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Gottebenbildlichkeit des Menschen: Unterschied zwischen den Versionen

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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
== DER MENSCH ALS OFFENBARUNG DES GÖTTLICHEN ==
''Was hilft die Brücke zu schlagen zwischen Spiritualität und Wissenschaft?''
''Inwiefern ist der Mensch Gottes Ebenbild?''
=== ''Gedankenkraft als ewiges Leben im Irdischen erkennen'' ===
Rudolf Steiner hat uns insofern eine hilfreiche Brücke gezeigt, als er das Denken als DIE spirituelle Kraft entdeckte, als unser ewiges Leben bereits hier im irdischen Dasein. Körpergebunden als Wachstums- und Regenerationskraft ist diese Kraft vergänglich, aus dem Körper wieder befreit als Gedankenkraft wird sie zu unserem „ewigen Leben“, das es uns ermöglicht, im Denken mit unseren Gottesbildern, mit den Bildern der Verstorbenen, mit den Bildern höherer Wesen zusammenzuleben. Alles erarbeiten wir in Gedanken.
Dieses gedankliche Selbstverständnis, diese Möglichkeit, sich etwas in Gedanken zu erarbeiten und am Leben zu prüfen, ob es trägt, ob es tauglich ist, bildet die Brücke zur heutigen Naturwissenschaft, weil auch sie auf dem Denken und der Beobachtung basiert. Wenn man sich diese Gedankenkompetenz bewusst macht als Brücke zwischen Göttlichem und Materiellem, hat man ein wirklich integriertes Menschenbild, das alles umfasst.
=== ''Das anthroposophische Menschenbild'' ===
Nun zu einem sehr konkreten Brückenschlag zwischen Spiritualität und Wissenschaft: dem Menschen als Gottes Ebenbild. Im Alten Testament heißt es: ''„Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde.“'''[1]'''''  Das entspricht dem Anthroposophischen Menschenbild, das sich auf die christlichen Grundwerte stützt: ''Ecce Homo – das ist der Mensch''. Jesus spricht von sich ja als vom Menschensohn, vom Sohn des Menschen.
Diese Gottebenbildlichkeit zu verstehen, ist ein wichtiges Motiv. Denn wenn man sich die aufrechte Menschengestalt anschaut, zeigt sie heute schon im Bilde, was wir einmal werden können.
=== ''Was die Entwicklung in den ersten drei Jahren abbildet'' ===
Wie sich das bereits beim kleinen Kind andeutet, möchte ich anhand der Entwicklung in den ersten drei Jahren etwas näher beleuchten:
==== • 1. Lebensjahr ====
Im ersten Lebensjahr stellen sich gesunde Kinder auf ihre eigenen Füße und machen ihre eigenen Schritte. Wie lange dauert es dagegen im Menschenleben, bis der Erwachsene wirklich den Mut hat sich auf eigene Füße zu stellen und seinen eigenen Weg zu gehen. Sich nicht abhängig zu machen von Lob, von Erpressung, von Geld, von allen möglichen Gepflogenheiten unserer Umwelt, sondern aus sich heraus sich selbst bestimmt. Die kleine aufgerichtete Kindermenschengestalt zeigt bereits im ersten Jahr im physischen Bild, was wir geistig werden können.
==== '''•  '''2. Lebensjahr ====
Im zweiten Lebensjahr sagt jedes Kind die Wahrheit. Zu lügen erlernen wir erst, wenn wir denken können. Bevor wir mit dem Ich-Sagen bewusst zu reflektieren beginnen, können wir noch nicht lügen. Jeder Mensch hat also ein Jahr in seinem Leben nicht gelogen – das ist wie eine Ressource von Wahrhaftigkeit, die einem keiner nehmen kann, auf die man immer zurückgreifen kann. Das zweijährige Kind zeigt also im Bild, dass der Mensch wahrheitsfähig ist: ''„Kindermund tut Wahrheit kund“'' – manchmal sehr zum Leidwesen der Erwachsenen.
==== • 3. Lebensjahr ====
Im 3. Jahr, wenn das Kind zu sich „ich“ sagt, leuchtet die eigene Identität auf, etwas rein Spirituelles, etwas, das man nur denken kann. Das berühmte Ich-bin-ich-Sagen ist der erste selbständige Gedanke, den das Kind fasst. An dieser Reflexion wird ihm sein Dasein bewusst. Damit beginnt die außerkörperliche Reise der freien geistigen Tätigkeit und Selbstbestimmung.
=== ''Gestalt und Organe als Abbild des Göttlichen'' ===
Der gesunde Körperbau des Menschen zeigt: Er hat den Kopf oben, steht auf eigenen Füßen, hat ein ungebrochenes Rückgrat, die Hände sind frei: Man sieht ihnen nicht an, ob sie schlagen, stechen, kratzen oder beten werden, d.h. man weiß nicht, was ein Mensch im nächsten Augenblick tun wird. Unsere Hände sind Organe der Freiheit, sie brauchen die Bestimmung durch das Denken, das Fühlen, die Initiative. Wenn man die anatomische Bildgestalt der Hände nimmt, taugen sie nur zum Koffertragen, dafür sind sie anatomisch veranlagt. Für alle anderen Tätigkeiten muss der Mensch seine Hände aus der anatomisch vorgegebenen Haltung befreien, um mit den vielen Freiheitsgraden der Gelenke zu tun, was er will. Das bedeutet: Die Veranlagung zu freier geistiger Selbstbestimmung ist den Händen anzusehen.
Jedes Organ bildet eine solche organbezogene Weisheit ab: Das Göttliche offenbart sich so gesehen in der aufrechten Menschengestalt. Wir wissen nur so viel von Gott, wie wir denken können. Alle Menschenbilder, alle Gottesbilder und auch alle Bilder von der Welt basieren auf dem menschlichen Denken. Viele Menschen, die in ihrem Willen fest halten an etwas, das sie noch nicht verstehen, sprechen dann von „glauben“. Wir haben als Menschen heute jedoch die Aufgabe zu verstehen, was wir glauben und auch zu glauben, was wir verstehen.
''Vgl. Vortrag „Das anthroposophische Menschenbild“, 2014''
----[1] Altes Testament, ''1. Buch Mose'' ''1, 27.''
== DIE GOTTEBENBILDLICHKEIT DES PHYSISCHEN LEIBES ==
''Worin zeigt sich die Gottebenbildlichkeit des physischen Leibes?''
''Was will sie uns sagen?''
''Vor welche Aufgaben stellt sie uns?''
=== ''Der Mensch als Weg zu Gott'' ===
Um einige Grundmotive zur Frage der Gottebenbildlichkeit des Menschen darzustellen, beginne ich mit der physischen Ebene.
Damit wären wir schon bei den mythologischen Darstellungen des Alten Testamentes: ''„Gott schuf den Menschen nach Seinem Bild“.'''[1]''''' Das heißt genau genommen: Wenn der Mensch Gott begegnen will, wenn er zu Gott finden will, muss er sich ''an den Menschen'' halten, denn Gott hat Sein Bild auf der Erde zurückgelassen – und indem wir dieses Menschenbild richtig verstehen, zeigt sich uns auch ein Weg zu Gott. Das macht das Wesen unserer Anthroposophie aus: dass die Menschenweisheit zur Gottesweisheit werden möchte. ''„Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte.“'''[2]''''' Der Mensch als Weg zu Gottes Bild. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie wir von dem einen zum anderen kommen.
Ich hatte durch meine kinderärztliche Tätigkeit über viele, viele Jahre die Chance, Tausende von Kindern zu beobachten, vor allem Kinder in ihren ersten Lebensjahren, als Schulärztin aber auch ältere Kinder – das war etwas unglaublich Anrührendes.
=== ''Botschaften der Kindesnatur'' ===
Es ist mir heute ein Rätsel, wie lange es brauchte, bis diese Kindesnatur mir wirklich etwas zu sagen begann, bis diese Kinder in ihrer Lebensrealisierung im ersten, zweiten und dritten Jahr tatsächlich anfingen, mir durch ihre körperlichen Offenbarungen höhere Botschaften zu übermitteln.
Ich wusste von Rudolf Steiner natürlich schon lange, dass Kinder, die aus der vorgeburtlichen Welt kommen, in den ersten drei Jahren noch ganz unter dem Schutz der dritten Hierarchie stehen. Sie sind noch ganz in die Aura der Christuswesenheit einverwoben und lernen den Weg, die Wahrheit und das eigene Leben durch das Erlernen des Gehens, Sprechens und Denkens kennen. Sie haben eine unbewusste Christusbegegnung, indem sie es erlernen – das sind ganz wunderbare Tatsachen! Ich durfte jedoch erleben, dass es einen großen Unterschied macht, ob man etwas weiß und schätzt, vielleicht auch bewundert als Steiners Gedanken, oder ob man wie vom Blitz getroffen wird von der Erkenntnis: Das ist ja alles wahr!
Das Morgenstern-Wort – ''„Die zur Wahrheit wandern, wandern allein“''[3] – ist auch Seelenwort insofern, als man plötzlich ''von alleine'' erkennt, dass diese oder jene Aussage Steiners wirklich stimmt. Dann wird man frei von denen, die einem die Botschaft ursprünglich übermittelt haben. Rudolf Steiner war es ein großes Anliegen, dass die Anthroposophie uns hilft, ''selbst'' hinzuschauen, ''selber'' zu verstehen. Er wollte gerade nicht als Guru, als Autorität, missverstanden werden. In der „Theosophie“[4] sagt er sinngemäß: Nicht glauben sollst Du, was ich Dir sage, sondern es denken. Mach Dich doch selbständig durch Dein eigenes Denken, Dein eigenes Hinschauen, durch Dein eigenes Beobachten. Nur dann treten wir uns als Freunde gegenüber, die sich gegenseitig helfen können auf dem Erkenntnisweg. Vom Wissen zum Erleben zu kommen, ist ein Riesenschritt, den zu nehmen bei mir lange gedauert hat.
=== ''Die ersten drei Jahre als Offenbarung der Gottebenbildlichkeit'' ===
Ich werde nie vergessen, wie ich eines Tages im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung bei einem anderthalbjährigen Kind die verschiedenen Funktionen anschaute und es beobachtete und mir plötzlich klar war, dass die ersten drei Jahre wirklich wie eine Offenbarung der Gottebenbildlichkeit sind:
* Das ganze ''erste Jahr'' hindurch versucht das Kind allem voran nur ''eines'': diesen kleinen Menschenleib in die Vertikale, ''in die Aufrichte'', zu bringen.
* Erst wenn das gelungen ist, wenn es sich aufrecht platziert hat, beginnt ''im zweiten'' Jahr die Öffnung ''in die Horizontale'': über ''das'' Sprechen, das Zeigen und Anfassen mit den Händen, über die Bewegung nach vorne mit den Füßen, das Gehen usw.
* Wenn das Kind ''im dritten Jahr'' schließlich zu sich kommt und sich seiner selbst bewusst wird mit den Worten – „Ich bin“ – ''schließt sich ein Kreis.''
Die Worte ''„Ich bin, der ich bin''“[5] werden ja als ''„unaussprechlicher Name Gottes“'' bezeichnet. Den Namen „ich“ kann jeder Mensch nur zu sich selber sagen, deswegen ist er in Bezug auf einen anderen unaussprechlich. Beim Kind beginnt das Sich-seiner-selbst-bewusst-Werden im Erleben des Gedankens: Ich bin da. Ich bin hier. Ich bin ich. Kein Kind spricht das sofort aus – die Worte kommen erst später, folgen auf das archetypische Erleben: Ich bin wirklich hier!
=== ''Das Mysterium des Ich'' ===
Ich bekam von jemandem eine wunderschöne Karte mit dem Symbol des Rosenkreuzes: Sie zeigte das Kreuz bestehend aus der Vertikalen, Sinnbild für die Aufrichte, und der Horizontalen, Sinnbild für die Sprache, die Kommunikation, umgeben von einem Kranz aus Rosen, der ausdrückt, dass sich die beiden Richtungen und der Umkreis zusammenschließen in dem Gedanken: Ich bin ich.
Das Mysterium des Ich umfasst nicht nur die Tatsache, dass wir auf eigenen Füßen stehen und uns beweglich in der Aufrichte positionieren können. Dazu gehört auch das Erleben, dass wir mit jeder Bewegung und jeder Begegnung einerseits die Welt entdecken, aber auch an uns selbst schaffen, uns weiter und weiter selbst ''er''schaffen: Jede Bewegung bedeutet so gesehen ein Stück Selbstentwicklung.
Diese Zusammenhänge leben uns die Kinder in einer Weise vor, wie wir als Erwachsene nur davon träumen können! Dazu gehören auch ihr Drang und ihre Freude, auf alles zugehen, allem begegnen zu wollen! Es ist allerdings Sache der Erwachsenenschulung, diesbezüglich ein Mittelmaß zu finden…
=== ''Das Kind als Inbegriff von Weg, Wahrheit und Leben'' ===
Ich merkte damals, wenn man diese enorme Anstrengung der ersten drei Jahre wirklich selber zu fühlen beginnt, beginnt man tatsächlich auch eine zweite Aussage Rudolf Steiners zu verstehen: Wer die Worte der Evangelien nicht kennt und sich nur mit der Entwicklung von Natur und Mensch befasst und die Entwicklungstatsachen wirklich zu sich sprechen lässt, wird auf diese Weise dem schöpferischen Logos begegnen und in die Lebenssphäre gelangen. Dass das so ist, wurde mir an jenem Tage vor vielen Jahren bewusst. Denn als ich sah, wie das Kind auf die eigenen Füße kommt und die ersten Schritte macht, fiel mir das Evangelien-Wort ein: ''„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“''[6]
* Seine Art sich zu entwickeln weist uns den '''Weg'''.
* Das Kind ist aber auch die '''Wahrheit''': Denn im Alter des Sprechen-Lernens sagen wir ausschließlich die Wahrheit, sind wir durch und durch ehrlich. Egal, was ab dem Alter von etwa drei Jahren kommt, in dem wir zu denken beginnen, egal, welche Abstürze, welche Heimlichkeiten, welches hinterhältige Versteckspiel darauffolgen – wir können alle sicher sein, dass wir mindestens zwei Jahre lang nur die Wahrheit gesagt haben. Das kann uns keiner nehmen – das ist einfach so in diesen ersten zwei Jahren.
* Dann die dritte Aussage: Ich bin das Leben: Mit dem Ich-Sagen fangen wir ein '''Leben''' in Gedanken an, ein völlig neues Leben.
=== ''Im Menschen abgebildete Schöpfungsgeheimnisse'' ===
Ich hatte angesichts dieser Entwicklungszusammenhänge plötzlich den Eindruck, dass sie sich zu einem Bild zusammenfügen, das von den höchsten Geheimnissen der Beziehung von Gott, Mensch und Schöpfung spricht. Der Satz des Alten Testamentes über die Bildnatur, die Gottebenbildlichkeit, des Menschenmannes, weist bereits darauf hin: Je mehr man den Menschen versteht, desto mehr offenbaren sich einem die schöpferischen Wesenheiten, die an der Menschenbildung, wie sie geschehen ist, beteiligt waren, und die sich durch den Menschen offenbaren wollen. Damit hat man einen ganz praktischen phänomenalen Zugang zur Anthroposophie. Denn alles an der Anthroposophie ist tatsächlich anthroposophisch, sprich: Menschenwesenheit und Menschenweisheit offenbarend. Das ist der eine Aspekt.
Zur Abrundung noch ein zweiter Aspekt, den jeder auch für sich selbst ableiten kann. Der Archetyp der aufrechten Menschengestalt weist auf eine bestimmte Ordnung hin:
Das abgerundete '''Haupt''' bildet wie eine eigene Sphäre, die sich vom Kosmos abschnürt. Das Besondere daran ist, dass der Kopf nur beim Menschen oben sitzt und nicht wie beim Tier vorne. Die Sprache der Vertikale besagt außerdem, dass alle anderen Teile der menschlichen Gestalt – Herz, Hände, Bauch, Hüften, Beine, Füße und die Fortpflanzungs­organe natürlich auch – diesem Kopf untergeordnet sind. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen offenbart also, dass das Haupt tatsächlich führt und dass der Blick, weil es oben sitzt, in die Welt hinausgeht, nach vorne, in die Zukunft. Das bedeutet gleichzeitig, dass wir uns frei machen können von unserer Vergangenheit, was sich auch darin ausdrückt, dass wir nach hinten hin abgeschlossen sind. Wenn wir in die Vergangenheit schauen wollen, müssen wir uns umwenden, müssen uns aktiv dafür interessieren.
Unsere '''Ohren''' sind horizontal angeordnet, ganz in die Weite, zur Welt, gerichtet.
Wenn wir unsere '''Hände''' in der anatomischen Position zusammenführen, befinden sie sich unmittelbar in einer Haltung des Nehmens. Umgedreht eignen sie sich nur zum Tragen, zum Koffer- oder Taschentragen. Alles andere, was mit den Händen geschieht, muss mittels Fühlen, Wollen und Denken vom Menschen selbst bestimmt werden.
Die '''Hände und Schultern''' sind anatomisch-physiologisch nicht nur die Organe mit den größten Freiheitsgraden, sondern sie sind wirklich ''die'' Organe der Freiheit: Jeder Gebrauch hängt ab von den Motiven, mit denen der Mensch sich zum Handeln – und wir Ärzte zum Behandeln entschließt – und seine Hände entsprechend in Bewegung setzt. Alles Handeln muss, wenn es gottebenbildlich sein soll, aus Freiheit und Liebe geschehen, sonst missbrauchen wir die Hände und die Gottebenbildlichkeit.
Und so können aus jedem Organ kraft seiner Position Rückschlüsse gezogen werden auf Fähigkeiten und Möglichkeiten, die auf ein höheres Menschsein hinweisen: Vor allem die Tatsache, dass wir aufrecht auf unseren '''Beinen''' stehen können, dass unser '''Kopf''' dabei oben sitzt, getragen von unserem '''Rückgrat''' und das '''Herz''' sich in der Mitte, im Inneren befindet – vermittelnd zwischen allem und in seinem „Innensein“ gleichzeitig zentriert – spricht von Fähigkeiten, die wir seelisch-geistig erst erringen müssen:
''Wer trägt schon den Kopf oben?''
''Wer hat ein starkes Rückgrat?''
''Wer steht tatsächlich auf eigenen Füßen und ist nicht von tausend Dingen abhängig?''
Wir merken an diesen Fragen, dass die Gottebenbildlichkeit ein Zukunftsgedanke ist, der uns höchste Verehrung abfordern sollte. Denn mit dem physischen Leibe haben wir heute schon unser Werden, unsere Zukunft, im Bilde vor uns. Es beinhaltet auch die folgende Geste: Aus der Schöpfung heraus bin ich in dieses Leben hineingestellt. Gotteben­bildlich­keit spricht von Gott, vom Vater und seiner Schöpfung und bedeutet zugleich auch: ''„Ex deo nascimur“.'''[7]'''''
''Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK Dornach 2014''
----[1] Altes Testament, ''1. Buch Moses'' 1, 27.
[2] Rudolf Steiner, ''Anthroposophischer Leitsatz 1, 17. Februar 1924. In: Anthroposophische Leitsätze.'' GA 26, S. 6 (1989).
[3] Christian Morgenstern, ''Die zur Wahrheit wandern''. In: Christian Morgenstern, ''Stufen''. 1922.
[4] Rudolf Steiner, ''Theosophie''. GA 9, 1. Kapitel.
[5] Altes Testament, ''2. Buch Moses,'' 3, 14.
[6] Neues Testament, ''Johannes'' 14, 6.
[7] “Ex Deo nascimur, in Christo morimur, per Spiritum sanctum reviviscimus.” Rosenkreuzerspruch. Sinngemäße Übertragung ins Deutsche: «Aus dem Göttlichen weset die Menschheit… In dem Christus wird Leben der Tod… In des Geistes Weltgedanken erwachet die Seele.» In: Alexander Strakosch, ''Lebenswege mit Rudolf Steiner''. 1947, S. 179.
== DIE GOTTEBENBILDLICHKEIT DES ÄTHERLEIBES ==
''Welchen Aspekt des Göttlichen bildet der Ätherleib ab?''
''Was sagt uns das?''
''Welche Aufgabe ist damit verbunden?''
=== ''Bedeutsame Doppelnatur des Ätherischen'' ===
Auf der ätherischen Ebene geschieht in Bezug auf die Gottebenbildlich­keit etwas, das uns Rudolf Steiner im 1. Kapitel von ''„Grundlegendes…“''<sup>[1]</sup> so intensiv ans Herz legt, dass er dabei sogar in den Superlativ verfällt. In Rudolf Steiners schriftlichem Werk findet man höchst selten Superlative, aber in Bezug auf eine Besonderheit des Ätherischen verwendet er folgende Formulierung: ''„Es ist von der allergrößten Bedeutung zu wissen, dass die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen die umgewandelten, verfeinerten Wachstums- und Regenerationskräfte sind.“'''[2]'''''
Mit anderen Worten: Es ist von der allergrößten Bedeutung, dass wir die Doppelnatur des Ätherischen verstehen. Der Begriff Doppelnatur besagt, dass dieselben Kräfte, die den Leib bilden, die ihn von oben nach unten sukzessive reifen lassen, also die Wachstumskräfte, „umgewandelt und verfeinert“ werden zu den Denkkräften des Menschen:
* In den '''ersten sieben Jahren''' betrifft das die ätherischen Kräfte, die die ''Organe des Hauptes'' bilden,
* im '''zweiten Jahrsiebt''' diejenigen, die die ''Organe der rhythmischen Organisation'' bil­den
* und im '''dritten Jahrsiebt''' diejenigen, die die feinere Ausreifung des ''Muskel- und Skelettsystems'' bis zum Ausgewachsen-Sein bewerkstelligen.
Wenn wir diese Wachstumsprozesse verfolgen, können wir gleichzeitig auch verfolgen, dass das Denkvermögen in dem Maße zunimmt, in dem der Körper ausreift:
==== 1. Jahrsiebt – Beobachtungsvermögen ====
Im 1. Jahrsiebt, in dem die Sinnesorgane reifen, können wir beim Kind einen ständigen Zuwachs an Beobachtungsvermögen feststellen.[3] Es zeigt auf Dinge und fragt: Warum, warum, warum? Man merkt, die aus den Sinnesorganen und dem ''Nervensinnessystem'' für das Denken freigewordenen ätherischen Kräfte, sind an die Sinneserscheinungen geknüpft – d.h. das Kind will sich erfüllen mit den Vorstellungen dieser Erde; es sucht den Kontakt zum Physischen. Das ist ein wunderbarer Zusammenhang.
==== 2. Jahrsiebt – Empfindungsvermögen ====
Im 2. Jahrsiebt entspringt das Denken ganz anderen Wachstumskräften, die nicht diesen Bezug zum Physischen haben: den Wachstumskräften von Atmung und Herz, dem ''rhythmischen System''. Die Atmung ist ja eine Funktionalität von größtmöglicher Selbstlosigkeit. Sie dient physiologisch gesehen dem Gasaustausch durch einen Rhythmus, der das menschliche Wesen anschließt an den Makrokosmos und der uns dadurch gleichzeitig sagt, dass wir an den Makrokosmos angeschlossen sind – im Schnitt 18mal in jeder Minute, die wir atmen. Wenn wir das auf die Stunde und den Tag umlegen, kommen wir auf die berühmte platonische Zahl 25.920. Darauf werde ich unten näher eingehen.
==== 3. Jahrsiebt – Urteilsvermögen ====
Im 3. Jahrsiebt wird das Denken von den Kräften des ''Stoffwechsel-Gliedmaßensystems'' geprägt, die in dem Maße zur Verfügung stehen, in dem die jungen Menschen zur Erwachsenengestalt heranreift sind. Sie können jetzt ganzheitliche Zusammenhänge erkennen und ihr Handeln entsprechend ausrichten.
=== ''Platonisches Weltenjahr und Ich-Entwicklung'' ===
In seinem letzten medizinischen Zyklus, dem ''Pastoralmedizinischen Zyklus,'''[4]''''' widmet Rudolf Steiner nur dieser Zahl einen ganzen Vortrag – so wichtig war sie ihm. Er sagt dort, dass diese Zahl einen Weltenrhythmus anzeigt: Die ganze Evolution ist nur ein Keim, der sich in diesem Rhythmus von 25.920 Jahren wie realisiert:
Die 25.920 Jahre des Platonischen Weltenjahres lassen sich in 12 Weltenmonate teilen – das sind je 2.160 Jahre, die laut Rudolf Steiner der durchschnittlichen Dauer einer Kulturepoche entsprechen. Die sieben nachatlantischen Kulturepochen und die fünf atlantischen Epochen davor ergeben nun einen Kreis von zwölf Kulturepochen (Weltenmonaten): Das Platonische Weltenjahr entspricht der Evolutionsphase, in der die Menschheit schrittweise zu sich kommt und ihr eigenes schöpferisches Wesen entdeckt und handhaben lernt.
Zentralereignis dieser Weltenrhythmus-Entwicklung ist das Mysterium von Golgatha: die Erfüllung des dem Menschen von den Geistern der Form verliehenen Leibes, mit dem wahren wesenhaften Christus-Ich. Dieser kostbare Moment in der Mitte des Weltenjahres[5] stellt den Höhepunkt einer Entwicklung dar, auf den die ganze Evolution, mit Saturn, Sonne und Mond hinstrebte.
Das Weltenjahr entspricht makrokosmisch gesehen dem Zeitraum, in dem der Frühlingspunkt rückläufig einmal durch den ganzen Tierkreis wandert. Das heißt wir atmen in 24 Stunden im Rhythmus der makrokosmischen Entwicklung ein und aus und sind damit Teil dieser Evolution und eines großen Ganzen.
=== ''Ätherischer „Tod auf Golgatha“ …'' ===
Das Mysterium des Ätherischen besteht nun darin, dass die evolutive Schöpferkraft, die ätherische Kraft der Evolution, den Menschenleib verlässt und außerkörperlich unsere Gedankenaura bildet, die sich am Gehirn reflektiert. Diese Gedankenaura ist der Ursprung des „ewigen Lebens“, weil sich dort der Gedanke des Ich verwurzelt, welchen wir nur auf der Erde fassen können. Und nur auf Erden können wir von diesem Punkt aus anfangen, an unserer ewigen Individualität zu arbeiten und dieses Ich-Erlebnis wie eine Schale werden zu lassen, sodass das Göttliche – ''„Nicht ich, sondern der Christus in mir…“<sup>'''[6]'''</sup>'' – sich als schönes Ziel anbahnen kann, das sich verwirklichen, das werden möge.
Die Schöpferkraft Gottes, die unseren Leib gebildet hat, die uns über die Sinne der Umwelt gegenüber aufgeschlossen gemacht hat, die alle Bereiche umfasst, die die menschliche Natur mit der Substanzwelt und der Tiernatur teilt, diese Schöpferkraft kommt in der menschlichen Natur tatsächlich an ein Ende und erleidet den Tod im Menschen – wovon der Tod auf Golgatha ein Bild ist – in der Hoffnung, dass die Menschen dadurch in der Lage sind, selbst die ihnen innewohnende Freiheit und Liebe des Göttlichen zu erkennen und sie wirksam werden zu lassen.
=== ''… und Auferstehung im Denken'' ===
Diese in der gesamten Schöpfung lebende und schaffende Schöpferkraft, aufersteht einzig und allein bei uns Menschen in verwandelter Form als Weisheit, als „ewiges Leben“, als unser gedankliches Vermögen, unser Denken. Im Denken können wir die Ziele unserer Entwicklung, unserer Zukunft, erfassen. Wir können uns denkend daran orientieren und uns ihnen begeistert hingeben. Die religiösen Vorstellungen aller Religionen sind erfüllt von Bildern der Vollkommenheit, von Zukunftsperspektiven, Wandlungsmotiven und moralischen Werten. Auch das Motiv vom Opfer, das gebracht werden muss, wenn die Verwandlung in eine geistergebene, höhere menschliche Natur gelingen soll, ist immer von zentraler Bedeutung.
Wenn ich über diese Zusammenhänge nachdenke, erlebe ich immer wieder aufs Neue eine Art „Verantwortungsschock“, ob der Tatsache, dass ich allein für die Art und Weise verantwortlich bin, wie ich mit diesem Denkvermögen umgehe, was ich daraus mache. Ich trage sozusagen Gottes Ohnmacht in Händen: In mir ist er erstorben, damit ich jetzt selber sage, wie es weitergehen soll mit mir und meiner Mitwelt: Ich bin mitbeteiligt, bin Mitschöpfer an der Evolution. Das ist ein Gedanke, der nicht einfach zu ertragen ist. Ich bin sicher, dass viele Menschen sich davor verschließen, weil er so anspruchsvoll und eigentlich kaum zu ertragen ist.
=== ''Erwachen im Ätherischen als zweite Geburt'' ===
Die ganze Schöpfung ist also daraufhin ausgerichtet, in uns Menschen zu Ende zu kommen, quasi den „Tod auf Golgatha“ zu vollziehen im Sinne der Rosenkreuzerworte: ''„In christo morimur“''. Das sollten wir wissen und deshalb den Auferstandenen im Denken suchen, oder anders ausgedrückt: das Erwachen im Ätherischen suchen in einer völlig neuen Art, wozu uns die Anthroposophie erst so richtig befähigt – zu wissen, was wir glauben und zu glauben, was wir wissen. Damit erreichen wir eine Dimension, von der Rudolf Steiner in den Evangelienzyklen[7] sagt: Der Christus möchte im Bewusstseinseelenzeitalter ''verstanden werden''. Es genügt ihm nicht mehr, dass wir nur an ihn glauben.
Wir müssen uns klarmachen: Die Freude, die wir Menschen an der Entwicklung der Kinder haben, entspricht der Freude der Götter darüber, dass es schon Menschen gibt, die in ihre Welt heraufragen und als geistige Verheißung die Gedankensprache erlernt haben, die wirklich spirituell zu kommunizieren vermögen. Dazu müssen wir uns nur vorstellen, wie ein Rudolf Steiner, ein Goethe sich in großer Scheu in der geistigen Welt begegnen…
Ziel dieser Entwicklung ist die zweite Geburt: aus Wasser und Geist, sprich, aus den Kräften des leibfreien Ätherischen, im Denken geboren zu werden und aus diesem Geist heraus unsere Imaginationen zu teilen und Patienten zu heilen. Um diese Zusammenhänge zu wissen, ist von der allergrößten Bedeutung. Deshalb müsste immer die imaginative Christuswelt, die Christussphäre mitgedacht werden, wenn wir an den Ätherleib denken, weil die Christuskraft dort lebt und darauf wartet, von Menschen erkannt und gehandhabt zu werden.
''Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK Dornach 2014''
----[1] Rudolf Steiner, ''Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen,'' GA 27.
[2] Ebenda, S. 5 (Ausgabe 2010).
[3] Vgl. Rudolf Steiners Vorträge zu den Jahrsiebten in: ''Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft'', GA 34.
[4] Rudolf Steiner, ''Das Zusammenwirken von Ärzten und Seelsorgern'', GA 318.
[5] Müsste exemplarisch durchgerechnet werden…
[6] ''„Nicht ich, sondern der Christus in mir“'' ist ein von Steiner öfter zitiertes Wort des Paulus. In: Galater 2, 20.
[7] Rudolf Steiner, ''Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium'', GA 112;  ''Das Lukas-Evangelium'', GA 114; Das Matthäus-Evangelium. GA 123; ''Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums,'' GA 124;
Der Vortrag, ''Der Weg des Christus durch die Jahrhunderte,'' Kopenhagen, 14. Oktober 1913 in: ''Vorstufen zum Mysterium von Golgatha'', GA 152, S. 77-92 (1990) widmet sich ebenfalls ausführlich dieser Thematik: S. 80-91.
== DIE GOTTEBENBILDLICHKEIT DES ASTRALLEIBES ==
''Worin drückt sich die Gottebenbildlichkeit des Astralleibes aus?''
''Was sagt sie dem Menschen über sich selbst?''
''Welche Bezüge offenbaren sich dabei?''
=== ''Vermittler zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos'' ===
Unser Astralisches fungiert als Vermittler zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Im mikrokosmisch-persönlichen Erleben sind wir oftmals voller Zweifel, Hass, Spott, Furcht, Ängste. Die sogenannten negativen Gefühle verdanken wir unserem Körpererleben in einer unsicheren Welt gepaart mit einem schwachen Selbstbewusstsein. So entwickeln wir die verschiedensten seelischen Eigenschaften, ein Übermaß an Seelenhaftigkeit, einfach dadurch, dass wir uns geistig noch nicht genügend abgeklärt haben. Von diesem sogenannten niederen, „mikrokosmischen Astralleib“ sagt Rudolf Steiner, er habe die Möglichkeit, sich anzuschließen an den Makrokosmos, an die Hierarchien, an den Tierkreis, an die Planeten, an das wunderbare Weltenwort, an die reine kosmische Astralität, die reine kosmische Weisheit.
Es ist hilfreich, sich diese Möglichkeit vorzustellen. Wenn wir in die Nacht gehen, aber auch, wenn wir Patienten beraten, sollten wir uns im Denken darauf besinnen, dass das Sich-auf-die-Nacht-Vorbereiten auch beinhalten kann sich zu sagen: Die höheren Seelenkräfte sind bei mir noch unbewusst. Ich kann aber jede Nacht Beziehung zu ihnen aufnehmen. Dann helfen sie mir auch bei Tage, meine eigene niedere Astralität anzuschließen an den Makrokosmos, an die höheren Bereiche.
=== ''Anthroposophische Kosmologie'' ===
Im Hinblick auf die Bildung unseres Leibes ist die anthroposophische Kosmologie, die Kosmologie im Jahreslauf, ein riesengroßes Schulungsgebiet. Walther Bühler[1] gehört zu denen, die seinerzeit am intensivsten Forschungen zu diesen Zusammenhängen durchführte. Ich habe das Glück, mit einem Mathematiker verheiratet zu sein, und bemühe mich ebenfalls, regelmäßig an diesen Themen zu arbeiten. Und ich ermutige jeden, die Astronomie, die Tierkreiszeichen, so wie sie sind, und die Planeten, so wie sie sich bewegen, in eine logische und erkenntnismäßige Beziehung zu setzen zum menschlichen Organismus – nicht nur mythologisch, sondern real-phänomenologisch. Dazu ein paar Beispiele:
Der '''Marszyklus''' offenbart auch am Menschen seinen Zwei-Jahres-Rhythmus. Denn wir lernen nicht von ungefähr nach zwei Jahren zu sprechen, sondern deshalb, weil es dem Marsrhythmus entspricht.
Es ist auch nicht von ungefähr, dass sich zwischen elf und zwölf Jahren Sprache und Denken trennen, was jeder weiß, der mit Kindern zu tun hat. Diese Zeitspanne entspricht dem '''Jupiterzyklus,''' einem Rhythmus von 12 Jahren: Das Denken, die Weisheit des Denkens, wird unabhängig von der Sprachweisheit. Das Denken ist die Ursprache, die Urweisheit. Jede Sprache ist die Interpretation von ursprünglichen Gedanken. Deswegen empfinden wir unseren Übersetzern gegenüber eine so hohe Wertschätzung: Denn sie müssen in der Lage sein, den zugrunde liegenden Gedanken zu suchen und eigene Worte dafür in der anderen Sprache zu finden.
So ist auch unsere Skelettreifung erst dann wirklich vollendet, wenn der Saturnrhythmus abgeschlossen ist, mit ca. 29 Jahren, wenn auch die letzten Schädelanteile verknöchert sind: Dass dieser Prozess den ganzen '''Saturnzyklus''' lang dauert, wird allgemein noch nicht genügend erkannt.
=== ''Tierkreis, Monatstugenden und Organsysteme'' ===
Was auch immer man anschaut, man findet solche mikro-makro-kosmischen Bezüge. Im Rahmen einer Arbeitsgruppe zu diesem Thema hatte ich ein besonders schönes Erlebnis: Ich sah plötzlich, dass die Tierkreisbilder draußen am Himmel wie Skizzen oder Vorlagen genau der Bereiche der menschlichen Gestalt erscheinen, die mithilfe der Einwirkung der jeweiligen Tierkreiskräfte gebildet werden. Am allerschönsten lässt sich das bei den Fischen ablesen, man kann es aber auch bei jedem anderen Tierkreisbild sehen: Am Himmel sind nicht zwei Fische zu sehen, sondern zwei ''Füße'', die mit einem Band verbunden sind. Ob Fische oder Füße, ist demnach Sache der Interpretation.
Man kann unseren Tierkreis also ganz wunderbar als Bilde-Kreis der menschlichen Gestalt lesen lernen. Dann begreift man auch, warum die Monatstugenden[2] kosmischer Qualität sind: Wenn wir sie seelisch erringen, wirken sie gesundend auf die menschliche Gestalt zurück – dazu ein paar Beispiele, die ich nur nennen, aber nicht näher ausführen kann:
'''Verehrung''' fördert das Denken und die Beobachtung. Das Beste, was man für seine Gesundheit tun kann, ist den Pfad der Verehrung gegenüber Wahrheit und Erkenntnis einzuschlagen.
Der Zusammenhang der Tugenden von '''Gleichgewicht''' und '''Fortschritt''' kann auch wie folgt aufgefasst werden: Um sprechen zu können, muss ich erst einmal hören. Und um wirklich hören zu können, muss ich mit Leib und Seele still werden, muss meine Seele ins Gleichgewicht bringen, sonst bin ich nicht in der Lage zu erfahren, was der andere wirklich gesagt hat, weil ich z.B. schon an meinem Einwand „bastle“. Das heißt: Wer an seinem seelischen Gleichgewicht arbeitet, kann viel besser verstehen, was andere sagen, und wird auch selber viel „sinnesoffener“ sprechen können und so dem Fortschritt, der Entwicklung dienen. Und so lässt sich durch diese Tugenden jedes Organsystem pflegen und der Bezug zu den kosmischen Bildekräften, die es geprägt haben, verstehen.
=== ''Individuelles Bewusstsein erlangen'' ===
Rudolf Steiner formuliert dieses Mysterium wunderschön, indem er sinngemäß sagt, es gebe nichts am Ätherischen, was sich der Astralleib nicht bewusst machen könne.
* Die '''Äthersphäre''' besteht aus unbewusstem, heiligem, kosmischem Wissen.
* Die '''Astralsphäre''' schenkt uns die Möglichkeit, uns dieses Wissen auf individuelle Art bewusst zu machen.
Alle Hierarchien, alle Wesen, von den Menschen bis hin zu den Elementarwesen und Pflanzen, verfügen, insofern sie „Ohren“ im Astralen haben, über die Möglichkeit, kleine Innenräume zu schaffen und dadurch ein besonderes Bewusstsein im Allgemeinen zu erwerben. Das ist das Geheimnis der Individualität: Dass wir zu den grandiosen Gottesoffenbarungen, die dieser ganzen Schöpfung innewohnen, auf ganz individuelle Art unseren eigenen Bezug herstellen. Am allerschwersten fällt uns das im Hinblick auf unsere eigene Identität – weshalb ich jetzt zum Ich übergehen möchte.
''Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK Dornach 2014''
----[1] Unter anderen: Walther Bühler, ''Der Leib als Instrument der Seele'', Vier Vorträge, Erstausgabe 1955.
[2] ''Die zwölf zu meditierenden und im Leben zu berücksichtigenden Tugenden.'' In: Rudolf Steiner, ''Anweisungen für eine esoterische Schulung'', GA 245, S. 31 (1987). Auch in: Rudolf Steiner, ''Seelenübungen I'', GA 267, S. 74 (1997).
== GOTTEBENBILDLICHKEIT DES ICH ==
''Worin drückt sich Gottebenbildlichkeit des Ich aus?''
''Was offenbart sie dem Menschen?''
''Welche Aufgabe ist damit verbunden?''
=== ''Botschaft des Ich'' ===
In Bezug auf unser Ich müssen wir uns ganz archetypisch klarmachen, dass jeder von uns dank der Evolution die Möglichkeit hat, zu sich selber „ich“ zu sagen. Gleichzeitig müssen wir es aber auch ohne jeden Neid aushalten können, dass jeder andere Mensch das Gleiche macht: Wir sagen alle zu uns „ich“, benützen alle dasselbe Wort – ''und jeder meint nur sich'': Ein und derselbe Gedanke wird also durch dasselbe Wort ganz individuell interpretiert!
Dieser Umstand weist auf einen „Archetypen der Entwicklung“ hin, ausgedrückt in den Worten aus Morgensterns Gedicht: ''„Die zur Wahrheit wandern, wandern allein“''[1]. Jeder versucht sein Ich zu erfassen und individuell zu erspüren durch alles, was er zu verstehen lernt – und das ist bei jedem Menschen individuell anders. Aber am Ende wird es so sein, wie in demselben Gedicht ausgedrückt: ''„Dann grüßt uns der Geschwister seliger Chor“''. Man kann also sagen, wir wandern allein zur Wahrheit unseres eigenen Wesens – zum Ich, zum Mittelpunkt unserer Welt – und ''„keiner kann des anderen Wegbruder sein“''. Wir können einander nur Hinweise geben, aber jeder muss diesen Weg alleine gehen. Wenn wir aber anfangen, diese Sphäre des Menschheitsstrebens zu erspüren und zu finden, können wir uns dort mit dem Streben anderer vereinigen und größtmögliche Freiheit sowie größtmögliche Sozialkompetenz und uns dadurch gegenseitige Hilfestellung erfahren. Das ist die Botschaft des Ich.
=== ''Stadien der Ich-Entwicklung'' ===
Es gibt vier zentrale Entwicklungsstadien der Ich-Bewusst­seins­ent­wicklung:
==== 1. Das „Ich bin ich“ zu denken beginnen ====
Das erste Stadium haben wir schon besprochen: Das Ich-Sagen mit zwei bis drei Jahren, wenn der Gedanke erwacht: Ich bin ich.
==== 2. Das „Ich bin ich“ zu fühlen beginnen ====
Mit neun Jahren gelangt das Kind an den sogenannten Rubikon: Dann erwacht das Gefühl in Bezug auf den Gedanken: Ich bin ich. Dieses Stadium ist schwer zu ertragen. In einer ersten Phase fühlt es sich einsam auf dieser Welt, wie „verraten und verkauft“. Manche Kinder in diesem Alter fassen den Gedanken: Wartet nur, bis ich mal groß bin – dann mache ich alles anders. Sie spüren: Ich muss mich anpassen, muss irgendwie durchkommen, um groß zu werden und „das alles“ los zu sein. Viele ziehen dann sogar in Zweifel, dass sie das Kind ihrer Eltern sind, weil sie sich so anders fühlen als Mutter und Vater.
Ich löcherte meine Mutter, bis sie mir den Beweis lieferte, dass ich im Krankenhaus nicht vertauscht wurde oder heimlich zuhause untergeschoben wurde. Auf der einen Seite war ich dann tief befriedigt, dass ich wirklich zu dieser lieben Familie gehörte, aber ich war auch ein bisschen enttäuscht, weil ich alles so anders empfand als sie.
===== ''Warum Geschwister so verschieden sind'' =====
Die Verschiedenheit von Familienmitgliedern wurde großartig in dem folgenden Buch – ''„Warum Geschwister so verschieden sind“'''[2]''''' – beschrieben. Die Autoren, ''Robert Plomin'', ein Verhaltensgenetiker, und ''Judy Dunn'', eine Verhaltenspsychologin, befassten sich mit der Frage, welche Komponenten und Einflüsse den menschlichen Charakter formen. Auf der Grundlage ihrer eigenständigen Forschung kamen sie zu dem Schluss, dass die bis dahin tradierte Wissenschaftsmeinung, dass der Mensch nur von Vererbung und Milieu bestimmt wird, nicht stimmen konnte. Würde diese Theorie stimmen, müssten Geschwister einander viel ähnlicher sein, denn sie teilen das Elternhaus und den größten Teil des Erbmaterials.
''Warum sind sie vom Charakter her dann so verschieden?''
Geschwister sehen sich oft nur physisch ähnlich und haben einen ähnlichen Sprachklang, aber ihrem Wesen nach sind sie oft viel unterschiedlicher als gute Freunde. Die Autoren ''Dunn und Plomin'' haben rein phänomenologisch herausgefunden, dass es ein drittes Prinzip gibt, das „Prinzip Ich“. Diesem Prinzip ist es geschuldet, dass das Kind mit neun Jahren entdeckt: Ich bin anders, ich bin allein auf diesem Globus. Es fühlt sich einsam und zweifelt daran, jemals einen Freund zu finden...
Wenn nun die Erziehung bis zum 9. Jahr bereits hochdramatisch verlaufen ist und der Schutz fehlt, der das Erlebnis des Sich-als-Ich-Fühlens erträglich macht, halten Kinder dieses Erlebnis oft gar nicht mehr aus – sie werden in ihrer Ich-Entwicklung korrumpiert.
==== 3. Das „Ich bin ich“ zu wollen beginnen ====
Das dritte Ich-Entwicklungsstadium wird mit ca. sechzehn Jahren erreicht – es ist eher glückhafter Natur. Der Jugendliche erkennt: Ich kann mich wollen! Das kann zu schönen Erlebnissen führen, wie im Falle ''Jaques Lusseyrans,'''[3]''''' der mit seinem Freund verabredete, sich ab jetzt nur noch die Wahrheit zu sagen. Sie gehen miteinander die vertrauten Wege – und schweigen. Keiner sagt ein Wort, denn keiner weiß wirklich, was die Wahrheit ist. Das ist ein Beispiel dafür, dass der Wille im Denken erwacht. Der Jugendliche erkennt: Ich selbst muss entscheiden, was ich denken will. Wille und Selbstverantwortung werden im Denken geboren.
Als ich in dem Alter war, entdeckte ich plötzlich eine Sphäre, die völlig unabhängig ist von persönlichen Vorlieben. In meiner Klasse war ein Junge, mit dem ich die ganze Schulzeit hindurch kein Wort gewechselt hatte, weil ich ihn irgendwie doof fand. Als mir das mit sechzehn bewusstwurde, schämte ich mich zutiefst und beschloss mein Verhalten zu ändern. So ging ich in der Pause auf ihn zu und fragte ihn auf Schwäbisch: ''„Was hen mer denn jetzt?“'' „Euro“ (als Abkürzung von Eurythmie), sagte er und ich erlebte ihn als ganz normalen netten Jungen.
Auf diese Art entdeckte ich, dass die Verantwortung des Ich im Denken einer freien Sphäre entspringt, sodass es sich zu sich selbst und zur Welt ganz eigenständig positionieren kann. Das ist wie ein Geburtsmoment in der Jugend für den Willen zur Selbstschulung. Damit hängt zusammen, dass ganz viele Jugendliche in diesem Alter mit einer inneren Schulung anfangen.
Diese drei Ich-Erfahrungen – ich denke mich; ich fühle mich; ich kann mich wollen – sind verwurzelt im lebfreien Denken und sind somit ein reines Geschenk der Natur. Im Zuge der Entwicklung macht sie jeder Mensch, der einigermaßen gesund ist.
==== 4. Das „Ich bin ich“ als „Stirb und Werde“ ====
Das vierte Stadium wird uns von der Natur nicht geschenkt. Denn die Naturwirkung gelangt, wenn wir ausgewachsen sind, in uns zu einem Ende. Dass zeigt sich darin, dass wir irgendwann zwischen 20 und 30 – es kann aber auch später sein – das Empfinden haben, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird, dass wir in der Luft hängen: Alle Sicherheit des Sich-Denkens, Sich-Fühlens und Sich-Wollens fällt plötzlich weg. Es genügt nicht mehr, Familie zu haben und Karriere zu machen. Das kann unendlich schmerzhaft und bitter sein. Wir haben den Drang, wie an unseren eigenen Ursprung zurückzukehren, und uns in aller Einsamkeit zu fragen:
''Warum bin ich auf dieser Welt?''
''Warum mache ich bei alledem mit?''
''Will ich mein Leben wirklich so führen, wie ich es bisher gemacht habe?''
===== ''Geburtswehen der zweiten Geburt'' =====
Das sind die schmerzhaften Geburtswehen der sogenannten „zweiten Geburt“. Wir sind in diesem Stadium aufgerufen, das In-Christo-Morimur selbst zu vollziehen, indem wir uns bewusst machen: In mir kommt die Schöpfung zu einem Ende; „von Natur aus“ kann und werde ich mich als Ich nicht weiterentwickeln. Dazu gehört auch die tiefgreifende Erkenntnis: Wenn wir unsere Ich-Entwicklung nicht aus freiem Entschluss fortsetzen, wird auch unser Wesen und Tun nicht ich-bestimmt sein. Dann werden andere Wesen sich unseres Ich bemächtigen und uns beherrschen. Wir werden wie die Elementarwesen sein, die nur „funktionieren“. Wir fallen damit aus der Christussphäre heraus, die ja vom Geschehen des freiwilligen In-Christo-Morimur lebt...
Im Ich finden wir den Tod, wenn wir dieses Ich nicht noch einmal ganz neu und selbständig „aus Wasser und Geist“, aus Liebe zur Entwicklung, ergreifen und unserem Leben eigenständig einen Sinn geben im Kontext der gesamtmenschlichen Entwicklung.
''Jakob Böhme'' sagt: ''„Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt“''[4]. Wenn ich nicht „sterbe“, d.h. geistig in mich gehe und mich ganz neu aus eigener Kraft greife, wenn ich nicht wirklich bewusst wissen und bestimmen will, wer ich bin und werden möchte, werde ich sterben. Denn wer sich zu Lebzeiten nicht im Ewigen, im „ewigen Leben“ der Gedankensphäre, selbst begründet und befestigt hat, wird nach dem Tode einschlafen.
''Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK Dornach 2014''
----[1] Christian Morgenstern, ''Die zur Wahrheit wandern''. In: Christian Morgenstern, ''Stufen''. 1922.
[2] Judy Dunn, Robert Plomin, ''Warum Geschwister so verschieden sind'', Stuttgart 1996.
[3] Jaques Lusseyran, ''Das wiedergefundene Licht'', Stuttgart 1963, 8. Aufl. 1977. Zitat im Kapitel ''Mein Freund Jean'', S. 61.
[4] Ausspruch des deutschen Mystikers und Philosophen Jakob Böhme (1575-1625).

Aktuelle Version vom 1. April 2025, 10:56 Uhr

Gottebenbildlichkeit des Menschen – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

DER MENSCH ALS OFFENBARUNG DES GÖTTLICHEN

Was hilft die Brücke zu schlagen zwischen Spiritualität und Wissenschaft?

Inwiefern ist der Mensch Gottes Ebenbild?

Gedankenkraft als ewiges Leben im Irdischen erkennen

Rudolf Steiner hat uns insofern eine hilfreiche Brücke gezeigt, als er das Denken als DIE spirituelle Kraft entdeckte, als unser ewiges Leben bereits hier im irdischen Dasein. Körpergebunden als Wachstums- und Regenerationskraft ist diese Kraft vergänglich, aus dem Körper wieder befreit als Gedankenkraft wird sie zu unserem „ewigen Leben“, das es uns ermöglicht, im Denken mit unseren Gottesbildern, mit den Bildern der Verstorbenen, mit den Bildern höherer Wesen zusammenzuleben. Alles erarbeiten wir in Gedanken.

Dieses gedankliche Selbstverständnis, diese Möglichkeit, sich etwas in Gedanken zu erarbeiten und am Leben zu prüfen, ob es trägt, ob es tauglich ist, bildet die Brücke zur heutigen Naturwissenschaft, weil auch sie auf dem Denken und der Beobachtung basiert. Wenn man sich diese Gedankenkompetenz bewusst macht als Brücke zwischen Göttlichem und Materiellem, hat man ein wirklich integriertes Menschenbild, das alles umfasst.

Das anthroposophische Menschenbild

Nun zu einem sehr konkreten Brückenschlag zwischen Spiritualität und Wissenschaft: dem Menschen als Gottes Ebenbild. Im Alten Testament heißt es: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde.“[1]  Das entspricht dem Anthroposophischen Menschenbild, das sich auf die christlichen Grundwerte stützt: Ecce Homo – das ist der Mensch. Jesus spricht von sich ja als vom Menschensohn, vom Sohn des Menschen.

Diese Gottebenbildlichkeit zu verstehen, ist ein wichtiges Motiv. Denn wenn man sich die aufrechte Menschengestalt anschaut, zeigt sie heute schon im Bilde, was wir einmal werden können.

Was die Entwicklung in den ersten drei Jahren abbildet

Wie sich das bereits beim kleinen Kind andeutet, möchte ich anhand der Entwicklung in den ersten drei Jahren etwas näher beleuchten:

• 1. Lebensjahr

Im ersten Lebensjahr stellen sich gesunde Kinder auf ihre eigenen Füße und machen ihre eigenen Schritte. Wie lange dauert es dagegen im Menschenleben, bis der Erwachsene wirklich den Mut hat sich auf eigene Füße zu stellen und seinen eigenen Weg zu gehen. Sich nicht abhängig zu machen von Lob, von Erpressung, von Geld, von allen möglichen Gepflogenheiten unserer Umwelt, sondern aus sich heraus sich selbst bestimmt. Die kleine aufgerichtete Kindermenschengestalt zeigt bereits im ersten Jahr im physischen Bild, was wir geistig werden können.

•  2. Lebensjahr

Im zweiten Lebensjahr sagt jedes Kind die Wahrheit. Zu lügen erlernen wir erst, wenn wir denken können. Bevor wir mit dem Ich-Sagen bewusst zu reflektieren beginnen, können wir noch nicht lügen. Jeder Mensch hat also ein Jahr in seinem Leben nicht gelogen – das ist wie eine Ressource von Wahrhaftigkeit, die einem keiner nehmen kann, auf die man immer zurückgreifen kann. Das zweijährige Kind zeigt also im Bild, dass der Mensch wahrheitsfähig ist: „Kindermund tut Wahrheit kund“ – manchmal sehr zum Leidwesen der Erwachsenen.

• 3. Lebensjahr

Im 3. Jahr, wenn das Kind zu sich „ich“ sagt, leuchtet die eigene Identität auf, etwas rein Spirituelles, etwas, das man nur denken kann. Das berühmte Ich-bin-ich-Sagen ist der erste selbständige Gedanke, den das Kind fasst. An dieser Reflexion wird ihm sein Dasein bewusst. Damit beginnt die außerkörperliche Reise der freien geistigen Tätigkeit und Selbstbestimmung.

Gestalt und Organe als Abbild des Göttlichen

Der gesunde Körperbau des Menschen zeigt: Er hat den Kopf oben, steht auf eigenen Füßen, hat ein ungebrochenes Rückgrat, die Hände sind frei: Man sieht ihnen nicht an, ob sie schlagen, stechen, kratzen oder beten werden, d.h. man weiß nicht, was ein Mensch im nächsten Augenblick tun wird. Unsere Hände sind Organe der Freiheit, sie brauchen die Bestimmung durch das Denken, das Fühlen, die Initiative. Wenn man die anatomische Bildgestalt der Hände nimmt, taugen sie nur zum Koffertragen, dafür sind sie anatomisch veranlagt. Für alle anderen Tätigkeiten muss der Mensch seine Hände aus der anatomisch vorgegebenen Haltung befreien, um mit den vielen Freiheitsgraden der Gelenke zu tun, was er will. Das bedeutet: Die Veranlagung zu freier geistiger Selbstbestimmung ist den Händen anzusehen.

Jedes Organ bildet eine solche organbezogene Weisheit ab: Das Göttliche offenbart sich so gesehen in der aufrechten Menschengestalt. Wir wissen nur so viel von Gott, wie wir denken können. Alle Menschenbilder, alle Gottesbilder und auch alle Bilder von der Welt basieren auf dem menschlichen Denken. Viele Menschen, die in ihrem Willen fest halten an etwas, das sie noch nicht verstehen, sprechen dann von „glauben“. Wir haben als Menschen heute jedoch die Aufgabe zu verstehen, was wir glauben und auch zu glauben, was wir verstehen.

Vgl. Vortrag „Das anthroposophische Menschenbild“, 2014


[1] Altes Testament, 1. Buch Mose 1, 27.

DIE GOTTEBENBILDLICHKEIT DES PHYSISCHEN LEIBES

Worin zeigt sich die Gottebenbildlichkeit des physischen Leibes?

Was will sie uns sagen?

Vor welche Aufgaben stellt sie uns?

Der Mensch als Weg zu Gott

Um einige Grundmotive zur Frage der Gottebenbildlichkeit des Menschen darzustellen, beginne ich mit der physischen Ebene.

Damit wären wir schon bei den mythologischen Darstellungen des Alten Testamentes: „Gott schuf den Menschen nach Seinem Bild“.[1] Das heißt genau genommen: Wenn der Mensch Gott begegnen will, wenn er zu Gott finden will, muss er sich an den Menschen halten, denn Gott hat Sein Bild auf der Erde zurückgelassen – und indem wir dieses Menschenbild richtig verstehen, zeigt sich uns auch ein Weg zu Gott. Das macht das Wesen unserer Anthroposophie aus: dass die Menschenweisheit zur Gottesweisheit werden möchte. „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte.“[2] Der Mensch als Weg zu Gottes Bild. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie wir von dem einen zum anderen kommen.

Ich hatte durch meine kinderärztliche Tätigkeit über viele, viele Jahre die Chance, Tausende von Kindern zu beobachten, vor allem Kinder in ihren ersten Lebensjahren, als Schulärztin aber auch ältere Kinder – das war etwas unglaublich Anrührendes.

Botschaften der Kindesnatur

Es ist mir heute ein Rätsel, wie lange es brauchte, bis diese Kindesnatur mir wirklich etwas zu sagen begann, bis diese Kinder in ihrer Lebensrealisierung im ersten, zweiten und dritten Jahr tatsächlich anfingen, mir durch ihre körperlichen Offenbarungen höhere Botschaften zu übermitteln.

Ich wusste von Rudolf Steiner natürlich schon lange, dass Kinder, die aus der vorgeburtlichen Welt kommen, in den ersten drei Jahren noch ganz unter dem Schutz der dritten Hierarchie stehen. Sie sind noch ganz in die Aura der Christuswesenheit einverwoben und lernen den Weg, die Wahrheit und das eigene Leben durch das Erlernen des Gehens, Sprechens und Denkens kennen. Sie haben eine unbewusste Christusbegegnung, indem sie es erlernen – das sind ganz wunderbare Tatsachen! Ich durfte jedoch erleben, dass es einen großen Unterschied macht, ob man etwas weiß und schätzt, vielleicht auch bewundert als Steiners Gedanken, oder ob man wie vom Blitz getroffen wird von der Erkenntnis: Das ist ja alles wahr!

Das Morgenstern-Wort – „Die zur Wahrheit wandern, wandern allein“[3] – ist auch Seelenwort insofern, als man plötzlich von alleine erkennt, dass diese oder jene Aussage Steiners wirklich stimmt. Dann wird man frei von denen, die einem die Botschaft ursprünglich übermittelt haben. Rudolf Steiner war es ein großes Anliegen, dass die Anthroposophie uns hilft, selbst hinzuschauen, selber zu verstehen. Er wollte gerade nicht als Guru, als Autorität, missverstanden werden. In der „Theosophie“[4] sagt er sinngemäß: Nicht glauben sollst Du, was ich Dir sage, sondern es denken. Mach Dich doch selbständig durch Dein eigenes Denken, Dein eigenes Hinschauen, durch Dein eigenes Beobachten. Nur dann treten wir uns als Freunde gegenüber, die sich gegenseitig helfen können auf dem Erkenntnisweg. Vom Wissen zum Erleben zu kommen, ist ein Riesenschritt, den zu nehmen bei mir lange gedauert hat.

Die ersten drei Jahre als Offenbarung der Gottebenbildlichkeit

Ich werde nie vergessen, wie ich eines Tages im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung bei einem anderthalbjährigen Kind die verschiedenen Funktionen anschaute und es beobachtete und mir plötzlich klar war, dass die ersten drei Jahre wirklich wie eine Offenbarung der Gottebenbildlichkeit sind:

  • Das ganze erste Jahr hindurch versucht das Kind allem voran nur eines: diesen kleinen Menschenleib in die Vertikale, in die Aufrichte, zu bringen.
  • Erst wenn das gelungen ist, wenn es sich aufrecht platziert hat, beginnt im zweiten Jahr die Öffnung in die Horizontale: über das Sprechen, das Zeigen und Anfassen mit den Händen, über die Bewegung nach vorne mit den Füßen, das Gehen usw.
  • Wenn das Kind im dritten Jahr schließlich zu sich kommt und sich seiner selbst bewusst wird mit den Worten – „Ich bin“ – schließt sich ein Kreis.

Die Worte „Ich bin, der ich bin“[5] werden ja als „unaussprechlicher Name Gottes“ bezeichnet. Den Namen „ich“ kann jeder Mensch nur zu sich selber sagen, deswegen ist er in Bezug auf einen anderen unaussprechlich. Beim Kind beginnt das Sich-seiner-selbst-bewusst-Werden im Erleben des Gedankens: Ich bin da. Ich bin hier. Ich bin ich. Kein Kind spricht das sofort aus – die Worte kommen erst später, folgen auf das archetypische Erleben: Ich bin wirklich hier!

Das Mysterium des Ich

Ich bekam von jemandem eine wunderschöne Karte mit dem Symbol des Rosenkreuzes: Sie zeigte das Kreuz bestehend aus der Vertikalen, Sinnbild für die Aufrichte, und der Horizontalen, Sinnbild für die Sprache, die Kommunikation, umgeben von einem Kranz aus Rosen, der ausdrückt, dass sich die beiden Richtungen und der Umkreis zusammenschließen in dem Gedanken: Ich bin ich.

Das Mysterium des Ich umfasst nicht nur die Tatsache, dass wir auf eigenen Füßen stehen und uns beweglich in der Aufrichte positionieren können. Dazu gehört auch das Erleben, dass wir mit jeder Bewegung und jeder Begegnung einerseits die Welt entdecken, aber auch an uns selbst schaffen, uns weiter und weiter selbst erschaffen: Jede Bewegung bedeutet so gesehen ein Stück Selbstentwicklung.

Diese Zusammenhänge leben uns die Kinder in einer Weise vor, wie wir als Erwachsene nur davon träumen können! Dazu gehören auch ihr Drang und ihre Freude, auf alles zugehen, allem begegnen zu wollen! Es ist allerdings Sache der Erwachsenenschulung, diesbezüglich ein Mittelmaß zu finden…

Das Kind als Inbegriff von Weg, Wahrheit und Leben

Ich merkte damals, wenn man diese enorme Anstrengung der ersten drei Jahre wirklich selber zu fühlen beginnt, beginnt man tatsächlich auch eine zweite Aussage Rudolf Steiners zu verstehen: Wer die Worte der Evangelien nicht kennt und sich nur mit der Entwicklung von Natur und Mensch befasst und die Entwicklungstatsachen wirklich zu sich sprechen lässt, wird auf diese Weise dem schöpferischen Logos begegnen und in die Lebenssphäre gelangen. Dass das so ist, wurde mir an jenem Tage vor vielen Jahren bewusst. Denn als ich sah, wie das Kind auf die eigenen Füße kommt und die ersten Schritte macht, fiel mir das Evangelien-Wort ein: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“[6]

  • Seine Art sich zu entwickeln weist uns den Weg.
  • Das Kind ist aber auch die Wahrheit: Denn im Alter des Sprechen-Lernens sagen wir ausschließlich die Wahrheit, sind wir durch und durch ehrlich. Egal, was ab dem Alter von etwa drei Jahren kommt, in dem wir zu denken beginnen, egal, welche Abstürze, welche Heimlichkeiten, welches hinterhältige Versteckspiel darauffolgen – wir können alle sicher sein, dass wir mindestens zwei Jahre lang nur die Wahrheit gesagt haben. Das kann uns keiner nehmen – das ist einfach so in diesen ersten zwei Jahren.
  • Dann die dritte Aussage: Ich bin das Leben: Mit dem Ich-Sagen fangen wir ein Leben in Gedanken an, ein völlig neues Leben.

Im Menschen abgebildete Schöpfungsgeheimnisse

Ich hatte angesichts dieser Entwicklungszusammenhänge plötzlich den Eindruck, dass sie sich zu einem Bild zusammenfügen, das von den höchsten Geheimnissen der Beziehung von Gott, Mensch und Schöpfung spricht. Der Satz des Alten Testamentes über die Bildnatur, die Gottebenbildlichkeit, des Menschenmannes, weist bereits darauf hin: Je mehr man den Menschen versteht, desto mehr offenbaren sich einem die schöpferischen Wesenheiten, die an der Menschenbildung, wie sie geschehen ist, beteiligt waren, und die sich durch den Menschen offenbaren wollen. Damit hat man einen ganz praktischen phänomenalen Zugang zur Anthroposophie. Denn alles an der Anthroposophie ist tatsächlich anthroposophisch, sprich: Menschenwesenheit und Menschenweisheit offenbarend. Das ist der eine Aspekt.

Zur Abrundung noch ein zweiter Aspekt, den jeder auch für sich selbst ableiten kann. Der Archetyp der aufrechten Menschengestalt weist auf eine bestimmte Ordnung hin:

Das abgerundete Haupt bildet wie eine eigene Sphäre, die sich vom Kosmos abschnürt. Das Besondere daran ist, dass der Kopf nur beim Menschen oben sitzt und nicht wie beim Tier vorne. Die Sprache der Vertikale besagt außerdem, dass alle anderen Teile der menschlichen Gestalt – Herz, Hände, Bauch, Hüften, Beine, Füße und die Fortpflanzungs­organe natürlich auch – diesem Kopf untergeordnet sind. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen offenbart also, dass das Haupt tatsächlich führt und dass der Blick, weil es oben sitzt, in die Welt hinausgeht, nach vorne, in die Zukunft. Das bedeutet gleichzeitig, dass wir uns frei machen können von unserer Vergangenheit, was sich auch darin ausdrückt, dass wir nach hinten hin abgeschlossen sind. Wenn wir in die Vergangenheit schauen wollen, müssen wir uns umwenden, müssen uns aktiv dafür interessieren.

Unsere Ohren sind horizontal angeordnet, ganz in die Weite, zur Welt, gerichtet.

Wenn wir unsere Hände in der anatomischen Position zusammenführen, befinden sie sich unmittelbar in einer Haltung des Nehmens. Umgedreht eignen sie sich nur zum Tragen, zum Koffer- oder Taschentragen. Alles andere, was mit den Händen geschieht, muss mittels Fühlen, Wollen und Denken vom Menschen selbst bestimmt werden.

Die Hände und Schultern sind anatomisch-physiologisch nicht nur die Organe mit den größten Freiheitsgraden, sondern sie sind wirklich die Organe der Freiheit: Jeder Gebrauch hängt ab von den Motiven, mit denen der Mensch sich zum Handeln – und wir Ärzte zum Behandeln entschließt – und seine Hände entsprechend in Bewegung setzt. Alles Handeln muss, wenn es gottebenbildlich sein soll, aus Freiheit und Liebe geschehen, sonst missbrauchen wir die Hände und die Gottebenbildlichkeit.

Und so können aus jedem Organ kraft seiner Position Rückschlüsse gezogen werden auf Fähigkeiten und Möglichkeiten, die auf ein höheres Menschsein hinweisen: Vor allem die Tatsache, dass wir aufrecht auf unseren Beinen stehen können, dass unser Kopf dabei oben sitzt, getragen von unserem Rückgrat und das Herz sich in der Mitte, im Inneren befindet – vermittelnd zwischen allem und in seinem „Innensein“ gleichzeitig zentriert – spricht von Fähigkeiten, die wir seelisch-geistig erst erringen müssen:

Wer trägt schon den Kopf oben?

Wer hat ein starkes Rückgrat?

Wer steht tatsächlich auf eigenen Füßen und ist nicht von tausend Dingen abhängig?

Wir merken an diesen Fragen, dass die Gottebenbildlichkeit ein Zukunftsgedanke ist, der uns höchste Verehrung abfordern sollte. Denn mit dem physischen Leibe haben wir heute schon unser Werden, unsere Zukunft, im Bilde vor uns. Es beinhaltet auch die folgende Geste: Aus der Schöpfung heraus bin ich in dieses Leben hineingestellt. Gotteben­bildlich­keit spricht von Gott, vom Vater und seiner Schöpfung und bedeutet zugleich auch: „Ex deo nascimur“.[7]

Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK Dornach 2014


[1] Altes Testament, 1. Buch Moses 1, 27.

[2] Rudolf Steiner, Anthroposophischer Leitsatz 1, 17. Februar 1924. In: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, S. 6 (1989).

[3] Christian Morgenstern, Die zur Wahrheit wandern. In: Christian Morgenstern, Stufen. 1922.

[4] Rudolf Steiner, Theosophie. GA 9, 1. Kapitel.

[5] Altes Testament, 2. Buch Moses, 3, 14.

[6] Neues Testament, Johannes 14, 6.

[7] “Ex Deo nascimur, in Christo morimur, per Spiritum sanctum reviviscimus.” Rosenkreuzerspruch. Sinngemäße Übertragung ins Deutsche: «Aus dem Göttlichen weset die Menschheit… In dem Christus wird Leben der Tod… In des Geistes Weltgedanken erwachet die Seele.» In: Alexander Strakosch, Lebenswege mit Rudolf Steiner. 1947, S. 179.

DIE GOTTEBENBILDLICHKEIT DES ÄTHERLEIBES

Welchen Aspekt des Göttlichen bildet der Ätherleib ab?

Was sagt uns das?

Welche Aufgabe ist damit verbunden?

Bedeutsame Doppelnatur des Ätherischen

Auf der ätherischen Ebene geschieht in Bezug auf die Gottebenbildlich­keit etwas, das uns Rudolf Steiner im 1. Kapitel von „Grundlegendes…“[1] so intensiv ans Herz legt, dass er dabei sogar in den Superlativ verfällt. In Rudolf Steiners schriftlichem Werk findet man höchst selten Superlative, aber in Bezug auf eine Besonderheit des Ätherischen verwendet er folgende Formulierung: „Es ist von der allergrößten Bedeutung zu wissen, dass die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen die umgewandelten, verfeinerten Wachstums- und Regenerationskräfte sind.“[2]

Mit anderen Worten: Es ist von der allergrößten Bedeutung, dass wir die Doppelnatur des Ätherischen verstehen. Der Begriff Doppelnatur besagt, dass dieselben Kräfte, die den Leib bilden, die ihn von oben nach unten sukzessive reifen lassen, also die Wachstumskräfte, „umgewandelt und verfeinert“ werden zu den Denkkräften des Menschen:

  • In den ersten sieben Jahren betrifft das die ätherischen Kräfte, die die Organe des Hauptes bilden,
  • im zweiten Jahrsiebt diejenigen, die die Organe der rhythmischen Organisation bil­den
  • und im dritten Jahrsiebt diejenigen, die die feinere Ausreifung des Muskel- und Skelettsystems bis zum Ausgewachsen-Sein bewerkstelligen.

Wenn wir diese Wachstumsprozesse verfolgen, können wir gleichzeitig auch verfolgen, dass das Denkvermögen in dem Maße zunimmt, in dem der Körper ausreift:

1. Jahrsiebt – Beobachtungsvermögen

Im 1. Jahrsiebt, in dem die Sinnesorgane reifen, können wir beim Kind einen ständigen Zuwachs an Beobachtungsvermögen feststellen.[3] Es zeigt auf Dinge und fragt: Warum, warum, warum? Man merkt, die aus den Sinnesorganen und dem Nervensinnessystem für das Denken freigewordenen ätherischen Kräfte, sind an die Sinneserscheinungen geknüpft – d.h. das Kind will sich erfüllen mit den Vorstellungen dieser Erde; es sucht den Kontakt zum Physischen. Das ist ein wunderbarer Zusammenhang.

2. Jahrsiebt – Empfindungsvermögen

Im 2. Jahrsiebt entspringt das Denken ganz anderen Wachstumskräften, die nicht diesen Bezug zum Physischen haben: den Wachstumskräften von Atmung und Herz, dem rhythmischen System. Die Atmung ist ja eine Funktionalität von größtmöglicher Selbstlosigkeit. Sie dient physiologisch gesehen dem Gasaustausch durch einen Rhythmus, der das menschliche Wesen anschließt an den Makrokosmos und der uns dadurch gleichzeitig sagt, dass wir an den Makrokosmos angeschlossen sind – im Schnitt 18mal in jeder Minute, die wir atmen. Wenn wir das auf die Stunde und den Tag umlegen, kommen wir auf die berühmte platonische Zahl 25.920. Darauf werde ich unten näher eingehen.

3. Jahrsiebt – Urteilsvermögen

Im 3. Jahrsiebt wird das Denken von den Kräften des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems geprägt, die in dem Maße zur Verfügung stehen, in dem die jungen Menschen zur Erwachsenengestalt heranreift sind. Sie können jetzt ganzheitliche Zusammenhänge erkennen und ihr Handeln entsprechend ausrichten.

Platonisches Weltenjahr und Ich-Entwicklung

In seinem letzten medizinischen Zyklus, dem Pastoralmedizinischen Zyklus,[4] widmet Rudolf Steiner nur dieser Zahl einen ganzen Vortrag – so wichtig war sie ihm. Er sagt dort, dass diese Zahl einen Weltenrhythmus anzeigt: Die ganze Evolution ist nur ein Keim, der sich in diesem Rhythmus von 25.920 Jahren wie realisiert:

Die 25.920 Jahre des Platonischen Weltenjahres lassen sich in 12 Weltenmonate teilen – das sind je 2.160 Jahre, die laut Rudolf Steiner der durchschnittlichen Dauer einer Kulturepoche entsprechen. Die sieben nachatlantischen Kulturepochen und die fünf atlantischen Epochen davor ergeben nun einen Kreis von zwölf Kulturepochen (Weltenmonaten): Das Platonische Weltenjahr entspricht der Evolutionsphase, in der die Menschheit schrittweise zu sich kommt und ihr eigenes schöpferisches Wesen entdeckt und handhaben lernt.

Zentralereignis dieser Weltenrhythmus-Entwicklung ist das Mysterium von Golgatha: die Erfüllung des dem Menschen von den Geistern der Form verliehenen Leibes, mit dem wahren wesenhaften Christus-Ich. Dieser kostbare Moment in der Mitte des Weltenjahres[5] stellt den Höhepunkt einer Entwicklung dar, auf den die ganze Evolution, mit Saturn, Sonne und Mond hinstrebte.

Das Weltenjahr entspricht makrokosmisch gesehen dem Zeitraum, in dem der Frühlingspunkt rückläufig einmal durch den ganzen Tierkreis wandert. Das heißt wir atmen in 24 Stunden im Rhythmus der makrokosmischen Entwicklung ein und aus und sind damit Teil dieser Evolution und eines großen Ganzen.

Ätherischer „Tod auf Golgatha“ …

Das Mysterium des Ätherischen besteht nun darin, dass die evolutive Schöpferkraft, die ätherische Kraft der Evolution, den Menschenleib verlässt und außerkörperlich unsere Gedankenaura bildet, die sich am Gehirn reflektiert. Diese Gedankenaura ist der Ursprung des „ewigen Lebens“, weil sich dort der Gedanke des Ich verwurzelt, welchen wir nur auf der Erde fassen können. Und nur auf Erden können wir von diesem Punkt aus anfangen, an unserer ewigen Individualität zu arbeiten und dieses Ich-Erlebnis wie eine Schale werden zu lassen, sodass das Göttliche – „Nicht ich, sondern der Christus in mir…“[6] – sich als schönes Ziel anbahnen kann, das sich verwirklichen, das werden möge.

Die Schöpferkraft Gottes, die unseren Leib gebildet hat, die uns über die Sinne der Umwelt gegenüber aufgeschlossen gemacht hat, die alle Bereiche umfasst, die die menschliche Natur mit der Substanzwelt und der Tiernatur teilt, diese Schöpferkraft kommt in der menschlichen Natur tatsächlich an ein Ende und erleidet den Tod im Menschen – wovon der Tod auf Golgatha ein Bild ist – in der Hoffnung, dass die Menschen dadurch in der Lage sind, selbst die ihnen innewohnende Freiheit und Liebe des Göttlichen zu erkennen und sie wirksam werden zu lassen.

… und Auferstehung im Denken

Diese in der gesamten Schöpfung lebende und schaffende Schöpferkraft, aufersteht einzig und allein bei uns Menschen in verwandelter Form als Weisheit, als „ewiges Leben“, als unser gedankliches Vermögen, unser Denken. Im Denken können wir die Ziele unserer Entwicklung, unserer Zukunft, erfassen. Wir können uns denkend daran orientieren und uns ihnen begeistert hingeben. Die religiösen Vorstellungen aller Religionen sind erfüllt von Bildern der Vollkommenheit, von Zukunftsperspektiven, Wandlungsmotiven und moralischen Werten. Auch das Motiv vom Opfer, das gebracht werden muss, wenn die Verwandlung in eine geistergebene, höhere menschliche Natur gelingen soll, ist immer von zentraler Bedeutung.

Wenn ich über diese Zusammenhänge nachdenke, erlebe ich immer wieder aufs Neue eine Art „Verantwortungsschock“, ob der Tatsache, dass ich allein für die Art und Weise verantwortlich bin, wie ich mit diesem Denkvermögen umgehe, was ich daraus mache. Ich trage sozusagen Gottes Ohnmacht in Händen: In mir ist er erstorben, damit ich jetzt selber sage, wie es weitergehen soll mit mir und meiner Mitwelt: Ich bin mitbeteiligt, bin Mitschöpfer an der Evolution. Das ist ein Gedanke, der nicht einfach zu ertragen ist. Ich bin sicher, dass viele Menschen sich davor verschließen, weil er so anspruchsvoll und eigentlich kaum zu ertragen ist.

Erwachen im Ätherischen als zweite Geburt

Die ganze Schöpfung ist also daraufhin ausgerichtet, in uns Menschen zu Ende zu kommen, quasi den „Tod auf Golgatha“ zu vollziehen im Sinne der Rosenkreuzerworte: „In christo morimur“. Das sollten wir wissen und deshalb den Auferstandenen im Denken suchen, oder anders ausgedrückt: das Erwachen im Ätherischen suchen in einer völlig neuen Art, wozu uns die Anthroposophie erst so richtig befähigt – zu wissen, was wir glauben und zu glauben, was wir wissen. Damit erreichen wir eine Dimension, von der Rudolf Steiner in den Evangelienzyklen[7] sagt: Der Christus möchte im Bewusstseinseelenzeitalter verstanden werden. Es genügt ihm nicht mehr, dass wir nur an ihn glauben.

Wir müssen uns klarmachen: Die Freude, die wir Menschen an der Entwicklung der Kinder haben, entspricht der Freude der Götter darüber, dass es schon Menschen gibt, die in ihre Welt heraufragen und als geistige Verheißung die Gedankensprache erlernt haben, die wirklich spirituell zu kommunizieren vermögen. Dazu müssen wir uns nur vorstellen, wie ein Rudolf Steiner, ein Goethe sich in großer Scheu in der geistigen Welt begegnen…

Ziel dieser Entwicklung ist die zweite Geburt: aus Wasser und Geist, sprich, aus den Kräften des leibfreien Ätherischen, im Denken geboren zu werden und aus diesem Geist heraus unsere Imaginationen zu teilen und Patienten zu heilen. Um diese Zusammenhänge zu wissen, ist von der allergrößten Bedeutung. Deshalb müsste immer die imaginative Christuswelt, die Christussphäre mitgedacht werden, wenn wir an den Ätherleib denken, weil die Christuskraft dort lebt und darauf wartet, von Menschen erkannt und gehandhabt zu werden.

Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK Dornach 2014


[1] Rudolf Steiner, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27.

[2] Ebenda, S. 5 (Ausgabe 2010).

[3] Vgl. Rudolf Steiners Vorträge zu den Jahrsiebten in: Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft, GA 34.

[4] Rudolf Steiner, Das Zusammenwirken von Ärzten und Seelsorgern, GA 318.

[5] Müsste exemplarisch durchgerechnet werden…

[6] „Nicht ich, sondern der Christus in mir“ ist ein von Steiner öfter zitiertes Wort des Paulus. In: Galater 2, 20.

[7] Rudolf Steiner, Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium, GA 112;  Das Lukas-Evangelium, GA 114; Das Matthäus-Evangelium. GA 123; Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums, GA 124;

Der Vortrag, Der Weg des Christus durch die Jahrhunderte, Kopenhagen, 14. Oktober 1913 in: Vorstufen zum Mysterium von Golgatha, GA 152, S. 77-92 (1990) widmet sich ebenfalls ausführlich dieser Thematik: S. 80-91.

DIE GOTTEBENBILDLICHKEIT DES ASTRALLEIBES

Worin drückt sich die Gottebenbildlichkeit des Astralleibes aus?

Was sagt sie dem Menschen über sich selbst?

Welche Bezüge offenbaren sich dabei?

Vermittler zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos

Unser Astralisches fungiert als Vermittler zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Im mikrokosmisch-persönlichen Erleben sind wir oftmals voller Zweifel, Hass, Spott, Furcht, Ängste. Die sogenannten negativen Gefühle verdanken wir unserem Körpererleben in einer unsicheren Welt gepaart mit einem schwachen Selbstbewusstsein. So entwickeln wir die verschiedensten seelischen Eigenschaften, ein Übermaß an Seelenhaftigkeit, einfach dadurch, dass wir uns geistig noch nicht genügend abgeklärt haben. Von diesem sogenannten niederen, „mikrokosmischen Astralleib“ sagt Rudolf Steiner, er habe die Möglichkeit, sich anzuschließen an den Makrokosmos, an die Hierarchien, an den Tierkreis, an die Planeten, an das wunderbare Weltenwort, an die reine kosmische Astralität, die reine kosmische Weisheit.

Es ist hilfreich, sich diese Möglichkeit vorzustellen. Wenn wir in die Nacht gehen, aber auch, wenn wir Patienten beraten, sollten wir uns im Denken darauf besinnen, dass das Sich-auf-die-Nacht-Vorbereiten auch beinhalten kann sich zu sagen: Die höheren Seelenkräfte sind bei mir noch unbewusst. Ich kann aber jede Nacht Beziehung zu ihnen aufnehmen. Dann helfen sie mir auch bei Tage, meine eigene niedere Astralität anzuschließen an den Makrokosmos, an die höheren Bereiche.

Anthroposophische Kosmologie

Im Hinblick auf die Bildung unseres Leibes ist die anthroposophische Kosmologie, die Kosmologie im Jahreslauf, ein riesengroßes Schulungsgebiet. Walther Bühler[1] gehört zu denen, die seinerzeit am intensivsten Forschungen zu diesen Zusammenhängen durchführte. Ich habe das Glück, mit einem Mathematiker verheiratet zu sein, und bemühe mich ebenfalls, regelmäßig an diesen Themen zu arbeiten. Und ich ermutige jeden, die Astronomie, die Tierkreiszeichen, so wie sie sind, und die Planeten, so wie sie sich bewegen, in eine logische und erkenntnismäßige Beziehung zu setzen zum menschlichen Organismus – nicht nur mythologisch, sondern real-phänomenologisch. Dazu ein paar Beispiele:

Der Marszyklus offenbart auch am Menschen seinen Zwei-Jahres-Rhythmus. Denn wir lernen nicht von ungefähr nach zwei Jahren zu sprechen, sondern deshalb, weil es dem Marsrhythmus entspricht.

Es ist auch nicht von ungefähr, dass sich zwischen elf und zwölf Jahren Sprache und Denken trennen, was jeder weiß, der mit Kindern zu tun hat. Diese Zeitspanne entspricht dem Jupiterzyklus, einem Rhythmus von 12 Jahren: Das Denken, die Weisheit des Denkens, wird unabhängig von der Sprachweisheit. Das Denken ist die Ursprache, die Urweisheit. Jede Sprache ist die Interpretation von ursprünglichen Gedanken. Deswegen empfinden wir unseren Übersetzern gegenüber eine so hohe Wertschätzung: Denn sie müssen in der Lage sein, den zugrunde liegenden Gedanken zu suchen und eigene Worte dafür in der anderen Sprache zu finden.

So ist auch unsere Skelettreifung erst dann wirklich vollendet, wenn der Saturnrhythmus abgeschlossen ist, mit ca. 29 Jahren, wenn auch die letzten Schädelanteile verknöchert sind: Dass dieser Prozess den ganzen Saturnzyklus lang dauert, wird allgemein noch nicht genügend erkannt.

Tierkreis, Monatstugenden und Organsysteme

Was auch immer man anschaut, man findet solche mikro-makro-kosmischen Bezüge. Im Rahmen einer Arbeitsgruppe zu diesem Thema hatte ich ein besonders schönes Erlebnis: Ich sah plötzlich, dass die Tierkreisbilder draußen am Himmel wie Skizzen oder Vorlagen genau der Bereiche der menschlichen Gestalt erscheinen, die mithilfe der Einwirkung der jeweiligen Tierkreiskräfte gebildet werden. Am allerschönsten lässt sich das bei den Fischen ablesen, man kann es aber auch bei jedem anderen Tierkreisbild sehen: Am Himmel sind nicht zwei Fische zu sehen, sondern zwei Füße, die mit einem Band verbunden sind. Ob Fische oder Füße, ist demnach Sache der Interpretation.

Man kann unseren Tierkreis also ganz wunderbar als Bilde-Kreis der menschlichen Gestalt lesen lernen. Dann begreift man auch, warum die Monatstugenden[2] kosmischer Qualität sind: Wenn wir sie seelisch erringen, wirken sie gesundend auf die menschliche Gestalt zurück – dazu ein paar Beispiele, die ich nur nennen, aber nicht näher ausführen kann:

Verehrung fördert das Denken und die Beobachtung. Das Beste, was man für seine Gesundheit tun kann, ist den Pfad der Verehrung gegenüber Wahrheit und Erkenntnis einzuschlagen.

Der Zusammenhang der Tugenden von Gleichgewicht und Fortschritt kann auch wie folgt aufgefasst werden: Um sprechen zu können, muss ich erst einmal hören. Und um wirklich hören zu können, muss ich mit Leib und Seele still werden, muss meine Seele ins Gleichgewicht bringen, sonst bin ich nicht in der Lage zu erfahren, was der andere wirklich gesagt hat, weil ich z.B. schon an meinem Einwand „bastle“. Das heißt: Wer an seinem seelischen Gleichgewicht arbeitet, kann viel besser verstehen, was andere sagen, und wird auch selber viel „sinnesoffener“ sprechen können und so dem Fortschritt, der Entwicklung dienen. Und so lässt sich durch diese Tugenden jedes Organsystem pflegen und der Bezug zu den kosmischen Bildekräften, die es geprägt haben, verstehen.

Individuelles Bewusstsein erlangen

Rudolf Steiner formuliert dieses Mysterium wunderschön, indem er sinngemäß sagt, es gebe nichts am Ätherischen, was sich der Astralleib nicht bewusst machen könne.

  • Die Äthersphäre besteht aus unbewusstem, heiligem, kosmischem Wissen.
  • Die Astralsphäre schenkt uns die Möglichkeit, uns dieses Wissen auf individuelle Art bewusst zu machen.

Alle Hierarchien, alle Wesen, von den Menschen bis hin zu den Elementarwesen und Pflanzen, verfügen, insofern sie „Ohren“ im Astralen haben, über die Möglichkeit, kleine Innenräume zu schaffen und dadurch ein besonderes Bewusstsein im Allgemeinen zu erwerben. Das ist das Geheimnis der Individualität: Dass wir zu den grandiosen Gottesoffenbarungen, die dieser ganzen Schöpfung innewohnen, auf ganz individuelle Art unseren eigenen Bezug herstellen. Am allerschwersten fällt uns das im Hinblick auf unsere eigene Identität – weshalb ich jetzt zum Ich übergehen möchte.

Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK Dornach 2014


[1] Unter anderen: Walther Bühler, Der Leib als Instrument der Seele, Vier Vorträge, Erstausgabe 1955.

[2] Die zwölf zu meditierenden und im Leben zu berücksichtigenden Tugenden. In: Rudolf Steiner, Anweisungen für eine esoterische Schulung, GA 245, S. 31 (1987). Auch in: Rudolf Steiner, Seelenübungen I, GA 267, S. 74 (1997).

GOTTEBENBILDLICHKEIT DES ICH

Worin drückt sich Gottebenbildlichkeit des Ich aus?

Was offenbart sie dem Menschen?

Welche Aufgabe ist damit verbunden?

Botschaft des Ich

In Bezug auf unser Ich müssen wir uns ganz archetypisch klarmachen, dass jeder von uns dank der Evolution die Möglichkeit hat, zu sich selber „ich“ zu sagen. Gleichzeitig müssen wir es aber auch ohne jeden Neid aushalten können, dass jeder andere Mensch das Gleiche macht: Wir sagen alle zu uns „ich“, benützen alle dasselbe Wort – und jeder meint nur sich: Ein und derselbe Gedanke wird also durch dasselbe Wort ganz individuell interpretiert!

Dieser Umstand weist auf einen „Archetypen der Entwicklung“ hin, ausgedrückt in den Worten aus Morgensterns Gedicht: „Die zur Wahrheit wandern, wandern allein“[1]. Jeder versucht sein Ich zu erfassen und individuell zu erspüren durch alles, was er zu verstehen lernt – und das ist bei jedem Menschen individuell anders. Aber am Ende wird es so sein, wie in demselben Gedicht ausgedrückt: „Dann grüßt uns der Geschwister seliger Chor“. Man kann also sagen, wir wandern allein zur Wahrheit unseres eigenen Wesens – zum Ich, zum Mittelpunkt unserer Welt – und „keiner kann des anderen Wegbruder sein“. Wir können einander nur Hinweise geben, aber jeder muss diesen Weg alleine gehen. Wenn wir aber anfangen, diese Sphäre des Menschheitsstrebens zu erspüren und zu finden, können wir uns dort mit dem Streben anderer vereinigen und größtmögliche Freiheit sowie größtmögliche Sozialkompetenz und uns dadurch gegenseitige Hilfestellung erfahren. Das ist die Botschaft des Ich.

Stadien der Ich-Entwicklung

Es gibt vier zentrale Entwicklungsstadien der Ich-Bewusst­seins­ent­wicklung:

1. Das „Ich bin ich“ zu denken beginnen

Das erste Stadium haben wir schon besprochen: Das Ich-Sagen mit zwei bis drei Jahren, wenn der Gedanke erwacht: Ich bin ich.

2. Das „Ich bin ich“ zu fühlen beginnen

Mit neun Jahren gelangt das Kind an den sogenannten Rubikon: Dann erwacht das Gefühl in Bezug auf den Gedanken: Ich bin ich. Dieses Stadium ist schwer zu ertragen. In einer ersten Phase fühlt es sich einsam auf dieser Welt, wie „verraten und verkauft“. Manche Kinder in diesem Alter fassen den Gedanken: Wartet nur, bis ich mal groß bin – dann mache ich alles anders. Sie spüren: Ich muss mich anpassen, muss irgendwie durchkommen, um groß zu werden und „das alles“ los zu sein. Viele ziehen dann sogar in Zweifel, dass sie das Kind ihrer Eltern sind, weil sie sich so anders fühlen als Mutter und Vater.

Ich löcherte meine Mutter, bis sie mir den Beweis lieferte, dass ich im Krankenhaus nicht vertauscht wurde oder heimlich zuhause untergeschoben wurde. Auf der einen Seite war ich dann tief befriedigt, dass ich wirklich zu dieser lieben Familie gehörte, aber ich war auch ein bisschen enttäuscht, weil ich alles so anders empfand als sie.

Warum Geschwister so verschieden sind

Die Verschiedenheit von Familienmitgliedern wurde großartig in dem folgenden Buch – „Warum Geschwister so verschieden sind“[2] – beschrieben. Die Autoren, Robert Plomin, ein Verhaltensgenetiker, und Judy Dunn, eine Verhaltenspsychologin, befassten sich mit der Frage, welche Komponenten und Einflüsse den menschlichen Charakter formen. Auf der Grundlage ihrer eigenständigen Forschung kamen sie zu dem Schluss, dass die bis dahin tradierte Wissenschaftsmeinung, dass der Mensch nur von Vererbung und Milieu bestimmt wird, nicht stimmen konnte. Würde diese Theorie stimmen, müssten Geschwister einander viel ähnlicher sein, denn sie teilen das Elternhaus und den größten Teil des Erbmaterials.

Warum sind sie vom Charakter her dann so verschieden?

Geschwister sehen sich oft nur physisch ähnlich und haben einen ähnlichen Sprachklang, aber ihrem Wesen nach sind sie oft viel unterschiedlicher als gute Freunde. Die Autoren Dunn und Plomin haben rein phänomenologisch herausgefunden, dass es ein drittes Prinzip gibt, das „Prinzip Ich“. Diesem Prinzip ist es geschuldet, dass das Kind mit neun Jahren entdeckt: Ich bin anders, ich bin allein auf diesem Globus. Es fühlt sich einsam und zweifelt daran, jemals einen Freund zu finden...

Wenn nun die Erziehung bis zum 9. Jahr bereits hochdramatisch verlaufen ist und der Schutz fehlt, der das Erlebnis des Sich-als-Ich-Fühlens erträglich macht, halten Kinder dieses Erlebnis oft gar nicht mehr aus – sie werden in ihrer Ich-Entwicklung korrumpiert.

3. Das „Ich bin ich“ zu wollen beginnen

Das dritte Ich-Entwicklungsstadium wird mit ca. sechzehn Jahren erreicht – es ist eher glückhafter Natur. Der Jugendliche erkennt: Ich kann mich wollen! Das kann zu schönen Erlebnissen führen, wie im Falle Jaques Lusseyrans,[3] der mit seinem Freund verabredete, sich ab jetzt nur noch die Wahrheit zu sagen. Sie gehen miteinander die vertrauten Wege – und schweigen. Keiner sagt ein Wort, denn keiner weiß wirklich, was die Wahrheit ist. Das ist ein Beispiel dafür, dass der Wille im Denken erwacht. Der Jugendliche erkennt: Ich selbst muss entscheiden, was ich denken will. Wille und Selbstverantwortung werden im Denken geboren.

Als ich in dem Alter war, entdeckte ich plötzlich eine Sphäre, die völlig unabhängig ist von persönlichen Vorlieben. In meiner Klasse war ein Junge, mit dem ich die ganze Schulzeit hindurch kein Wort gewechselt hatte, weil ich ihn irgendwie doof fand. Als mir das mit sechzehn bewusstwurde, schämte ich mich zutiefst und beschloss mein Verhalten zu ändern. So ging ich in der Pause auf ihn zu und fragte ihn auf Schwäbisch: „Was hen mer denn jetzt?“ „Euro“ (als Abkürzung von Eurythmie), sagte er und ich erlebte ihn als ganz normalen netten Jungen.

Auf diese Art entdeckte ich, dass die Verantwortung des Ich im Denken einer freien Sphäre entspringt, sodass es sich zu sich selbst und zur Welt ganz eigenständig positionieren kann. Das ist wie ein Geburtsmoment in der Jugend für den Willen zur Selbstschulung. Damit hängt zusammen, dass ganz viele Jugendliche in diesem Alter mit einer inneren Schulung anfangen.

Diese drei Ich-Erfahrungen – ich denke mich; ich fühle mich; ich kann mich wollen – sind verwurzelt im lebfreien Denken und sind somit ein reines Geschenk der Natur. Im Zuge der Entwicklung macht sie jeder Mensch, der einigermaßen gesund ist.

4. Das „Ich bin ich“ als „Stirb und Werde“

Das vierte Stadium wird uns von der Natur nicht geschenkt. Denn die Naturwirkung gelangt, wenn wir ausgewachsen sind, in uns zu einem Ende. Dass zeigt sich darin, dass wir irgendwann zwischen 20 und 30 – es kann aber auch später sein – das Empfinden haben, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird, dass wir in der Luft hängen: Alle Sicherheit des Sich-Denkens, Sich-Fühlens und Sich-Wollens fällt plötzlich weg. Es genügt nicht mehr, Familie zu haben und Karriere zu machen. Das kann unendlich schmerzhaft und bitter sein. Wir haben den Drang, wie an unseren eigenen Ursprung zurückzukehren, und uns in aller Einsamkeit zu fragen:

Warum bin ich auf dieser Welt?

Warum mache ich bei alledem mit?

Will ich mein Leben wirklich so führen, wie ich es bisher gemacht habe?

Geburtswehen der zweiten Geburt

Das sind die schmerzhaften Geburtswehen der sogenannten „zweiten Geburt“. Wir sind in diesem Stadium aufgerufen, das In-Christo-Morimur selbst zu vollziehen, indem wir uns bewusst machen: In mir kommt die Schöpfung zu einem Ende; „von Natur aus“ kann und werde ich mich als Ich nicht weiterentwickeln. Dazu gehört auch die tiefgreifende Erkenntnis: Wenn wir unsere Ich-Entwicklung nicht aus freiem Entschluss fortsetzen, wird auch unser Wesen und Tun nicht ich-bestimmt sein. Dann werden andere Wesen sich unseres Ich bemächtigen und uns beherrschen. Wir werden wie die Elementarwesen sein, die nur „funktionieren“. Wir fallen damit aus der Christussphäre heraus, die ja vom Geschehen des freiwilligen In-Christo-Morimur lebt...

Im Ich finden wir den Tod, wenn wir dieses Ich nicht noch einmal ganz neu und selbständig „aus Wasser und Geist“, aus Liebe zur Entwicklung, ergreifen und unserem Leben eigenständig einen Sinn geben im Kontext der gesamtmenschlichen Entwicklung.

Jakob Böhme sagt: „Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt“[4]. Wenn ich nicht „sterbe“, d.h. geistig in mich gehe und mich ganz neu aus eigener Kraft greife, wenn ich nicht wirklich bewusst wissen und bestimmen will, wer ich bin und werden möchte, werde ich sterben. Denn wer sich zu Lebzeiten nicht im Ewigen, im „ewigen Leben“ der Gedankensphäre, selbst begründet und befestigt hat, wird nach dem Tode einschlafen.

Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK Dornach 2014


[1] Christian Morgenstern, Die zur Wahrheit wandern. In: Christian Morgenstern, Stufen. 1922.


[2] Judy Dunn, Robert Plomin, Warum Geschwister so verschieden sind, Stuttgart 1996.

[3] Jaques Lusseyran, Das wiedergefundene Licht, Stuttgart 1963, 8. Aufl. 1977. Zitat im Kapitel Mein Freund Jean, S. 61.

[4] Ausspruch des deutschen Mystikers und Philosophen Jakob Böhme (1575-1625).