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= Entwicklung – von Michaela Glöckler =
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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
== EMBRYONALE ENTWICKLUNGSSTADIEN UND -GESTEN ==
''Welche signifikanten Entwicklungsstadien durchläuft der Embryo?''
''Welche Entwicklungsgesten lassen sich aus den einzelnen Stadien ablesen?''
=== ''Entwicklungsstadien des Embryos'' ===
In den ersten Tagen nach der Zeugung muss sich der Embryo, das sich inkarnierende Kind, das nur als kleiner Zellhaufen sichtbar ist, erst einmal selbst seinen Umkreis, die Plazenta und alle anderen embryonalen Hüllen schaffen. Das ist seine Hauptarbeit. Wenn das geschafft ist, fängt der kleine Mensch an sich zu regen und zu leben. Es empfiehlt sich sehr, möglichst naturnahe Bilder der embryonalen Entwicklungsstadien im Internet oder in guten Embryologie-Büchern anzusehen.
Im Folgenden nur ein paar kurze Anmerkungen zu embryonalen Entwicklungsstadien:
* In der '''ersten Woche''' kommt es zum sogenannten ''Morula-Stadium''.
* In der '''zweiten Woche''' bildet sich der ''Embryoblast'' in seiner allerersten Veranlagung als zweiblättrige Keimscheibe in dieser wunderschönen Ausformung, die dann bald dreiblättrig wird.
* In der '''vierten Woche''' veranlagt sich bereits die ''Gesamtgestalt'' im Zentrum der embryonalen Hüllen.
* Aus der dreiblättrigen Keimanlage von Ektoderm, Entoderm und dem sich dazwischen bildenden Mesoderm differenzieren sich '''in den nächsten Wochen''' alle Körperorgane.
* In der '''achten Woche''' ist das ''Nervensystem'' bereits das differenzierteste Organsystem, über das wir als Menschen verfügen.
=== ''Entwicklungsgesten und Wesensglieder'' ===
Die Entwicklungsgesten hängen eng mit den Wesensgliedern, die sie vollziehen zusammen. Wir unterscheiden drei grundverschiedene Gesten:
==== 1. Wachstum (Proliferation) unter der Regie des ÄL ====
Der Ätherleib ist der große Materialbeschaffer, der Wachstumsspezialist, der Zellen bildet und unter der Regie des AL ausgestaltet. 
==== 2. Differenzierung unter der Regie des AL ====
Es ist wichtig sich ins Gedächtnis zu rufen, dass Leben eben auch die Differenzierung von ein und demselben Grundmaterial bedeutet. Das vollbringt der Astralleib (AL). Er bringt Differenzierung in alles Leben (Ätherische), sodass es sich individuell und spezifisch ausprägen kann: Gehirn und Magen leben beide, aber sie tun es auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Der Astralleib ist seinem Wesen nach musikalisch, weil in der Musik alles vom Intervall, vom Dazwischen, von der Differenzierung in feine Nuancen lebt.
==== 3. Integration unter der Regie der Ich-Organisation ====
Die Ich-Organisation ist die integrierende Instanz, sie schafft aus allem eine Ganzheit.
In der Embryonalentwicklung kann man am besten beobachten, wie diese unterschiedlichen Kompetenzen der Wesensglieder zum Tragen kommen, während sich die Organe bilden, differenzieren und ihren Platz im Ganzen finden.
''Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn In Diagnostik Und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung''
== STADIEN DER MENSCHLICHEN ENTWICKLUNG IN JUGEND UND ALTER ==
''Welche großen Entwicklungsabschnitte gibt es im menschlichen Leben?''
=== ''Reifezyklen in Jahrsiebten'' ===
Nach der Geburt steht zunächst die Entwicklung des Nervensystems im Vordergrund. Dann folgen die Organe der rhythmischen Funktionsordnung und schließlich die volle Ausreifung von Skelett und Stoffwechselorganen:
==== - Evolution im 1. Jahrsiebt ====
Die ''Grundreifung der Sinnesfunktionen'' und etwa 90% der Kapazitäten des Zentralnervensystems erreichen schon in den ersten 9 Lebensjahren die volle Funktionstüchtigkeit:
Das Ohr ist mit etwa vier Jahren voll funktionstüchtig.
Das Auge braucht acht Jahre, bis es in allen Feinheiten ausgereift ist: in Bezug auf die Perspektive, das Farbensehen, auf feinsten Abstufungen der Wahrnehmung und die Verknüpfung mit den anderen Sinnen. Das ist ein langer Reifungsprozess.
==== - Evolution im 2. Jahrsiebt ====
Bis zur Pubertät reifen die ''rhythmischen Funktionssysteme'', insbesondere von Herz und Kreislauf. Bei einem Zwölfjährigen haben wir noch ein Kinder-EKG, einen schnelleren Herzrhythmus und eine schnellere Atmung, als es der Erwachsene hat.  Die Ausreifung der Frequenzabstimmung zwischen Atem- und Herzrhythmus sind im Alter von 15-16 Lebensjahren abgeschlossen, dann hat sich die ruhigere, langsame Atmung des Erwachsenen entwickelt. Es dauert also länger, bis diese Organe „erwachsen“ sind.
==== - Evolution im 3. Jahrsiebt ====
''Skelett und Stoffwechsel'' brauchen am längsten, bis sie vollkommen ausgereift sind und die Stabilisierung der Stoffwechselvorgänge und des Hormonhaushaltes erreicht wird. Vom spirituellen Gesichtspunkt her würden wir sagen: bis der Mensch „vollständig inkarniert“ ist. Das dauert im Durchschnitt zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahren. Die Ausreifung des Skelettsystems zur Erwachsenenform geschieht bis zum 23. Lebensjahr.
== ''Involutionsphasen in Jahrzehnten'' ==
Interessant ist nun, dass sich in der zweiten Lebenshälfte diese drei Organsysteme in umgekehrter Reihenfolge wieder zurückbilden, was wir den Prozess des Alterns nennen.
# '''Zwischen 40 und 50''' mit dem Klimakterium tritt bei der Frau die Menopause ein. Die Involution der Stoffwechselprozesse beginnt. Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises und Stoffwechselstörungen wie Diabetes Typ 2 haben laut Statistik ihre höchste Inzidenz (Zeitpunkt des Eintretens) in diesem Alter. Gelenkverschleiß zeigt sich, Rückenprobleme werden spürbar; Gallen- und Nierensteine.
# '''Zwischen 50 und 60'''  treten in einem großen Schub die typischen pulmonalen und cardio-vaskulären Erkrankungen auf wie Bluthochdruck, Rhythmusstörungen, bei Disposition der erste Infarkt. Später oder früher wäre es schon nicht mehr so typisch. Das betrifft auch die Chronifizierung von Lungenerkrankungen, die hier einsetzt. All diese Erkrankungen haben in diesem Alter statistisch gesehen eine erste große Inzidenzphase. Wir sprechen dabei von Exkarnationsproblemen. Der Mensch kommt im Hinblick auf seine Vitalität, seine Seelenverfassung und seinen ganzen biografischen Entwurf in eine Krise. Er muss körperliche Einbußen hinnehmen. Und – was man ja bei chronischen Krankheiten immer erlebt – er spürt hautnah die Vergänglichkeit und Endlichkeit seines Lebens.
# '''Zwischen 60 und 70''' hingegen zeigen sich gehäuft Degenerationserscheinungen an den Sinnesorganen und dem Zentralnervensystem.    Gott sei Dank sind die Gehirn- und Sinnesleistungen die letzten Funktionen, die schrittweise nachlassen.
Die menschliche Entwicklung vollzieht sich nicht linear, sondern spiegelbildlich an der biologischen Lebensmitte (ca. 35 Jahre). Rudolf Steiner sagt: Die Involutionsphasen spiegeln die Inkarnations- oder Evolutionsphasen.[1]
Daraus lässt sich ersehen, dass die Art und Weise, wie die Entwicklung durch Kindheit und Jugend sich vollzogen hat, bestimmend ist für den Schweregrad der Ausprägung chronischer Erkrankungen und Verschleißerscheinungen im Alter. So gesehen ist primäre Prävention und Krankheitsvorbeugung in allererster Linie eine Erziehungsfrage. Denn je harmonischer die Reifung in Kindheit und Jugend – umso weniger Krankheitsneigungen treten in der Zeit der „Exkarnation“ auf.
''Vgl. 1. Kapitel, „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband, derzeit vergriffen''
== WIE DIE LEBENSKRÄFTE IN KINDHEIT UND ALTER ZUSAMMENHÄNGEN ==
''Wie kommt es, dass man gerade heute so viele müde und verhärmte alte Menschen trifft, wo es doch laut der anthroposophischen Menschenkunde mit der geisti­gen Kraft aufwärts gehen sollte?''
''Wie hängt der Inkarnationsprozess in der ersten Lebenshälfte mit dem Exkarnationsprozess in der zweiten Lebenshälfte zusammen?''
=== ''Alterungsprozess am Beispiel einer Patientin'' ===
Diese Frage soll am Beispiel einer Patientin er­läutert werden, deren Alterungsprozess ich, nachdem sie das 75. Lebensjahr überschritten hatte, nah begleitete. Sie war ein geistig sehr aktiver Mensch gewesen. Dennoch entwickelte sie sich in den letzten Le­bensjahren zunehmend in eine gewisse geistige Starre, die es ihr erschwerte, den Kontakt mit anderen Menschen zu pflegen. Sie wurde ängstlich und argwöhnisch, und man sah, wie die Verhärtungs- und Sklerotisierungsprozesse des Alters überhandnah­men und ihr bewusstes Gedankenleben stark beeinflussten.
Sie hatte bereits als junges Mädchen die Anthroposophie kennengelernt und seither unablässig an ihrer inneren Entwicklung gearbeitet, und sie war auch sehr erfolgreich und tüchtig in ihrem Beruf. Nach dem frühen Tod ihres Mannes war sie ganz auf sich selbst angewiesen. In ihrer frühen Kindheit hatte sie sehr unter einem extrem strengen Vater zu leiden gehabt und musste als Älteste von mehreren Geschwistern viel zu Hause helfen, oft bis in die Nacht hinein.
Sie ist für mich ein typisches Beispiel dafür, wie gerade in der frühen Kindheit, in der sich das Nervensystem aufbaut, Schäden veranlagt werden können, die sich in starken Abbauerscheinungen im späteren Alter widerspiegeln. Den schwächenden Einflüssen ihrer schweren Kindheit und Jugend und den dadurch schon im frühen Alter zu erwartenden Erkrankungen hatte sie durch ihr sehr aktives Innenleben entgegenzuwirken vermocht, sodass die Verhärtungsprozesse erst viel später in Erscheinung traten.
=== ''Aufgaben einer zu­kunftsorientierten Erziehung'' ===
Aus dem Wissen um den Zusammenhang zwischen der Art, wie ein Mensch in seinem Körper inkarniert und zwischen der Art, wie er sich wieder davon löst, möchte ich konkrete Hinweise geben, wie wir bereits in der Pädagogik einen positiven Einfluss auf den Alterungsprozess nehmen können.
==== '''·''' Bewusste Pflege der Lebenskräfte der Kinder ====
Eine der wichtigsten Aufgaben einer zu­kunftsorientierten Erziehung, die nicht nur den Augenblick, sondern die ganze Biographie im Auge hat, besteht darin, die Lebenskräfte der Kinder bewusst so zu pflegen, dass solchen Alterungsvorgängen vor­gebeugt wird. Durch Selbsterziehung und die intensive Pflege des eigenen Seelenlebens kann der Erwachsene selbst Gesundheit bis ins hohe Alter veranlagen.
Der Grund dafür, dass so viele Menschen im Alter bedauerliche Zustände erleben, liegt zum einen in den unzureichenden Entwicklungs- und Erziehungsbedin­gungen unserer Zeit und zum anderen in der mangelhaften selbstbestimmten Aktivierung der seelischen und geistigen schöpferischen Kräfte, die in einer durch den Materialismus geprägten Kultur zu wenig Pflege er­fahren.
Selbst wenn in der Kindheit die Wachstumskräfte durch zu frühes intellektuelles Trai­ning in Denkkräfte umgewandelt wurden, gibt es Möglichkeiten, den zu erwartenden Schäden im späteren Leben vorzubeugen. Korrekturmöglichkeiten liegen immer in demjenigen, was für ein bestimmtes Lebensalter an der Reihe ist.
==== '''·''' Versäumtes nachholen über altersgemäße Aktivitäten ====
Dazu ein Beispiel: Hat ein achtjähriges Kind den größten Teil seiner Kindheit vor dem Fernsehap­parat verbracht und ist deshalb motorisch ungeschickt, neigt zudem zu stereotypen Bewegungen, wiederholt ständig bestimmte Formulierungen, ist unfähig zu konzentrierter Gedankentätigkeit, so macht es keinen Sinn, mit einem solchen Kind die versäumte motorische, sprachliche und kognitive Kleinkind-Entwicklung nur nachholen zu wollen. Das ist gar nicht möglich! Man muss sich vielmehr fragen:
''Was braucht ein gesunder Achtjähriger?''
Altersgemäße Aktivitäten wären:
* Spaziergänge in der Natur
* Bewegungsspiele im Freien
* Lösen einfacher Rätsel
* gemeinsames Auswendiglernen von Gedichten
* Zeichnen von einfachen Formen mit der Hand, mit dem Fuß, mit immer wieder neuen Farben
* Malen von Bildern zu vorgelesenen Geschichten
* einfache musikalische Übungen an einem Instrument und in Form von Singen.
Über all das wird das Kind in seiner altersent­sprechenden Lerndisposition gefordert – aber nicht nur das: Über diese gemeinsamen Aktivitäten entsteht eine Beziehung zwischen Lehrer und Kind, die es dann auch erlaubt, dass manches aus der Kleinkindentwicklung in veränderter Form auf einer anderen Ebene nachgeholt werden kann. In einem solchen Fall sollte man sich zusätzlich mit erfah­renen Heilpädagogen, Ergo- und Physiotherapeuten unterhalten bzw. mit einem Kinderpsychiater austauschen.
=== ''Nachholmöglichkeiten im Erwachsenenalter'' ===
Jeder Mensch kann natürlich auch noch im Erwachsenenalter an sich ar­beiten. Denn ''jedes'' Alter hat seine altersspezifische Lerndisposition, die es uns ermöglicht, bis zu einem gewissen Grad Versäumtes nach­zuholen und damit vom Seelisch-Geistigen aus im Sinne einer „geistigen Ernährung“ heilsam auf den Leib zurückzuwirken.
==== '''·''' Künstlerisches Üben ====
Hat man beispielsweise eine Erziehung genossen, die ganz im Zeichen der Frühintellektualisierung stand, so ist es eine große Hilfe, wenn man sich im späteren Leben künstlerisch betätigt. Optimal wäre es, regelmäßig an eurythmischen Laienkursen teilzu­nehmen, denn keine Kunst appelliert so zentral an die Aufbaukräfte des Organismus und führt zu einer Stärkung der gesamten Vitalität wie die Eurythmie. Die eurythmischen Bewegungen entsprechen den Ent­wicklungsbewegungen des menschlichen Körpers, die schon vom Embryo als Wachstumsbewegungen durchgeführt werden. Das zeigen Ultraschall-Filmaufnahmen, die während der Schwangerschaft gemacht worden sind. Die Em­bryonen und Feten vollführen die Grundbewegun­gen, die wir aus der Sprach- und Toneurythmie kennen. Doch hilft natürlich jede künstlerische Tä­tigkeit, die schöpferischen Kräfte – speziell des Gefühls und Willenslebens – zu aktivieren, da Kunst nicht auf Verstandesleistungen beruht, sondern durch regel­mäßiges Üben und Wiederholen (Willensanstrengungen) und durch ästhetisches Beurteilungsvermögen zustande kommt. Genau hinzuspüren, ob etwas schon gelungen ist oder nicht, regt wiederum das Gefühlsleben an.
==== '''·''' Kontrolle der Kritikbereitschaft ====
Auch ist es eine gute Übung für früh intellektualisierte Menschen, sich in Be­zug auf ihre Kritikbereitschaft zu kontrollieren. Denn meist neigen sie dazu, unablässig Situationen, Men­schen und Vorgänge um sich herum zu beurteilen. Wer dies bei sich entdeckt und darauf zu verzichten beginnt, wird bemerken, dass seine Vi­talität zunimmt. Zudem werden die Aufbaukräfte des Organismus dadurch unter­stützt. Denn alles kritische Beurteilen birgt eine destruk­tive Tendenz, egal, ob das Urteil positiv oder negativ ausfällt. Be­urteilungen dienen dazu etwas ''fest zu stellen'' und beruhen somit auf einem unproduktiven Gedankenleben: ''„Wie konnte der nur, er müsste doch eigentlich wissen...“,'' oder ''„Das finde ich ausgezeichnet, das hätte ich auch so gemacht, wenn ich in seiner Situation gewesen wäre – allerdings hätte er...“'' usw. Solche Feststellungen werden um ihrer selbst willen gemacht und ziehen keine Taten nach sich.
Ganz anders die Urteile, die durch sorgfältiges Abwägen zu Entscheidungen und damit auch zu Willenshandlungen führen.
Im Rahmen der Selbsterziehung gibt es eine Fülle von Möglichkei­ten, in der Kindheit veranlagte Erziehungsschäden im späteren Le­ben auszugleichen und damit zur Harmonisierung der kör­perlichen und geistigen Kräfte beizutragen.
''Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart''
----[1] Rudolf Steiner, ''Wege und Ziele des geistigen Menschen'', GA 125.
== ALTERUNGSPROZESS IN BEZUG ZUR ENTWICKLUNG IN KINDHEIT UND JUGEND ==
''Welche großen Entwicklungsabschnitte gibt es im menschlichen Leben?''
''Wie hängen Evolution und Involution miteinander zusammen?''
''Welche Auswirkungen hat die Entwicklung in der Jugend auf den Alterungsprozess?''
=== ''Einander spiegelnde Evolutions- und Involutionsphasen'' ===
Altwerden ist keine Krankheit, genauso wenig wie Schwanger-Sein. In beiden Fällen kann es jedoch sein, dass Komplikationen und Schwierigkeiten auftreten, die dann behandelt wer­den müssen.
Rudolf Steiner sagt: Die Involutionsphasen im Alter spiegeln die Evolutionsphasen von Kindheit und Jugend:[1] Was zuletzt herangereift ist, bildet sich zuerst zurück, der Abbau der Organsysteme vollzieht sich spiegelbildlich zu ihrer Entwicklung.
==== 1. Evolution im 3. Jahrsiebt und Involution zwischen 40 und 50 Jahren ====
===== '''·''' ''Evolution im Zuge der Inkarnation  '' =====
Zwischen '''vierzehn und einundzwanzig''' Jahren reift das ''Stoffwechsel-Gliedmaßensystem'' aus. Skelett und Stoffwechsel brauchen also am längsten, bis sie vollkommen ausgereift sind und eine Stabilisierung des Hormonhaushaltes erreicht wird. Das dauert manchmal bis zum 23. Lebensjahr. Vom spirituellen Gesichtspunkt her würden wir sagen: Es dauert 21 bis 23 Jahre, bis der Mensch „vollständig inkarniert“ ist und sein Ich den Leib vollkommen ergriffen hat. Im 3. Jahrsiebt erwacht dank der aus der Ich-Organisation freiwerdenden Kräfte auch das eigenständige Denken am Umkreis. Jetzt geht es darum, dass der Jugendliche lernt, Idealismus zu entwickeln und zu lernen, sich geistig eigenständig ganz neu zu orien­tieren, sich aufzurichten, beweglich zu werden, das Instrument des Leibes von innen bewusst zu ergreifen. Wem das nicht gelingt, der ist prädisponiert für Erkrankungen, die die Erdenschwere und -belastung spürbar machen.
===== '''·''' ''Involution im Zuge der Exkarnation'' =====
Das zuletzt herangereifte Stoffwechsel-Gliedmaßensystem sowie das hormonelle System bilden sich '''zwischen 40 und 50''' als Erste wieder zurück: Das Klimakterium setzt ein und führt zur Menopause, die eine totale hormonelle Umschaltung bei der Frau bedeutet. Beginnend beim Knochenbau und Hormonhaushalt devitalisiert sich der Organismus, d.h. die Regenerationskraft lässt nach. Wer dafür disponiert ist, hat Probleme mit dem Rücken, der Schulter, dem Nacken, bekommt Diabetes Typ II, Gallen- und Nieren­pro­bleme, metabolische Syndrome und rheumatische Erkrankungen. Das heißt, es kommt zu chronischen Erkrankungen des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems. Das ganze System tritt in die Involutionsphase ein.
Frauen sind von den damit einhergehenden Prozessen stärker betroffen als Männer. Körperlich gesehen findet jedoch bei beiden Geschlechtern ein altersbedingter Devitalisie­rungs­prozess statt. Stärker betroffen sind auch Menschen mit einer bestimmten Krank­heits­disposition, aber auch diejenigen, die sich nicht optimal inkarnieren konnten.
Gedanklich erwacht jedoch in der Regel ein neuer Idealismus, Lebensformen und Werte werden hinterfragt, man möchte sich beruflich verändern oder auf andere Weise „neu beginnen“, will endlich wirklich das eigene Leben leben.
==== 2. Evolution im 2. Jahrsiebt und    Involution zwischen 50 und 60 Jahren ====
===== '''·''' ''Evolution im Zuge der Inkarnation  '' =====
'''Nach dem ersten Jahrsiebt bis zur Pubertät''' reifen die ''rhythmischen Funktionssysteme'', insbesondere von Atmung und Kreislauf. Bei einem Zwölfjährigen haben wir noch ein Kinder-EKG, einen schnelleren Herzrhythmus und eine schnellere Atmung, als es der Erwachsene hat. Erst mit fünf­zehn Jahren reift das Kreislaufsystem zur Erwachsen­enkompetenz heran und die Atmungs­organe bilden einen ruhigeren, langsamen Erwachsenenrhythmus aus. Dann ist auch die Frequenz­abstimmung zwischen Atem- und Herzrhythmus abgeschlossen.
Die wichtigste Stimulation bzw. Unterstützung der Reifung besteht darin, das Gefühls­leben zu kultivieren. Denn nichts regt Atem und Herzschlag besser an als das Pendeln zwischen den Polen tiefer Gefühle. Die Pflege tiefer Gefühle ist demnach ''die'' Prävention gegen vaskuläre Demenz, vor allem wenn eine familiäre Disposition vorliegt.
===== '''·''' ''Involution im Zuge der Exkarnation'' =====
'''Zwischen 50 und 60''' stehen laut Statistik kardiovaskuläre Erkrankungen und die Chro­ni­fizierung von Lungenerkrankungen im Vordergrund, das heißt, die Abbauerscheinungen greifen auf ''das rhythmische System'', auf Herz und Lunge, über: Es kommt zu Bluthochdruck, Rhythmusstörungen, zu koronaren Herzkrankheiten, bei einer entsprechenden Dispo­si­tion tritt der erste Infarkt auf. Viele haben in ihrem Bekanntenkreis jemanden in diesem Alter, der an COPT, Angina Pectoris oder Herzrhythmusstörungen leidet. In jedem Fall lässt die Atemkapazität spürbar nach.
All diese Erkrankungen haben in diesem Alter statistisch gesehen eine erste große Inzidenzphase und sind Ausdruck von Exkarnationsproblemen. Der Mensch kommt im Hin­blick auf seine Vitalität, seine Seelenverfassung und seinen ganzen biografischen Ent­wurf in eine Krise. Er muss körperliche Einbußen hinnehmen. Und – was man ja bei chro­nischen Krankheiten immer erlebt – er spürt hautnah die Vergänglichkeit und End­lich­keit seines Lebens.
Gedanklich hingegen stellt sich ein objektiveres, reifes Urteilsvermögen ein, die Fähigkeit, Gegensätze vermitteln und bewusst abwägen zu können.
==== 3. Evolution im 1. Jahrsiebt und Involution zwischen 60 und 70 Jahren ====
===== '''·''' ''Evolution im Zuge der Inkarnation  '' =====
Die Grundreifung der ''Sinnesfunktionen und etwa 90% der Kapazitäten des Zentral­nervensystems'' erreichen schon '''in den ersten neun Lebensjahren''' die volle Funktions­tüchtigkeit: Das Ohr ist mit etwa vier Jahren voll funktionstüchtig. Das Auge braucht acht Jahre, bis es in allen Feinheiten ausgereift ist: in Bezug auf die Perspektive, das Farbensehen, auf feinsten Abstufungen der Wahrnehmung und die Verknüpfung mit den anderen Sinnen. Das ist ein langer Reifungsprozess. Wir unterstützen diesen Prozess interessanterweise nicht dadurch, dass wir dem Zwei­jährigen Kopfrechnen beizubringen versuchen, sondern durch intensive Sinnespflege und Tatsachenlogik – durch sinnvolle Tätigkeiten, sinnvolle Zusammenhänge, sinnvolles Sprechen, gedankenvolle Unter­haltung. Aber auch künstlerische Tätigkeiten und Ein­drücke sind äußerst förderlich.
Wenn die Stimulation durch Sinnvolles und Künstlerisches in einer Biographie fehlt oder das Denken ganz materialistisch einseitig erzogen wird und die Sinneserfahrungen kor­rumpiert und verfälscht werden von Fernsehen und Computer, sind die Betroffenen prädisponiert dafür, im Alter verstärkt Probleme mit ihrem Nervensinnessystem zu bekommen.
===== '''·''' ''Involution im Zuge der Exkarnation'' =====
Gott sei Dank lassen die Gehirn- und Sinnesleistungen '''zwischen 60 und 70 Jahren''' erst ganz zuletzt schrittweise nach: Jetzt treten gehäuft Degenerationserscheinungen am ''Nervensinnessystem'', an den Sinnesorganen und dem Zentralnervensystem auf. Unser Gedächtnis und unsere Seh- und Hörkraft lassen nach, das heißt, dass die Regenerationsfähigkeit des Sinnes-und Nervensystems rapide ''a''bnimmt. Wir werden langsamer, brauchen Unterstützung.
Umso erstaunlicher ist es, dass mit dieser Lebensphase normalerweise keine geistige Leistungsminderung parallel geht. Auch wenn zusammen mit den Sinnesorganen das Gehirn ebenfalls nachweislich altert und messbar an Substanz verliert, kann dieser Vorgang dennoch mit geistiger Frische, neuen Perspektiven und Sichtweisen einhergehen. Nicht nur, dass die Plastizität und Kompensationsfähigkeit des Nervensystems bis ins hohe Alter erhalten bleiben - es werden auch weitere Bildekräfte frei, die aus den Abbauvorgängen dieser Organsysteme stammen. Dadurch treten neue Vorstellungsmöglichkeiten auf und eine größere Fähigkeit zu gedanklicher Überschau, selbst wenn einen das Kurzzeitgedächtnis manchmal etwas im Stich lässt.
Nur im Falle einer Demenzerkrankung, die aber grade kein gesundes Altern darstellt, sondern eine Erkrankung des Nervensystems, ist dies natürlich anders. Dennoch muss man auch in diesem Krankheitsfall davon ausgehen, dass die körperunabhängigen Gedanken-, Gefühls- und Willenskräfte der so Erkrankten durchaus da sind. Nur ist die gesunde Gehirnfunktion nicht mehr vorhanden als Grundlage für ein selbstbewusst geführtes und geordnetes Vorstellen von Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen. Umso wichtiger ist es, neue Kommunikationsformen zu entwickeln, indem man mit diesem real vorhandenen Geistigen rechnet und der Betroffene dies spüren kann.
==== Die Involutionsphase von 70 Jahren aufwärts ====
Das Bibelwort „''Unser Leben währet 70 Jahre“'' entspricht der Rhythmik zwischen Inkarnation und Exkarnation. Dann folgt eine Gnadenzeit, die sich durch eine gewisse Stabilität auszeichnet. Menschen, die bis zum Alter von 70 Jahren keine Anzeichen aufweisen für eines der genannten chronischen Probleme, werden zwar schwächer, bleiben dabei aber oft geistig frisch, sie bauen nicht wirklich ab vor dem Tod. Das erlebte ich oft in der Praxis.
=== ''Bedingungen für Gesundheit bis ins hohe Alter'' ===
Wir sehen also: Wenn sich in Kindheit und Jugend die „Inkarnation“ des Menschen so vollzieht, dass Körper, Seele und Geist altersgerecht gefordert werden, so ist dies die beste Vorbedingung dafür, dass auch die „Exkarnation“ harmonisch und ohne größere gesundheitliche Einbrüche vonstattengeht.
Eine gesundheitsfördernde Erziehung, wie sie u.a. das Konzept der Waldorfpädagogik vorsieht, wirkt als primäre Krankheitsprävention für die zweite Lebenshälfte. Die Art und Weise, wie Entwicklung in Kindheit und Jugend sich vollzogen hat, bestimmt über den Schweregrad und die Ausprägung chronischer Erkrankungen und Verschleißerschei­nungen im Alter: Je harmonischer ein Mensch in Kindheit und Jugend im Zuge der Inkarnation heranreifen kann, umso weniger Krankheitsneigungen zeigt er im Zuge der Exkarnation.
Doch auch Erziehung und Selbsterziehung, lebenslange Freude am Lernen sowie an der Entwicklung neuer Fähigkeiten bedingen Gesundheit bis ins hohe Alter.
Auf diesem Gebiet müsste noch viel geforscht werden. Wir benötigen sehr gut abgestimmte Therapiekonzepte, die regenerierende und die Inkarnation fördernde Möglichkeiten in konkrete Behandlungsansätze umwandeln, je nachdem, welche Symptomatik vorherrscht.
Vgl. ''Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008'' 
----[1] Rudolf Steiner, ''Wege und Ziele des geistigen Menschen. Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft''.GA 125, Dornach 1992, S. 55.
== VOM PUNKTBEWUSSTSEIN ZU PERIPHERER KOMPETENZ ==
''Wann ist ein Mensch ganz Mensch?''
''Welche Kompetenzen machen den Menschen aus und wann erwirbt er sie?''
''Macht der Verlust kognitiver Kompetenzen das Leben nicht mehr lebenswert? ''
=== ''Das Erklimmen des physiologischen Leistungsplateaus'' ===
Am Lebensanfang, wenn Kinder klein und unerfahren sind und alle möglichen Dumm­heiten machen, fällt es uns nicht schwer, sie als werdende Wesen zu begreifen. Selbst wenn sie noch überhaupt keinen Durchblick haben und sich den vernünftigsten Dingen widersetzen, würde niemand von „Demenz junior“ oder „präcox“ sprechen. Wir Erwach­senen vertrauen darauf, dass sich alles finden wird, wir haben Geduld…
Wenn ein Kind elf oder zwölf ist, denkt man, man wäre aus dem Gröbsten draußen, doch jetzt fangen die Probleme erst richtig an. Und spätestens ab dem vierzehnten Lebensjahr wird das Erwach­senwerden zu einer riesigen Herausforderung. Und wenn man meint, die Schulzeit geschafft zu haben, beginnt es mit der Wahl von Beruf und Studium wieder schwieriger zu werden. Klappt dieses oder jenes nicht, sind immer neue Herausforderungen zu meistern. Heute leben Kinder mit 28 oder 29 Jahren oft noch zu Hause, stehen noch nicht gänzlich auf eigenen Beinen. Dennoch erwarten wir, dass der junge Erwachsene jetzt selbständig wird.
Die Erfahrung zeigt, dass sich in der Lebensmitte, zwischen 30 und 40, zunehmend ein Gleich­gewicht zwischen unseren seelisch-geistigen Kräften, unserer Bewusst­seins­kompetenz und unserer physischen Kraft einstellt, auch „physiologisches Leistungs­plateau“ genannt. Da sind wir körperlich und seelisch im besten Zustand.
=== ''Mit 40 erst gescheit'' ===
Dennoch haben wir hier in Schwaben ein schönes Sprichwort: ''„Die Schwaben werden mit 40 erst gescheit.“'' Wenn die Kurve sich langsam dem Ende zuneigt, tut sich erst das auf, was man „Sozialkompetenz“ nennt, was man in Schwaben unter „Gescheitheit“ versteht: dass man das Leben nicht nur auf sich bezogen begreift, sondern dass man sich auch vom Umkreis her begreift – als jemanden, der agiert, zugleich aber auch als jemanden, mit dem andere zurechtkommen müssen:
* Man begreift sich einerseits als '''individuelles Wesen''', das die Welt vom eigenen Standpunkt aus betrachtet
* Gleichzeitig erlebt man sich aber auch als '''soziales Wesen''' mit einem Umkreis, das von diesem wahrgenommen und „ertragen“ wird.
Diese beiden Sichtweisen decken sich, wenn es gut geht, erst etwa mit 40 Jahren. Erst dann erwacht auch der Sinn für das eigene soziale Wesen und die damit verbundene Ver­antwortung.
=== ''Von der Selbstbezogenheit zur Umkreisbezogenheit'' ===
Diese Entwicklung hängt mit dem Aufbau unserer Konstitution zusammen:
* Der Kind-Mensch ist ein auf sich als Zentrum hin orientierter Mensch, der seinen Standpunkt, seinen    Blickwinkel, seine akustischen Eindrücke als zentral erlebt. Er hat ein '''extremes Punktbewusstsein'''.
* Der Erwachsene, der für andere tätig ist, der für andere etwas tut, auf den etwas zukommt, auf den andere Menschen    reagieren müssen, braucht eine große „peri­phere Kompetenz“, ist als    tätiger „Gliedmaßen-Mensch“ gefragt. Er hat ein '''ausge­prägtes Umkreisbewusstsein'''.
Dazu ein Beispiel: Die älteste Frau, die ich zurzeit kenne, ist 106 Jahre alt. Sie ist völlig fit und sagte mir, sie hätte noch eine Aufgabe: Sie würde die jungen Pflegenden auf der Pflegestation motivieren und ihnen den Sinn des Lebens nahebringen, weil sie heute ja solche Probleme hätten. Das gibt es auch: 106 Jahre und kein bisschen dement. Natür­lich braucht sie Gehhilfen, bewegt sich ganz vorsichtig und muss viel liegen. Man merkt, Seele und Geist können sich kaum mehr in diesem Körper halten, sind aber noch voll präsent.
=== ''Rückzug des zentral orientierten Menschen in der Demenz'' ===
Tritt zu einem bestimmten Zeitpunkt Altersdemenz auf, ist es gleichgültig, ob es sich um eine vaskuläre, eine neurogene oder eine primär metabolisch veranlagte Demenz handelt – das macht nur medizinisch einen großen Unterschied. Von der Symptomatik her wird ein totaler Rückzug des zentral orientierten Menschen erlebbar. Der peripher orientierte Mensch ist dafür umso wacher, umso sensibler, umso empfänglicher. Es ist keineswegs gerechtfertigt zu sagen, dass unser Leben, wenn das Punktbewusstsein nachlässt und der Ego-trip nicht mehr dominiert, nur ein „Leben zweiter Klasse“ ist oder sogar, dass es gar nicht mehr „lebenswert“ ist.
Die anthroposophische Menschenkunde kann im Hinblick auf diese Zusammenhänge wertvolle Orientierung geben.
Vgl. ''Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, Filderstadt, 19.2.2010''
== ENTWICKLUNGSPHASEN UND PÄDAGOGIK ==
''Wie lässt sich die Notwendigkeit altersgerechter Pädagogik erklären?''
''Zu welchen Entwicklungsphasen gehören welche pädagogischen Angebote?''
=== ''Vorschulzeit und erste Schuljahre bis ca. 9. Lebensjahr'' ===
Differenziertes Ausreifen des Nervensystems und der sensomotorischen Koordination (d.h. die Verknüpfung von Sinnesfunktionen mit der muskulären Tätigkeit) brauchen vielseitiges Üben und Betätigen. Koordinierte körperliche Bewegung und Freude am Entdecken der Sinneswelt – mit Hilfe aller Sinne – ist die natürliche Begabung der Kinder dieses Alters. Sie wissen instinktiv, dass ihnen das gut tut. So gilt es, Bewegungs- und Spielräume zu schaffen, in denen sie sich geschickt und altersentsprechend bewegen und betätigen können. Diesem Prinzip folgt der Waldorflehrplan von der Kinderkrippe an bis zum 9. Lebensjahr konsequent. In jedem Unterricht ist das Bewegungselement in irgendeiner Weise mit integriert, nicht nur in den so genannten Bewegungsfächern, deren Lehrplan insbesondere sensomotorisch wertvoll veranlagt ist. Denn alle Bewegungen – einschließlich dem kindgerechten Spiel- und Turnunterricht – werden in diesem Alter noch eng verknüpft mit Sinneserlebnissen praktiziert und oft begleitet durch musikalisch-rhythmische Übungen in Form von Sing-, Sprach- und Bewegungsspielen. Durch die musikalisch-rhythmischen Tätigkeiten wird auch die zur Sozialisation notwendige Fähigkeit des Zuhörens mit veranlagt.
Auch sind es ausschließlich entwicklungsphysiologische und psychologische Gründe, die ein striktes PC- und Multimediaverbot für Kindergärten und Grundschulen zum Ideal der Waldorferziehung machen. Was jetzt weltweit propagiert wird und einen hohen wirtschaftlichen Gewinn verspricht, „one Laptop per child" (der Mini-Bildschirm mit Flash-Speicher, WLAN und dem Betriebssystem Linux), um insbesondere Kindern der 3. Welt Anschluss an das digitale Zeitalter zu geben, ist eine gute Idee zum falschen Zeitpunkt. Und zwar nicht nur, weil die so genannten Entwicklungsländer sauberes Wasser, medizinische Grundversorgung und „richtige Schulen" brauchen, sondern weil jede Stunde vor dem Bildschirm das Aufsteigen eigener, nicht manipulierter innerer Bilder behindert und die Kinder am In-Bewegung-Sein hindert. Die Gehirnaktivität wird dadurch eingeschränkt, die sensomotorische Integration gestört – ganz unabhängig von dem Inhalt der Informationen und dem Problem, diese nicht eigenständig verarbeiten zu können.
==== Zu empfehlen sind: ====
* Anregung von Initiative durch eigenes Tun und „Vorbild-Sein"
* Spielmaterial, das die Eigenaktivität fördert: einfache Gegenstände und Materialien, die der Phantasie Raum lassen und zu vielen Gestaltungsmöglichkeiten anregen
* Aktivierung und Pflege der Sinne durch entsprechend ausgestattete Spielräume
* Veranlagen guter Gewohnheiten durch regelmäßiges Tun, kleine Rituale am Morgen, beim Essen, am Abend vor dem Schlafengehen
* Rhythmische Gestaltung des Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreslaufes
* Momente ungeteilter Aufmerksamkeit für das Kind: z.B. beim Aufstehen und Zubettgehen und dann hin und wieder während des Tages, in denen eine Begegnung, ein Sich-Wahrnehmen stattfinden kann.
* Ein „nonverbaler" Erziehungsstil: Nicht das Wort, sondern die Handlung, das Vorbild zeigt, worum es geht. Nur so erlebt sich das Kind frei gelassen. Denn es ahmt aus eigenem ''Antrieb'' nach.
* Möglichkeiten, der Natur zu begegnen
* Vermeiden von Multimedia-Angeboten und technischem Spielzeug
* Auch wenn der Tag sonst mit vielen Pflichten angespannt verläuft – das Kind im Bewusstsein haben, es „in Gedanken tragen, mitnehmen". Diese innere Tätigkeit hilft, dass der äußere Kontakt beim Wiedersehen schnell wieder da ist. Wichtig ist, die Nähe und Zugewandheit in der Beziehung zu pflegen und diese nicht abhängig zu machen von Wohlverhalten und schulischer Leistung.
* Freude und Dankbarkeit zeigen
* Klare Grenzen setzen und „leben". Das gibt Sicherheit und Orientierung. 
=== ''...bis zum 14./15. Jahr'' ===
Jetzt wird vor allem wichtig, was Ausbildung und Entwicklung der rhythmischen Funktionen fördert: Das sind Empfindungen und Gefühle. Nie atmen wir tiefer durch, als wenn wir uns wohl fühlen, nie schlägt das Herz gesünder, als wenn sich die Kinder freuen oder mit Eifer tätig sind. Zwischen dem 9. und 15. Lebensjahr zielt die gesamte Pädagogik und Didaktik darauf hin, das prozessual-künstlerische, aber auch ästhetische Element in allen Unterrichtsfächern zu berücksichtigen. Was beim Geräteturnen im Sport exakter und vollendeter Bewegungsablauf ist, den es einzuüben gilt, das sind im Geschichtsunterricht Gespräche und Unterrichtsfragen, in denen Ereignisse von mehreren Seiten so betrachtet werden, dass sich für den Schüler ein sinn­volles Ganzes ergibt, eine Art ästhetischer Zustand, „durch den er mit sich und der Welt übereinzustimmen lernt." Im naturwissenschaftlichen Unterricht sind es insbesondere die Experimente: Der Schüler beobachtet exakt und dokumentiert die sich darin zeigenden Gesetzmäßigkeiten übersichtlich und „schön". Er lernt ihren Wirkradius verstehen und sie handhaben. Auch mathe­matische Gesetze haben ihre Schönheit, weil sie „stimmen" und konstituierend sind, nicht nur in Technik und Wissenschaft, sondern auch im Leben. So werden die Schüler vertraut gemacht mit den Eigentümlichkeiten und „Stimmigkeiten" der Welt und der menschlichen Kultur.
Auch in diesen Lebensjahren empfiehlt sich noch Zurückhaltung in Bezug auf das digitale Zeitalter. Nur das sollte an Maschinen delegiert werden, was man im Prinzip auch selbst beherrscht und durchschaut. Selber Kopfrechnen, Theaterspielen, Musizieren, Tanzen, Erlebnisfahrten und Entdeckungen machen, lernen, wie man „live" Beziehungen pflegt – das sollte jetzt im Vordergrund stehen. Was zu Hause oft schon viel zu früh als Konzessionen an die Multimedia-Industrie zugelassen wird, sollte in der Schule umso mehr dazu motivieren, Leben ''und'' Realität an die Stelle von Technik und Virtualität zu setzen. Manchmal hilft auch der einfache Gedanke, Eltern und Schüler für diesen „Verzicht auf Zeit" zu mobilisieren, dass die Erfinder der Computer in ihrer eigenen Kindheit ohne diese Spielmöglichkeiten aufgewachsen sind. Um Neues zu finden, braucht man Kreativität und nicht Konditionierung.
==== Zu empfehlen sind: ====
* Gesprächskultur – das Kind, den Jugendlichen teilnehmen lassen an interessanten Gesprächen Erwachsener. Mit inneren Fragen leben: Wann war unser letztes Gespräch? Wann hatte ich Zeit, Interesse? Habe ich das Anerkennenswerte bemerkt, lobe ich genug oder bringe ich eher zum Ausdruck, was mich stört?
* Moderne Führungsstrukturen sprechen gern von „Fehlerkultur". Wer aus seinen Fehlern lernt, entwickelt sich nachhaltig – entsprechend auch ein Team zusammenarbeitender Menschen. Wie gehe ich mit Fehlern und Fehlverhalten in der Schule um? Wie helfe ich aus Fehlern zu lernen und diese nicht (nur) schlimm zu finden?
* Klare Führung in Grundsatzfragen im Tagesablauf unter Einbeziehung der Wünsche der Kinder. Verabredungen treffen und klar vereinbaren, wie sie überwacht werden.
* Künstlerische Betätigung, insbesondere Erlernen eines Musikinstrumentes
* Kontrollierter Multimediagebrauch und wo immer möglich das Aufarbeiten des Gesehenen und Erlebten im Gespräch.
=== ''... bis zum 21./22. Jahr'' ===
Vom 13., 14., 15. Lebensjahr an bis zum 19., 20., 21. Lebensjahr erhebt sich die Frage, auf welche Weise mit pädagogischen Mitteln unterstützt werden kann, was jetzt physiologisch an Entwicklungsprozessen im Vordergrund steht: die Ausreifung des Skelettsystems bis zur Erwachsenengröße und die hormonelle Umstellung und Ausreifung des intermediären Stoffwechsels nach der Pubertät. Zunächst könnte man meinen, Stoffwechsel und Skelett brauchen primär körperliche Betätigung – das ist natürlich richtig, jedoch nicht genug. Vielmehr gibt es eine andere Fähigkeit, die kontinuierlich, sozusagen von innen her, den Menschen erwärmt, anregt, aber vor allem auch aufrichtet und erfüllt: Es sind die zielorientierten Ideen, Interessen, Gesichtspunkte und Motivationen, die befeuern, die begeistern. Man sieht es den Jugendlichen unmittelbar am Gang und Bewegungsspiel an, an der Körperhaltung und Mimik, ob sie Gedanken hegen, durch die sie sich innerlich angeregt, motiviert, „aufgerichtet" fühlen oder ob sie Gedankenöde erleben und infolgedessen Lustlosigkeit und Desinteresse. Die Sprachweisheit bringt dies klar zum Ausdruck, wenn das Wort „Aufrichtigkeit" gerade diese doppelte Bedeutung hat: einmal „ehrlich, aufrichtig, wahrheitsorientiert" und zum anderen „körperlich aufgerichtet, gerade".
In der Oberstufe kommt den Erziehungsmaximen von Nachahmung und Vorbild, von Stimmigkeit und Schönheit untergeordnete Bedeutung zu. Jetzt geht es um Gewissensbildung, Wahrhaftigkeit und Freiheit. Wie muss ich unterrichten, damit der Jugendliche selber zu den Einsichten kommt, die in diesem Unterrichtsfach Sinn machen? Wie schafft man es, dass der Jugendliche nicht nacherzählt, was man selber vorgedacht hat, sondern dass man ihm Gesichtspunkte gibt, Bedingungen schildert, anhand derer er selbst die Lösung einer bestimmten Frage herausfinden kann?
==== Zu empfehlen sind: ====
* Fragekultur entwickeln, zum „selber Denken" anregen
* Freund und Begleiter sein, Interesse haben für das, was den Jugendlichen interessiert
* Wachsendes Freiheitsbewusstsein und Selbstständigkeit respektieren, eigene Erwartungen zurückstellen
* „Familienrat" halten. Verabredungen gemeinsam treffen, deren Erfolg/Misserfolg analysieren und das weitere Vorgehen beraten
* Sich über das „ganz andere" freuen lernen, verstehen wollen, was den Jugendlichen bewegt
* Vertrauen riskieren und signalisieren: Ich stehe zu dir, egal was kommt – und bin gespannt, wie dein Leben sich entwickeln wird.
=== ''Jegliche Erziehung ist Selbsterziehung'' ===
Unterricht als Selbstfindungsprozess zu begreifen, Erziehung in allen Phasen als Selbsterziehung – darauf kommt es an, erst selber nachahmen, dann selber die Stimmigkeit erleben, wenn verschiedene Zusammenhänge und Verständnismöglichkeiten erläutert werden, und schließlich selber verstehen, herausfinden, was gefragt ist – das ist der Grundnerv einer entwicklungsphysiologisch basierten Erziehung. Denn so wie das Kind es selber ist, welches sich entwickelt, so sollte es auch stets das Erleben haben, dies oder das habe ich selbst beobachtet, selbst gesehen, selbst gelernt. „Selbermachen" macht schon dem kleinen Kind weit mehr Freude, als alles Mögliche abgenommen zu bekommen, von demjenigen der es „besser" kann. Entwicklungsphysiologische Erziehung regt die Eigentätigkeit an, begreift den Erziehungsauftrag so, wie ihn Rudolf Steiner in seinem ''Baseler Lehrerkurs'' charakterisiert:[1]
Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muss.
Wer so zu sich kommt, ist dann auch im späteren Leben innerlich aktiv genug, um sich nicht zu langweilen. Er kann Technik sinnvoll nutzen, ohne dadurch bequem und unproduktiv-unzufrieden zu werden. Er ist weitgehend geschützt vor dem Abhängig-Werden von Drogen u.a. Er hat die Chance, selbstbestimmt zu leben.
''Vgl. 1. Kapitel, „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband, Verlag am Goetheanum, Dornach 2006, derzeit vergriffen''
----[1]  Rudolf Steiner, ''Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft.'' GA 301.
== ENTWICKLUNG UND LERNEN ==
''Inwiefern hängen die Entwicklungsphase und die Lernfähigkeit eines Kindes zusammen?''
''Welche Lerngebiete und -inhalte eignen sich für welche Entwicklungsräume?''
=== ''Bedeutung von altersentsprechendem Lernen'' ===
Es ist von größter Bedeutung, dass sich die Pädagogik an den altersentsprechenden Ent­wicklungsschritten orientiert und die Lerninhalte darauf abstimmt.
==== 1. Jahrsiebt – Die Welt ist gut ====
Entsprechend wird man in der Kindergartenzeit das Denken nicht mit Urteilen und Argumenten belasten, sondern vielmehr die Kinder nachahmend im gemeinsamen Alltag mitleben lassen und ihnen die Möglichkeit geben, körperliche Geschick­lichkeit zu erwerben und ihre Sinne gut auszubilden.
Das nötige '''Entwicklungsvertrauen''' rufen in dieser Zeit die Worte ''„die Welt ist gut“'' hervor. Sie sind deshalb das Entwicklungsmotiv der Waldorfpädagogik für das erste Jahrsiebt.
==== 2. Jahrsiebt – Die Welt ist schön ====
In der Grundschulzeit hingegen wird man alles daransetzen, das ästhetische Urteilsver­mögen, insbesondere durch künstlerisch gestalteten Unterricht, zu pflegen.
Die nötige '''Entwicklungslust''' rufen in dieser Zeit die Worte ''„die Welt ist schön“'' hervor. Sie sind deshalb das Entwicklungsmotiv der Waldorfpädagogik für das zweite Jahrsiebt.
==== 3. Jahrsiebt – Die Welt ist wahr ====
Erst nach der Pubertät im Oberstufenunterricht wird das eigenständige kritische Denken gefördert.
Das nötige '''Entwicklungsideal''' rufen in dieser Zeit die Worte ''„die Welt ist wahr“'' hervor. Sie sind deshalb das Entwicklungsmotiv der Waldorfpädagogik für das dritte Jahrsiebt.
Wenn sich körperliche und gedankliche Entwicklung altersgerecht und sinnvoll aufeinander abgestimmt vollziehen kann, ist die wichtigste Grundlage gelegt für die Gesundheit der zweiten Le­benshälfte. Wenn dies jedoch nicht möglich war, so können Krankheitsdispositionen für die zweite Lebenshälfte veranlagt werden. Die Veranlagung zu Stoffwechselstörungen und rheumatischen Krank­heiten, zu Erkrankungen der Atemwege und des Herz-Kreislaufsy­stems sowie zum Altersschwachsinn wird gefördert oder gemildert, je nachdem, wie der Wachstumsprozess begleitet wurde.
=== ''Identität von Wachstums- und Gedankenkräften'' ===
Wer über längere Zeit mit dem Konzept der Identität von Wachstums- und Gedankenkräften arbeitet, für den werden eine Fülle von Tatsachen verständlich, die für das menschliche Leben Bedeutung haben. Es wird verständlich, warum beispielsweise in der Pubertät, wo noch einmal ein deutlicher Wachstumsschub er­folgt, ein sogenannter „Leistungsknick“ zu verzeichnen ist: Wenn der Körper überwiegend mit Wachstum beschäftigt ist, kann er zur selben Zeit nicht geistige Hochlei­stungen vollbringen.
Das gilt auch für Zeiten von Krankheit, insbe­sondere, wenn sie mit Fieber verbunden ist. Hier sollte alles getan werden, um den Wachstums- und Regenerationskräften die volle Ruhe für ihre Arbeit am Leib des Kindes zu geben. Es wird auch verständlich, warum in der zweiten Lebenshälfte, wenn ein Mensch gesund alt wird, das geistige Wachstum weitergehen kann, obgleich der Körper in seine natürliche Involutionsphase, das heißt in den Altersabbau aller Organe eintritt: Die nachlassende Regenerations­kraft des Körpers führt zu einer Stärkung der Gedankenkraft, vor­ausgesetzt, dass der Mensch gelernt hat, diese aus dem Leib freiwer­denden Gedankenkräfte schöpferisch zu verwenden. Das ist allerdings eine Frage der Erziehung.
=== ''Altersgerechtes Lernen und Gesundheit'' ===
Wer von Jugend auf gewöhnt ist, in altersge­rechter Beanspruchung seiner geistigen Möglichkeiten tätig zu sein, für den wird sich die geistige Entwicklung wie selbstverständlich fortsetzen durch das ganze Leben hindurch.
Bleiben diese Wachstumskräfte jedoch im halbbewussten Bereich zwischen Leib und be­wusstem Gedankenleben gleichsam stecken, weil sie nicht in das be­wusste Gedankenleben integriert werden, so können auch sie eines Tages zu Krankheitstendenzen, insbesondere zu krankhaften Wachstumswucherungen führen.
''Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart''
== ENTWICKLUNGSAUFGABEN DES ERWACHSENEN ==
''Welche Entwicklungsaufgaben hat der Mensch, wenn er erwachsen geworden ist?''
''Welche Themen haben die mittleren (4. bis 7.) Jahrsiebte?''
=== ''Die mittleren Jahrsiebte und ihre Aufgaben'' ===
==== · 4. Jahrsiebt – Selbsterfahrung durch Welterfahrung ====
Nach dem eigentlichen Erwachsen-Werden '''mit 21 Jahren''' sind die jungen Menschen auf der Suche nach Welterfahrung, um sich darin selbst zu erfahren. Sie wollen nicht länger gelenkt werden, wollen selbst Lenker sein. Und das bedeutet wirkliche Arbeit.
==== · 5. Jahrsiebt – Verantwortung im Sozialen übernehmen ====
'''Im Alter von 28 bis 35 Jahren''' ist der Mensch Meister des eigenen Körpers geworden. Der nächste große Schritt ist nun, Verantwortung im Sozialen zu übernehmen. Das Ich muss zuerst das Astralische durchwirken und dann das Ätherische.
==== · 6. Jahrsiebt – die physische Welt meistern ====
'''Mit 35 bis 42 Jahren''' hat das Ich die Aufgabe, das Physische zu meistern in der realen Welt.
==== · 7. Jahrsiebt – neues Bewusstsein durch Selbsterziehung ====
Wer die physischen Gesetze zunehmend versteht und meistert, wird '''ab 42 Jahren''' weise: Er weiß um die eigene physische Kraft. Die sogenannte Midlife Crisis, die in diese Zeit fällt, betrifft vor allem diejenigen, denen es nicht gelang, das Physische, dazu gehört auch der physische Körper, wirklich zu meistern. Sie suchen dann oft nach einem Neubeginn im Physischen: nach einer neuen Familie, einem neuen Haus, einem neuen Job… Das ist eine kritische Zeit, in der die Menschen auf ihre eigene Begrenztheit gestoßen werden und merken, dass die Lebenszeit nicht ewig währt, dass man wissen muss, was man will. Sich Klarheit darüber zu verschaffen, was realistisch ist, macht weise. Ein wirklich realistisches Lebensziel wäre, ein neues Bewusstsein zu erlangen durch Selbsterziehung, indem man zu meistern lernt, was man hat.
==== ·   Letztes Lebensdrittel – der Entwicklung dienen ====
Wem das gelingt, der kann '''im letzten Lebens'''drittel der Entwicklung von Mensch und Welt dienen. Viele Menschen heute sind zwar aufgewachsen, aber noch längst nicht erwachsen. Wenn wir mit Kindern zu tun haben, ist es sehr gut für sie, wenn wir sie an unserem Bemühen, erwachsen zu werden, teilhaben lassen. Denn sie wollen, dass wir zu erwachsenen Menschen werden. Unser Bemühen spornt sie an, es auch zu versuchen. Dann ist es nicht weiter schlimm, dass wir noch nicht ganz erwachsen sind, unser Bemühen reicht.
''Vgl. IPMT-Schulung in China 2011''
== ANTHROPOSOPHISCHE FRÜHFÖRDERUNG ==
''Warum ist es so wichtig, das Kind in seinen Eigenbewegungen zu unterstützen?''
=== ''Eigenbewegung des Kindes maximal unterstützen'' ===
Wir haben bereits darüber gesprochen, was für eine Leistung es ist, aus der liegenden Position über die drehende, rollende, aktiv sich beugende und streckende und krabbelnde Bewegung schließlich in das Sich-Aufrichten zu kommen. Das Kind selbst bearbeitet, ergreift, bewegt und richtet diesen Leib auf. Diese Tatsache müssen wir heute als Bild in uns lebendig werden lassen, denn viele Maßnahmen aus Medizin und Frühförderung greifen von außen in die Willens- und Bewegungsfreiheit des Kindes ein. Ich rede jetzt nicht von den „Gehfrei-Geräten” und Kinderwippen, mit denen man Kindern, noch bevor sie selbst die Aufrechte errungen haben, auf unangemessene, pathologische Art das Sitzen oder Laufen ermöglicht. Das Kind bekommt einen Bewegungsspielraum, den es sich nicht selbst erarbeitet hat: Die Folge ist eine Schwächung des Selbsterlebens durch die Fremdbestimmung – dass es bewegt wird, anstatt sich selbst zu bewegen.
Anthroposophische Frühförderer bemühen sich, die krankengymnastischen Techniken und Behandlungsverfahren, die sie in ihrer Ausbildung gelernt haben, so umzuwandeln, dass die Eigenbewegung des Kindes maximal unterstützt wird. Es geht darum Verfahren anzuwenden, die die natürliche Entwicklung unterstützen.
=== ''Freude und Heiterkeit'' ===
Freude und Heiterkeit aber machen die Atmosphäre aus, in der die Inkarnation eines Kindes am besten gelingt. Rudolf Steiner sagt hierzu in seiner kleinen Schrift ''„Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft”:''[1]
''„Zu den Kräften,'' ''welche bildsam auf die physischen Organe wirken, gehört also Freude an und mit der Umgebung. Heitere Mienen der Erzieher, und vor allem redliche, keine erzwungene Liebe. Solche Liebe, welche die physische Umgebung gleichsam warm durchströmt, brütet im wahren Sinne des Wortes die Formen der physischen Organe aus. Wenn die Nachahmung gesunder Vorbilder in solcher Atmosphäre der Liebe möglich ist, dann ist das Kind in seinem richtigen Elemente. Strenge sollte darauf gesehen werden, daß in der Umgebung des Kindes nichts geschieht, was das Kind nicht nachahmen dürfte. Man sollte nichts tun, wovon man dem Kinde sagen müsste, das darfst du nicht tun ...”''
''Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 3. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft''
----[1] Rudolf Steiner, ''Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft''. Rudolf Steiner Verlag, 1984.
== NORMALITÄT UND NORM IN DER KINDLICHEN ENTWICKLUNG ==
''Gibt es eine allgemeingültige „normale“ kindliche Entwicklung?''
Die Frage nach dem so genannten „Normalen” wird immer wieder aufgeworfen werden. Aus kinderärztlicher Sicht würde ich sagen: Jeder ist so normal, wie er sein kann; man muss sich an der jeweils vorhandenen „Normalität” orientieren. Jeder Mensch setzt seine eigene Norm, ist sein eigener Maßstab. Man kann den anderen, nur weil er anders ist, nicht als „nicht normal” bezeichnen.
=== ''Jeder ist eine Welt für sich'' ===
Schon im Säuglingsalter ist keiner dem andern gleich. Der Begriff „Norm” kommt aus der naturwissenschaftlichen Medizin, denn nur auf naturwissenschaftlicher Ebene kann man vergleichen, Normen setzen und Abweichungen davon bestimmen. Es gibt Normen für Gewicht, Körper-, Kragen- und Hutgröße, auch für den Zuckergehalt des Blutes am Morgen und am Abend, für die Temperatur und so fort.
Überall gibt es aber eine gewisse Bandbreite, sodass wir in der Medizin nicht von „Normwerten”, sondern von „Normbereichen” sprechen. Der Hämoglobingehalt des Blutes sollte sich beispielsweise zwischen 12, 6 und 16, 5 bewegen, er variiert aber je nach Geschlecht und Alter: Wenn man erkältet ist, sind die Normwerte anders, als wenn man nicht erkältet ist; im Alter von dreißig Jahren sind sie anders als mit sechs Jahren. Jede Norm braucht immer den Bezug zur individuellen Situation. Und jeder Mensch ist eine Welt für sich und setzt seine eigene Norm.
Daraus folgt: Wenn wir Kinder so „normal” nehmen, wie sie sind, und ihnen erlauben, sich gemäß ihrer eigenen Norm, ihrem eigenen Schicksal und ihrem eigenen Vermögen zu entwickeln, arbeiten wir richtig im Sinne der kindlichen Entwicklung.
''Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft''
== REALITÄT DER GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN BLICK­RICHTUNG ==
''Welche Perspektive auf das Kind eröffnet die geisteswissenschaftliche Blickrichtung?''
''Inwiefern eröffnet sie eine wirklichkeitsgetreue Sicht auf das menschliche Wesen?''
=== ''Fehlender geistiger Gesichtspunkt'' ===
Wir können grundsätzlich davon ausgehen, dass, wenn wir über Leib und Seele von Kindern und Erwachsenen sprechen, immer etwas Entscheidendes fehlt. Es sind Bilder, die etwas verbergen, weil der geistige Gesichtspunkt nicht erscheint. Meist gehen die Theorien davon aus, dass Erlebnisse in der frühen Kindheit ganz bestimmte Auswirkungen haben, die dann das Leben bestimmen; sie rechnen immer nur mit ''einem'' Erdenleben. Und auch die meist hypnotischen Rückführungstechniken bleiben beim rein Psychologischen stehen, ohne kontrollierendes geisteswissenschaftliches Bewusstsein.
Unterhält man sich mit Menschen, die sich solchen Rückführungen unterzogen haben, oder liest man Bücher über Rebirthing, dann merkt man bald, dass sich bestimmte Motive ständig wiederholen, vor allem ganz bestimmte Situationen, in denen der Einzelne Opfer war: Holocaust, Folterung, Vergewaltigung, Spießrutenlaufen, Verbrannt-Werden usw., also ganz bestimmte Extremsituationen des Menschseins. Im Einzelfall kann das ja auch tatsächlich zutreffen.
=== ''Nötige wahrheitsgemäße Anschauung'' ===
Aus der Geisteswissenschaft wissen wir, dass der Mensch im nachtodlichen Leben seinen Ätherleib und seinen Astralleib ablegt.
''Was aber heißt das?''
Während wir die Gedanken des Selbstbewusstseins, der Selbsterfahrung, des Wesentlichen und Wesenhaften mit uns nehmen, lassen wir die Gedanken des Bösen, des Widernatürlichen und Abgründigen zurück. Denn all das ist nicht Teil unseres Wesens, auch wenn wir es erlebt und erlitten haben. Es ist nicht wahr und schön und gut. Wir lassen es in der sublunaren Sphäre, der Sphäre zwischen Erde und Mond, zurück und sie bleiben in der Ätheraura der Erde und machen deren Schmerzenscharakter aus. In dieser Sphäre sind das Dämonische und das Böse zu Hause, die bösen Gedanken und Gefühle, die Hass-Impulse.
Wenn sich nun Menschenseelen auf dem Weg zur Wiedergeburt, zur Inkarnation, der Erde nahen, nehmen sie in dieser Sphäre viele Schrecknisse und Grausamkeiten, die auf der Erde geschehen sind, wahr. Diese Eindrücke werden in den sich bildenden Ätherleib mit aufgenommen und können wie Selbsterlebtes im Bewusstsein auftauchen. Es ist jedoch nicht eigenes Karma, das man dann schaut, sondern man empfindet die Verbindung mit dem Menschheitskarma, mit der Menschheitsschuld, an deren Auflösung man in diesem Leben mitarbeiten will.
Zusätzlich zu den psychologisch-naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen über das Kind braucht es ein intensives Studium der Geisteswissenschaft, um die Phänomene des Kindseins und der kindlichen Entwicklung auch geisteswissenschaftlich beleuchten zu können. Sonst kommen wir nicht zu einer menschen- und wahrheitsgemäßen, allseitigen Anschauung.
''Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft''
== DIE SIXTINISCHE MADONNA ALS LEITBILD DER KINDLICHEN ENTWICKLUNG ==
''Gibt es Leitbilder der kindlichen Entwicklung, die uns helfen können, bestimmte Fragen für die Praxis leichter zu beantworten?''
Die Sixtinische Madonna erscheint mir ein grundlegendes Leitbild der kindlichen Entwicklung zu sein. Sie ist eine Art Ur-Madonna, wie nur Raffael sie malen konnte, von dem der deutsche Maler Dürer sagte, er habe in seinen Madonnenbildern „den Himmel auf die Erde gebracht“.
Dass sie weißhäutig ist, bedeutet nicht, dass sie nicht ebenso Urbild für farbige oder schwarze Menschen sein kann. Ich empfehle immer, dass man in farbigen Kindergärten eine farbige Madonna und daneben diese besondere Madonna von Raffael aufhängt, damit nicht das Missverständnis aufkommt, die weiße Madonna wäre „normaler” als die schwarze.
=== ''Die geistige Bedeutung der Farben'' ===
Weiß als Farbe drückt im geisteswissenschaftlichen Sinn „Gottesnähe” aus, schwarz hingegen ist Bild für das entkörperte, rein geistige Dasein in der geistigen Welt. Weiß bedeutet Gottesnähe auf Erden, Schwarz ist die esoterische Farbe des Todes, der Spiritualität. Weiß spricht vom Ideal der Reinigung der Seele auf Erden, Schwarz ist Sinnbild der Ewigkeit. Die menschlichen Hautfarben lassen sich zwischen diesen beiden Polen von inkarnierter und exkarnierter Geistigkeit einordnen.
Die Madonna Raffaels ist auch deshalb ein Archetyp im esoterischen Sinn, weil ihr Kind weder weiß noch schwarz ist, sondern in der Farbe des Inkarnats gemalt wurde, d.h. dem Weiß wurde etwas Schwarz und Rot beigemischt; in Schwarz und Rot wirkt die Spiritualität (der geistigen Welt) nach, gleichzeitig drückt sich aber im Weiß Erdzugewandtheit und Inkarnationswilligkeit aus. Das gilt auch für all die kleinen Kinderköpfchen ringsum. Dieses Madonnenbild ist esoterisch bedeutsam, weil unter spirituellen Aspekten jede Farbe und jede Form stimmt und das Kind so auf dem Arm der Mutter sitzt, dass es wie heraustritt aus dem Chor der ungeborenen, inkarnationswilligen Seelen. Das ist ein Umstand, der jedes kleine Kind als Aura umgibt: dass sich noch viele andere Kinder, viele andere Schicksale im Umkreis befinden.
=== Komposition des Inkarnationsaugenblickes ===
Ein Neugeborenes ist unendlich reich an Nachklängen aus der geistigen Welt, an ätherischen Bindungen, hierarchischen Gedanken, aber auch an Karma und Schicksalsbeziehungen. Das wird wunderbar durch die Engel und die männliche Gestalt ausgedrückt, die sich außer der Madonna und dem Kind noch auf dem Bild befinden. Das ist der Archetyp der esoterisch-exoterischen Komposition des Inkarnationsaugenblickes.
Von der Sixtinischen Madonna geht eine starke, im besten Sinne erzieherische, in die Senkrechte bringende, haltende Kraft aus. Wenn wir mit diesem Bild vor Augen an die Arbeit in unseren Betreuungseinrichtungen gehen, können wir daraus die richtige Haltung und Kraft schöpfen, um die Kinder in guter Weise auf ihrem Weg zur Erde zu führen.
''Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft''
== DAS AUTONOMIEPRINZIP IN DER MENSCHLICHEN EVOLUTION ==
''Welchen Stellenwert hat das Autonomieprinzip in der menschlichen Entwicklung?''
''Was drückt es aus in Bezug auf die Aufgabe des Menschen?''
=== ''Der Mensch als anpassungsfähigstes Wesen'' ===
''Bernd Rosslenbroich'' hat in seiner meisterhaften Studie zur Entwicklung von Mensch und Tier erstmals schlüssig anhand einer naturwissenschaftlichen Methodik dargelegt, dass der Evolution das Autonomieprinzip inhärent ist.[1] Das heißt, jeder Schritt in der Höherentwicklung der Arten stellt einen Zugewinn in der Befähigung zur Autonomie dar. Das kulminiert in der menschlichen Entwicklung. Der Mensch ist demnach das körperlich anpassungsfähigste Wesen. Er ist zudem frei im Hinblick auf den Umgang mit Wärme und Kälte, mit Nahrungsmitteln und Essenszeiten, mit der Schlaf- und Arbeitsmenge, mit der Work-Life-Balance, mit der Wahl seiner Partner und Freunde, mit Berufstätigkeit, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, mit der Frage, wie viele Sprachen er sprechen will, welche Hobbys er sich wählt, wie er liebt: ob er heiraten will oder in wechselnden Partnerschaften leben, ob er Kinder haben will oder nicht – um nur einige zu nennen.
Das Dilemma ist, dass der Menschen im Prinzip frei ist, doch auf Schritt und Tritt erlebt, wo er ''noch nicht'' frei ist: Oft bemerkt man erst zu spät, dass man eine falsche Entscheidung getroffen hat, man wünscht sich, was man (noch) nicht hat und steht immer wieder neu vor der Tatsache, dass man zwar in vielem bereits autonom agieren kann, jedoch viele Freiheitsgrade noch nicht erschlossen sind und in diesem Leben (vielleicht) auch nicht zu erschließen sein werden. Das führt viele zur Anerkennung der Logik von Reinkarnation und Karma, ja der Notwendigkeit wiederholter Erdenleben.
=== ''Beteiligung des Menschen am Schicksalsgeschehen'' ===
Wenn man das Leben nicht als einmalig oder zufällig betrachtet oder aber allein von einer göttlichen Macht gesteuert, eröffnet sich noch eine andere Dimension der menschlichen Entwicklung: die Beteiligung des Menschen am Schicksalsgeschehen. Je mehr sich ein Mensch seiner Mitgestaltungsmöglichkeiten bewusst ist, umso freier und verantwortungsbewusster kann er sein Leben in die Hand nehmen. Umso mehr erlebt er auch „die Ohnmacht Gottes“, der dem Menschen die Anlage zur Freiheit gegeben hat und diese in dem Maße respektiert, indem sie sich entwickelt.
Keiner muss mehr reagieren – das alte Karma-Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gehört der Vergangenheit an. Es führte die Menschen in die Individualisierung und Sonderung.
Das neue Karmaprinzip, von dem in der Bergpredigt[2] die Rede ist, offenbart noch eine weitere Seite der Freiheit: dass man eigene und fremde Schuld durch die Kraft des höheren Ich verstehen, verzeihen und erlösen kann.  Diese Ich-Kraft, die allen Menschen gemeinsam ist, entwickelt sich am besten, wenn man sie im sozialen Leben übt als die Kraft selbstloser Hingabe angesichts der Sorgen und Nöte der Welt, in der man lebt, die Kraft geistiger Liebe. Voraussetzung dafür ist die bis zu einem gewissen Grad errungene Autonomie. Denn nur wer sich innerlich frei fühlt, vermag sich z.B. von berechtigter Wut einem Feinde gegenüber, der einem geschadet hat, zu lösen, ist darüber hinaus in der Lage verstehen zu wollen, um aus diesem Verständnis heraus auch verzeihen zu können.
=== ''Folgen von Missbrauch von Liebe und Freiheit'' ===
In seinem Werk über die ''Akasha-Chronik'' führt Rudolf Steiner aus,
* dass Gott der Evolution des Menschen zum Ausgleich für den '''Missbrauch der Liebefähigkeit''' Krankheit und Tod beigegeben hat.[3]
* Und dass der '''Missbrauch der Freiheitsfähigkeit''' hingegen über das Gesetz von Reinkarnation und Karma ausgeglichen wird.
Die beiden Widersachermächte oder Teufel Luzifer/Diabolos und Ahriman/Satanas ermöglichen den Missbrauch der Eigenschaften, die zu entwickeln der Mensch berufen ist. Ohne diese Möglichkeit der Abirrung könnte sich der Mensch nicht aus sich heraus authentisch für das Gute, das wahrhaft Menschliche, die menschlichen Entwicklungsziele, entscheiden.
Diese werden u.a. in den Kernidealen des Christentums ausgedrückt: Wahrheit, Liebe, Freiheit. Ringen wir um die Verwirklichung dieser Ideale, erringen wir auch die Voraussetzungen für leibliche, seelische und geistige Gesundheit. Warum? Weil auch Gesundheit physiologisch gesehen auf diesen drei Qualitäten basiert: Im gesunden Organismus
* stimmt alles miteinander überein (Wahrheit)
* stehen die Abläufe in ständiger Resonanz und feinabgestimmter Wechselwirkung miteinander (Liebe)
* werden die Grenzen und die Integrität der einzelnen Organe und Funktionen respektiert (Freiheit).
''Vgl. „Schicksalswirkungen im Lebenslauf auf Grundlage von Rudolf Steiners Karmaforschung“ Der Merkurstab 2015, Heft 6''
----[1] Bernd Rosslenbroich, ''On the Origin of Autonomy, A New Look at the Major Transitions in Evolution,'' Heidelberg, New York, Springer 2014.
[2] Neues Testament, ''Matthäus'' Kap. 5 - 7.
[3] Rudolf Steiner, ''Aus der Akasha-Chronik'', GA 11, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1986.
== ENTWICKLUNGSGEDANKE UND WIEDERVERKÖRPERUNG ==
''Welche Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet der Gedanke der Wiederverkörperung?''
=== ''Viele Leben für Entwicklung nötig'' ===
Der Gedanke der Wiederverkörperung ist so alt wie die Menschheit. Wer ein medita­tives Leben beginnt, bemerkt bald, wie viel es noch zu lernen und zu erfahren gilt.
''Wer kann sagen, er sei bereits ein voll entwickelter Mensch?''
''Wer will schon von sich behaupten, dass er sein Entwicklungsziel erreicht hat und tatsächlich „am Ende“ ist?''
Selbst große Geister wie ''Goethe'' waren davon überzeugt, dass es nötig ist wiederzu­kommen, um weiter zu lernen. ''Emil Bock'' befasste sich mit Persönlichkeiten im (mittel)­europäischen Raum, die davon überzeugt waren, dass der Mensch nicht nur einmal lebt, und das Gesetz von Reinkarnation und Karma als für alle Menschen gültig erachteten.[1] Bock war der Überzeugung, dass jeder, der sich ernsthaft mit der Tatsache auseinander­setzt, dass man sich als Mensch nicht nur körperlich entwickelt, sondern auch seelisch und geistig, auf den Gedanken der Wiederverkörperung kommt: dass der Mensch viele Leben braucht, um nur annähernd das Ausmaß an Freiheit, Würde, Selbstachtung, Respekt, Verständnis, Mitleid und Liebe für andere zu erwerben, das einen wirklich „guten Menschen“ ausmacht.
=== ''Schicksal als Lernfeld begreifen'' ===
Jeder Mensch hat seine besondere Art zu sein und sich zu entwickeln – weil jeder sein eigenes Schicksal hat, auch wenn viele über Zeiten hinweg zusammenleben und innig befreundet sein können. Auch eineiige Zwillinge verbringen ihre Leben oft an getrennten Orten, in verschiedenen Berufen und selbstverständlich mit ver­schie­denen Lebens­partnern etc. Jeder Mensch hat sein eigenes Schicksal mit seiner eigenen Krankheits­disposition. Sich diesbezüglich eine Art geistiger Identifikationsmöglichkeit zu erarbeiten, erscheint mir in der heutigen Zeit besonders wichtig.
Unter dem Aspekt wiederholter Erdenleben und fort­schreitender Bewusstseins­ent­wick­lung ändert sich auch das Verhältnis, das man zum eigenen Körper hat. Man ist durch ihn nicht mehr nur Mann oder Frau, Engländer, Schwarzafrikaner, Chinese oder Deutscher. Vielmehr begreift man ihn als Instrument der Weiterentwicklung. Man erlebt die eigene Identität immer mehr im rein Menschlichen und weniger im Mann- oder Frausein bzw. in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Hautfarbe, einem Volkstum oder einer Religion. Der Körper ist das Erdeninstrument des Schicksals. Von seinen Begabungen und Behinderungen, seinem Aussehen und Geschlecht hängt es zu einem großen Teil ab, wie sich dieses gestaltet.[2] Man erlebt, wie vieles im eigenen Schicksal gerade von der besonderen Konstitution in diesem Leben abhängig ist und dass dieses Schicksal seinen eigenen Gesetzen folgt.
=== ''Vertrauen in das eigene Schicksal entwickeln'' ===
Das erfuhr ich eindrücklich während meiner Zeit auf der Intensivstation. Der Laie denkt in der Regel, dass dort „Halbgötter in Weiß“ mithilfe von Schläuchen und Nadeln Leben erhalten. Das stimmt so nicht. Es trifft nicht einmal auf die Neu- und Frühgeborenen-Station zu: Ich habe dort Kinder sterben sehen, deren Tod niemand voraus­gesehen hätte und ich habe Kinder überleben sehen, bei denen niemand es für möglich gehalten hätte.
In mehreren Fällen hatte sogar das ethische Komitee bereits entschieden, alle Apparate abzustellen und diese Kinder nur noch zu pflegen und zu ernähren, weil sie mehrfach behindert waren. Sie überlebten trotzdem, unter erschwerten Bedingungen ohne zusätz­liche Beatmung, bis die Eltern angesichts des Lebenswillens ihres Kindes bewusst und entschieden „Ja“ zu ihnen sagten.
Durch diese Erfahrungen entwickelte ich als Ärztin ein ganz tiefes Vertrauen in das Schicksal der betreffenden Menschen – und damit rühren wir jetzt an eine andere Dimension: Es gibt Menschen, die früh sterben, als Kinder oder im frühen Erwach­senen­­alter. Und es gibt Menschen – deren gibt es heute viele –, die erst hochbetagt sterben. Es ist aber auch so, dass manche Kinder durch einen Unfall, den man nicht hatte vermeiden können, durch Bedingungen, die man geschaffen hat und die zu hinterfragen müßig ist, verletzt werden und lebenslang behindert bleiben. Dazu ein besonders anrührendes Beispiel.
=== ''Ein Ort der Weiterbildung für besondere Menschen'' ===
In der Nähe von Nagano, in den Bergen Japans, liegt ''Suirin'',[3] ein besonderer Ort für Studium und Weiterbildung, im traditionell japanischen Stil geführt, mit exzellenter biologischer Küche, angenehmen Räumen mit Holzverkleidung, mitten in der Natur. Etwa 100 Menschen können hier untergebracht und verpflegt werden. Das ganze Jahr über finden die verschiedensten Seminare, Kurse und wissenschaftlichen Kolloquien statt. Jetzt ist noch ein weiteres Haus geplant für das Zusammenleben mit alten Menschen. Die Mehrzahl der über 30 MitarbeiterInnen besteht aus Jugendlichen, die aufgrund von Anpas­sungsstörungen, psychischen Krankheiten und Behinderungen bis­her keine Arbeits­stelle finden konnten. Hier lernen sie nicht nur ein gesundes regel­mäßiges Leben kennen, sondern werden auch ausgebildet in Haushaltswirtschaft, Pflege und verschiedenen sozialen Diensten. Nach dieser mehrjährigen Ausbildungszeit können sie in der Regel ein selbständiges Leben aufnehmen. Die Anmeldelisten über­steigen weit die Möglichkeiten der Aufnahme.
''Woher kam dieser Impuls, der sich im Laufe von 30 Jahren so erfolgreich entwickelt hat?''
Einem Elternpaar wurde vor 30 Jahren ein schwerstbehindertes Mädchen geboren, das weder gehen noch sprechen lernen konnte. Sie waren von Anfang an darauf angewiesen, sich rein emotional-intuitiv mit ihrer Tochter zu verständigen. Sie ent­schie­den sich für ein neues Leben mit ihrer Tochter, suchten einen besonders schönen, gesunden Lebensraum und begründeten – sozusagen um die Tochter herum – die eben skizzierte soziale Einrich­tung. Ohne sie wäre das Leben der Eltern in konven­tio­neller Weise weitergegangen – nie wären sie auf den Gedanken gekommen, einen Ort von Menschlichkeit und kultureller Vielfalt zu schaffen.
So kann ein Erdenleben auch einmal ganz im Zeichen der Hilfsbedürftigkeit, im Em­pfan­­­gen, verbracht werden. Dadurch bekommen andere die Möglichkeit, unermess­lich viel zu lernen, insbesondere auf sozialem Felde.
''Vgl. Vom Sinn der … Krankheiten, in: Meditation in der Anthroposophischen Medizin, 1. Kap., Berlin 2016''
----<sup>[1]</sup> Emil Bock, ''Wiederholte Erdenleben. Die Wiederverkörperungsidee der deutschen Geistesgeschichte'', Verlag Urachhaus, Stuttgart 1996.
<sup>[2]</sup> Michaela Glöckler, ''Begabung und Behinderung'', Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004.
<sup>[3]</sup> Siehe <nowiki>http://www.suirin.com/English/welcome.html</nowiki>.
== MENSCHLICHE DEFIZITE KOMPENSIEREN DURCH ENTWICKLUNGSWILLEN ==
''Inwiefern ist es wichtig, zwischen Tier und Mensch zu unterscheiden?''
''Worin sind sie begründet?''
''Worin liegt der Sinn des menschlichen Andersseins?''
''Welche Herausforderungen und Aufgaben sind damit verbunden?''
=== ''Verwischte Unterschiede neu erfassen'' ===
Der prinzipielle Unterschied zwischen Mensch und Tier wurde als Folge der darwinistischen Evolutionstheorie in den letzten hundert Jahren zunehmend verwischt. Daher ist es wichtig, diesen Unterschied neu zu erfassen, wenn man den Menschen als Mensch und nicht als Tier verstehen möchte.
Dem Tier ist es zwar möglich, sich individuell seelisch zu äußern – keine zwei Hunde gleichen sich in Bezug auf ihr Verhalten vollständig, auch wenn sie dem gleichen Wurf angehören –, aber es ist dennoch keinem einzigen Hund möglich, sich nicht wie ein regulärer Hund zu benehmen. In der tierischen Entwicklung fehlt der Faktor „individuelle Entwicklung“, der mit
* Offenheit,
* Risikobereitschaft,
* Scheitern-Können,
* Aufgeben-Wollen einhergeht
* und der in die Unberechenbarkeit der spezifisch menschlichen Existenz führt
* mit der ganzen typisch menschlichen Selbstfindungsproblematik
* mitsamt ihren Identitätskrisen
* und dem Erreichen des Nullpunktes.
Vielleicht stellen wir Menschen uns deshalb gegenwärtig so gerne auf eine Stufe mit dem Tier, weil wir es insgeheim um seine fraglose Identität und um sein immer artgemäßes Verhalten beneiden. Die weisheitsvollen Gesetzmäßigkeiten der mineralischen Welt, der ätherischen Lebenszusammenhänge und der seelischen Verinnerlichungsmöglichkeiten kommen beim Tier zwar in jedem einzelnen Individuum auch individuell zum Ausdruck, jedoch immer in einer gewissen Vollkommenheit und Selbstverständlichkeit. Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden des Tieres werden von artgemäßen Instinkten bestimmt und können naturgegeben ausgelebt werden. Gerade das ist dem Menschen nicht möglich.
=== ''Lange Kindheit als Zeit für Entwicklung'' ===
Der Zoologe ''Friedrich Kipp'' ist in seinem Buch ''„Die Entwicklung des Menschen im Hinblick auf seine lange Jugendzeit“'' dem Unterschied zwischen Tier und Mensch evolutionsbiologisch nachgegangen.[1] Er zeigt auf, dass der Mensch eine im Vergleich zu den Säugetieren charakteristisch lange Kindheit und Jugend hat, mit einer ausgedehnten Spiel- und Lernphase, wodurch seine Fähigkeit, sich lebenslang ändern und anpassen zu können, entscheidend unterstützt wird. Das zeigt: Der Mensch ist auf Selbstentwicklung hin veranlagt. Körperlich hingegen behält er im Vergleich zu den Tieren eine unspezialisierte, embryonal-kindliche Form bei. Dies hat auch entsprechende Konsequenzen für die Erziehung: Kinder, die ausgiebig spielen und kreativ sein durften, bleiben in der Regel auch bis ins hohe Alter beweglich und schöpferisch. Je früher hingegen die Kinder in Kindergarten und Schule spezialisiert, konditioniert und verschult und damit festgelegt erscheinen, desto gefährdeter sind sie, später unschöpferisch, angepasst und früher alt und eher krank zu sein.
Daran kann unmittelbar abgelesen werden, dass in den Menschen eine über das Tier hinausgehende, völlig andere Gesetzmäßigkeit hereinragen muss: Eine Gesetzmäßigkeit, durch die er gezwungen ist, die Verantwortung für seine Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen, da er sie nicht seinen körpereigenen Instinkten überlassen kann. Die menschliche Entwicklung ist gekennzeichnet von einer größtmöglichen Offenheit und Verwundbarkeit. Alles, worauf das Tier sich weitestgehend verlassen kann – dass es die richtige Wahl der Nahrungsmittel trifft, dass es nicht zu viel und nicht zu wenig isst, dass es sich artgemäß fortpflanzt, dass sein Schlaf-Wachrhythmus geregelt ist, dass sein Sozialverhalten dem entspricht, was man von ihm erwartet –, all das ist beim Menschen nicht von Natur aus gegeben, sondern muss im Laufe des gesamten Lebens nicht nur errungen, sondern auch weiter ausgebildet, kultiviert und „vermenschlicht“ werden. Wie viele Arztbesuche würden entfallen, wenn es keine Ess-, Schlaf- und (sexuelle) Beziehungsprobleme gäbe!
Schon eine so einfache Überlegung macht deutlich, wie revolutionär, wie dramatisch und grundsätzlich der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist. Wenn beim Tier die Geschlechtsreife eintritt, ist sein artgemäßes Verhalten bereits gesichert, und es lebt individuell und sozial in geregelten Bahnen. Beim Menschen hingegen ist die Geschlechtsreife dadurch gekennzeichnet, dass alle noch so gutgemeinten erzieherischen Bemühungen aus den früheren Jahren fruchtlos erscheinen. Eigenes, Unerwartetes macht sich geltend – das ist ein wahrhaft revolutionärer Vorgang.
=== ''Entwicklungsoffenheit als Herausforderung und Chance'' ===
Mit diesem Eigenen, Unerwarteten, mit dieser Entwicklungsoffenheit hängt aber auch all das zusammen, was besonderen Begabungen und Behinderungen zugrunde liegt. Und nur der Mensch muss lernen, mit Begabungen und Behinderungen zu leben und mit ihnen umzugehen, nicht jedoch die ihm seelisch verwandten Tiere. Man hat Skelette von wasserköpfigen Kindern gefunden, die aus der Steinzeit stammten, und hat daraus geschlossen, dass die Fürsorge für behinderte Kinder so alt ist, wie Menschen Behinderungen wahrnehmen und pflegen konnten. Ein behindertes Tier in der freien Wildbahn wird sehr bald vom ökologischen System „verarbeitet“: es stirbt, weil es sich nicht ernähren und verteidigen kann – es wird aufgefressen, ihm kann nicht geholfen werden. So wird auch dafür gesorgt, dass schwerwiegende Behinderungen unter Tieren nicht weitervererbt werden können.
''Was könnte ein Tier auch in der Auseinandersetzung mit einer Behinderung gewinnen? ''
Da ihm das Selbstbewusstsein und die damit verbundene persönliche Betroffenheit fehlen, könnte es damit gar nichts anfangen. Es würde sinnlos leiden. Dem Tier ist es nicht gegeben, durch Leid und Schmerz Erfahrungen zu machen, die es in seiner Entwicklung weiterbringen. Denn es ist von Natur aus zur Vollkommenheit veranlagt. Das kann durch persönliche Anstrengung nicht noch weiter gesteigert werden.
=== ''Leid und Schmerz als Lernhilfen'' ===
Gerade das ist beim Menschen grundsätzlich anders: Für ihn sind Leid und Schmerz Herausforderungen, denen er sich während seiner ganzen Entwicklung bewusst stellen muss und durch die er Erfahrungen machen kann und Einsichten gewinnen lernt, die durch nichts anderes zu gewinnen sind.
In der Natur zeigt sich das Geistige – wenn es durch menschliche Eingriffe nicht gestört wird – wirksam in den weisheitsvoll aufeinander abgestimmten Regelkreisen der ökologischen Zusammenhänge. Krankheit und Behinderung treten hier nur am Rande als flüchtige Erscheinungen auf, da kranke Pflanzen bald zugrunde gehen, ebenso wie geschwächte und geschädigte Tiere. Demgegenüber besitzt der Mensch die Möglichkeit, mit Krankheiten und Behinderungen unter Umständen jahrzehntelang zu leben und umzugehen. Doch nicht nur das. Bei ihm tritt als entscheidender Faktor etwas hinzu, das bei Pflanze und Tier nicht existiert: innere Krankheitsursachen. Pflanze und Tier erkranken, wenn die äußeren Lebensumstände ihrer Art nicht mehr entsprechen und wenn in irgendeiner Form nicht zu kompensierende Mangelerlebnisse auftreten, was Nahrung und Klima betrifft. Beim Menschen treten zu diesen schädigenden Einflüssen von außen als entscheidende, spezifisch menschliche Krankheitsursachen innere Ursachen hinzu. Die Kräfte, die beim Menschen als freie, seelisch-geistige Betätigungsmöglichkeiten in Erscheinung treten, entstammen ja Kraftzusammenhängen, die den Leib aufbauen und erhalten. Beim Tier offenbaren sich die entsprechenden Kräfte als leibgebundene instinktive Weisheit und artgerechtes Sozialverhalten. Irrtum und Missbrauch dieser Kräfte sind ausgeschlossen, indem sie der unbewussten Regelung durch das Naturgesetz unterliegen.
=== ''Ausgleich des Instinktdefizits durch Lernwillen'' ===
Das ist beim Menschen anders. Er hat ein großes Instinktdefizit, einen Mangel an naturgegebener Weisheit, wie sie den Tieren angeboren ist. Dieses Kräftepotential steht stattdessen leibfrei dem Seelen- und Geistesleben zur Verfügung, d.h. der Mensch kann und muss durch aktive Lernprozesse ersetzen, was ihm an Instinkten fehlt. Andererseits hat er dadurch die Möglichkeit, diese vom Leib emanzipierten seelischen und geistigen Entwicklungspotentiale zu missbrauchen zur Zerstörung von sich und anderen. Hiermit gemeint sind nicht nur die Schädigungsmöglichkeiten, die mit falscher Ernährung, zu wenig Schlaf, einer ungesunden Lebensweise und mangelnder Hygiene zusammenhängen, sondern vor allem diejenigen Schädigungsmöglichkeiten, die durch ein unwahres Denken, ein destruktives Gefühlsleben und durch fehlgeleitete Willenshandlungen zustande kommen.
Es ist ein langer Entwicklungsweg, bis man reif ist für den freien Gebrauch dieser Seelen- und Geisteskräfte. Die damit verbundenen Lernprozesse sind dadurch störanfällig, dass sich der Mensch geistig, seelisch und auch an Leben und Leib „irren kann“. Darin liegt ein tiefer Sinn. Denn wenn er den zuletzt in Form von Krankheit und Behinderung organisch gewordenen „Irrtum“ erlebt, kann er sich dadurch weiterentwickeln. Auch liegt etwas Trostreiches in dem Gedanken, dass man Fehler und Irrtümer selber als solche erleben und damit die Voraussetzungen schaffen kann, sie selbstständig zurechtzurücken und zu verwandeln.
Gerade dabei spielt der Umgang mit Begabung und Behinderung eine wesentliche Rolle.
=== ''Verantwortung übernehmen für Entwicklung'' ===
Es wäre allerdings einseitig, aus dem Vorgebrachten den Schluss zu ziehen, hier tauche, nur mit neuen Begründungen, die alte Lehre wieder auf, dass Krankheit von Sünde und Fehlverhalten komme. Viel wesentlicher ist es, aus diesen Zusammenhängen die Frage abzuleiten:
''Woher kommen Begabungen?''
''Woher kommen angeborene Fähigkeiten, Genialität? ''
''Könnten sie nicht gerade das Ergebnis durchgemachter Behinderungen und Krankheiten in einem früheren Erdenleben sein?''
Wir leben heute in einer Zeit, in der die Menschen zunehmend empfinden, dass sie selbst für ihre Gesundheit und ihre Entwicklung Verantwortung übernehmen müssen. Dafür sorgt nicht nur der sich anbahnende wirtschaftliche Zusammenbruch der Gesundheits- und Sozialsysteme, sondern auch, dass der Mensch sich immer stärker als auf sich selbst gestellt erlebt. Angesichts der vielfältigen Folgen menschlichen Handelns in der Natur, der Umwelt und im Wirtschafts- und Sozialleben erkennen wir, dass wir es letztlich selber sind, von denen wir und unsere Umwelt abhängen. Wir sind viel mehr mit den Folgen unserer Taten konfrontiert; sie werden vom Einzelnen viel stärker erlebt als dies noch vor vierzig, fünfzig Jahren der Fall war.
Für die Zukunft wird entscheidend sein, dass möglichst viele Menschen sich ihrer Verantwortung bewusstwerden und aus dieser Einsicht heraus energisch an einer Vermenschlichung der kulturellen Verhältnisse arbeiten. Auch wenn noch nie so viele Menschen auf der Erde gelebt haben wie gegenwärtig, kann man andererseits auch sagen, dass die Defizite an Menschlichkeit nie so stark in Erscheinung getreten sind wie im letzten Jahrhundert mit seinen endlosen Kriegen, Zerstörungen und epidemischen Zuständen von Unzufriedenheit, Depression und Verzweiflung. Und so ist es kein Wunder, dass sich viele Menschen aufgrund dieser Tatsachen wie an einer Schwelle erleben, an der sie wachgerüttelt werden, sich selbst zu erkennen. Viele empfinden auch eine gewisse Sehnsucht, sich ihre Mitverantwortung für das Ganze bewusst zu machen.
''Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 5. Und 6. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004''
----[1] Vgl. dazu Friedrich A. Kipp, ''Die Evolution des Menschen im Hinblick auf seine lange Jugendzeit'', Stuttgart 1991. Ferner Wolfgang Schad, ''Säugetiere und Mensch'', Stuttgart 1971.

Aktuelle Version vom 30. März 2025, 10:54 Uhr

Entwicklung – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

EMBRYONALE ENTWICKLUNGSSTADIEN UND -GESTEN

Welche signifikanten Entwicklungsstadien durchläuft der Embryo?

Welche Entwicklungsgesten lassen sich aus den einzelnen Stadien ablesen?

Entwicklungsstadien des Embryos

In den ersten Tagen nach der Zeugung muss sich der Embryo, das sich inkarnierende Kind, das nur als kleiner Zellhaufen sichtbar ist, erst einmal selbst seinen Umkreis, die Plazenta und alle anderen embryonalen Hüllen schaffen. Das ist seine Hauptarbeit. Wenn das geschafft ist, fängt der kleine Mensch an sich zu regen und zu leben. Es empfiehlt sich sehr, möglichst naturnahe Bilder der embryonalen Entwicklungsstadien im Internet oder in guten Embryologie-Büchern anzusehen.

Im Folgenden nur ein paar kurze Anmerkungen zu embryonalen Entwicklungsstadien:

  • In der ersten Woche kommt es zum sogenannten Morula-Stadium.
  • In der zweiten Woche bildet sich der Embryoblast in seiner allerersten Veranlagung als zweiblättrige Keimscheibe in dieser wunderschönen Ausformung, die dann bald dreiblättrig wird.
  • In der vierten Woche veranlagt sich bereits die Gesamtgestalt im Zentrum der embryonalen Hüllen.
  • Aus der dreiblättrigen Keimanlage von Ektoderm, Entoderm und dem sich dazwischen bildenden Mesoderm differenzieren sich in den nächsten Wochen alle Körperorgane.
  • In der achten Woche ist das Nervensystem bereits das differenzierteste Organsystem, über das wir als Menschen verfügen.

Entwicklungsgesten und Wesensglieder

Die Entwicklungsgesten hängen eng mit den Wesensgliedern, die sie vollziehen zusammen. Wir unterscheiden drei grundverschiedene Gesten:

1. Wachstum (Proliferation) unter der Regie des ÄL

Der Ätherleib ist der große Materialbeschaffer, der Wachstumsspezialist, der Zellen bildet und unter der Regie des AL ausgestaltet. 

2. Differenzierung unter der Regie des AL

Es ist wichtig sich ins Gedächtnis zu rufen, dass Leben eben auch die Differenzierung von ein und demselben Grundmaterial bedeutet. Das vollbringt der Astralleib (AL). Er bringt Differenzierung in alles Leben (Ätherische), sodass es sich individuell und spezifisch ausprägen kann: Gehirn und Magen leben beide, aber sie tun es auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Der Astralleib ist seinem Wesen nach musikalisch, weil in der Musik alles vom Intervall, vom Dazwischen, von der Differenzierung in feine Nuancen lebt.

3. Integration unter der Regie der Ich-Organisation

Die Ich-Organisation ist die integrierende Instanz, sie schafft aus allem eine Ganzheit.

In der Embryonalentwicklung kann man am besten beobachten, wie diese unterschiedlichen Kompetenzen der Wesensglieder zum Tragen kommen, während sich die Organe bilden, differenzieren und ihren Platz im Ganzen finden.

Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn In Diagnostik Und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung

STADIEN DER MENSCHLICHEN ENTWICKLUNG IN JUGEND UND ALTER

Welche großen Entwicklungsabschnitte gibt es im menschlichen Leben?

Reifezyklen in Jahrsiebten

Nach der Geburt steht zunächst die Entwicklung des Nervensystems im Vordergrund. Dann folgen die Organe der rhythmischen Funktionsordnung und schließlich die volle Ausreifung von Skelett und Stoffwechselorganen:

- Evolution im 1. Jahrsiebt

Die Grundreifung der Sinnesfunktionen und etwa 90% der Kapazitäten des Zentralnervensystems erreichen schon in den ersten 9 Lebensjahren die volle Funktionstüchtigkeit:

Das Ohr ist mit etwa vier Jahren voll funktionstüchtig.

Das Auge braucht acht Jahre, bis es in allen Feinheiten ausgereift ist: in Bezug auf die Perspektive, das Farbensehen, auf feinsten Abstufungen der Wahrnehmung und die Verknüpfung mit den anderen Sinnen. Das ist ein langer Reifungsprozess.

- Evolution im 2. Jahrsiebt

Bis zur Pubertät reifen die rhythmischen Funktionssysteme, insbesondere von Herz und Kreislauf. Bei einem Zwölfjährigen haben wir noch ein Kinder-EKG, einen schnelleren Herzrhythmus und eine schnellere Atmung, als es der Erwachsene hat.  Die Ausreifung der Frequenzabstimmung zwischen Atem- und Herzrhythmus sind im Alter von 15-16 Lebensjahren abgeschlossen, dann hat sich die ruhigere, langsame Atmung des Erwachsenen entwickelt. Es dauert also länger, bis diese Organe „erwachsen“ sind.

- Evolution im 3. Jahrsiebt

Skelett und Stoffwechsel brauchen am längsten, bis sie vollkommen ausgereift sind und die Stabilisierung der Stoffwechselvorgänge und des Hormonhaushaltes erreicht wird. Vom spirituellen Gesichtspunkt her würden wir sagen: bis der Mensch „vollständig inkarniert“ ist. Das dauert im Durchschnitt zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahren. Die Ausreifung des Skelettsystems zur Erwachsenenform geschieht bis zum 23. Lebensjahr.

Involutionsphasen in Jahrzehnten

Interessant ist nun, dass sich in der zweiten Lebenshälfte diese drei Organsysteme in umgekehrter Reihenfolge wieder zurückbilden, was wir den Prozess des Alterns nennen.

  1. Zwischen 40 und 50 mit dem Klimakterium tritt bei der Frau die Menopause ein. Die Involution der Stoffwechselprozesse beginnt. Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises und Stoffwechselstörungen wie Diabetes Typ 2 haben laut Statistik ihre höchste Inzidenz (Zeitpunkt des Eintretens) in diesem Alter. Gelenkverschleiß zeigt sich, Rückenprobleme werden spürbar; Gallen- und Nierensteine.
  2. Zwischen 50 und 60 treten in einem großen Schub die typischen pulmonalen und cardio-vaskulären Erkrankungen auf wie Bluthochdruck, Rhythmusstörungen, bei Disposition der erste Infarkt. Später oder früher wäre es schon nicht mehr so typisch. Das betrifft auch die Chronifizierung von Lungenerkrankungen, die hier einsetzt. All diese Erkrankungen haben in diesem Alter statistisch gesehen eine erste große Inzidenzphase. Wir sprechen dabei von Exkarnationsproblemen. Der Mensch kommt im Hinblick auf seine Vitalität, seine Seelenverfassung und seinen ganzen biografischen Entwurf in eine Krise. Er muss körperliche Einbußen hinnehmen. Und – was man ja bei chronischen Krankheiten immer erlebt – er spürt hautnah die Vergänglichkeit und Endlichkeit seines Lebens.
  3. Zwischen 60 und 70 hingegen zeigen sich gehäuft Degenerationserscheinungen an den Sinnesorganen und dem Zentralnervensystem. Gott sei Dank sind die Gehirn- und Sinnesleistungen die letzten Funktionen, die schrittweise nachlassen.

Die menschliche Entwicklung vollzieht sich nicht linear, sondern spiegelbildlich an der biologischen Lebensmitte (ca. 35 Jahre). Rudolf Steiner sagt: Die Involutionsphasen spiegeln die Inkarnations- oder Evolutionsphasen.[1]

Daraus lässt sich ersehen, dass die Art und Weise, wie die Entwicklung durch Kindheit und Jugend sich vollzogen hat, bestimmend ist für den Schweregrad der Ausprägung chronischer Erkrankungen und Verschleißerscheinungen im Alter. So gesehen ist primäre Prävention und Krankheitsvorbeugung in allererster Linie eine Erziehungsfrage. Denn je harmonischer die Reifung in Kindheit und Jugend – umso weniger Krankheitsneigungen treten in der Zeit der „Exkarnation“ auf.

Vgl. 1. Kapitel, „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband, derzeit vergriffen

WIE DIE LEBENSKRÄFTE IN KINDHEIT UND ALTER ZUSAMMENHÄNGEN

Wie kommt es, dass man gerade heute so viele müde und verhärmte alte Menschen trifft, wo es doch laut der anthroposophischen Menschenkunde mit der geisti­gen Kraft aufwärts gehen sollte?

Wie hängt der Inkarnationsprozess in der ersten Lebenshälfte mit dem Exkarnationsprozess in der zweiten Lebenshälfte zusammen?

Alterungsprozess am Beispiel einer Patientin

Diese Frage soll am Beispiel einer Patientin er­läutert werden, deren Alterungsprozess ich, nachdem sie das 75. Lebensjahr überschritten hatte, nah begleitete. Sie war ein geistig sehr aktiver Mensch gewesen. Dennoch entwickelte sie sich in den letzten Le­bensjahren zunehmend in eine gewisse geistige Starre, die es ihr erschwerte, den Kontakt mit anderen Menschen zu pflegen. Sie wurde ängstlich und argwöhnisch, und man sah, wie die Verhärtungs- und Sklerotisierungsprozesse des Alters überhandnah­men und ihr bewusstes Gedankenleben stark beeinflussten.

Sie hatte bereits als junges Mädchen die Anthroposophie kennengelernt und seither unablässig an ihrer inneren Entwicklung gearbeitet, und sie war auch sehr erfolgreich und tüchtig in ihrem Beruf. Nach dem frühen Tod ihres Mannes war sie ganz auf sich selbst angewiesen. In ihrer frühen Kindheit hatte sie sehr unter einem extrem strengen Vater zu leiden gehabt und musste als Älteste von mehreren Geschwistern viel zu Hause helfen, oft bis in die Nacht hinein.

Sie ist für mich ein typisches Beispiel dafür, wie gerade in der frühen Kindheit, in der sich das Nervensystem aufbaut, Schäden veranlagt werden können, die sich in starken Abbauerscheinungen im späteren Alter widerspiegeln. Den schwächenden Einflüssen ihrer schweren Kindheit und Jugend und den dadurch schon im frühen Alter zu erwartenden Erkrankungen hatte sie durch ihr sehr aktives Innenleben entgegenzuwirken vermocht, sodass die Verhärtungsprozesse erst viel später in Erscheinung traten.

Aufgaben einer zu­kunftsorientierten Erziehung

Aus dem Wissen um den Zusammenhang zwischen der Art, wie ein Mensch in seinem Körper inkarniert und zwischen der Art, wie er sich wieder davon löst, möchte ich konkrete Hinweise geben, wie wir bereits in der Pädagogik einen positiven Einfluss auf den Alterungsprozess nehmen können.

· Bewusste Pflege der Lebenskräfte der Kinder

Eine der wichtigsten Aufgaben einer zu­kunftsorientierten Erziehung, die nicht nur den Augenblick, sondern die ganze Biographie im Auge hat, besteht darin, die Lebenskräfte der Kinder bewusst so zu pflegen, dass solchen Alterungsvorgängen vor­gebeugt wird. Durch Selbsterziehung und die intensive Pflege des eigenen Seelenlebens kann der Erwachsene selbst Gesundheit bis ins hohe Alter veranlagen.

Der Grund dafür, dass so viele Menschen im Alter bedauerliche Zustände erleben, liegt zum einen in den unzureichenden Entwicklungs- und Erziehungsbedin­gungen unserer Zeit und zum anderen in der mangelhaften selbstbestimmten Aktivierung der seelischen und geistigen schöpferischen Kräfte, die in einer durch den Materialismus geprägten Kultur zu wenig Pflege er­fahren.

Selbst wenn in der Kindheit die Wachstumskräfte durch zu frühes intellektuelles Trai­ning in Denkkräfte umgewandelt wurden, gibt es Möglichkeiten, den zu erwartenden Schäden im späteren Leben vorzubeugen. Korrekturmöglichkeiten liegen immer in demjenigen, was für ein bestimmtes Lebensalter an der Reihe ist.

· Versäumtes nachholen über altersgemäße Aktivitäten

Dazu ein Beispiel: Hat ein achtjähriges Kind den größten Teil seiner Kindheit vor dem Fernsehap­parat verbracht und ist deshalb motorisch ungeschickt, neigt zudem zu stereotypen Bewegungen, wiederholt ständig bestimmte Formulierungen, ist unfähig zu konzentrierter Gedankentätigkeit, so macht es keinen Sinn, mit einem solchen Kind die versäumte motorische, sprachliche und kognitive Kleinkind-Entwicklung nur nachholen zu wollen. Das ist gar nicht möglich! Man muss sich vielmehr fragen:

Was braucht ein gesunder Achtjähriger?

Altersgemäße Aktivitäten wären:

  • Spaziergänge in der Natur
  • Bewegungsspiele im Freien
  • Lösen einfacher Rätsel
  • gemeinsames Auswendiglernen von Gedichten
  • Zeichnen von einfachen Formen mit der Hand, mit dem Fuß, mit immer wieder neuen Farben
  • Malen von Bildern zu vorgelesenen Geschichten
  • einfache musikalische Übungen an einem Instrument und in Form von Singen.

Über all das wird das Kind in seiner altersent­sprechenden Lerndisposition gefordert – aber nicht nur das: Über diese gemeinsamen Aktivitäten entsteht eine Beziehung zwischen Lehrer und Kind, die es dann auch erlaubt, dass manches aus der Kleinkindentwicklung in veränderter Form auf einer anderen Ebene nachgeholt werden kann. In einem solchen Fall sollte man sich zusätzlich mit erfah­renen Heilpädagogen, Ergo- und Physiotherapeuten unterhalten bzw. mit einem Kinderpsychiater austauschen.

Nachholmöglichkeiten im Erwachsenenalter

Jeder Mensch kann natürlich auch noch im Erwachsenenalter an sich ar­beiten. Denn jedes Alter hat seine altersspezifische Lerndisposition, die es uns ermöglicht, bis zu einem gewissen Grad Versäumtes nach­zuholen und damit vom Seelisch-Geistigen aus im Sinne einer „geistigen Ernährung“ heilsam auf den Leib zurückzuwirken.

· Künstlerisches Üben

Hat man beispielsweise eine Erziehung genossen, die ganz im Zeichen der Frühintellektualisierung stand, so ist es eine große Hilfe, wenn man sich im späteren Leben künstlerisch betätigt. Optimal wäre es, regelmäßig an eurythmischen Laienkursen teilzu­nehmen, denn keine Kunst appelliert so zentral an die Aufbaukräfte des Organismus und führt zu einer Stärkung der gesamten Vitalität wie die Eurythmie. Die eurythmischen Bewegungen entsprechen den Ent­wicklungsbewegungen des menschlichen Körpers, die schon vom Embryo als Wachstumsbewegungen durchgeführt werden. Das zeigen Ultraschall-Filmaufnahmen, die während der Schwangerschaft gemacht worden sind. Die Em­bryonen und Feten vollführen die Grundbewegun­gen, die wir aus der Sprach- und Toneurythmie kennen. Doch hilft natürlich jede künstlerische Tä­tigkeit, die schöpferischen Kräfte – speziell des Gefühls und Willenslebens – zu aktivieren, da Kunst nicht auf Verstandesleistungen beruht, sondern durch regel­mäßiges Üben und Wiederholen (Willensanstrengungen) und durch ästhetisches Beurteilungsvermögen zustande kommt. Genau hinzuspüren, ob etwas schon gelungen ist oder nicht, regt wiederum das Gefühlsleben an.

· Kontrolle der Kritikbereitschaft

Auch ist es eine gute Übung für früh intellektualisierte Menschen, sich in Be­zug auf ihre Kritikbereitschaft zu kontrollieren. Denn meist neigen sie dazu, unablässig Situationen, Men­schen und Vorgänge um sich herum zu beurteilen. Wer dies bei sich entdeckt und darauf zu verzichten beginnt, wird bemerken, dass seine Vi­talität zunimmt. Zudem werden die Aufbaukräfte des Organismus dadurch unter­stützt. Denn alles kritische Beurteilen birgt eine destruk­tive Tendenz, egal, ob das Urteil positiv oder negativ ausfällt. Be­urteilungen dienen dazu etwas fest zu stellen und beruhen somit auf einem unproduktiven Gedankenleben: „Wie konnte der nur, er müsste doch eigentlich wissen...“, oder „Das finde ich ausgezeichnet, das hätte ich auch so gemacht, wenn ich in seiner Situation gewesen wäre – allerdings hätte er...“ usw. Solche Feststellungen werden um ihrer selbst willen gemacht und ziehen keine Taten nach sich.

Ganz anders die Urteile, die durch sorgfältiges Abwägen zu Entscheidungen und damit auch zu Willenshandlungen führen.

Im Rahmen der Selbsterziehung gibt es eine Fülle von Möglichkei­ten, in der Kindheit veranlagte Erziehungsschäden im späteren Le­ben auszugleichen und damit zur Harmonisierung der kör­perlichen und geistigen Kräfte beizutragen.

Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart


[1] Rudolf Steiner, Wege und Ziele des geistigen Menschen, GA 125.

ALTERUNGSPROZESS IN BEZUG ZUR ENTWICKLUNG IN KINDHEIT UND JUGEND

Welche großen Entwicklungsabschnitte gibt es im menschlichen Leben?

Wie hängen Evolution und Involution miteinander zusammen?

Welche Auswirkungen hat die Entwicklung in der Jugend auf den Alterungsprozess?

Einander spiegelnde Evolutions- und Involutionsphasen

Altwerden ist keine Krankheit, genauso wenig wie Schwanger-Sein. In beiden Fällen kann es jedoch sein, dass Komplikationen und Schwierigkeiten auftreten, die dann behandelt wer­den müssen.

Rudolf Steiner sagt: Die Involutionsphasen im Alter spiegeln die Evolutionsphasen von Kindheit und Jugend:[1] Was zuletzt herangereift ist, bildet sich zuerst zurück, der Abbau der Organsysteme vollzieht sich spiegelbildlich zu ihrer Entwicklung.

1. Evolution im 3. Jahrsiebt und Involution zwischen 40 und 50 Jahren

· Evolution im Zuge der Inkarnation  

Zwischen vierzehn und einundzwanzig Jahren reift das Stoffwechsel-Gliedmaßensystem aus. Skelett und Stoffwechsel brauchen also am längsten, bis sie vollkommen ausgereift sind und eine Stabilisierung des Hormonhaushaltes erreicht wird. Das dauert manchmal bis zum 23. Lebensjahr. Vom spirituellen Gesichtspunkt her würden wir sagen: Es dauert 21 bis 23 Jahre, bis der Mensch „vollständig inkarniert“ ist und sein Ich den Leib vollkommen ergriffen hat. Im 3. Jahrsiebt erwacht dank der aus der Ich-Organisation freiwerdenden Kräfte auch das eigenständige Denken am Umkreis. Jetzt geht es darum, dass der Jugendliche lernt, Idealismus zu entwickeln und zu lernen, sich geistig eigenständig ganz neu zu orien­tieren, sich aufzurichten, beweglich zu werden, das Instrument des Leibes von innen bewusst zu ergreifen. Wem das nicht gelingt, der ist prädisponiert für Erkrankungen, die die Erdenschwere und -belastung spürbar machen.

· Involution im Zuge der Exkarnation

Das zuletzt herangereifte Stoffwechsel-Gliedmaßensystem sowie das hormonelle System bilden sich zwischen 40 und 50 als Erste wieder zurück: Das Klimakterium setzt ein und führt zur Menopause, die eine totale hormonelle Umschaltung bei der Frau bedeutet. Beginnend beim Knochenbau und Hormonhaushalt devitalisiert sich der Organismus, d.h. die Regenerationskraft lässt nach. Wer dafür disponiert ist, hat Probleme mit dem Rücken, der Schulter, dem Nacken, bekommt Diabetes Typ II, Gallen- und Nieren­pro­bleme, metabolische Syndrome und rheumatische Erkrankungen. Das heißt, es kommt zu chronischen Erkrankungen des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems. Das ganze System tritt in die Involutionsphase ein.

Frauen sind von den damit einhergehenden Prozessen stärker betroffen als Männer. Körperlich gesehen findet jedoch bei beiden Geschlechtern ein altersbedingter Devitalisie­rungs­prozess statt. Stärker betroffen sind auch Menschen mit einer bestimmten Krank­heits­disposition, aber auch diejenigen, die sich nicht optimal inkarnieren konnten.

Gedanklich erwacht jedoch in der Regel ein neuer Idealismus, Lebensformen und Werte werden hinterfragt, man möchte sich beruflich verändern oder auf andere Weise „neu beginnen“, will endlich wirklich das eigene Leben leben.

2. Evolution im 2. Jahrsiebt und Involution zwischen 50 und 60 Jahren

· Evolution im Zuge der Inkarnation  

Nach dem ersten Jahrsiebt bis zur Pubertät reifen die rhythmischen Funktionssysteme, insbesondere von Atmung und Kreislauf. Bei einem Zwölfjährigen haben wir noch ein Kinder-EKG, einen schnelleren Herzrhythmus und eine schnellere Atmung, als es der Erwachsene hat. Erst mit fünf­zehn Jahren reift das Kreislaufsystem zur Erwachsen­enkompetenz heran und die Atmungs­organe bilden einen ruhigeren, langsamen Erwachsenenrhythmus aus. Dann ist auch die Frequenz­abstimmung zwischen Atem- und Herzrhythmus abgeschlossen.

Die wichtigste Stimulation bzw. Unterstützung der Reifung besteht darin, das Gefühls­leben zu kultivieren. Denn nichts regt Atem und Herzschlag besser an als das Pendeln zwischen den Polen tiefer Gefühle. Die Pflege tiefer Gefühle ist demnach die Prävention gegen vaskuläre Demenz, vor allem wenn eine familiäre Disposition vorliegt.

· Involution im Zuge der Exkarnation

Zwischen 50 und 60 stehen laut Statistik kardiovaskuläre Erkrankungen und die Chro­ni­fizierung von Lungenerkrankungen im Vordergrund, das heißt, die Abbauerscheinungen greifen auf das rhythmische System, auf Herz und Lunge, über: Es kommt zu Bluthochdruck, Rhythmusstörungen, zu koronaren Herzkrankheiten, bei einer entsprechenden Dispo­si­tion tritt der erste Infarkt auf. Viele haben in ihrem Bekanntenkreis jemanden in diesem Alter, der an COPT, Angina Pectoris oder Herzrhythmusstörungen leidet. In jedem Fall lässt die Atemkapazität spürbar nach.

All diese Erkrankungen haben in diesem Alter statistisch gesehen eine erste große Inzidenzphase und sind Ausdruck von Exkarnationsproblemen. Der Mensch kommt im Hin­blick auf seine Vitalität, seine Seelenverfassung und seinen ganzen biografischen Ent­wurf in eine Krise. Er muss körperliche Einbußen hinnehmen. Und – was man ja bei chro­nischen Krankheiten immer erlebt – er spürt hautnah die Vergänglichkeit und End­lich­keit seines Lebens.

Gedanklich hingegen stellt sich ein objektiveres, reifes Urteilsvermögen ein, die Fähigkeit, Gegensätze vermitteln und bewusst abwägen zu können.

3. Evolution im 1. Jahrsiebt und Involution zwischen 60 und 70 Jahren

· Evolution im Zuge der Inkarnation  

Die Grundreifung der Sinnesfunktionen und etwa 90% der Kapazitäten des Zentral­nervensystems erreichen schon in den ersten neun Lebensjahren die volle Funktions­tüchtigkeit: Das Ohr ist mit etwa vier Jahren voll funktionstüchtig. Das Auge braucht acht Jahre, bis es in allen Feinheiten ausgereift ist: in Bezug auf die Perspektive, das Farbensehen, auf feinsten Abstufungen der Wahrnehmung und die Verknüpfung mit den anderen Sinnen. Das ist ein langer Reifungsprozess. Wir unterstützen diesen Prozess interessanterweise nicht dadurch, dass wir dem Zwei­jährigen Kopfrechnen beizubringen versuchen, sondern durch intensive Sinnespflege und Tatsachenlogik – durch sinnvolle Tätigkeiten, sinnvolle Zusammenhänge, sinnvolles Sprechen, gedankenvolle Unter­haltung. Aber auch künstlerische Tätigkeiten und Ein­drücke sind äußerst förderlich.

Wenn die Stimulation durch Sinnvolles und Künstlerisches in einer Biographie fehlt oder das Denken ganz materialistisch einseitig erzogen wird und die Sinneserfahrungen kor­rumpiert und verfälscht werden von Fernsehen und Computer, sind die Betroffenen prädisponiert dafür, im Alter verstärkt Probleme mit ihrem Nervensinnessystem zu bekommen.

· Involution im Zuge der Exkarnation

Gott sei Dank lassen die Gehirn- und Sinnesleistungen zwischen 60 und 70 Jahren erst ganz zuletzt schrittweise nach: Jetzt treten gehäuft Degenerationserscheinungen am Nervensinnessystem, an den Sinnesorganen und dem Zentralnervensystem auf. Unser Gedächtnis und unsere Seh- und Hörkraft lassen nach, das heißt, dass die Regenerationsfähigkeit des Sinnes-und Nervensystems rapide abnimmt. Wir werden langsamer, brauchen Unterstützung.

Umso erstaunlicher ist es, dass mit dieser Lebensphase normalerweise keine geistige Leistungsminderung parallel geht. Auch wenn zusammen mit den Sinnesorganen das Gehirn ebenfalls nachweislich altert und messbar an Substanz verliert, kann dieser Vorgang dennoch mit geistiger Frische, neuen Perspektiven und Sichtweisen einhergehen. Nicht nur, dass die Plastizität und Kompensationsfähigkeit des Nervensystems bis ins hohe Alter erhalten bleiben - es werden auch weitere Bildekräfte frei, die aus den Abbauvorgängen dieser Organsysteme stammen. Dadurch treten neue Vorstellungsmöglichkeiten auf und eine größere Fähigkeit zu gedanklicher Überschau, selbst wenn einen das Kurzzeitgedächtnis manchmal etwas im Stich lässt.

Nur im Falle einer Demenzerkrankung, die aber grade kein gesundes Altern darstellt, sondern eine Erkrankung des Nervensystems, ist dies natürlich anders. Dennoch muss man auch in diesem Krankheitsfall davon ausgehen, dass die körperunabhängigen Gedanken-, Gefühls- und Willenskräfte der so Erkrankten durchaus da sind. Nur ist die gesunde Gehirnfunktion nicht mehr vorhanden als Grundlage für ein selbstbewusst geführtes und geordnetes Vorstellen von Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen. Umso wichtiger ist es, neue Kommunikationsformen zu entwickeln, indem man mit diesem real vorhandenen Geistigen rechnet und der Betroffene dies spüren kann.

Die Involutionsphase von 70 Jahren aufwärts

Das Bibelwort „Unser Leben währet 70 Jahre“ entspricht der Rhythmik zwischen Inkarnation und Exkarnation. Dann folgt eine Gnadenzeit, die sich durch eine gewisse Stabilität auszeichnet. Menschen, die bis zum Alter von 70 Jahren keine Anzeichen aufweisen für eines der genannten chronischen Probleme, werden zwar schwächer, bleiben dabei aber oft geistig frisch, sie bauen nicht wirklich ab vor dem Tod. Das erlebte ich oft in der Praxis.

Bedingungen für Gesundheit bis ins hohe Alter

Wir sehen also: Wenn sich in Kindheit und Jugend die „Inkarnation“ des Menschen so vollzieht, dass Körper, Seele und Geist altersgerecht gefordert werden, so ist dies die beste Vorbedingung dafür, dass auch die „Exkarnation“ harmonisch und ohne größere gesundheitliche Einbrüche vonstattengeht.

Eine gesundheitsfördernde Erziehung, wie sie u.a. das Konzept der Waldorfpädagogik vorsieht, wirkt als primäre Krankheitsprävention für die zweite Lebenshälfte. Die Art und Weise, wie Entwicklung in Kindheit und Jugend sich vollzogen hat, bestimmt über den Schweregrad und die Ausprägung chronischer Erkrankungen und Verschleißerschei­nungen im Alter: Je harmonischer ein Mensch in Kindheit und Jugend im Zuge der Inkarnation heranreifen kann, umso weniger Krankheitsneigungen zeigt er im Zuge der Exkarnation.

Doch auch Erziehung und Selbsterziehung, lebenslange Freude am Lernen sowie an der Entwicklung neuer Fähigkeiten bedingen Gesundheit bis ins hohe Alter.

Auf diesem Gebiet müsste noch viel geforscht werden. Wir benötigen sehr gut abgestimmte Therapiekonzepte, die regenerierende und die Inkarnation fördernde Möglichkeiten in konkrete Behandlungsansätze umwandeln, je nachdem, welche Symptomatik vorherrscht.

Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008


[1] Rudolf Steiner, Wege und Ziele des geistigen Menschen. Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft.GA 125, Dornach 1992, S. 55.

VOM PUNKTBEWUSSTSEIN ZU PERIPHERER KOMPETENZ

Wann ist ein Mensch ganz Mensch?

Welche Kompetenzen machen den Menschen aus und wann erwirbt er sie?

Macht der Verlust kognitiver Kompetenzen das Leben nicht mehr lebenswert? 

Das Erklimmen des physiologischen Leistungsplateaus

Am Lebensanfang, wenn Kinder klein und unerfahren sind und alle möglichen Dumm­heiten machen, fällt es uns nicht schwer, sie als werdende Wesen zu begreifen. Selbst wenn sie noch überhaupt keinen Durchblick haben und sich den vernünftigsten Dingen widersetzen, würde niemand von „Demenz junior“ oder „präcox“ sprechen. Wir Erwach­senen vertrauen darauf, dass sich alles finden wird, wir haben Geduld…

Wenn ein Kind elf oder zwölf ist, denkt man, man wäre aus dem Gröbsten draußen, doch jetzt fangen die Probleme erst richtig an. Und spätestens ab dem vierzehnten Lebensjahr wird das Erwach­senwerden zu einer riesigen Herausforderung. Und wenn man meint, die Schulzeit geschafft zu haben, beginnt es mit der Wahl von Beruf und Studium wieder schwieriger zu werden. Klappt dieses oder jenes nicht, sind immer neue Herausforderungen zu meistern. Heute leben Kinder mit 28 oder 29 Jahren oft noch zu Hause, stehen noch nicht gänzlich auf eigenen Beinen. Dennoch erwarten wir, dass der junge Erwachsene jetzt selbständig wird.

Die Erfahrung zeigt, dass sich in der Lebensmitte, zwischen 30 und 40, zunehmend ein Gleich­gewicht zwischen unseren seelisch-geistigen Kräften, unserer Bewusst­seins­kompetenz und unserer physischen Kraft einstellt, auch „physiologisches Leistungs­plateau“ genannt. Da sind wir körperlich und seelisch im besten Zustand.

Mit 40 erst gescheit

Dennoch haben wir hier in Schwaben ein schönes Sprichwort: „Die Schwaben werden mit 40 erst gescheit.“ Wenn die Kurve sich langsam dem Ende zuneigt, tut sich erst das auf, was man „Sozialkompetenz“ nennt, was man in Schwaben unter „Gescheitheit“ versteht: dass man das Leben nicht nur auf sich bezogen begreift, sondern dass man sich auch vom Umkreis her begreift – als jemanden, der agiert, zugleich aber auch als jemanden, mit dem andere zurechtkommen müssen:

  • Man begreift sich einerseits als individuelles Wesen, das die Welt vom eigenen Standpunkt aus betrachtet
  • Gleichzeitig erlebt man sich aber auch als soziales Wesen mit einem Umkreis, das von diesem wahrgenommen und „ertragen“ wird.

Diese beiden Sichtweisen decken sich, wenn es gut geht, erst etwa mit 40 Jahren. Erst dann erwacht auch der Sinn für das eigene soziale Wesen und die damit verbundene Ver­antwortung.

Von der Selbstbezogenheit zur Umkreisbezogenheit

Diese Entwicklung hängt mit dem Aufbau unserer Konstitution zusammen:

  • Der Kind-Mensch ist ein auf sich als Zentrum hin orientierter Mensch, der seinen Standpunkt, seinen Blickwinkel, seine akustischen Eindrücke als zentral erlebt. Er hat ein extremes Punktbewusstsein.
  • Der Erwachsene, der für andere tätig ist, der für andere etwas tut, auf den etwas zukommt, auf den andere Menschen reagieren müssen, braucht eine große „peri­phere Kompetenz“, ist als tätiger „Gliedmaßen-Mensch“ gefragt. Er hat ein ausge­prägtes Umkreisbewusstsein.

Dazu ein Beispiel: Die älteste Frau, die ich zurzeit kenne, ist 106 Jahre alt. Sie ist völlig fit und sagte mir, sie hätte noch eine Aufgabe: Sie würde die jungen Pflegenden auf der Pflegestation motivieren und ihnen den Sinn des Lebens nahebringen, weil sie heute ja solche Probleme hätten. Das gibt es auch: 106 Jahre und kein bisschen dement. Natür­lich braucht sie Gehhilfen, bewegt sich ganz vorsichtig und muss viel liegen. Man merkt, Seele und Geist können sich kaum mehr in diesem Körper halten, sind aber noch voll präsent.

Rückzug des zentral orientierten Menschen in der Demenz

Tritt zu einem bestimmten Zeitpunkt Altersdemenz auf, ist es gleichgültig, ob es sich um eine vaskuläre, eine neurogene oder eine primär metabolisch veranlagte Demenz handelt – das macht nur medizinisch einen großen Unterschied. Von der Symptomatik her wird ein totaler Rückzug des zentral orientierten Menschen erlebbar. Der peripher orientierte Mensch ist dafür umso wacher, umso sensibler, umso empfänglicher. Es ist keineswegs gerechtfertigt zu sagen, dass unser Leben, wenn das Punktbewusstsein nachlässt und der Ego-trip nicht mehr dominiert, nur ein „Leben zweiter Klasse“ ist oder sogar, dass es gar nicht mehr „lebenswert“ ist.

Die anthroposophische Menschenkunde kann im Hinblick auf diese Zusammenhänge wertvolle Orientierung geben.

Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, Filderstadt, 19.2.2010

ENTWICKLUNGSPHASEN UND PÄDAGOGIK

Wie lässt sich die Notwendigkeit altersgerechter Pädagogik erklären?

Zu welchen Entwicklungsphasen gehören welche pädagogischen Angebote?

Vorschulzeit und erste Schuljahre bis ca. 9. Lebensjahr

Differenziertes Ausreifen des Nervensystems und der sensomotorischen Koordination (d.h. die Verknüpfung von Sinnesfunktionen mit der muskulären Tätigkeit) brauchen vielseitiges Üben und Betätigen. Koordinierte körperliche Bewegung und Freude am Entdecken der Sinneswelt – mit Hilfe aller Sinne – ist die natürliche Begabung der Kinder dieses Alters. Sie wissen instinktiv, dass ihnen das gut tut. So gilt es, Bewegungs- und Spielräume zu schaffen, in denen sie sich geschickt und altersentsprechend bewegen und betätigen können. Diesem Prinzip folgt der Waldorflehrplan von der Kinderkrippe an bis zum 9. Lebensjahr konsequent. In jedem Unterricht ist das Bewegungselement in irgendeiner Weise mit integriert, nicht nur in den so genannten Bewegungsfächern, deren Lehrplan insbesondere sensomotorisch wertvoll veranlagt ist. Denn alle Bewegungen – einschließlich dem kindgerechten Spiel- und Turnunterricht – werden in diesem Alter noch eng verknüpft mit Sinneserlebnissen praktiziert und oft begleitet durch musikalisch-rhythmische Übungen in Form von Sing-, Sprach- und Bewegungsspielen. Durch die musikalisch-rhythmischen Tätigkeiten wird auch die zur Sozialisation notwendige Fähigkeit des Zuhörens mit veranlagt.

Auch sind es ausschließlich entwicklungsphysiologische und psychologische Gründe, die ein striktes PC- und Multimediaverbot für Kindergärten und Grundschulen zum Ideal der Waldorferziehung machen. Was jetzt weltweit propagiert wird und einen hohen wirtschaftlichen Gewinn verspricht, „one Laptop per child" (der Mini-Bildschirm mit Flash-Speicher, WLAN und dem Betriebssystem Linux), um insbesondere Kindern der 3. Welt Anschluss an das digitale Zeitalter zu geben, ist eine gute Idee zum falschen Zeitpunkt. Und zwar nicht nur, weil die so genannten Entwicklungsländer sauberes Wasser, medizinische Grundversorgung und „richtige Schulen" brauchen, sondern weil jede Stunde vor dem Bildschirm das Aufsteigen eigener, nicht manipulierter innerer Bilder behindert und die Kinder am In-Bewegung-Sein hindert. Die Gehirnaktivität wird dadurch eingeschränkt, die sensomotorische Integration gestört – ganz unabhängig von dem Inhalt der Informationen und dem Problem, diese nicht eigenständig verarbeiten zu können.

Zu empfehlen sind:

  • Anregung von Initiative durch eigenes Tun und „Vorbild-Sein"
  • Spielmaterial, das die Eigenaktivität fördert: einfache Gegenstände und Materialien, die der Phantasie Raum lassen und zu vielen Gestaltungsmöglichkeiten anregen
  • Aktivierung und Pflege der Sinne durch entsprechend ausgestattete Spielräume
  • Veranlagen guter Gewohnheiten durch regelmäßiges Tun, kleine Rituale am Morgen, beim Essen, am Abend vor dem Schlafengehen
  • Rhythmische Gestaltung des Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreslaufes
  • Momente ungeteilter Aufmerksamkeit für das Kind: z.B. beim Aufstehen und Zubettgehen und dann hin und wieder während des Tages, in denen eine Begegnung, ein Sich-Wahrnehmen stattfinden kann.
  • Ein „nonverbaler" Erziehungsstil: Nicht das Wort, sondern die Handlung, das Vorbild zeigt, worum es geht. Nur so erlebt sich das Kind frei gelassen. Denn es ahmt aus eigenem Antrieb nach.
  • Möglichkeiten, der Natur zu begegnen
  • Vermeiden von Multimedia-Angeboten und technischem Spielzeug
  • Auch wenn der Tag sonst mit vielen Pflichten angespannt verläuft – das Kind im Bewusstsein haben, es „in Gedanken tragen, mitnehmen". Diese innere Tätigkeit hilft, dass der äußere Kontakt beim Wiedersehen schnell wieder da ist. Wichtig ist, die Nähe und Zugewandheit in der Beziehung zu pflegen und diese nicht abhängig zu machen von Wohlverhalten und schulischer Leistung.
  • Freude und Dankbarkeit zeigen
  • Klare Grenzen setzen und „leben". Das gibt Sicherheit und Orientierung.

...bis zum 14./15. Jahr

Jetzt wird vor allem wichtig, was Ausbildung und Entwicklung der rhythmischen Funktionen fördert: Das sind Empfindungen und Gefühle. Nie atmen wir tiefer durch, als wenn wir uns wohl fühlen, nie schlägt das Herz gesünder, als wenn sich die Kinder freuen oder mit Eifer tätig sind. Zwischen dem 9. und 15. Lebensjahr zielt die gesamte Pädagogik und Didaktik darauf hin, das prozessual-künstlerische, aber auch ästhetische Element in allen Unterrichtsfächern zu berücksichtigen. Was beim Geräteturnen im Sport exakter und vollendeter Bewegungsablauf ist, den es einzuüben gilt, das sind im Geschichtsunterricht Gespräche und Unterrichtsfragen, in denen Ereignisse von mehreren Seiten so betrachtet werden, dass sich für den Schüler ein sinn­volles Ganzes ergibt, eine Art ästhetischer Zustand, „durch den er mit sich und der Welt übereinzustimmen lernt." Im naturwissenschaftlichen Unterricht sind es insbesondere die Experimente: Der Schüler beobachtet exakt und dokumentiert die sich darin zeigenden Gesetzmäßigkeiten übersichtlich und „schön". Er lernt ihren Wirkradius verstehen und sie handhaben. Auch mathe­matische Gesetze haben ihre Schönheit, weil sie „stimmen" und konstituierend sind, nicht nur in Technik und Wissenschaft, sondern auch im Leben. So werden die Schüler vertraut gemacht mit den Eigentümlichkeiten und „Stimmigkeiten" der Welt und der menschlichen Kultur.

Auch in diesen Lebensjahren empfiehlt sich noch Zurückhaltung in Bezug auf das digitale Zeitalter. Nur das sollte an Maschinen delegiert werden, was man im Prinzip auch selbst beherrscht und durchschaut. Selber Kopfrechnen, Theaterspielen, Musizieren, Tanzen, Erlebnisfahrten und Entdeckungen machen, lernen, wie man „live" Beziehungen pflegt – das sollte jetzt im Vordergrund stehen. Was zu Hause oft schon viel zu früh als Konzessionen an die Multimedia-Industrie zugelassen wird, sollte in der Schule umso mehr dazu motivieren, Leben und Realität an die Stelle von Technik und Virtualität zu setzen. Manchmal hilft auch der einfache Gedanke, Eltern und Schüler für diesen „Verzicht auf Zeit" zu mobilisieren, dass die Erfinder der Computer in ihrer eigenen Kindheit ohne diese Spielmöglichkeiten aufgewachsen sind. Um Neues zu finden, braucht man Kreativität und nicht Konditionierung.

Zu empfehlen sind:

  • Gesprächskultur – das Kind, den Jugendlichen teilnehmen lassen an interessanten Gesprächen Erwachsener. Mit inneren Fragen leben: Wann war unser letztes Gespräch? Wann hatte ich Zeit, Interesse? Habe ich das Anerkennenswerte bemerkt, lobe ich genug oder bringe ich eher zum Ausdruck, was mich stört?
  • Moderne Führungsstrukturen sprechen gern von „Fehlerkultur". Wer aus seinen Fehlern lernt, entwickelt sich nachhaltig – entsprechend auch ein Team zusammenarbeitender Menschen. Wie gehe ich mit Fehlern und Fehlverhalten in der Schule um? Wie helfe ich aus Fehlern zu lernen und diese nicht (nur) schlimm zu finden?
  • Klare Führung in Grundsatzfragen im Tagesablauf unter Einbeziehung der Wünsche der Kinder. Verabredungen treffen und klar vereinbaren, wie sie überwacht werden.
  • Künstlerische Betätigung, insbesondere Erlernen eines Musikinstrumentes
  • Kontrollierter Multimediagebrauch und wo immer möglich das Aufarbeiten des Gesehenen und Erlebten im Gespräch.

... bis zum 21./22. Jahr

Vom 13., 14., 15. Lebensjahr an bis zum 19., 20., 21. Lebensjahr erhebt sich die Frage, auf welche Weise mit pädagogischen Mitteln unterstützt werden kann, was jetzt physiologisch an Entwicklungsprozessen im Vordergrund steht: die Ausreifung des Skelettsystems bis zur Erwachsenengröße und die hormonelle Umstellung und Ausreifung des intermediären Stoffwechsels nach der Pubertät. Zunächst könnte man meinen, Stoffwechsel und Skelett brauchen primär körperliche Betätigung – das ist natürlich richtig, jedoch nicht genug. Vielmehr gibt es eine andere Fähigkeit, die kontinuierlich, sozusagen von innen her, den Menschen erwärmt, anregt, aber vor allem auch aufrichtet und erfüllt: Es sind die zielorientierten Ideen, Interessen, Gesichtspunkte und Motivationen, die befeuern, die begeistern. Man sieht es den Jugendlichen unmittelbar am Gang und Bewegungsspiel an, an der Körperhaltung und Mimik, ob sie Gedanken hegen, durch die sie sich innerlich angeregt, motiviert, „aufgerichtet" fühlen oder ob sie Gedankenöde erleben und infolgedessen Lustlosigkeit und Desinteresse. Die Sprachweisheit bringt dies klar zum Ausdruck, wenn das Wort „Aufrichtigkeit" gerade diese doppelte Bedeutung hat: einmal „ehrlich, aufrichtig, wahrheitsorientiert" und zum anderen „körperlich aufgerichtet, gerade".

In der Oberstufe kommt den Erziehungsmaximen von Nachahmung und Vorbild, von Stimmigkeit und Schönheit untergeordnete Bedeutung zu. Jetzt geht es um Gewissensbildung, Wahrhaftigkeit und Freiheit. Wie muss ich unterrichten, damit der Jugendliche selber zu den Einsichten kommt, die in diesem Unterrichtsfach Sinn machen? Wie schafft man es, dass der Jugendliche nicht nacherzählt, was man selber vorgedacht hat, sondern dass man ihm Gesichtspunkte gibt, Bedingungen schildert, anhand derer er selbst die Lösung einer bestimmten Frage herausfinden kann?

Zu empfehlen sind:

  • Fragekultur entwickeln, zum „selber Denken" anregen
  • Freund und Begleiter sein, Interesse haben für das, was den Jugendlichen interessiert
  • Wachsendes Freiheitsbewusstsein und Selbstständigkeit respektieren, eigene Erwartungen zurückstellen
  • „Familienrat" halten. Verabredungen gemeinsam treffen, deren Erfolg/Misserfolg analysieren und das weitere Vorgehen beraten
  • Sich über das „ganz andere" freuen lernen, verstehen wollen, was den Jugendlichen bewegt
  • Vertrauen riskieren und signalisieren: Ich stehe zu dir, egal was kommt – und bin gespannt, wie dein Leben sich entwickeln wird.

Jegliche Erziehung ist Selbsterziehung

Unterricht als Selbstfindungsprozess zu begreifen, Erziehung in allen Phasen als Selbsterziehung – darauf kommt es an, erst selber nachahmen, dann selber die Stimmigkeit erleben, wenn verschiedene Zusammenhänge und Verständnismöglichkeiten erläutert werden, und schließlich selber verstehen, herausfinden, was gefragt ist – das ist der Grundnerv einer entwicklungsphysiologisch basierten Erziehung. Denn so wie das Kind es selber ist, welches sich entwickelt, so sollte es auch stets das Erleben haben, dies oder das habe ich selbst beobachtet, selbst gesehen, selbst gelernt. „Selbermachen" macht schon dem kleinen Kind weit mehr Freude, als alles Mögliche abgenommen zu bekommen, von demjenigen der es „besser" kann. Entwicklungsphysiologische Erziehung regt die Eigentätigkeit an, begreift den Erziehungsauftrag so, wie ihn Rudolf Steiner in seinem Baseler Lehrerkurs charakterisiert:[1]

Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muss.

Wer so zu sich kommt, ist dann auch im späteren Leben innerlich aktiv genug, um sich nicht zu langweilen. Er kann Technik sinnvoll nutzen, ohne dadurch bequem und unproduktiv-unzufrieden zu werden. Er ist weitgehend geschützt vor dem Abhängig-Werden von Drogen u.a. Er hat die Chance, selbstbestimmt zu leben.

Vgl. 1. Kapitel, „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband, Verlag am Goetheanum, Dornach 2006, derzeit vergriffen


[1]  Rudolf Steiner, Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft. GA 301.

ENTWICKLUNG UND LERNEN

Inwiefern hängen die Entwicklungsphase und die Lernfähigkeit eines Kindes zusammen?

Welche Lerngebiete und -inhalte eignen sich für welche Entwicklungsräume?

Bedeutung von altersentsprechendem Lernen

Es ist von größter Bedeutung, dass sich die Pädagogik an den altersentsprechenden Ent­wicklungsschritten orientiert und die Lerninhalte darauf abstimmt.

1. Jahrsiebt – Die Welt ist gut

Entsprechend wird man in der Kindergartenzeit das Denken nicht mit Urteilen und Argumenten belasten, sondern vielmehr die Kinder nachahmend im gemeinsamen Alltag mitleben lassen und ihnen die Möglichkeit geben, körperliche Geschick­lichkeit zu erwerben und ihre Sinne gut auszubilden.

Das nötige Entwicklungsvertrauen rufen in dieser Zeit die Worte „die Welt ist gut“ hervor. Sie sind deshalb das Entwicklungsmotiv der Waldorfpädagogik für das erste Jahrsiebt.

2. Jahrsiebt – Die Welt ist schön

In der Grundschulzeit hingegen wird man alles daransetzen, das ästhetische Urteilsver­mögen, insbesondere durch künstlerisch gestalteten Unterricht, zu pflegen.

Die nötige Entwicklungslust rufen in dieser Zeit die Worte „die Welt ist schön“ hervor. Sie sind deshalb das Entwicklungsmotiv der Waldorfpädagogik für das zweite Jahrsiebt.

3. Jahrsiebt – Die Welt ist wahr

Erst nach der Pubertät im Oberstufenunterricht wird das eigenständige kritische Denken gefördert.

Das nötige Entwicklungsideal rufen in dieser Zeit die Worte „die Welt ist wahr“ hervor. Sie sind deshalb das Entwicklungsmotiv der Waldorfpädagogik für das dritte Jahrsiebt.

Wenn sich körperliche und gedankliche Entwicklung altersgerecht und sinnvoll aufeinander abgestimmt vollziehen kann, ist die wichtigste Grundlage gelegt für die Gesundheit der zweiten Le­benshälfte. Wenn dies jedoch nicht möglich war, so können Krankheitsdispositionen für die zweite Lebenshälfte veranlagt werden. Die Veranlagung zu Stoffwechselstörungen und rheumatischen Krank­heiten, zu Erkrankungen der Atemwege und des Herz-Kreislaufsy­stems sowie zum Altersschwachsinn wird gefördert oder gemildert, je nachdem, wie der Wachstumsprozess begleitet wurde.

Identität von Wachstums- und Gedankenkräften

Wer über längere Zeit mit dem Konzept der Identität von Wachstums- und Gedankenkräften arbeitet, für den werden eine Fülle von Tatsachen verständlich, die für das menschliche Leben Bedeutung haben. Es wird verständlich, warum beispielsweise in der Pubertät, wo noch einmal ein deutlicher Wachstumsschub er­folgt, ein sogenannter „Leistungsknick“ zu verzeichnen ist: Wenn der Körper überwiegend mit Wachstum beschäftigt ist, kann er zur selben Zeit nicht geistige Hochlei­stungen vollbringen.

Das gilt auch für Zeiten von Krankheit, insbe­sondere, wenn sie mit Fieber verbunden ist. Hier sollte alles getan werden, um den Wachstums- und Regenerationskräften die volle Ruhe für ihre Arbeit am Leib des Kindes zu geben. Es wird auch verständlich, warum in der zweiten Lebenshälfte, wenn ein Mensch gesund alt wird, das geistige Wachstum weitergehen kann, obgleich der Körper in seine natürliche Involutionsphase, das heißt in den Altersabbau aller Organe eintritt: Die nachlassende Regenerations­kraft des Körpers führt zu einer Stärkung der Gedankenkraft, vor­ausgesetzt, dass der Mensch gelernt hat, diese aus dem Leib freiwer­denden Gedankenkräfte schöpferisch zu verwenden. Das ist allerdings eine Frage der Erziehung.

Altersgerechtes Lernen und Gesundheit

Wer von Jugend auf gewöhnt ist, in altersge­rechter Beanspruchung seiner geistigen Möglichkeiten tätig zu sein, für den wird sich die geistige Entwicklung wie selbstverständlich fortsetzen durch das ganze Leben hindurch.

Bleiben diese Wachstumskräfte jedoch im halbbewussten Bereich zwischen Leib und be­wusstem Gedankenleben gleichsam stecken, weil sie nicht in das be­wusste Gedankenleben integriert werden, so können auch sie eines Tages zu Krankheitstendenzen, insbesondere zu krankhaften Wachstumswucherungen führen.

Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart

ENTWICKLUNGSAUFGABEN DES ERWACHSENEN

Welche Entwicklungsaufgaben hat der Mensch, wenn er erwachsen geworden ist?

Welche Themen haben die mittleren (4. bis 7.) Jahrsiebte?

Die mittleren Jahrsiebte und ihre Aufgaben

· 4. Jahrsiebt – Selbsterfahrung durch Welterfahrung

Nach dem eigentlichen Erwachsen-Werden mit 21 Jahren sind die jungen Menschen auf der Suche nach Welterfahrung, um sich darin selbst zu erfahren. Sie wollen nicht länger gelenkt werden, wollen selbst Lenker sein. Und das bedeutet wirkliche Arbeit.

· 5. Jahrsiebt – Verantwortung im Sozialen übernehmen

Im Alter von 28 bis 35 Jahren ist der Mensch Meister des eigenen Körpers geworden. Der nächste große Schritt ist nun, Verantwortung im Sozialen zu übernehmen. Das Ich muss zuerst das Astralische durchwirken und dann das Ätherische.

· 6. Jahrsiebt – die physische Welt meistern

Mit 35 bis 42 Jahren hat das Ich die Aufgabe, das Physische zu meistern in der realen Welt.

· 7. Jahrsiebt – neues Bewusstsein durch Selbsterziehung

Wer die physischen Gesetze zunehmend versteht und meistert, wird ab 42 Jahren weise: Er weiß um die eigene physische Kraft. Die sogenannte Midlife Crisis, die in diese Zeit fällt, betrifft vor allem diejenigen, denen es nicht gelang, das Physische, dazu gehört auch der physische Körper, wirklich zu meistern. Sie suchen dann oft nach einem Neubeginn im Physischen: nach einer neuen Familie, einem neuen Haus, einem neuen Job… Das ist eine kritische Zeit, in der die Menschen auf ihre eigene Begrenztheit gestoßen werden und merken, dass die Lebenszeit nicht ewig währt, dass man wissen muss, was man will. Sich Klarheit darüber zu verschaffen, was realistisch ist, macht weise. Ein wirklich realistisches Lebensziel wäre, ein neues Bewusstsein zu erlangen durch Selbsterziehung, indem man zu meistern lernt, was man hat.

·   Letztes Lebensdrittel – der Entwicklung dienen

Wem das gelingt, der kann im letzten Lebensdrittel der Entwicklung von Mensch und Welt dienen. Viele Menschen heute sind zwar aufgewachsen, aber noch längst nicht erwachsen. Wenn wir mit Kindern zu tun haben, ist es sehr gut für sie, wenn wir sie an unserem Bemühen, erwachsen zu werden, teilhaben lassen. Denn sie wollen, dass wir zu erwachsenen Menschen werden. Unser Bemühen spornt sie an, es auch zu versuchen. Dann ist es nicht weiter schlimm, dass wir noch nicht ganz erwachsen sind, unser Bemühen reicht.

Vgl. IPMT-Schulung in China 2011

ANTHROPOSOPHISCHE FRÜHFÖRDERUNG

Warum ist es so wichtig, das Kind in seinen Eigenbewegungen zu unterstützen?

Eigenbewegung des Kindes maximal unterstützen

Wir haben bereits darüber gesprochen, was für eine Leistung es ist, aus der liegenden Position über die drehende, rollende, aktiv sich beugende und streckende und krabbelnde Bewegung schließlich in das Sich-Aufrichten zu kommen. Das Kind selbst bearbeitet, ergreift, bewegt und richtet diesen Leib auf. Diese Tatsache müssen wir heute als Bild in uns lebendig werden lassen, denn viele Maßnahmen aus Medizin und Frühförderung greifen von außen in die Willens- und Bewegungsfreiheit des Kindes ein. Ich rede jetzt nicht von den „Gehfrei-Geräten” und Kinderwippen, mit denen man Kindern, noch bevor sie selbst die Aufrechte errungen haben, auf unangemessene, pathologische Art das Sitzen oder Laufen ermöglicht. Das Kind bekommt einen Bewegungsspielraum, den es sich nicht selbst erarbeitet hat: Die Folge ist eine Schwächung des Selbsterlebens durch die Fremdbestimmung – dass es bewegt wird, anstatt sich selbst zu bewegen.

Anthroposophische Frühförderer bemühen sich, die krankengymnastischen Techniken und Behandlungsverfahren, die sie in ihrer Ausbildung gelernt haben, so umzuwandeln, dass die Eigenbewegung des Kindes maximal unterstützt wird. Es geht darum Verfahren anzuwenden, die die natürliche Entwicklung unterstützen.

Freude und Heiterkeit

Freude und Heiterkeit aber machen die Atmosphäre aus, in der die Inkarnation eines Kindes am besten gelingt. Rudolf Steiner sagt hierzu in seiner kleinen Schrift „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft”:[1]

„Zu den Kräften, welche bildsam auf die physischen Organe wirken, gehört also Freude an und mit der Umgebung. Heitere Mienen der Erzieher, und vor allem redliche, keine erzwungene Liebe. Solche Liebe, welche die physische Umgebung gleichsam warm durchströmt, brütet im wahren Sinne des Wortes die Formen der physischen Organe aus. Wenn die Nachahmung gesunder Vorbilder in solcher Atmosphäre der Liebe möglich ist, dann ist das Kind in seinem richtigen Elemente. Strenge sollte darauf gesehen werden, daß in der Umgebung des Kindes nichts geschieht, was das Kind nicht nachahmen dürfte. Man sollte nichts tun, wovon man dem Kinde sagen müsste, das darfst du nicht tun ...”

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 3. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft


[1] Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. Rudolf Steiner Verlag, 1984.

NORMALITÄT UND NORM IN DER KINDLICHEN ENTWICKLUNG

Gibt es eine allgemeingültige „normale“ kindliche Entwicklung?

Die Frage nach dem so genannten „Normalen” wird immer wieder aufgeworfen werden. Aus kinderärztlicher Sicht würde ich sagen: Jeder ist so normal, wie er sein kann; man muss sich an der jeweils vorhandenen „Normalität” orientieren. Jeder Mensch setzt seine eigene Norm, ist sein eigener Maßstab. Man kann den anderen, nur weil er anders ist, nicht als „nicht normal” bezeichnen.

Jeder ist eine Welt für sich

Schon im Säuglingsalter ist keiner dem andern gleich. Der Begriff „Norm” kommt aus der naturwissenschaftlichen Medizin, denn nur auf naturwissenschaftlicher Ebene kann man vergleichen, Normen setzen und Abweichungen davon bestimmen. Es gibt Normen für Gewicht, Körper-, Kragen- und Hutgröße, auch für den Zuckergehalt des Blutes am Morgen und am Abend, für die Temperatur und so fort.

Überall gibt es aber eine gewisse Bandbreite, sodass wir in der Medizin nicht von „Normwerten”, sondern von „Normbereichen” sprechen. Der Hämoglobingehalt des Blutes sollte sich beispielsweise zwischen 12, 6 und 16, 5 bewegen, er variiert aber je nach Geschlecht und Alter: Wenn man erkältet ist, sind die Normwerte anders, als wenn man nicht erkältet ist; im Alter von dreißig Jahren sind sie anders als mit sechs Jahren. Jede Norm braucht immer den Bezug zur individuellen Situation. Und jeder Mensch ist eine Welt für sich und setzt seine eigene Norm.

Daraus folgt: Wenn wir Kinder so „normal” nehmen, wie sie sind, und ihnen erlauben, sich gemäß ihrer eigenen Norm, ihrem eigenen Schicksal und ihrem eigenen Vermögen zu entwickeln, arbeiten wir richtig im Sinne der kindlichen Entwicklung.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft

REALITÄT DER GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN BLICK­RICHTUNG

Welche Perspektive auf das Kind eröffnet die geisteswissenschaftliche Blickrichtung?

Inwiefern eröffnet sie eine wirklichkeitsgetreue Sicht auf das menschliche Wesen?

Fehlender geistiger Gesichtspunkt

Wir können grundsätzlich davon ausgehen, dass, wenn wir über Leib und Seele von Kindern und Erwachsenen sprechen, immer etwas Entscheidendes fehlt. Es sind Bilder, die etwas verbergen, weil der geistige Gesichtspunkt nicht erscheint. Meist gehen die Theorien davon aus, dass Erlebnisse in der frühen Kindheit ganz bestimmte Auswirkungen haben, die dann das Leben bestimmen; sie rechnen immer nur mit einem Erdenleben. Und auch die meist hypnotischen Rückführungstechniken bleiben beim rein Psychologischen stehen, ohne kontrollierendes geisteswissenschaftliches Bewusstsein.

Unterhält man sich mit Menschen, die sich solchen Rückführungen unterzogen haben, oder liest man Bücher über Rebirthing, dann merkt man bald, dass sich bestimmte Motive ständig wiederholen, vor allem ganz bestimmte Situationen, in denen der Einzelne Opfer war: Holocaust, Folterung, Vergewaltigung, Spießrutenlaufen, Verbrannt-Werden usw., also ganz bestimmte Extremsituationen des Menschseins. Im Einzelfall kann das ja auch tatsächlich zutreffen.

Nötige wahrheitsgemäße Anschauung

Aus der Geisteswissenschaft wissen wir, dass der Mensch im nachtodlichen Leben seinen Ätherleib und seinen Astralleib ablegt.

Was aber heißt das?

Während wir die Gedanken des Selbstbewusstseins, der Selbsterfahrung, des Wesentlichen und Wesenhaften mit uns nehmen, lassen wir die Gedanken des Bösen, des Widernatürlichen und Abgründigen zurück. Denn all das ist nicht Teil unseres Wesens, auch wenn wir es erlebt und erlitten haben. Es ist nicht wahr und schön und gut. Wir lassen es in der sublunaren Sphäre, der Sphäre zwischen Erde und Mond, zurück und sie bleiben in der Ätheraura der Erde und machen deren Schmerzenscharakter aus. In dieser Sphäre sind das Dämonische und das Böse zu Hause, die bösen Gedanken und Gefühle, die Hass-Impulse.

Wenn sich nun Menschenseelen auf dem Weg zur Wiedergeburt, zur Inkarnation, der Erde nahen, nehmen sie in dieser Sphäre viele Schrecknisse und Grausamkeiten, die auf der Erde geschehen sind, wahr. Diese Eindrücke werden in den sich bildenden Ätherleib mit aufgenommen und können wie Selbsterlebtes im Bewusstsein auftauchen. Es ist jedoch nicht eigenes Karma, das man dann schaut, sondern man empfindet die Verbindung mit dem Menschheitskarma, mit der Menschheitsschuld, an deren Auflösung man in diesem Leben mitarbeiten will.

Zusätzlich zu den psychologisch-naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen über das Kind braucht es ein intensives Studium der Geisteswissenschaft, um die Phänomene des Kindseins und der kindlichen Entwicklung auch geisteswissenschaftlich beleuchten zu können. Sonst kommen wir nicht zu einer menschen- und wahrheitsgemäßen, allseitigen Anschauung.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft

DIE SIXTINISCHE MADONNA ALS LEITBILD DER KINDLICHEN ENTWICKLUNG

Gibt es Leitbilder der kindlichen Entwicklung, die uns helfen können, bestimmte Fragen für die Praxis leichter zu beantworten?

Die Sixtinische Madonna erscheint mir ein grundlegendes Leitbild der kindlichen Entwicklung zu sein. Sie ist eine Art Ur-Madonna, wie nur Raffael sie malen konnte, von dem der deutsche Maler Dürer sagte, er habe in seinen Madonnenbildern „den Himmel auf die Erde gebracht“.

Dass sie weißhäutig ist, bedeutet nicht, dass sie nicht ebenso Urbild für farbige oder schwarze Menschen sein kann. Ich empfehle immer, dass man in farbigen Kindergärten eine farbige Madonna und daneben diese besondere Madonna von Raffael aufhängt, damit nicht das Missverständnis aufkommt, die weiße Madonna wäre „normaler” als die schwarze.

Die geistige Bedeutung der Farben

Weiß als Farbe drückt im geisteswissenschaftlichen Sinn „Gottesnähe” aus, schwarz hingegen ist Bild für das entkörperte, rein geistige Dasein in der geistigen Welt. Weiß bedeutet Gottesnähe auf Erden, Schwarz ist die esoterische Farbe des Todes, der Spiritualität. Weiß spricht vom Ideal der Reinigung der Seele auf Erden, Schwarz ist Sinnbild der Ewigkeit. Die menschlichen Hautfarben lassen sich zwischen diesen beiden Polen von inkarnierter und exkarnierter Geistigkeit einordnen.

Die Madonna Raffaels ist auch deshalb ein Archetyp im esoterischen Sinn, weil ihr Kind weder weiß noch schwarz ist, sondern in der Farbe des Inkarnats gemalt wurde, d.h. dem Weiß wurde etwas Schwarz und Rot beigemischt; in Schwarz und Rot wirkt die Spiritualität (der geistigen Welt) nach, gleichzeitig drückt sich aber im Weiß Erdzugewandtheit und Inkarnationswilligkeit aus. Das gilt auch für all die kleinen Kinderköpfchen ringsum. Dieses Madonnenbild ist esoterisch bedeutsam, weil unter spirituellen Aspekten jede Farbe und jede Form stimmt und das Kind so auf dem Arm der Mutter sitzt, dass es wie heraustritt aus dem Chor der ungeborenen, inkarnationswilligen Seelen. Das ist ein Umstand, der jedes kleine Kind als Aura umgibt: dass sich noch viele andere Kinder, viele andere Schicksale im Umkreis befinden.

Komposition des Inkarnationsaugenblickes

Ein Neugeborenes ist unendlich reich an Nachklängen aus der geistigen Welt, an ätherischen Bindungen, hierarchischen Gedanken, aber auch an Karma und Schicksalsbeziehungen. Das wird wunderbar durch die Engel und die männliche Gestalt ausgedrückt, die sich außer der Madonna und dem Kind noch auf dem Bild befinden. Das ist der Archetyp der esoterisch-exoterischen Komposition des Inkarnationsaugenblickes.

Von der Sixtinischen Madonna geht eine starke, im besten Sinne erzieherische, in die Senkrechte bringende, haltende Kraft aus. Wenn wir mit diesem Bild vor Augen an die Arbeit in unseren Betreuungseinrichtungen gehen, können wir daraus die richtige Haltung und Kraft schöpfen, um die Kinder in guter Weise auf ihrem Weg zur Erde zu führen.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft

DAS AUTONOMIEPRINZIP IN DER MENSCHLICHEN EVOLUTION

Welchen Stellenwert hat das Autonomieprinzip in der menschlichen Entwicklung?

Was drückt es aus in Bezug auf die Aufgabe des Menschen?

Der Mensch als anpassungsfähigstes Wesen

Bernd Rosslenbroich hat in seiner meisterhaften Studie zur Entwicklung von Mensch und Tier erstmals schlüssig anhand einer naturwissenschaftlichen Methodik dargelegt, dass der Evolution das Autonomieprinzip inhärent ist.[1] Das heißt, jeder Schritt in der Höherentwicklung der Arten stellt einen Zugewinn in der Befähigung zur Autonomie dar. Das kulminiert in der menschlichen Entwicklung. Der Mensch ist demnach das körperlich anpassungsfähigste Wesen. Er ist zudem frei im Hinblick auf den Umgang mit Wärme und Kälte, mit Nahrungsmitteln und Essenszeiten, mit der Schlaf- und Arbeitsmenge, mit der Work-Life-Balance, mit der Wahl seiner Partner und Freunde, mit Berufstätigkeit, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, mit der Frage, wie viele Sprachen er sprechen will, welche Hobbys er sich wählt, wie er liebt: ob er heiraten will oder in wechselnden Partnerschaften leben, ob er Kinder haben will oder nicht – um nur einige zu nennen.

Das Dilemma ist, dass der Menschen im Prinzip frei ist, doch auf Schritt und Tritt erlebt, wo er noch nicht frei ist: Oft bemerkt man erst zu spät, dass man eine falsche Entscheidung getroffen hat, man wünscht sich, was man (noch) nicht hat und steht immer wieder neu vor der Tatsache, dass man zwar in vielem bereits autonom agieren kann, jedoch viele Freiheitsgrade noch nicht erschlossen sind und in diesem Leben (vielleicht) auch nicht zu erschließen sein werden. Das führt viele zur Anerkennung der Logik von Reinkarnation und Karma, ja der Notwendigkeit wiederholter Erdenleben.

Beteiligung des Menschen am Schicksalsgeschehen

Wenn man das Leben nicht als einmalig oder zufällig betrachtet oder aber allein von einer göttlichen Macht gesteuert, eröffnet sich noch eine andere Dimension der menschlichen Entwicklung: die Beteiligung des Menschen am Schicksalsgeschehen. Je mehr sich ein Mensch seiner Mitgestaltungsmöglichkeiten bewusst ist, umso freier und verantwortungsbewusster kann er sein Leben in die Hand nehmen. Umso mehr erlebt er auch „die Ohnmacht Gottes“, der dem Menschen die Anlage zur Freiheit gegeben hat und diese in dem Maße respektiert, indem sie sich entwickelt.

Keiner muss mehr reagieren – das alte Karma-Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gehört der Vergangenheit an. Es führte die Menschen in die Individualisierung und Sonderung.

Das neue Karmaprinzip, von dem in der Bergpredigt[2] die Rede ist, offenbart noch eine weitere Seite der Freiheit: dass man eigene und fremde Schuld durch die Kraft des höheren Ich verstehen, verzeihen und erlösen kann.  Diese Ich-Kraft, die allen Menschen gemeinsam ist, entwickelt sich am besten, wenn man sie im sozialen Leben übt als die Kraft selbstloser Hingabe angesichts der Sorgen und Nöte der Welt, in der man lebt, die Kraft geistiger Liebe. Voraussetzung dafür ist die bis zu einem gewissen Grad errungene Autonomie. Denn nur wer sich innerlich frei fühlt, vermag sich z.B. von berechtigter Wut einem Feinde gegenüber, der einem geschadet hat, zu lösen, ist darüber hinaus in der Lage verstehen zu wollen, um aus diesem Verständnis heraus auch verzeihen zu können.

Folgen von Missbrauch von Liebe und Freiheit

In seinem Werk über die Akasha-Chronik führt Rudolf Steiner aus,

  • dass Gott der Evolution des Menschen zum Ausgleich für den Missbrauch der Liebefähigkeit Krankheit und Tod beigegeben hat.[3]
  • Und dass der Missbrauch der Freiheitsfähigkeit hingegen über das Gesetz von Reinkarnation und Karma ausgeglichen wird.

Die beiden Widersachermächte oder Teufel Luzifer/Diabolos und Ahriman/Satanas ermöglichen den Missbrauch der Eigenschaften, die zu entwickeln der Mensch berufen ist. Ohne diese Möglichkeit der Abirrung könnte sich der Mensch nicht aus sich heraus authentisch für das Gute, das wahrhaft Menschliche, die menschlichen Entwicklungsziele, entscheiden.

Diese werden u.a. in den Kernidealen des Christentums ausgedrückt: Wahrheit, Liebe, Freiheit. Ringen wir um die Verwirklichung dieser Ideale, erringen wir auch die Voraussetzungen für leibliche, seelische und geistige Gesundheit. Warum? Weil auch Gesundheit physiologisch gesehen auf diesen drei Qualitäten basiert: Im gesunden Organismus

  • stimmt alles miteinander überein (Wahrheit)
  • stehen die Abläufe in ständiger Resonanz und feinabgestimmter Wechselwirkung miteinander (Liebe)
  • werden die Grenzen und die Integrität der einzelnen Organe und Funktionen respektiert (Freiheit).

Vgl. „Schicksalswirkungen im Lebenslauf auf Grundlage von Rudolf Steiners Karmaforschung“ Der Merkurstab 2015, Heft 6


[1] Bernd Rosslenbroich, On the Origin of Autonomy, A New Look at the Major Transitions in Evolution, Heidelberg, New York, Springer 2014.

[2] Neues Testament, Matthäus Kap. 5 - 7.

[3] Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik, GA 11, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1986.

ENTWICKLUNGSGEDANKE UND WIEDERVERKÖRPERUNG

Welche Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet der Gedanke der Wiederverkörperung?

Viele Leben für Entwicklung nötig

Der Gedanke der Wiederverkörperung ist so alt wie die Menschheit. Wer ein medita­tives Leben beginnt, bemerkt bald, wie viel es noch zu lernen und zu erfahren gilt.

Wer kann sagen, er sei bereits ein voll entwickelter Mensch?

Wer will schon von sich behaupten, dass er sein Entwicklungsziel erreicht hat und tatsächlich „am Ende“ ist?

Selbst große Geister wie Goethe waren davon überzeugt, dass es nötig ist wiederzu­kommen, um weiter zu lernen. Emil Bock befasste sich mit Persönlichkeiten im (mittel)­europäischen Raum, die davon überzeugt waren, dass der Mensch nicht nur einmal lebt, und das Gesetz von Reinkarnation und Karma als für alle Menschen gültig erachteten.[1] Bock war der Überzeugung, dass jeder, der sich ernsthaft mit der Tatsache auseinander­setzt, dass man sich als Mensch nicht nur körperlich entwickelt, sondern auch seelisch und geistig, auf den Gedanken der Wiederverkörperung kommt: dass der Mensch viele Leben braucht, um nur annähernd das Ausmaß an Freiheit, Würde, Selbstachtung, Respekt, Verständnis, Mitleid und Liebe für andere zu erwerben, das einen wirklich „guten Menschen“ ausmacht.

Schicksal als Lernfeld begreifen

Jeder Mensch hat seine besondere Art zu sein und sich zu entwickeln – weil jeder sein eigenes Schicksal hat, auch wenn viele über Zeiten hinweg zusammenleben und innig befreundet sein können. Auch eineiige Zwillinge verbringen ihre Leben oft an getrennten Orten, in verschiedenen Berufen und selbstverständlich mit ver­schie­denen Lebens­partnern etc. Jeder Mensch hat sein eigenes Schicksal mit seiner eigenen Krankheits­disposition. Sich diesbezüglich eine Art geistiger Identifikationsmöglichkeit zu erarbeiten, erscheint mir in der heutigen Zeit besonders wichtig.

Unter dem Aspekt wiederholter Erdenleben und fort­schreitender Bewusstseins­ent­wick­lung ändert sich auch das Verhältnis, das man zum eigenen Körper hat. Man ist durch ihn nicht mehr nur Mann oder Frau, Engländer, Schwarzafrikaner, Chinese oder Deutscher. Vielmehr begreift man ihn als Instrument der Weiterentwicklung. Man erlebt die eigene Identität immer mehr im rein Menschlichen und weniger im Mann- oder Frausein bzw. in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Hautfarbe, einem Volkstum oder einer Religion. Der Körper ist das Erdeninstrument des Schicksals. Von seinen Begabungen und Behinderungen, seinem Aussehen und Geschlecht hängt es zu einem großen Teil ab, wie sich dieses gestaltet.[2] Man erlebt, wie vieles im eigenen Schicksal gerade von der besonderen Konstitution in diesem Leben abhängig ist und dass dieses Schicksal seinen eigenen Gesetzen folgt.

Vertrauen in das eigene Schicksal entwickeln

Das erfuhr ich eindrücklich während meiner Zeit auf der Intensivstation. Der Laie denkt in der Regel, dass dort „Halbgötter in Weiß“ mithilfe von Schläuchen und Nadeln Leben erhalten. Das stimmt so nicht. Es trifft nicht einmal auf die Neu- und Frühgeborenen-Station zu: Ich habe dort Kinder sterben sehen, deren Tod niemand voraus­gesehen hätte und ich habe Kinder überleben sehen, bei denen niemand es für möglich gehalten hätte.

In mehreren Fällen hatte sogar das ethische Komitee bereits entschieden, alle Apparate abzustellen und diese Kinder nur noch zu pflegen und zu ernähren, weil sie mehrfach behindert waren. Sie überlebten trotzdem, unter erschwerten Bedingungen ohne zusätz­liche Beatmung, bis die Eltern angesichts des Lebenswillens ihres Kindes bewusst und entschieden „Ja“ zu ihnen sagten.

Durch diese Erfahrungen entwickelte ich als Ärztin ein ganz tiefes Vertrauen in das Schicksal der betreffenden Menschen – und damit rühren wir jetzt an eine andere Dimension: Es gibt Menschen, die früh sterben, als Kinder oder im frühen Erwach­senen­­alter. Und es gibt Menschen – deren gibt es heute viele –, die erst hochbetagt sterben. Es ist aber auch so, dass manche Kinder durch einen Unfall, den man nicht hatte vermeiden können, durch Bedingungen, die man geschaffen hat und die zu hinterfragen müßig ist, verletzt werden und lebenslang behindert bleiben. Dazu ein besonders anrührendes Beispiel.

Ein Ort der Weiterbildung für besondere Menschen

In der Nähe von Nagano, in den Bergen Japans, liegt Suirin,[3] ein besonderer Ort für Studium und Weiterbildung, im traditionell japanischen Stil geführt, mit exzellenter biologischer Küche, angenehmen Räumen mit Holzverkleidung, mitten in der Natur. Etwa 100 Menschen können hier untergebracht und verpflegt werden. Das ganze Jahr über finden die verschiedensten Seminare, Kurse und wissenschaftlichen Kolloquien statt. Jetzt ist noch ein weiteres Haus geplant für das Zusammenleben mit alten Menschen. Die Mehrzahl der über 30 MitarbeiterInnen besteht aus Jugendlichen, die aufgrund von Anpas­sungsstörungen, psychischen Krankheiten und Behinderungen bis­her keine Arbeits­stelle finden konnten. Hier lernen sie nicht nur ein gesundes regel­mäßiges Leben kennen, sondern werden auch ausgebildet in Haushaltswirtschaft, Pflege und verschiedenen sozialen Diensten. Nach dieser mehrjährigen Ausbildungszeit können sie in der Regel ein selbständiges Leben aufnehmen. Die Anmeldelisten über­steigen weit die Möglichkeiten der Aufnahme.

Woher kam dieser Impuls, der sich im Laufe von 30 Jahren so erfolgreich entwickelt hat?

Einem Elternpaar wurde vor 30 Jahren ein schwerstbehindertes Mädchen geboren, das weder gehen noch sprechen lernen konnte. Sie waren von Anfang an darauf angewiesen, sich rein emotional-intuitiv mit ihrer Tochter zu verständigen. Sie ent­schie­den sich für ein neues Leben mit ihrer Tochter, suchten einen besonders schönen, gesunden Lebensraum und begründeten – sozusagen um die Tochter herum – die eben skizzierte soziale Einrich­tung. Ohne sie wäre das Leben der Eltern in konven­tio­neller Weise weitergegangen – nie wären sie auf den Gedanken gekommen, einen Ort von Menschlichkeit und kultureller Vielfalt zu schaffen.

So kann ein Erdenleben auch einmal ganz im Zeichen der Hilfsbedürftigkeit, im Em­pfan­­­gen, verbracht werden. Dadurch bekommen andere die Möglichkeit, unermess­lich viel zu lernen, insbesondere auf sozialem Felde.

Vgl. Vom Sinn der … Krankheiten, in: Meditation in der Anthroposophischen Medizin, 1. Kap., Berlin 2016


[1] Emil Bock, Wiederholte Erdenleben. Die Wiederverkörperungsidee der deutschen Geistesgeschichte, Verlag Urachhaus, Stuttgart 1996.

[2] Michaela Glöckler, Begabung und Behinderung, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004.

[3] Siehe http://www.suirin.com/English/welcome.html.

MENSCHLICHE DEFIZITE KOMPENSIEREN DURCH ENTWICKLUNGSWILLEN

Inwiefern ist es wichtig, zwischen Tier und Mensch zu unterscheiden?

Worin sind sie begründet?

Worin liegt der Sinn des menschlichen Andersseins?

Welche Herausforderungen und Aufgaben sind damit verbunden?

Verwischte Unterschiede neu erfassen

Der prinzipielle Unterschied zwischen Mensch und Tier wurde als Folge der darwinistischen Evolutionstheorie in den letzten hundert Jahren zunehmend verwischt. Daher ist es wichtig, diesen Unterschied neu zu erfassen, wenn man den Menschen als Mensch und nicht als Tier verstehen möchte.

Dem Tier ist es zwar möglich, sich individuell seelisch zu äußern – keine zwei Hunde gleichen sich in Bezug auf ihr Verhalten vollständig, auch wenn sie dem gleichen Wurf angehören –, aber es ist dennoch keinem einzigen Hund möglich, sich nicht wie ein regulärer Hund zu benehmen. In der tierischen Entwicklung fehlt der Faktor „individuelle Entwicklung“, der mit

  • Offenheit,
  • Risikobereitschaft,
  • Scheitern-Können,
  • Aufgeben-Wollen einhergeht
  • und der in die Unberechenbarkeit der spezifisch menschlichen Existenz führt
  • mit der ganzen typisch menschlichen Selbstfindungsproblematik
  • mitsamt ihren Identitätskrisen
  • und dem Erreichen des Nullpunktes.

Vielleicht stellen wir Menschen uns deshalb gegenwärtig so gerne auf eine Stufe mit dem Tier, weil wir es insgeheim um seine fraglose Identität und um sein immer artgemäßes Verhalten beneiden. Die weisheitsvollen Gesetzmäßigkeiten der mineralischen Welt, der ätherischen Lebenszusammenhänge und der seelischen Verinnerlichungsmöglichkeiten kommen beim Tier zwar in jedem einzelnen Individuum auch individuell zum Ausdruck, jedoch immer in einer gewissen Vollkommenheit und Selbstverständlichkeit. Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden des Tieres werden von artgemäßen Instinkten bestimmt und können naturgegeben ausgelebt werden. Gerade das ist dem Menschen nicht möglich.

Lange Kindheit als Zeit für Entwicklung

Der Zoologe Friedrich Kipp ist in seinem Buch „Die Entwicklung des Menschen im Hinblick auf seine lange Jugendzeit“ dem Unterschied zwischen Tier und Mensch evolutionsbiologisch nachgegangen.[1] Er zeigt auf, dass der Mensch eine im Vergleich zu den Säugetieren charakteristisch lange Kindheit und Jugend hat, mit einer ausgedehnten Spiel- und Lernphase, wodurch seine Fähigkeit, sich lebenslang ändern und anpassen zu können, entscheidend unterstützt wird. Das zeigt: Der Mensch ist auf Selbstentwicklung hin veranlagt. Körperlich hingegen behält er im Vergleich zu den Tieren eine unspezialisierte, embryonal-kindliche Form bei. Dies hat auch entsprechende Konsequenzen für die Erziehung: Kinder, die ausgiebig spielen und kreativ sein durften, bleiben in der Regel auch bis ins hohe Alter beweglich und schöpferisch. Je früher hingegen die Kinder in Kindergarten und Schule spezialisiert, konditioniert und verschult und damit festgelegt erscheinen, desto gefährdeter sind sie, später unschöpferisch, angepasst und früher alt und eher krank zu sein.

Daran kann unmittelbar abgelesen werden, dass in den Menschen eine über das Tier hinausgehende, völlig andere Gesetzmäßigkeit hereinragen muss: Eine Gesetzmäßigkeit, durch die er gezwungen ist, die Verantwortung für seine Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen, da er sie nicht seinen körpereigenen Instinkten überlassen kann. Die menschliche Entwicklung ist gekennzeichnet von einer größtmöglichen Offenheit und Verwundbarkeit. Alles, worauf das Tier sich weitestgehend verlassen kann – dass es die richtige Wahl der Nahrungsmittel trifft, dass es nicht zu viel und nicht zu wenig isst, dass es sich artgemäß fortpflanzt, dass sein Schlaf-Wachrhythmus geregelt ist, dass sein Sozialverhalten dem entspricht, was man von ihm erwartet –, all das ist beim Menschen nicht von Natur aus gegeben, sondern muss im Laufe des gesamten Lebens nicht nur errungen, sondern auch weiter ausgebildet, kultiviert und „vermenschlicht“ werden. Wie viele Arztbesuche würden entfallen, wenn es keine Ess-, Schlaf- und (sexuelle) Beziehungsprobleme gäbe!

Schon eine so einfache Überlegung macht deutlich, wie revolutionär, wie dramatisch und grundsätzlich der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist. Wenn beim Tier die Geschlechtsreife eintritt, ist sein artgemäßes Verhalten bereits gesichert, und es lebt individuell und sozial in geregelten Bahnen. Beim Menschen hingegen ist die Geschlechtsreife dadurch gekennzeichnet, dass alle noch so gutgemeinten erzieherischen Bemühungen aus den früheren Jahren fruchtlos erscheinen. Eigenes, Unerwartetes macht sich geltend – das ist ein wahrhaft revolutionärer Vorgang.

Entwicklungsoffenheit als Herausforderung und Chance

Mit diesem Eigenen, Unerwarteten, mit dieser Entwicklungsoffenheit hängt aber auch all das zusammen, was besonderen Begabungen und Behinderungen zugrunde liegt. Und nur der Mensch muss lernen, mit Begabungen und Behinderungen zu leben und mit ihnen umzugehen, nicht jedoch die ihm seelisch verwandten Tiere. Man hat Skelette von wasserköpfigen Kindern gefunden, die aus der Steinzeit stammten, und hat daraus geschlossen, dass die Fürsorge für behinderte Kinder so alt ist, wie Menschen Behinderungen wahrnehmen und pflegen konnten. Ein behindertes Tier in der freien Wildbahn wird sehr bald vom ökologischen System „verarbeitet“: es stirbt, weil es sich nicht ernähren und verteidigen kann – es wird aufgefressen, ihm kann nicht geholfen werden. So wird auch dafür gesorgt, dass schwerwiegende Behinderungen unter Tieren nicht weitervererbt werden können.

Was könnte ein Tier auch in der Auseinandersetzung mit einer Behinderung gewinnen? 

Da ihm das Selbstbewusstsein und die damit verbundene persönliche Betroffenheit fehlen, könnte es damit gar nichts anfangen. Es würde sinnlos leiden. Dem Tier ist es nicht gegeben, durch Leid und Schmerz Erfahrungen zu machen, die es in seiner Entwicklung weiterbringen. Denn es ist von Natur aus zur Vollkommenheit veranlagt. Das kann durch persönliche Anstrengung nicht noch weiter gesteigert werden.

Leid und Schmerz als Lernhilfen

Gerade das ist beim Menschen grundsätzlich anders: Für ihn sind Leid und Schmerz Herausforderungen, denen er sich während seiner ganzen Entwicklung bewusst stellen muss und durch die er Erfahrungen machen kann und Einsichten gewinnen lernt, die durch nichts anderes zu gewinnen sind.

In der Natur zeigt sich das Geistige – wenn es durch menschliche Eingriffe nicht gestört wird – wirksam in den weisheitsvoll aufeinander abgestimmten Regelkreisen der ökologischen Zusammenhänge. Krankheit und Behinderung treten hier nur am Rande als flüchtige Erscheinungen auf, da kranke Pflanzen bald zugrunde gehen, ebenso wie geschwächte und geschädigte Tiere. Demgegenüber besitzt der Mensch die Möglichkeit, mit Krankheiten und Behinderungen unter Umständen jahrzehntelang zu leben und umzugehen. Doch nicht nur das. Bei ihm tritt als entscheidender Faktor etwas hinzu, das bei Pflanze und Tier nicht existiert: innere Krankheitsursachen. Pflanze und Tier erkranken, wenn die äußeren Lebensumstände ihrer Art nicht mehr entsprechen und wenn in irgendeiner Form nicht zu kompensierende Mangelerlebnisse auftreten, was Nahrung und Klima betrifft. Beim Menschen treten zu diesen schädigenden Einflüssen von außen als entscheidende, spezifisch menschliche Krankheitsursachen innere Ursachen hinzu. Die Kräfte, die beim Menschen als freie, seelisch-geistige Betätigungsmöglichkeiten in Erscheinung treten, entstammen ja Kraftzusammenhängen, die den Leib aufbauen und erhalten. Beim Tier offenbaren sich die entsprechenden Kräfte als leibgebundene instinktive Weisheit und artgerechtes Sozialverhalten. Irrtum und Missbrauch dieser Kräfte sind ausgeschlossen, indem sie der unbewussten Regelung durch das Naturgesetz unterliegen.

Ausgleich des Instinktdefizits durch Lernwillen

Das ist beim Menschen anders. Er hat ein großes Instinktdefizit, einen Mangel an naturgegebener Weisheit, wie sie den Tieren angeboren ist. Dieses Kräftepotential steht stattdessen leibfrei dem Seelen- und Geistesleben zur Verfügung, d.h. der Mensch kann und muss durch aktive Lernprozesse ersetzen, was ihm an Instinkten fehlt. Andererseits hat er dadurch die Möglichkeit, diese vom Leib emanzipierten seelischen und geistigen Entwicklungspotentiale zu missbrauchen zur Zerstörung von sich und anderen. Hiermit gemeint sind nicht nur die Schädigungsmöglichkeiten, die mit falscher Ernährung, zu wenig Schlaf, einer ungesunden Lebensweise und mangelnder Hygiene zusammenhängen, sondern vor allem diejenigen Schädigungsmöglichkeiten, die durch ein unwahres Denken, ein destruktives Gefühlsleben und durch fehlgeleitete Willenshandlungen zustande kommen.

Es ist ein langer Entwicklungsweg, bis man reif ist für den freien Gebrauch dieser Seelen- und Geisteskräfte. Die damit verbundenen Lernprozesse sind dadurch störanfällig, dass sich der Mensch geistig, seelisch und auch an Leben und Leib „irren kann“. Darin liegt ein tiefer Sinn. Denn wenn er den zuletzt in Form von Krankheit und Behinderung organisch gewordenen „Irrtum“ erlebt, kann er sich dadurch weiterentwickeln. Auch liegt etwas Trostreiches in dem Gedanken, dass man Fehler und Irrtümer selber als solche erleben und damit die Voraussetzungen schaffen kann, sie selbstständig zurechtzurücken und zu verwandeln.

Gerade dabei spielt der Umgang mit Begabung und Behinderung eine wesentliche Rolle.

Verantwortung übernehmen für Entwicklung

Es wäre allerdings einseitig, aus dem Vorgebrachten den Schluss zu ziehen, hier tauche, nur mit neuen Begründungen, die alte Lehre wieder auf, dass Krankheit von Sünde und Fehlverhalten komme. Viel wesentlicher ist es, aus diesen Zusammenhängen die Frage abzuleiten:

Woher kommen Begabungen?

Woher kommen angeborene Fähigkeiten, Genialität? 

Könnten sie nicht gerade das Ergebnis durchgemachter Behinderungen und Krankheiten in einem früheren Erdenleben sein?

Wir leben heute in einer Zeit, in der die Menschen zunehmend empfinden, dass sie selbst für ihre Gesundheit und ihre Entwicklung Verantwortung übernehmen müssen. Dafür sorgt nicht nur der sich anbahnende wirtschaftliche Zusammenbruch der Gesundheits- und Sozialsysteme, sondern auch, dass der Mensch sich immer stärker als auf sich selbst gestellt erlebt. Angesichts der vielfältigen Folgen menschlichen Handelns in der Natur, der Umwelt und im Wirtschafts- und Sozialleben erkennen wir, dass wir es letztlich selber sind, von denen wir und unsere Umwelt abhängen. Wir sind viel mehr mit den Folgen unserer Taten konfrontiert; sie werden vom Einzelnen viel stärker erlebt als dies noch vor vierzig, fünfzig Jahren der Fall war.

Für die Zukunft wird entscheidend sein, dass möglichst viele Menschen sich ihrer Verantwortung bewusstwerden und aus dieser Einsicht heraus energisch an einer Vermenschlichung der kulturellen Verhältnisse arbeiten. Auch wenn noch nie so viele Menschen auf der Erde gelebt haben wie gegenwärtig, kann man andererseits auch sagen, dass die Defizite an Menschlichkeit nie so stark in Erscheinung getreten sind wie im letzten Jahrhundert mit seinen endlosen Kriegen, Zerstörungen und epidemischen Zuständen von Unzufriedenheit, Depression und Verzweiflung. Und so ist es kein Wunder, dass sich viele Menschen aufgrund dieser Tatsachen wie an einer Schwelle erleben, an der sie wachgerüttelt werden, sich selbst zu erkennen. Viele empfinden auch eine gewisse Sehnsucht, sich ihre Mitverantwortung für das Ganze bewusst zu machen.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 5. Und 6. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004


[1] Vgl. dazu Friedrich A. Kipp, Die Evolution des Menschen im Hinblick auf seine lange Jugendzeit, Stuttgart 1991. Ferner Wolfgang Schad, Säugetiere und Mensch, Stuttgart 1971.