnes-und Nervensystems rapide ''a''bnimmt. Wir werden langsamer, brauchen Unterstützung. | Gott sei Dank lassen die Gehirn- und Sinnesleistungen '''zwischen 60 und 70 Jahren''' erst ganz zuletzt schrittweise nach: Jetzt treten gehäuft Degenerationserscheinungen am ''Nervensinnessystem'', an den Sinnesorganen und dem Zentralnervensystem auf. Unser Gedächtnis und unsere Seh- und Hörkraft lassen nach, das heißt, dass die Regenerationsfähigkeit des Sinnes-und Nervensystems rapide ''a''bnimmt. Wir werden langsamer, brauchen Unterstützung. | ||
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Nur im Falle einer Demenzerkrankung, die aber grade kein gesundes Altern darstellt, sondern eine Erkrankung des Nervensystems, ist dies natürlich anders. Dennoch muss man auch in diesem Krankheitsfall davon ausgehen, dass die körperunabhängigen Gedanken-, Gefühls- und Willenskräfte der so Erkrankten durchaus da sind. Nur ist die gesunde Gehirnfunktion nicht mehr vorhanden als Grundlage für ein selbstbewusst geführtes und geordnetes Vorstellen von Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen. Umso wichtiger ist es, neue Kommunikationsformen zu entwickeln, indem man mit diesem real vorhandenen Geistigen rechnet und der Betroffene dies spüren kann. | Nur im Falle einer Demenzerkrankung, die aber grade kein gesundes Altern darstellt, sondern eine Erkrankung des Nervensystems, ist dies natürlich anders. Dennoch muss man auch in diesem Krankheitsfall davon ausgehen, dass die körperunabhängigen Gedanken-, Gefühls- und Willenskräfte der so Erkrankten durchaus da sind. Nur ist die gesunde Gehirnfunktion nicht mehr vorhanden als Grundlage für ein selbstbewusst geführtes und geordnetes Vorstellen von Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen. Umso wichtiger ist es, neue Kommunikationsformen zu entwickeln, indem man mit diesem real vorhandenen Geistigen rechnet und der Betroffene dies spüren kann. | ||
=== | === DIE INVOLUTIONSPHASE VON 70 JAHREN AUFWÄRTS === | ||
Das Bibelwort „''Unser Leben währet 70 Jahre“'' entspricht der Rhythmik zwischen Inkarnation und Exkarnation. Dann folgt eine Gnadenzeit, die sich durch eine gewisse Stabilität auszeichnet. Menschen, die bis zum Alter von 70 Jahren keine Anzeichen aufweisen für eines der genannten chronischen Probleme, werden zwar schwächer, bleiben dabei aber oft geistig frisch, sie bauen nicht wirklich ab vor dem Tod. Das erlebte ich oft in der Praxis. | Das Bibelwort „''Unser Leben währet 70 Jahre“'' entspricht der Rhythmik zwischen Inkarnation und Exkarnation. Dann folgt eine Gnadenzeit, die sich durch eine gewisse Stabilität auszeichnet. Menschen, die bis zum Alter von 70 Jahren keine Anzeichen aufweisen für eines der genannten chronischen Probleme, werden zwar schwächer, bleiben dabei aber oft geistig frisch, sie bauen nicht wirklich ab vor dem Tod. Das erlebte ich oft in der Praxis. | ||
=== | === ''Bedingungen für Gesundheit bis ins hohe Alter'' === | ||
Wir sehen also: Wenn sich in Kindheit und Jugend die „Inkarnation“ des Menschen so vollzieht, dass Körper, Seele und Geist altersgerecht gefordert werden, so ist dies die beste Vorbedingung dafür, dass auch die „Exkarnation“ harmonisch und ohne größere gesundheit-liche Einbrüche vonstattengeht. | Wir sehen also: Wenn sich in Kindheit und Jugend die „Inkarnation“ des Menschen so vollzieht, dass Körper, Seele und Geist altersgerecht gefordert werden, so ist dies die beste Vorbedingung dafür, dass auch die „Exkarnation“ harmonisch und ohne größere gesundheit-liche Einbrüche vonstattengeht. | ||
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Auf diesem Gebiet müsste noch viel geforscht werden. Wir benötigen sehr gut abgestimmte Therapiekonzepte, die regenerierende und die Inkarnation fördernde Möglichkeiten in konkrete Behandlungsansätze umwandeln, je nachdem, welche Symptomatik vorherrscht. | Auf diesem Gebiet müsste noch viel geforscht werden. Wir benötigen sehr gut abgestimmte Therapiekonzepte, die regenerierende und die Inkarnation fördernde Möglichkeiten in konkrete Behandlungsansätze umwandeln, je nachdem, welche Symptomatik vorherrscht. | ||
Vgl. ''Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008'' | Vgl. ''Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008'' | ||
----[1] Rudolf Steiner, ''Wege und Ziele des geistigen Menschen. Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft''.GA 125, Dornach 1992, S. 55. | ----[1] Rudolf Steiner, ''Wege und Ziele des geistigen Menschen. Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft''.GA 125, Dornach 1992, S. 55. | ||
== | == PROBLEME IM ALTER VERMEIDEN DURCH ALTERSBEWUSSTE PÄDAGOGIK == | ||
''Wie kommt es, dass man gerade heute so viele müde und verhärmte alte Menschen trifft, wo es doch laut der anthroposophischen Menschenkunde mit der geistigen Kraft aufwärts gehen sollte?'' | ''Wie kommt es, dass man gerade heute so viele müde und verhärmte alte Menschen trifft, wo es doch laut der anthroposophischen Menschenkunde mit der geistigen Kraft aufwärts gehen sollte?'' | ||
''Wie hängt der Inkarnationsprozess in der ersten Lebenshälfte mit dem Exkarnationsprozess in der zweiten Lebenshälfte zusammen?'' | ''Wie hängt der Inkarnationsprozess in der ersten Lebenshälfte mit dem Exkarnationsprozess in der zweiten Lebenshälfte zusammen?'' | ||
=== | === ''Alterungsprozess am Beispiel einer Patientin'' === | ||
Diese Fragen sollen am Beispiel einer Patientin erläutert werden, deren Alterungsprozess ich, nachdem sie das 75. Lebensjahr überschritten hatte, nah begleitete. Sie war ein geistig sehr aktiver Mensch gewesen. Dennoch entwickelte sie sich in den letzten Lebensjahren zunehmend in eine gewisse geistige Starre, die es ihr erschwerte, den Kontakt mit anderen Menschen zu pflegen. Sie wurde ängstlich und argwöhnisch, und man sah, wie die Verhärtungs- und Sklerotisierungsprozesse des Alters überhandnahmen und ihr bewusstes Gedankenleben stark beeinflussten. | Diese Fragen sollen am Beispiel einer Patientin erläutert werden, deren Alterungsprozess ich, nachdem sie das 75. Lebensjahr überschritten hatte, nah begleitete. Sie war ein geistig sehr aktiver Mensch gewesen. Dennoch entwickelte sie sich in den letzten Lebensjahren zunehmend in eine gewisse geistige Starre, die es ihr erschwerte, den Kontakt mit anderen Menschen zu pflegen. Sie wurde ängstlich und argwöhnisch, und man sah, wie die Verhärtungs- und Sklerotisierungsprozesse des Alters überhandnahmen und ihr bewusstes Gedankenleben stark beeinflussten. | ||
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Sie ist für mich ein typisches Beispiel dafür, wie gerade in der frühen Kindheit, in der sich das Nervensystem aufbaut, Schäden veranlagt werden können, die sich in starken Abbauerscheinungen im späteren Alter widerspiegeln. Den schwächenden Einflüssen ihrer schweren Kindheit und Jugend und den dadurch schon im frühen Alter zu erwartenden Erkrankungen hatte sie durch ihr sehr aktives Innenleben entgegenzuwirken vermocht, sodass die Verhärtungsprozesse erst viel später in Erscheinung traten. | Sie ist für mich ein typisches Beispiel dafür, wie gerade in der frühen Kindheit, in der sich das Nervensystem aufbaut, Schäden veranlagt werden können, die sich in starken Abbauerscheinungen im späteren Alter widerspiegeln. Den schwächenden Einflüssen ihrer schweren Kindheit und Jugend und den dadurch schon im frühen Alter zu erwartenden Erkrankungen hatte sie durch ihr sehr aktives Innenleben entgegenzuwirken vermocht, sodass die Verhärtungsprozesse erst viel später in Erscheinung traten. | ||
=== | === ''Aufgaben einer zukunftsorientierten Erziehung'' === | ||
Aus dem Wissen um den Zusammenhang zwischen der Art, wie ein Mensch in seinem Körper inkarniert und zwischen der Art, wie er sich wieder davon löst, möchte ich konkrete Hinweise geben, wie wir bereits in der Pädagogik einen positiven Einfluss auf den Alterungsprozess nehmen können. | Aus dem Wissen um den Zusammenhang zwischen der Art, wie ein Mensch in seinem Körper inkarniert und zwischen der Art, wie er sich wieder davon löst, möchte ich konkrete Hinweise geben, wie wir bereits in der Pädagogik einen positiven Einfluss auf den Alterungsprozess nehmen können. | ||
Zeile 168: | Zeile 166: | ||
Jeder Mensch kann natürlich auch noch im Erwachsenenalter an sich arbeiten. Denn ''jedes'' Alter hat seine altersspezifische Lerndisposition, die es uns ermöglicht, bis zu einem gewissen Grad Versäumtes nachzuholen und damit vom Seelisch-Geistigen aus im Sinne einer „geistigen Ernährung“ heilsam auf den Leib zurückzuwirken. | Jeder Mensch kann natürlich auch noch im Erwachsenenalter an sich arbeiten. Denn ''jedes'' Alter hat seine altersspezifische Lerndisposition, die es uns ermöglicht, bis zu einem gewissen Grad Versäumtes nachzuholen und damit vom Seelisch-Geistigen aus im Sinne einer „geistigen Ernährung“ heilsam auf den Leib zurückzuwirken. | ||
==== · | ==== '''·''' Künstlerisches Üben ==== | ||
Hat man beispielsweise eine Erziehung genossen, die ganz im Zeichen der Frühintellektualisierung stand, so ist es eine große Hilfe, wenn man sich im späteren Leben künstlerisch betätigt. Optimal wäre es, regelmäßig an eurythmischen Laienkursen teilzunehmen, denn keine Kunst appelliert so zentral an die Aufbaukräfte des Organismus und führt zu einer Stärkung der gesamten Vitalität wie die Eurythmie. Die eurythmischen Bewegungen entsprechen den Entwicklungsbewegungen des menschlichen Körpers, die schon vom Embryo als Wachstumsbewegungen durchgeführt werden. Das zeigen Ultraschall-Filmaufnahmen, die während der Schwangerschaft gemacht worden sind. Die Embryonen und Feten vollführen die Grundbewegungen, die wir aus der Sprach- und Toneurythmie kennen. Doch hilft natürlich jede künstlerische Tätigkeit, die schöpferischen Kräfte – speziell des Gefühls und Willenslebens – zu aktivieren, da Kunst nicht auf Verstandesleistungen beruht, sondern durch regelmäßiges Üben und Wiederholen (Willensanstrengungen) und durch ästhetisches Beurteilungsvermögen zustande kommt. Genau hinzuspüren, ob etwas schon gelungen ist oder nicht, regt wiederum das Gefühlsleben an. | Hat man beispielsweise eine Erziehung genossen, die ganz im Zeichen der Frühintellektualisierung stand, so ist es eine große Hilfe, wenn man sich im späteren Leben künstlerisch betätigt. Optimal wäre es, regelmäßig an eurythmischen Laienkursen teilzunehmen, denn keine Kunst appelliert so zentral an die Aufbaukräfte des Organismus und führt zu einer Stärkung der gesamten Vitalität wie die Eurythmie. Die eurythmischen Bewegungen entsprechen den Entwicklungsbewegungen des menschlichen Körpers, die schon vom Embryo als Wachstumsbewegungen durchgeführt werden. Das zeigen Ultraschall-Filmaufnahmen, die während der Schwangerschaft gemacht worden sind. Die Embryonen und Feten vollführen die Grundbewegungen, die wir aus der Sprach- und Toneurythmie kennen. Doch hilft natürlich jede künstlerische Tätigkeit, die schöpferischen Kräfte – speziell des Gefühls und Willenslebens – zu aktivieren, da Kunst nicht auf Verstandesleistungen beruht, sondern durch regelmäßiges Üben und Wiederholen (Willensanstrengungen) und durch ästhetisches Beurteilungsvermögen zustande kommt. Genau hinzuspüren, ob etwas schon gelungen ist oder nicht, regt wiederum das Gefühlsleben an. | ||
==== · | ==== '''·''' Kontrolle der Kritikbereitschaft ==== | ||
Auch ist es eine gute Übung für früh intellektualisierte Menschen, sich in Bezug auf ihre Kritikbereitschaft zu kontrollieren. Denn meist neigen sie dazu, unablässig Situationen, Menschen und Vorgänge um sich herum zu beurteilen. Wer dies bei sich entdeckt und darauf zu verzichten beginnt, wird bemerken, dass seine Vitalität zunimmt. Zudem werden die Aufbaukräfte des Organismus dadurch unterstützt. Denn alles kritische Beurteilen birgt eine destruktive Tendenz, egal, ob das Urteil positiv oder negativ ausfällt. Beurteilungen dienen dazu etwas ''festzustellen'' und beruhen somit auf einem unproduktiven Gedankenleben: ''„Wie konnte der nur, er müsste doch eigentlich wissen...“,'' oder ''„Das finde ich ausgezeichnet, das hätte ich auch so gemacht, wenn ich in seiner Situation gewesen wäre – allerdings hätte er...“'' usw. Solche Feststellungen werden um ihrer selbst willen gemacht und ziehen keine Taten nach sich. | Auch ist es eine gute Übung für früh intellektualisierte Menschen, sich in Bezug auf ihre Kritikbereitschaft zu kontrollieren. Denn meist neigen sie dazu, unablässig Situationen, Menschen und Vorgänge um sich herum zu beurteilen. Wer dies bei sich entdeckt und darauf zu verzichten beginnt, wird bemerken, dass seine Vitalität zunimmt. Zudem werden die Aufbaukräfte des Organismus dadurch unterstützt. Denn alles kritische Beurteilen birgt eine destruktive Tendenz, egal, ob das Urteil positiv oder negativ ausfällt. Beurteilungen dienen dazu etwas ''festzustellen'' und beruhen somit auf einem unproduktiven Gedankenleben: ''„Wie konnte der nur, er müsste doch eigentlich wissen...“,'' oder ''„Das finde ich ausgezeichnet, das hätte ich auch so gemacht, wenn ich in seiner Situation gewesen wäre – allerdings hätte er...“'' usw. Solche Feststellungen werden um ihrer selbst willen gemacht und ziehen keine Taten nach sich. | ||
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''Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart'' | ''Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart'' | ||
== | == ZUKUNFTSSAAT GEWINNEN IM ALTER == | ||
''Wozu dienen uns Erkenntnisse im Alter, die wir im eigenen Leben nicht mehr umsetzen können?'' | ''Wozu dienen uns Erkenntnisse im Alter, die wir im eigenen Leben nicht mehr umsetzen können?'' | ||
Zeile 187: | Zeile 185: | ||
''Inwiefern hilft uns der Wiederverkörperungsgedanke dabei, eine lebensübergreifende Zukunftsperspektive zu entwickeln?'' | ''Inwiefern hilft uns der Wiederverkörperungsgedanke dabei, eine lebensübergreifende Zukunftsperspektive zu entwickeln?'' | ||
=== | === ''Lebenserfahrung als Zukunftssamen begreifen'' === | ||
Je älter man wird, desto klarer weiß man, wie man am liebsten gelebt hätte. Manches davon kommt uns noch in diesem Leben zugute, aber vieles davon ist wie ein Weisheitssamen, wie eine Saat für Zukünftiges, weil man die daraus gewonnenen Erkenntnisse und Impulse in diesem Leben oft nicht mehr verwirklichen kann. Aus dem, was man gelernt hat, würde man rückblickend vieles anders machen wollen – hat aber aufgrund des vorgeschrittenen Alters und der damit einhergehenden veränderten Lebenssituation keine Möglichkeit mehr dazu. | Je älter man wird, desto klarer weiß man, wie man am liebsten gelebt hätte. Manches davon kommt uns noch in diesem Leben zugute, aber vieles davon ist wie ein Weisheitssamen, wie eine Saat für Zukünftiges, weil man die daraus gewonnenen Erkenntnisse und Impulse in diesem Leben oft nicht mehr verwirklichen kann. Aus dem, was man gelernt hat, würde man rückblickend vieles anders machen wollen – hat aber aufgrund des vorgeschrittenen Alters und der damit einhergehenden veränderten Lebenssituation keine Möglichkeit mehr dazu. | ||
Will man nicht in einem Gefühl der Sinn- und Nutzlosigkeit und der Trauer versinken, muss man den Blick über das aktuelle Erdenleben hinaus erweitern und empfinden lernen: Alles, was ich in diesem Leben nicht mehr verändern und erreichen kann, wird zu einer Zukunftssaat. Es wird fruchtbar werden in einem zukünftigen Leben. | Will man nicht in einem Gefühl der Sinn- und Nutzlosigkeit und der Trauer versinken, muss man den Blick über das aktuelle Erdenleben hinaus erweitern und empfinden lernen: Alles, was ich in diesem Leben nicht mehr verändern und erreichen kann, wird zu einer Zukunftssaat. Es wird fruchtbar werden in einem zukünftigen Leben. | ||
=== | === ''Gegenwärtigkeit der Natur versus Zukunftsorientiertheit des Menschen'' === | ||
Anders als der Mensch haben Tiere diese Zukunftsorientiertheit nicht, haben keinen intrinsischen Entwicklungsdrang. Tiere und die gesamten Naturreiche erfüllen ihr gegenwärtiges Dasein in immer ähnlicher Weise. Sie verändern sich über lange Zeiträume hinweg, hauptsächlich dann, wenn sie sich an eine neue Umwelt anpassen müssen. | Anders als der Mensch haben Tiere diese Zukunftsorientiertheit nicht, haben keinen intrinsischen Entwicklungsdrang. Tiere und die gesamten Naturreiche erfüllen ihr gegenwärtiges Dasein in immer ähnlicher Weise. Sie verändern sich über lange Zeiträume hinweg, hauptsächlich dann, wenn sie sich an eine neue Umwelt anpassen müssen. | ||
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''Vgl. Videobeitrag „Freudvolles Älterwerden – Freiheit durch Verzicht“, vom 13.11.2022'' | ''Vgl. Videobeitrag „Freudvolles Älterwerden – Freiheit durch Verzicht“, vom 13.11.2022'' | ||
== | == WIE LEBENSFREUDE IM ALTER FRÜCHTE TRÄGT == | ||
''Wie gelingt ein freudevolles Älterwerden?'' | ''Wie gelingt ein freudevolles Älterwerden?'' | ||
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''Was kann man in späteren Jahren selber tun, um Traumatisierungen und Defizite aus der Kindheit zu überschreiben?'' | ''Was kann man in späteren Jahren selber tun, um Traumatisierungen und Defizite aus der Kindheit zu überschreiben?'' | ||
=== | === ''Pädagogischen Weitblick entwickeln'' === | ||
Ein freudevolles Älterwerden gelingt, wenn man die Chance genutzt hat, im Laufe des Lebens, aber besonders in jungen Jahren, Lebensfreude zu entwickeln. | Ein freudevolles Älterwerden gelingt, wenn man die Chance genutzt hat, im Laufe des Lebens, aber besonders in jungen Jahren, Lebensfreude zu entwickeln. | ||
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Eltern, aber auch andere Pädagogen, dürfen diesen Weitblick pflegen, dass die Freude, die sie ihren Kindern ermöglichen, Auswirken auf das Älterwerden der Kinder hat, wenn die Eltern vielleicht gar nicht mehr im physischen Körper anwesend sind. Das erfordert einen weiten, selbstlosen Blick auf die uns anvertrauten Kinder. | Eltern, aber auch andere Pädagogen, dürfen diesen Weitblick pflegen, dass die Freude, die sie ihren Kindern ermöglichen, Auswirken auf das Älterwerden der Kinder hat, wenn die Eltern vielleicht gar nicht mehr im physischen Körper anwesend sind. Das erfordert einen weiten, selbstlosen Blick auf die uns anvertrauten Kinder. | ||
=== | === ''Positives und Negatives in Kraftquellen verwandeln'' === | ||
Hatte man nicht das Glück, eine freudvolle, unbeschwerte Kindheit voller Wärme und Geborgenheit zu genießen, kann man selbst in späteren Jahren die daraus resultierenden Probleme, wie eine deprimierte Grundstimmung, überwinden lernen. Man kann Traumata und posttraumatische Belastungen verarbeiten, indem man sie als Tor ins eigene Innere nützt. | Hatte man nicht das Glück, eine freudvolle, unbeschwerte Kindheit voller Wärme und Geborgenheit zu genießen, kann man selbst in späteren Jahren die daraus resultierenden Probleme, wie eine deprimierte Grundstimmung, überwinden lernen. Man kann Traumata und posttraumatische Belastungen verarbeiten, indem man sie als Tor ins eigene Innere nützt. | ||
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Solche Fragen können den Anfang einer Reise zu sich selbst markieren und wertvolle Selbsterkenntnis-Prozesse anstoßen. Insofern können ALLE Lebenserfahrungen zu Quellen für Kraft und Weisheit, ja sogar neuer Lebensfreude, werden. | Solche Fragen können den Anfang einer Reise zu sich selbst markieren und wertvolle Selbsterkenntnis-Prozesse anstoßen. Insofern können ALLE Lebenserfahrungen zu Quellen für Kraft und Weisheit, ja sogar neuer Lebensfreude, werden. | ||
=== | === ''Persönlicher Umgang mit frühkindlicher Traumatisierung'' === | ||
Ich bin mit einer doppelseitigen Hüftluxation auf die Welt gekommen, die zu spät entdeckt wurde, was mir im Alter von zwei bis vier Jahren zahlreiche Operationen und damit einhergehende Narkoseerlebnisse einbrachte. Die Narkosen habe ich ausnahmslos als Todesmomente erlebte, weshalb ich auch in späteren Jahren immer Todesangst bekam, wenn mir irgendetwas zu nahekam. Gleichzeitig wuchs ich in dem trotz unserer Armut schönen, menschenwürdigen Umfeld meines christlichen Elternhauses auf. Wir bekamen viel Zuwendung, durften dabei aber auch Eigenständigkeit entwickeln, weil ich die Freiheit hatte zu tun, was immer ich wollte. | Ich bin mit einer doppelseitigen Hüftluxation auf die Welt gekommen, die zu spät entdeckt wurde, was mir im Alter von zwei bis vier Jahren zahlreiche Operationen und damit einhergehende Narkoseerlebnisse einbrachte. Die Narkosen habe ich ausnahmslos als Todesmomente erlebte, weshalb ich auch in späteren Jahren immer Todesangst bekam, wenn mir irgendetwas zu nahekam. Gleichzeitig wuchs ich in dem trotz unserer Armut schönen, menschenwürdigen Umfeld meines christlichen Elternhauses auf. Wir bekamen viel Zuwendung, durften dabei aber auch Eigenständigkeit entwickeln, weil ich die Freiheit hatte zu tun, was immer ich wollte. | ||
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Die Frage nach dem Sinn des Bösen trieb mich mit 15/16 Jahren schon dermaßen um, dass ich bereits in diesem Alter zur Anthroposophie kam und den Sinn des Bösen in der Tiefe zu verstehen lernte. Rudolf Steiner war der Einzige, der für mich eine befriedigende Antwort darauf hatte: dass Freiheit und wahre Liebe nur im Schatten des Dunklen entwickelt werden können. Wenn man von Natur aus oder gezwungenermaßen liebt, so ist das keine freie Tat. Freiheit lässt sich nur in der Konfrontation mit Zwang, der dem Unfreien und Bösen geschuldet ist, erwerben. | Die Frage nach dem Sinn des Bösen trieb mich mit 15/16 Jahren schon dermaßen um, dass ich bereits in diesem Alter zur Anthroposophie kam und den Sinn des Bösen in der Tiefe zu verstehen lernte. Rudolf Steiner war der Einzige, der für mich eine befriedigende Antwort darauf hatte: dass Freiheit und wahre Liebe nur im Schatten des Dunklen entwickelt werden können. Wenn man von Natur aus oder gezwungenermaßen liebt, so ist das keine freie Tat. Freiheit lässt sich nur in der Konfrontation mit Zwang, der dem Unfreien und Bösen geschuldet ist, erwerben. | ||
=== | === ''Böses als Hinweis auf das Gute benützen'' === | ||
Deshalb muss das Böse existieren, nicht, dass man es tut, selbst wenn alle anderen korrupt sind, wenn sie stehlen und betrügen, dass man es ihnen nachahmt – nein! Es geht einzig und allein darum, dass man daran aufwacht für das Gute. Nur im Umfeld des Bösen lernen wir durch den Kontrast verstehen, was die Bedingungen sind für das Gute, das Schöne und das Wahre – im Gegensatz zum Destruktiven, Hässlichen und Verlogenen. Alles, was uns die Freude raubt, kommt von Letzterem. | Deshalb muss das Böse existieren, nicht, dass man es tut, selbst wenn alle anderen korrupt sind, wenn sie stehlen und betrügen, dass man es ihnen nachahmt – nein! Es geht einzig und allein darum, dass man daran aufwacht für das Gute. Nur im Umfeld des Bösen lernen wir durch den Kontrast verstehen, was die Bedingungen sind für das Gute, das Schöne und das Wahre – im Gegensatz zum Destruktiven, Hässlichen und Verlogenen. Alles, was uns die Freude raubt, kommt von Letzterem. | ||
Aktuelle Version vom 24. März 2025, 21:29 Uhr
Bewusst altern – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
ALTERN IM LICHT DER METAMORPHOSE DER WESENSGLIEDER
Was ist mit Evolution und Involution des Menschen gemeint und wie hängen diese polaren Entwicklungsdynamiken zusammen?
Welche Aufgabe bzw. Kompetenzen haben die Wesensglieder im Zuge der Evolution bzw. der Involution?
Inwiefern ist die Involution eines Menschen ein Spiegel seiner Evolution?
In welcher Form werden die Wachstumskräfte des Ätherleibes bzw. die Differenzierungskräfte des Astralleibes sowie die Integrationskräfte des Ich im Zuge der Entwicklung wieder freigesetzt?
Die Wesensglieder in ihrer Bedeutung für unsere Entwicklung
Altwerden ist keine Krankheit, genauso wenig wie Schwanger-Sein. In beiden Fällen können jedoch Komplikationen und Schwierigkeiten auftreten, die dann behandlungsbedürftig sind. Rudolf Steiner sagt: Die Involutionsphasen spiegeln die Inkarnations- oder Evolutionsphasen.
- Die Evolution eines Menschen ist der Ausdruck des sich inkarnierenden Geistkeimes durch unsere Wesensglieder in den dreigliedrigen physischen Leib.
- Die Involution bezeichnet den Prozess der Exkarnation bzw. des zunehmenden leibfrei Werdens dieser Wesensglieder.
Diese Spiegelung lässt sich gut beobachten, wenn man um die Metamorphose der Wesensglieder weiß. Die Metamorphose der Wachstumskräfte in Denkfähigkeit als Ausdruck der Doppelnatur der Wesensglieder war für mich seit meiner Studienzeit das Waldorfparadigma schlechthin.
Vorab ein paar Worte zu den Wesensgliedern. Sie bauen auf der einen Seite den Körper auf, geben ihm auf der physischen Ebene Struktur, differenzieren ihn aus auf der ätherisch-astralen Ebene und wirken integrierend über die Ich-Organisation:
- das Ich wirkt integrierend
- das Astrale wirkt polarisierend
- das Ätherische wirkt aufbauend
Das ist die eine Geste.
Zusammenhang von Lebenskraft und Denkvermögen
Die andere Geste drückt sich über die schrittweisen „Geburten“ der Wesensglieder aus. Sie kann mit dem Paradigma der Metamorphose der Wesensglieder sehr gut erklärt werden. Im ersten Kapitel von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“[1] sind drei Absätze diesem Paradigma gewidmet. Dort heisst es sinngemäß ohne jegliche Einleitung: „Es ist von größter Bedeutung zu wissen, dass die Wachstumskräfte des Lebensorganismus dieselben Kräfte sind, die der Mensch zum normalen Denken braucht.“
Diesen Zusammenhang müssen wir begreifen lernen. Das Denken ist eine Lebensmöglichkeit, die dem Menschen zur Verfügung steht, die wir den leibfrei gewordenen Ätherkräften verdanken. Steiner meint mit „normalem Denken“ die ganze Palette der sogenannten normalen Gedankentätigkeit. Es gibt unterschiedliche Begriffe für den Verstand und unterschiedliche Ebenen von Bewusstsein und Wissen. In Steiners Konzept von der Metamorphose der Wachstumskräfte sind alle enthalten.
Wenn ich davon ausgehe, dass es einen Pool gibt für das Denken, muss ich auch das Steiner‘sche Paradigma damit in Übereinstimmung bringen. Ich kann also nur eine Theorie des Denkens entwickeln, indem ich davon ausgehe, dass die Denktätigkeit der Lebenstätigkeit entspricht, dass dieselben Kräfte in zwei unterschiedlichen Ausprägungen wirksam sind:
- Die Lebenstätigkeit (Wachstum, Formgebung, Regeneration) verdanken wir der unbewussten Ätherkraft, die im Körper als leibgebundene, biologische Intelligenz wirksam ist, die wir nur von außen beobachten können.
- Die Denktätigkeit verdanken wir der bewussten Ätherkraft, die uns als leibfreie Kompetenz zur Verfügung steht und zu der wir nur von innen Zugang haben. Jeder kann seine Gedanken nur selbst beobachten, das kann niemand sonst für ihn tun.
Diese beiden Ausprägungen des Ätherischen wirken polar und bilden somit ein Gegensatzpaar.
Schrittweise Geburten der Wesensglieder
Nun zu den Geburten der Wesensglieder in Jahrsiebten. Eine Geburt bedeutet grundsätzlich das Heraustreten aus einem Körper:
- Der physische Leib wird aus dem Uterus der Mutter heraus geboren.
- Der physische Leib des Kindes bildet ab da den Uterus für die schrittweise Geburt des Ätherleibes bis Ende des 1. Jahrsiebtes.
- Aus dem Ätherischen heraus werden schrittweise die Kräfte für die seelische Aktivität des Astralleibes Ende des 2. Jahrsiebtes geboren.
- Das Astralische bietet schließlich die Hülle, aus der heraus das Ich bis Ende des 3. Jahrsiebtes seine Kraft entfaltet.
So beschreibt Steiner diesen Vorgang, der sich im Zuge der Inkarnation vollzieht. Das ist das einzige Paradigma, das Steiner uns für die Anthroposophische Medizin gegeben hat, um egal welche psychosomatische Verbindung, aber auch die Herausforderungen rund um den Alterungsprozess zu begreifen.
Die Diastase als Exkarnationsmoment
Durch welches Tor verlassen nun diese Kräfte den physischen Leib?
Das Herz ist der Ort, an dem die leibgebundenen Ätherkräfte den Leib verlassen. Denn das Herz ist der einzige Ort im Körper, wo das Blut für Bruchteile von Sekunden stillsteht. In dem Moment, wo Wasser zum Stillstand kommt, zieht sich das Ätherische heraus, es verliert seine Lebendigkeit.
In der Medizin wird dieser Moment des Stillstands am Ende der Diastole „Diastase“ genannt. Das Blut steht still, dann kommt der erste Herzton, die Muskulatur des Herzens schwingt um den nicht komprimierbaren stillstehenden Blutinhalt – dadurch kommt erneut Bewegung hinein: Das Blut wird wieder ausgeworfen in die großen Körperarterien, in den Körper- und Lungenkreislauf.
Alle Aufbaukräfte aus den Wesensgliedern, die der Evolution dienen, werden, nachdem sie ihre Arbeit im Körper getan haben, wieder leibfrei und dienen jetzt der Involution. Sie verschwinden nicht einfach, sondern durchlaufen eine Metamorphose und stehen uns dann als unser leibfreies seelisch-geistiges Potential zur Verfügung. Doch wie bereits angedeutet entstammen sie, je nach unserem Entwicklungsalter, schwerpunktmäßig anderen Funktionssystemen unseres physischen Leibes.
Das Freiwerden von Ätherkräften als kontinuierlicher Prozess
Rudolf Steiner sagt, dass auch die höheren Kompetenzen, das Astralische und das Ich – man könnte auch sagen, das Emotionale und die willensgebundenen sozialen Fähigkeiten – sich lebenslang aus dem Physischen befreien. Sie vermögen das allerdings nur «auf den Flügeln des Ätherischen», nicht aus eigenem Antrieb, da sie nicht in Zeit und Raum leben. Sie sind vollkommen übersinnlicher Natur. Das Ätherische als unser Zeitenleib, der uns in die Zeit einbettet, ist mit der Zeit verbunden. Der physische Körper beheimatet uns im Raum.
- Beim kleinen Kind arbeiten die meisten ätherischen Kräfte im Körper und nur wenig ätherisches Potential frei ist für das Denken.
- In der Lebensmitte sind die ätherischen Kräfte von Körper und Geist im Gleichgewicht. Wir befinden uns körperlich-geistig in einem ausgewogenen Zustand.
- Beim alten Menschen ist es genau umgekehrt. Da hält nur noch ein müder Rest von Ätherkräften den Körper zusammen, oft fühlen wir uns auch schon schwächer, da unsere nächtliche Regenerationskraft nachlässt. Das bedeutet, dass die bisher dafür benötigten Ätherkräfte jetzt freigesetzt werden, um unser Denken zu verlebendigen und zu erweitern. Wenn wir Glück haben und unser Gehirn noch reflektieren kann, kommen wir und andere nun in den Genuss unserer Weisheit. Andernfalls profitieren die Engel davon.
- Im Sterben werden schließlich die letzten an den Körper gebundenen ätherischen Kräfte frei. Sie sind es auch, die allen außerkörperlichen Nahtoderfahrungen zugrunde liegen, da sich der ätherische Leib durch Schock herauslöst – aber wieder zurückkehrt. Das gänzliche Herauslösen des Ätherleibes aus dem Physischen wird oft auch als Geistgeburt bezeichnet.
Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
[1] Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
ALTERN ALS SPIEGEL DES HERANREIFENS
Inwiefern spiegeln sich die Inkarnationsprozesse im Zuge der Entwicklung im Alter?
Welche Schlüsse können wir daraus ziehen im Hinblick auf gesundes Altern?
Lassen sich schwächende Dispositionen aus Kindheit und Jugend wieder ausgleichen?
Involution als Spiegel der Evolution
Altwerden ist keine Krankheit, es können jedoch Komplikationen auftreten, die dann behandelt werden müssen. Woher diese Schwierigkeiten möglicherweise herrühren bzw. wie man sie durch eine „alterungsbewusste“ Pädagogik in vielen Fällen vermeiden könnte, möchte ich im Folgenden aus Sicht der anthroposophischen Menschenkunde erläutern.
Rudolf Steiner sagt: Die Involutionsphasen im Alter spiegeln die Evolutionsphasen von Kindheit und Jugend:[1]
- Die Evolution eines Menschen ist der Ausdruck des sich inkarnierenden Geistkeimes durch unsere Wesensglieder in den dreigliedrigen physischen Leib.
- Die Involution bezeichnet den Prozess der Exkarnation bzw. des zunehmenden leibfrei Werdens dieser Wesensglieder.
Das bedeutet, was zuletzt herangereift ist, bildet sich zuerst zurück. Der Abbau der Organsysteme vollzieht sich spiegelbildlich zu ihrer Entwicklung. Die folgende Gegenüberstellung der einander spiegelnden Lebensabschnitte soll das verdeutlichen.
EVOLUTION IM 3. JAHRSIEBT UND INVOLUTION ZWISCHEN 40 UND 50 JAHREN
· Evolution im Zuge der Inkarnation
Zwischen vierzehn und einundzwanzig Jahren reift das Stoffwechsel-Gliedmaßensystem aus. Skelett und Stoffwechsel brauchen also am längsten, bis sie vollkommen ausgereift sind und eine Stabilisierung des Hormonhaushaltes erreicht wird. Das dauert manchmal bis zum 23. Lebensjahr. Vom spirituellen Gesichtspunkt her würden wir sagen: Es dauert 21 bis 23 Jahre, bis der Mensch „vollständig inkarniert“ ist und sein Ich den Leib vollkommen ergriffen hat. Im 3. Jahrsiebt erwacht dank der aus der Ich-Organisation freiwerdenden Kräfte auch das eigenständige Denken am Umkreis. Jetzt geht es darum, dass der Jugendliche lernt, Idealismus zu entwickeln und zu lernen, sich geistig eigenständig ganz neu zu orientieren, sich aufzurichten, beweglich zu werden, das Instrument des Leibes von innen bewusst zu ergreifen. Wem das nicht gelingt, der ist prädisponiert für Erkrankungen, die die Erdenschwere und -belastung spürbar machen.
· Involution im Zuge der Exkarnation
Das zuletzt herangereifte Stoffwechsel-Gliedmaßensystem sowie das hormonelle System bilden sich zwischen 40 und 50 als Erste wieder zurück: Das Klimakterium setzt ein und führt zur Menopause, die eine totale hormonelle Umschaltung bei der Frau bedeutet. Beginnend beim Knochenbau und Hormonhaushalt devitalisiert sich der Organismus, d.h. die Regenerationskraft lässt nach. Wer dafür disponiert ist, hat Probleme mit dem Rücken, der Schulter, dem Nacken, bekommt Diabetes Typ II, Gallen- und Nierenprobleme, metabolische Syndrome und rheumatische Erkrankungen. Das heißt, es kommt zu chronischen Erkrankun-gen des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems. Das ganze System tritt in die Involutionsphase ein.
Frauen sind von den damit einhergehenden Prozessen stärker betroffen als Männer. Körperlich gesehen findet jedoch bei beiden Geschlechtern ein altersbedingter Devitalisierungsprozess statt. Stärker betroffen sind auch Menschen mit einer bestimmten Krankheitsdisposition, aber auch diejenigen, die sich nicht optimal inkarnieren konnten.
Gedanklich erwacht jedoch in der Regel ein neuer Idealismus, Lebensformen und Werte werden hinterfragt, man möchte sich beruflich verändern oder auf andere Weise „neu beginnen“, will endlich wirklich das eigene Leben leben.
EVOLUTION IM 2. JAHRSIEBT UND INVOLUTION ZWISCHEN 50 UND 60 JAHREN
· Evolution im Zuge der Inkarnation
Nach dem ersten Jahrsiebt bis zur Pubertät reifen die rhythmischen Funktionssysteme, insbesondere von Atmung und Kreislauf. Bei einem Zwölfjährigen haben wir noch ein Kinder-EKG, einen schnelleren Herzrhythmus und eine schnellere Atmung, als es der Erwachsene hat. Erst mit fünfzehn Jahren reift das Kreislaufsystem zur Erwachsenenkompetenz heran und die Atmungsorgane bilden einen ruhigeren, langsamen Erwachsenenrhythmus aus. Dann ist auch die Frequenzabstimmung zwischen Atem- und Herzrhythmus abgeschlossen.
Die wichtigste Stimulation bzw. Unterstützung der Reifung besteht darin, das Gefühlsleben zu kultivieren. Denn nichts regt Atem und Herzschlag besser an als das Pendeln zwischen den Polen tiefer Gefühle. Die Pflege tiefer Gefühle ist demnach die Prävention gegen vaskuläre Demenz, vor allem wenn eine familiäre Disposition vorliegt.
· Involution im Zuge der Exkarnation
Zwischen 50 und 60 stehen laut Statistik kardiovaskuläre Erkrankungen und die Chronifizierung von Lungenerkrankungen im Vordergrund, das heißt, die Abbauerscheinungen greifen auf das rhythmische System, auf Herz und Lunge, über: Es kommt zu Bluthochdruck, Rhythmusstörungen, zu koronaren Herzkrankheiten, bei einer entsprechenden Disposition tritt der erste Infarkt auf. Viele haben in ihrem Bekanntenkreis jemanden in diesem Alter, der an COPT, Angina Pectoris oder Herzrhythmusstörungen leidet. In jedem Fall lässt die Atemkapazität spürbar nach.
All diese Erkrankungen haben in diesem Alter statistisch gesehen eine erste große Inzidenz-phase und sind Ausdruck von Exkarnationsproblemen. Der Mensch kommt im Hinblick auf seine Vitalität, seine Seelenverfassung und seinen ganzen biografischen Entwurf in eine Krise. Er muss körperliche Einbußen hinnehmen. Und – was man ja bei chronischen Krankhei-ten immer erlebt – er spürt hautnah die Vergänglichkeit und Endlichkeit seines Lebens.
Gedanklich hingegen stellt sich ein objektiveres, reifes Urteilsvermögen ein, die Fähigkeit, Gegensätze vermitteln und bewusst abwägen zu können.
EVOLUTION IM 1. JAHRSIEBT UND INVOLUTION ZWISCHEN 60 UND 70 JAHREN
· Evolution im Zuge der Inkarnation
Die Grundreifung der Sinnesfunktionen und etwa 90% der Kapazitäten des Zentralnervensystems erreichen schon in den ersten neun Lebensjahren die volle Funktionstüchtigkeit: Das Ohr ist mit etwa vier Jahren voll funktionstüchtig. Das Auge braucht acht Jahre, bis es in allen Feinheiten ausgereift ist: in Bezug auf die Perspektive, das Farbensehen, auf feinsten Abstufungen der Wahrnehmung und die Verknüpfung mit den anderen Sinnen. Das ist ein langer Reifungsprozess. Wir unterstützen diesen Prozess interessanterweise nicht dadurch, dass wir dem Zweijährigen Kopfrechnen beizubringen versuchen, sondern durch intensive Sinnespflege und Tatsachenlogik – durch sinnvolle Tätigkeiten, sinnvolle Zusammen-hänge, sinnvolles Sprechen, gedankenvolle Unterhaltung. Aber auch künstlerische Tätigkeiten und Eindrücke sind äußerst förderlich.
Wenn die Stimulation durch Sinnvolles und Künstlerisches in einer Biographie fehlt oder das Denken ganz materialistisch einseitig erzogen wird und die Sinneserfahrungen korrumpiert und verfälscht werden von Fernsehen und Computer, sind die Betroffenen prädisponiert dafür, im Alter verstärkt Probleme mit ihrem Nervensinnessystem zu bekommen.
· Involution im Zuge der Exkarnation
Gott sei Dank lassen die Gehirn- und Sinnesleistungen zwischen 60 und 70 Jahren erst ganz zuletzt schrittweise nach: Jetzt treten gehäuft Degenerationserscheinungen am Nervensinnessystem, an den Sinnesorganen und dem Zentralnervensystem auf. Unser Gedächtnis und unsere Seh- und Hörkraft lassen nach, das heißt, dass die Regenerationsfähigkeit des Sinnes-und Nervensystems rapide abnimmt. Wir werden langsamer, brauchen Unterstützung.
Umso erstaunlicher ist es, dass mit dieser Lebensphase normalerweise keine geistige Leistungsminderung parallel geht. Auch wenn zusammen mit den Sinnesorganen das Gehirn ebenfalls nachweislich altert und messbar an Substanz verliert, kann dieser Vorgang dennoch mit geistiger Frische, neuen Perspektiven und Sichtweisen einhergehen. Nicht nur, dass die Plastizität und Kompensationsfähigkeit des Nervensystems bis ins hohe Alter erhalten bleiben - es werden auch weitere Bildekräfte frei, die aus den Abbauvorgängen dieser Organsysteme stammen. Dadurch treten neue Vorstellungsmöglichkeiten auf und eine größere Fähigkeit zu gedanklicher Überschau, selbst wenn einen das Kurzzeitgedächtnis manchmal etwas im Stich lässt.
Nur im Falle einer Demenzerkrankung, die aber grade kein gesundes Altern darstellt, sondern eine Erkrankung des Nervensystems, ist dies natürlich anders. Dennoch muss man auch in diesem Krankheitsfall davon ausgehen, dass die körperunabhängigen Gedanken-, Gefühls- und Willenskräfte der so Erkrankten durchaus da sind. Nur ist die gesunde Gehirnfunktion nicht mehr vorhanden als Grundlage für ein selbstbewusst geführtes und geordnetes Vorstellen von Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen. Umso wichtiger ist es, neue Kommunikationsformen zu entwickeln, indem man mit diesem real vorhandenen Geistigen rechnet und der Betroffene dies spüren kann.
DIE INVOLUTIONSPHASE VON 70 JAHREN AUFWÄRTS
Das Bibelwort „Unser Leben währet 70 Jahre“ entspricht der Rhythmik zwischen Inkarnation und Exkarnation. Dann folgt eine Gnadenzeit, die sich durch eine gewisse Stabilität auszeichnet. Menschen, die bis zum Alter von 70 Jahren keine Anzeichen aufweisen für eines der genannten chronischen Probleme, werden zwar schwächer, bleiben dabei aber oft geistig frisch, sie bauen nicht wirklich ab vor dem Tod. Das erlebte ich oft in der Praxis.
Bedingungen für Gesundheit bis ins hohe Alter
Wir sehen also: Wenn sich in Kindheit und Jugend die „Inkarnation“ des Menschen so vollzieht, dass Körper, Seele und Geist altersgerecht gefordert werden, so ist dies die beste Vorbedingung dafür, dass auch die „Exkarnation“ harmonisch und ohne größere gesundheit-liche Einbrüche vonstattengeht.
Eine gesundheitsfördernde Erziehung, wie sie u.a. das Konzept der Waldorfpädagogik vorsieht, wirkt als primäre Krankheitsprävention für die zweite Lebenshälfte. Die Art und Weise, wie Entwicklung in Kindheit und Jugend sich vollzogen hat, bestimmt über den Schweregrad und die Ausprägung chronischer Erkrankungen und Verschleißerscheinungen im Alter: Je harmonischer ein Mensch in Kindheit und Jugend im Zuge der Inkarnation heranreifen kann, umso weniger Krankheitsneigungen zeigt er im Zuge der Exkarnation.
Doch auch Erziehung und Selbsterziehung, lebenslange Freude am Lernen sowie an der Entwicklung neuer Fähigkeiten bedingen Gesundheit bis ins hohe Alter.
Auf diesem Gebiet müsste noch viel geforscht werden. Wir benötigen sehr gut abgestimmte Therapiekonzepte, die regenerierende und die Inkarnation fördernde Möglichkeiten in konkrete Behandlungsansätze umwandeln, je nachdem, welche Symptomatik vorherrscht.
Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008
[1] Rudolf Steiner, Wege und Ziele des geistigen Menschen. Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft.GA 125, Dornach 1992, S. 55.
PROBLEME IM ALTER VERMEIDEN DURCH ALTERSBEWUSSTE PÄDAGOGIK
Wie kommt es, dass man gerade heute so viele müde und verhärmte alte Menschen trifft, wo es doch laut der anthroposophischen Menschenkunde mit der geistigen Kraft aufwärts gehen sollte?
Wie hängt der Inkarnationsprozess in der ersten Lebenshälfte mit dem Exkarnationsprozess in der zweiten Lebenshälfte zusammen?
Alterungsprozess am Beispiel einer Patientin
Diese Fragen sollen am Beispiel einer Patientin erläutert werden, deren Alterungsprozess ich, nachdem sie das 75. Lebensjahr überschritten hatte, nah begleitete. Sie war ein geistig sehr aktiver Mensch gewesen. Dennoch entwickelte sie sich in den letzten Lebensjahren zunehmend in eine gewisse geistige Starre, die es ihr erschwerte, den Kontakt mit anderen Menschen zu pflegen. Sie wurde ängstlich und argwöhnisch, und man sah, wie die Verhärtungs- und Sklerotisierungsprozesse des Alters überhandnahmen und ihr bewusstes Gedankenleben stark beeinflussten.
Sie hatte bereits als junges Mädchen die Anthroposophie kennengelernt und seither unablässig an ihrer inneren Entwicklung gearbeitet, und sie war auch sehr erfolgreich und tüchtig in ihrem Beruf. Nach dem frühen Tod ihres Mannes war sie ganz auf sich selbst angewiesen. In ihrer frühen Kindheit hatte sie sehr unter einem extrem strengen Vater zu leiden gehabt und musste als Älteste von mehreren Geschwistern viel zu Hause helfen, oft bis in die Nacht hinein.
Sie ist für mich ein typisches Beispiel dafür, wie gerade in der frühen Kindheit, in der sich das Nervensystem aufbaut, Schäden veranlagt werden können, die sich in starken Abbauerscheinungen im späteren Alter widerspiegeln. Den schwächenden Einflüssen ihrer schweren Kindheit und Jugend und den dadurch schon im frühen Alter zu erwartenden Erkrankungen hatte sie durch ihr sehr aktives Innenleben entgegenzuwirken vermocht, sodass die Verhärtungsprozesse erst viel später in Erscheinung traten.
Aufgaben einer zukunftsorientierten Erziehung
Aus dem Wissen um den Zusammenhang zwischen der Art, wie ein Mensch in seinem Körper inkarniert und zwischen der Art, wie er sich wieder davon löst, möchte ich konkrete Hinweise geben, wie wir bereits in der Pädagogik einen positiven Einfluss auf den Alterungsprozess nehmen können.
Eine der wichtigsten Aufgaben einer zukunftsorientierten Erziehung, die nicht nur den Augenblick, sondern die ganze Biographie im Auge hat, besteht darin, die Lebenskräfte der Kinder bewusst so zu pflegen, dass solchen Alterungsvorgängen vorgebeugt wird. Durch Selbsterziehung und die intensive Pflege des eigenen Seelenlebens kann der Erwachsene selbst Gesundheit bis ins hohe Alter veranlagen.
Der Grund dafür, dass so viele Menschen im Alter bedauerliche Zustände erleben, liegt zum einen in den unzureichenden Entwicklungs- und Erziehungsbedingungen unserer Zeit und zum anderen in der mangelhaften selbstbestimmten Aktivierung der seelischen und geistigen schöpferischen Kräfte, die in einer durch den Materialismus geprägten Kultur zu wenig Pflege erfahren.
Selbst wenn in der Kindheit die Wachstumskräfte durch zu frühes intellektuelles Training in Denkkräfte umgewandelt wurden, gibt es Möglichkeiten, den zu erwartenden Schäden im späteren Leben vorzubeugen. Korrekturmöglichkeiten liegen immer in demjenigen, was für ein bestimmtes Lebensalter an der Reihe ist.
Nachholmöglichkeiten im Erwachsenenalter
Jeder Mensch kann natürlich auch noch im Erwachsenenalter an sich arbeiten. Denn jedes Alter hat seine altersspezifische Lerndisposition, die es uns ermöglicht, bis zu einem gewissen Grad Versäumtes nachzuholen und damit vom Seelisch-Geistigen aus im Sinne einer „geistigen Ernährung“ heilsam auf den Leib zurückzuwirken.
· Künstlerisches Üben
Hat man beispielsweise eine Erziehung genossen, die ganz im Zeichen der Frühintellektualisierung stand, so ist es eine große Hilfe, wenn man sich im späteren Leben künstlerisch betätigt. Optimal wäre es, regelmäßig an eurythmischen Laienkursen teilzunehmen, denn keine Kunst appelliert so zentral an die Aufbaukräfte des Organismus und führt zu einer Stärkung der gesamten Vitalität wie die Eurythmie. Die eurythmischen Bewegungen entsprechen den Entwicklungsbewegungen des menschlichen Körpers, die schon vom Embryo als Wachstumsbewegungen durchgeführt werden. Das zeigen Ultraschall-Filmaufnahmen, die während der Schwangerschaft gemacht worden sind. Die Embryonen und Feten vollführen die Grundbewegungen, die wir aus der Sprach- und Toneurythmie kennen. Doch hilft natürlich jede künstlerische Tätigkeit, die schöpferischen Kräfte – speziell des Gefühls und Willenslebens – zu aktivieren, da Kunst nicht auf Verstandesleistungen beruht, sondern durch regelmäßiges Üben und Wiederholen (Willensanstrengungen) und durch ästhetisches Beurteilungsvermögen zustande kommt. Genau hinzuspüren, ob etwas schon gelungen ist oder nicht, regt wiederum das Gefühlsleben an.
· Kontrolle der Kritikbereitschaft
Auch ist es eine gute Übung für früh intellektualisierte Menschen, sich in Bezug auf ihre Kritikbereitschaft zu kontrollieren. Denn meist neigen sie dazu, unablässig Situationen, Menschen und Vorgänge um sich herum zu beurteilen. Wer dies bei sich entdeckt und darauf zu verzichten beginnt, wird bemerken, dass seine Vitalität zunimmt. Zudem werden die Aufbaukräfte des Organismus dadurch unterstützt. Denn alles kritische Beurteilen birgt eine destruktive Tendenz, egal, ob das Urteil positiv oder negativ ausfällt. Beurteilungen dienen dazu etwas festzustellen und beruhen somit auf einem unproduktiven Gedankenleben: „Wie konnte der nur, er müsste doch eigentlich wissen...“, oder „Das finde ich ausgezeichnet, das hätte ich auch so gemacht, wenn ich in seiner Situation gewesen wäre – allerdings hätte er...“ usw. Solche Feststellungen werden um ihrer selbst willen gemacht und ziehen keine Taten nach sich.
Ganz anders die Urteile, die durch sorgfältiges Abwägen zu Entscheidungen und damit auch zu Willenshandlungen führen.
Im Rahmen der Selbsterziehung gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, in der Kindheit veranlagte Erziehungsschäden im späteren Leben auszugleichen und damit zur Harmonisierung der körperlichen und geistigen Kräfte beizutragen.
Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
ZUKUNFTSSAAT GEWINNEN IM ALTER
Wozu dienen uns Erkenntnisse im Alter, die wir im eigenen Leben nicht mehr umsetzen können?
Was kann uns helfen, mit dem Wissen um die Endlichkeit des eigenen Lebens und die altersbedingte Begrenztheit des eigenen Wirkens konstruktiv umzugehen?
Inwiefern hilft uns der Wiederverkörperungsgedanke dabei, eine lebensübergreifende Zukunftsperspektive zu entwickeln?
Lebenserfahrung als Zukunftssamen begreifen
Je älter man wird, desto klarer weiß man, wie man am liebsten gelebt hätte. Manches davon kommt uns noch in diesem Leben zugute, aber vieles davon ist wie ein Weisheitssamen, wie eine Saat für Zukünftiges, weil man die daraus gewonnenen Erkenntnisse und Impulse in diesem Leben oft nicht mehr verwirklichen kann. Aus dem, was man gelernt hat, würde man rückblickend vieles anders machen wollen – hat aber aufgrund des vorgeschrittenen Alters und der damit einhergehenden veränderten Lebenssituation keine Möglichkeit mehr dazu.
Will man nicht in einem Gefühl der Sinn- und Nutzlosigkeit und der Trauer versinken, muss man den Blick über das aktuelle Erdenleben hinaus erweitern und empfinden lernen: Alles, was ich in diesem Leben nicht mehr verändern und erreichen kann, wird zu einer Zukunftssaat. Es wird fruchtbar werden in einem zukünftigen Leben.
Gegenwärtigkeit der Natur versus Zukunftsorientiertheit des Menschen
Anders als der Mensch haben Tiere diese Zukunftsorientiertheit nicht, haben keinen intrinsischen Entwicklungsdrang. Tiere und die gesamten Naturreiche erfüllen ihr gegenwärtiges Dasein in immer ähnlicher Weise. Sie verändern sich über lange Zeiträume hinweg, hauptsächlich dann, wenn sie sich an eine neue Umwelt anpassen müssen.
Das ist beim Menschen ganz anders. Der Mensch passt sich nicht nur an seine Umwelt an, sondern geht ständig darüber hinaus. Dadurch hat jedes Jahrhundert, ja jedes Jahrzehnt ein anderes Gesicht bekommen. Für mich ist das ein klares Indiz dafür, dass der Mensch, im Gegensatz zu den Naturreichen, ein sich wiederverkörperndes Wesen ist, das aus den Erfahrungen eines vergangenen Lebens lernen darf für ein nächstes und übernächstes Leben.
Deswegen sind für mich biografische Fragen im Alter alles Zukunftsfragen. Sie drehen sich im Grunde alle um das eine Thema:
Was will ich über die Todesschwelle noch mitnehmen als Saat und Keim für die Zukunft?
Mich begeistert diese Perspektive. Ich bin deshalb auch nicht mehr traurig darüber, dass ich vieles nicht mehr verwirklichen kann. Was habe ich in der Jugend alles gedacht, wie ich die Welt verändern möchte! Im Laufe des Lebens wird man jedoch ganz bescheiden. Alles, was sich verwirklichen ließ, ist eine Quelle wachsender Dankbarkeit, und was nicht möglich war, ist eine Quelle berechtigter Hoffnung für die Zukunft.
Vgl. Videobeitrag „Freudvolles Älterwerden – Freiheit durch Verzicht“, vom 13.11.2022
WIE LEBENSFREUDE IM ALTER FRÜCHTE TRÄGT
Wie gelingt ein freudevolles Älterwerden?
Was können Eltern für ihre Kinder tun im Sinne einer salutogenetischen Prophylaxe gegen Altersbeschwerden?
Was kann man in späteren Jahren selber tun, um Traumatisierungen und Defizite aus der Kindheit zu überschreiben?
Pädagogischen Weitblick entwickeln
Ein freudevolles Älterwerden gelingt, wenn man die Chance genutzt hat, im Laufe des Lebens, aber besonders in jungen Jahren, Lebensfreude zu entwickeln.
Ich schrieb vor Kurzem das Buch „Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung“.[1] Ich versuchte dort darzustellen, wie die Umwelt geartet sein sollte, dass Kinder Vertrauen in die Welt und in das Leben entwickeln können. Mein Hauptanliegen war immer, gemeinsam mit Pädagogen – und sei es in der Schule – ein entwicklungsfreundliches Umfeld zu erschaffen, auch für Kinder, die das in ihrem häuslichen Umfeld nicht erleben konnten. Deshalb bin ich auch Kinderärztin geworden.
Die sensomotorische Entwicklung von Kindern, die Daseinsfreude, Lebensfreude und Freude an den Dingen haben, denen Eigenaktivität ermöglicht wird, vollzieht sich völlig anders als von denjenigen, die vernachlässigt, übergangen, nicht ernst genommen und traumatisiert oder aber verwöhnt und unselbständig erzogen werden, weil alles für sie gemacht wird. Es liegt an uns Erwachsenen, das Umfeld von Kindern so zu gestalten, dass sie Urvertrauen entwickeln und ihre urtümliche Daseinsfreude behalten und vertiefen können und dabei gleichzeitig Eigenständigkeit und Selbstverantwortung entwickeln.
Eltern, aber auch andere Pädagogen, dürfen diesen Weitblick pflegen, dass die Freude, die sie ihren Kindern ermöglichen, Auswirken auf das Älterwerden der Kinder hat, wenn die Eltern vielleicht gar nicht mehr im physischen Körper anwesend sind. Das erfordert einen weiten, selbstlosen Blick auf die uns anvertrauten Kinder.
Positives und Negatives in Kraftquellen verwandeln
Hatte man nicht das Glück, eine freudvolle, unbeschwerte Kindheit voller Wärme und Geborgenheit zu genießen, kann man selbst in späteren Jahren die daraus resultierenden Probleme, wie eine deprimierte Grundstimmung, überwinden lernen. Man kann Traumata und posttraumatische Belastungen verarbeiten, indem man sie als Tor ins eigene Innere nützt.
Wir Menschen fühlen uns durch schöne Erlebnisse gestärkt, während wir uns durch schmerzliche Erlebnisse wie geschlagen, abgestraft und „von allen guten Geistern verlassen“ fühlen. Die sogenannten negativen Erfahrungen wecken uns jedoch auf, indem sie uns existentielle Fragen stellen lassen und so in einem zweiten Schritt zu einer Kraftquelle werden können:
Warum ist dieses Ereignis passiert?
Warum ist es gerade mir zugestoßen?
Wie hätte man es verhindern können?
Was habe ich dadurch gelernt?
Solche Fragen können den Anfang einer Reise zu sich selbst markieren und wertvolle Selbsterkenntnis-Prozesse anstoßen. Insofern können ALLE Lebenserfahrungen zu Quellen für Kraft und Weisheit, ja sogar neuer Lebensfreude, werden.
Persönlicher Umgang mit frühkindlicher Traumatisierung
Ich bin mit einer doppelseitigen Hüftluxation auf die Welt gekommen, die zu spät entdeckt wurde, was mir im Alter von zwei bis vier Jahren zahlreiche Operationen und damit einhergehende Narkoseerlebnisse einbrachte. Die Narkosen habe ich ausnahmslos als Todesmomente erlebte, weshalb ich auch in späteren Jahren immer Todesangst bekam, wenn mir irgendetwas zu nahekam. Gleichzeitig wuchs ich in dem trotz unserer Armut schönen, menschenwürdigen Umfeld meines christlichen Elternhauses auf. Wir bekamen viel Zuwendung, durften dabei aber auch Eigenständigkeit entwickeln, weil ich die Freiheit hatte zu tun, was immer ich wollte.
Im Rückblick weiß ich, dass ich durch diesen Kontrast aus frühkindlicher Traumatisierung und schönem Elternhaus meine frühen Fragen über den Sinn von Tod und Zerstörung, von Krieg, den Atombomben und dem Holocaust verdanke – verstärkt sicher auch dadurch, dass ich direkt nach dem 2. Weltkrieg auf die Welt gekommen bin und all diese Destruktivität förmlich aufsog.
Die Frage nach dem Sinn des Bösen trieb mich mit 15/16 Jahren schon dermaßen um, dass ich bereits in diesem Alter zur Anthroposophie kam und den Sinn des Bösen in der Tiefe zu verstehen lernte. Rudolf Steiner war der Einzige, der für mich eine befriedigende Antwort darauf hatte: dass Freiheit und wahre Liebe nur im Schatten des Dunklen entwickelt werden können. Wenn man von Natur aus oder gezwungenermaßen liebt, so ist das keine freie Tat. Freiheit lässt sich nur in der Konfrontation mit Zwang, der dem Unfreien und Bösen geschuldet ist, erwerben.
Böses als Hinweis auf das Gute benützen
Deshalb muss das Böse existieren, nicht, dass man es tut, selbst wenn alle anderen korrupt sind, wenn sie stehlen und betrügen, dass man es ihnen nachahmt – nein! Es geht einzig und allein darum, dass man daran aufwacht für das Gute. Nur im Umfeld des Bösen lernen wir durch den Kontrast verstehen, was die Bedingungen sind für das Gute, das Schöne und das Wahre – im Gegensatz zum Destruktiven, Hässlichen und Verlogenen. Alles, was uns die Freude raubt, kommt von Letzterem.
Will man sich aus dem zwingenden Einfluss selbst erlebter Traumata befreien, muss man lernen, eigenaktiv, durch Selbsterziehung positive Eindrücke aufzusuchen, um das erlebte Negative wie zu überschreiben. Das gelingt am besten mit den Mitteln der Kunst oder durch Beobachtung der Natur, wo alles in der Balance wäre, wenn der Mensch nicht störend eingegriffen hätte. Wir dürfen erneut lernen, dass die Welt im Grunde gut, schön und wahr ist. Darüber kann und darf man sich zutiefst freuen – was mir zu einer Quelle des Trostes wurde.
Ich begann deshalb schon in jungen Jahren das Schöne zu bewundern, zu bestärken und zu suchen, auch im Mitmenschlichen. Es wurde mir zu einem tiefen Anliegen, dass Beziehungen und das Leben schön werden, dass das Verlogene, das uns überall umgibt, überwunden werden kann. Diese Art des Umgangs mit dem Bösen und Verlogenen, es als einen Hinweis auf das Gute und Wahre zu nutzen und es so gewissermaßen zu besiegen, hat mir eine bis heute unversiegbare Lebensfreude geschenkt.
Ich bin mir immer bewusst, dass ich mit guten Mächten verbunden bin – so wie Dietrich Bonhoeffer[2] das so wunderbar in seiner berühmten, im Gefängnis geschriebenen Gebetsstrophe ausdrückt:
„Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns vom Abend bis zum Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Das darf man sich jeden Tag in Erinnerung rufen.
Vgl. Videobeitrag „Freudvolles Älterwerden – Freiheit durch Verzicht“, vom 13.11.2022
[1] Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung, Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, ISBN: 9783939374862.
[2] Dietrich Bonhoeffer (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossenbürg) war ein lutherischer Theologe, profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche und am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Bonhoeffer, ges. am 12.10.2016.