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Waldorfpädagogik: Unterschied zwischen den Versionen

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----[1] Dietrich Esterl, ''Die erste Waldorfschule: Stuttgart Uhlandshöhe 1919-2004. Daten – Dokumente – Bilder.'' DRUCKtuell Druck- und Verlagsgesellschaft mbH, Gerlingen 2006.
----[1] Dietrich Esterl, ''Die erste Waldorfschule: Stuttgart Uhlandshöhe 1919-2004. Daten – Dokumente – Bilder.'' DRUCKtuell Druck- und Verlagsgesellschaft mbH, Gerlingen 2006.
== ENTWICKLUNGSPHASEN UND PÄDAGOGIK ==
''Wie lässt sich die Notwendigkeit altersgerechter Pädagogik erklären?''


''Zu welchen Entwicklungsphasen gehören welche pädagogischen Angebote?''


'''ENTWICKLUNGSPHASEN UND PÄDAGOGIK'''
=== ''Vorschulzeit und erste Schuljahre bis ca. 9. Lebensjahr'' ===
Differenziertes Ausreifen des Nervensystems und der sensomotorischen Koordination (d.h. die Verknüpfung von Sinnesfunktionen mit der muskulären Tätigkeit) brauchen vielseitiges Üben und Betätigen. Koordinierte körperliche Bewegung und Freude am Entdecken der Sinneswelt – mit Hilfe aller Sinne – ist die natürliche Begabung der Kinder dieses Alters. Sie wissen instinktiv, dass ihnen das gut tut. So gilt es, Bewegungs- und Spielräume zu schaffen, in denen sie sich geschickt und altersentsprechend bewegen und betätigen können. Diesem Prinzip folgt der Waldorflehrplan von der Kinderkrippe an bis zum 9. Lebensjahr konsequent. In jedem Unterricht ist das Bewegungselement in irgendeiner Weise mit integriert, nicht nur in den so genannten Bewegungsfächern, deren Lehrplan insbesondere sensomotorisch wertvoll veranlagt ist. Denn alle Bewegungen – einschließlich dem kindgerechten Spiel- und Turnunterricht – werden in diesem Alter noch eng verknüpft mit Sinneserlebnissen praktiziert und oft begleitet durch musikalisch-rhythmische Übungen in Form von Sing-, Sprach- und Bewegungsspielen. Durch die musikalisch-rhythmischen Tätigkeiten wird auch die zur Sozialisation notwendige Fähigkeit des Zuhörens mit veranlagt.


'''Vorschulzeit und erste Schuljahre bis ca. 9. Lebensjahr'''
Auch sind es ausschließlich entwicklungsphysiologische und psychologische Gründe, die ein striktes PC- und Multimediaverbot für Kindergärten und Grundschulen zum Ideal der Waldorferziehung machen. Was jetzt weltweit propagiert wird und einen hohen wirtschaftlichen Gewinn verspricht, „one Laptop per child" (der Mini-Bildschirm mit Flash-Speicher, WLAN und dem Betriebssystem Linux), um insbesondere Kindern der 3. Welt Anschluss an das digitale Zeitalter zu geben, ist eine gute Idee zum falschen Zeitpunkt. Und zwar nicht nur, weil die so genannten Entwicklungsländer sauberes Wasser, medizinische Grundversorgung und „richtige Schulen" brauchen, sondern weil jede Stunde vor dem Bildschirm das Aufsteigen eigener, nicht manipulierter innerer Bilder behindert und die Kinder am In-Bewegung-Sein hindert. Die Gehirnaktivität wird dadurch eingeschränkt, die sensomotorische Integration gestört – ganz unabhängig von dem Inhalt der Informationen und dem Problem, diese nicht eigenständig verarbeiten zu können.


Differenziertes Ausreifen des Nervensystems und der sensomotorischen Koordination (d.h. die Verknüpfung von Sinnesfunktionen mit der muskulären Tätigkeit) brauchen vielseitiges Üben und Betätigen. Koordinierte körperliche Bewegung und Freude am Entdecken der Sinneswelt – mit Hilfe aller Sinne – ist die natürliche Begabung der Kinder dieses Alters. Sie wissen instinktiv, dass ihnen das gut tut. So gilt es, Bewegungs- und Spielräume zu schaffen, in denen sie sich geschickt und altersentsprechend bewegen und betätigen können. Diesem Prinzip folgt der Waldorflehrplan von der Kinderkrippe an bis zum 9. Lebensjahr konsequent. In jedem Unterricht ist das Bewe­gungselement in irgendeiner Weise mit integriert, nicht nur in den so genannten Bewegungsfächern, deren Lehrplan insbesondere sensomotorisch wertvoll veranlagt ist. Denn alle Bewegungen – ein­schließlich dem kindgerechten Spiel- und Turnunterricht – werden in diesem Alter noch eng verknüpft mit Sinneserlebnissen praktiziert und oft begleitet durch musikalisch-rhythmische Übungen in Form von Sing-, Sprach- und Bewegungsspielen. Durch die musikalisch-rhythmischen Tätigkeiten wird auch die zur Sozialisation notwendige Fähigkeit des Zuhörens mit veranlagt.
==== Zu empfehlen sind: ====


Auch sind es ausschließlich entwicklungsphysiologische und psychologische Gründe, die ein striktes PC- und Multimediaverbot für Kindergärten und Grundschulen zum Ideal der Waldorf­erziehung machen. Was jetzt weltweit propagiert wird und einen hohen wirtschaftlichen Gewinn verspricht, „one Laptop per child" (der Mini-Bildschirm mit Flash-Speicher, WLAN und dem Betriebssystem Linux), um insbesondere Kindern der 3. Welt Anschluss an das digitale Zeitalter zu geben, ist eine gute Idee zum falschen Zeitpunkt. Und zwar nicht nur, weil die so genannten Entwicklungsländer sauberes Wasser, medizinische Grundversorgung und „richtige Schulen" brauchen, sondern weil jede Stunde vor dem Bildschirm das Aufsteigen eigener, nicht manipulierter innerer Bilder behindert und die Kinder am In-Bewegung-Sein hindert. Die Gehirnaktivität wird dadurch eingeschränkt, die sensomotorische Integration gestört – ganz unabhängig von dem In­halt der Informationen und dem Problem, diese nicht eigenständig verarbeiten zu können.
* Anregung von Initiative durch eigenes Tun und „Vorbild-Sein"
* Spielmaterial, das die Eigenaktivität fördert: einfache Gegenstände und Materialien, die der Phantasie Raum lassen und zu vielen Gestaltungsmöglichkeiten anregen
* Aktivierung und Pflege der Sinne durch entsprechend ausgestattete Spielräume
* Veranlagen guter Gewohnheiten durch regelmäßiges Tun, kleine Rituale am Morgen, beim Essen, am Abend vor dem Schlafengehen
* Rhythmische Gestaltung des Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreslaufes
* Momente ungeteilter Aufmerksamkeit für das Kind: z.B. beim Aufstehen und Zubettgehen und dann hin und wieder während des Tages, in denen eine Begegnung, ein Sich-Wahrnehmen stattfinden kann.
* Ein „nonverbaler" Erziehungsstil: Nicht das Wort, sondern die Handlung, das Vorbild zeigt, worum es geht. Nur so erlebt sich das Kind frei gelassen. Denn es ahmt aus eigenem ''Antrieb'' nach.
* Möglichkeiten, der Natur zu begegnen
* Vermeiden von Multimedia-Angeboten und technischem Spielzeug
* Auch wenn der Tag sonst mit vielen Pflichten angespannt verläuft – das Kind im Bewusstsein haben, es „in Gedanken tragen, mitnehmen". Diese innere Tätigkeit hilft, dass der äußere Kontakt beim Wiedersehen schnell wieder da ist. Wichtig ist, die Nähe und Zugewandheit in der Beziehung zu pflegen und diese nicht abhängig zu machen von Wohlverhalten und schulischer Leistung.
* Freude und Dankbarkeit zeigen
* Klare Grenzen setzen und „leben". Das gibt Sicherheit und Orientierung.


'''''Zu empfehlen sind:'''''
=== ''...bis zum 14./15. Jahr'' ===
Jetzt wird vor allem wichtig, was Ausbildung und Entwicklung der rhythmischen Funktionen fördert: Das sind Empfindungen und Gefühle. Nie atmen wir tiefer durch, als wenn wir uns wohl fühlen, nie schlägt das Herz gesünder, als wenn sich die Kinder freuen oder mit Eifer tätig sind. Zwischen dem 9. und 15. Lebensjahr zielt die gesamte Pädagogik und Didaktik darauf hin, das prozessual-künstlerische, aber auch ästhetische Element in allen Unterrichtsfächern zu berücksichtigen. Was beim Geräteturnen im Sport exakter und vollendeter Bewegungsablauf ist, den es einzuüben gilt, das sind im Geschichtsunterricht Gespräche und Unterrichtsfragen, in denen Ereignisse von mehreren Seiten so betrachtet werden, dass sich für den Schüler ein sinn­volles Ganzes ergibt, eine Art ästhetischer Zustand, „durch den er mit sich und der Welt übereinzustimmen lernt." Im naturwissenschaftlichen Unterricht sind es insbesondere die Experimente: Der Schüler beobachtet exakt und dokumentiert die sich darin zeigenden Gesetzmäßigkeiten übersichtlich und „schön". Er lernt ihren Wirkradius verstehen und sie handhaben. Auch mathe­matische Gesetze haben ihre Schönheit, weil sie „stimmen" und konstituierend sind, nicht nur in Technik und Wissenschaft, sondern auch im Leben. So werden die Schüler vertraut gemacht mit den Eigentümlichkeiten und „Stimmigkeiten" der Welt und der menschlichen Kultur.


·       Anregung von Initiative durch ''eigenes'' Tun und „Vorbild-Sein".
Auch in diesen Lebensjahren empfiehlt sich noch Zurückhaltung in Bezug auf das digitale Zeitalter. Nur das sollte an Maschinen delegiert werden, was man im Prinzip auch selbst beherrscht und durchschaut. Selber Kopfrechnen, Theaterspielen, Musizieren, Tanzen, Erlebnisfahrten und Entdeckungen machen, lernen, wie man „live" Beziehungen pflegt – das sollte jetzt im Vordergrund stehen. Was zu Hause oft schon viel zu früh als Konzessionen an die Multimedia-Industrie zugelassen wird, sollte in der Schule umso mehr dazu motivieren, Leben ''und'' Realität an die Stelle von Technik und Virtualität zu setzen. Manchmal hilft auch der einfache Gedanke, Eltern und Schüler für diesen „Verzicht auf Zeit" zu mobilisieren, dass die Erfinder der Computer in ihrer eigenen Kindheit ohne diese Spielmöglichkeiten aufgewachsen sind. Um Neues zu finden, braucht man Kreativität und nicht Konditionierung.


·       Spielmaterial, das die Eigenaktivität fördert: einfache Gegenstände und Materialien, die der Phantasie Raum lassen und zu vielen Gestaltungsmöglichkeiten anregen.
==== Zu empfehlen sind: ====


·       Aktivierung und Pflege der Sinne durch entsprechend ausgestattete Spielräume.
* Gesprächskultur – das Kind, den Jugendlichen teilnehmen lassen an interessanten Gesprächen Erwachsener. Mit inneren Fragen leben: Wann war unser letztes Gespräch? Wann hatte ich Zeit, Interesse? Habe ich das Anerkennenswerte bemerkt, lobe ich genug oder bringe ich eher zum Ausdruck, was mich stört?
* Moderne Führungsstrukturen sprechen gern von „Fehlerkultur". Wer aus seinen Fehlern lernt, entwickelt sich nachhaltig – entsprechend auch ein Team zusammenarbeitender Menschen. Wie gehe ich mit Fehlern und Fehlverhalten in der Schule um? Wie helfe ich aus Fehlern zu lernen und diese nicht (nur) schlimm zu finden?
* Klare Führung in Grundsatzfragen im Tagesablauf unter Einbeziehung der Wünsche der Kinder. Verabredungen treffen und klar vereinbaren, wie sie überwacht werden.
* Künstlerische Betätigung, insbesondere Erlernen eines Musikinstrumentes
* Kontrollierter Multimediagebrauch und wo immer möglich das Aufarbeiten des Gesehenen und Erlebten im Gespräch.


·       Veranlagen guter Gewohnheiten durch regelmäßiges Tun, kleine Rituale am Morgen, beim Essen, am Abend vor dem Schlafengehen.
=== ''... bis zum 21./22. Jahr'' ===
Vom 13., 14., 15. Lebensjahr an bis zum 19., 20., 21. Lebensjahr erhebt sich die Frage, auf welche Weise mit pädagogischen Mitteln unterstützt werden kann, was jetzt physiologisch an Entwicklungsprozessen im Vordergrund steht: die Ausreifung des Skelettsystems bis zur Erwachsenengröße und die hormonelle Umstellung und Ausreifung des intermediären Stoffwechsels nach der Pubertät. Zunächst könnte man meinen, Stoffwechsel und Skelett brauchen primär körperliche Betätigung – das ist natürlich richtig, jedoch nicht genug. Vielmehr gibt es eine andere Fähigkeit, die kontinuierlich, sozusagen von innen her, den Menschen erwärmt, anregt, aber vor allem auch aufrichtet und erfüllt: Es sind die zielorientierten Ideen, Interessen, Gesichtspunkte und Motivationen, die befeuern, die begeistern. Man sieht es den Jugendlichen unmittelbar am Gang und Bewegungsspiel an, an der Körperhaltung und Mimik, ob sie Gedanken hegen, durch die sie sich innerlich angeregt, motiviert, „aufgerichtet" fühlen oder ob sie Gedankenöde erleben und infolgedessen Lustlosigkeit und Desinteresse. Die Sprachweisheit bringt dies klar zum Ausdruck, wenn das Wort „Aufrichtigkeit" gerade diese doppelte Bedeutung hat: einmal „ehrlich, aufrichtig, wahrheitsorientiert" und zum anderen „körperlich aufgerichtet, gerade".


·       Rhythmische Gestaltung des Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreslaufes.
In der Oberstufe kommt den Erziehungsmaximen von Nachahmung und Vorbild, von Stimmigkeit und Schönheit untergeordnete Bedeutung zu. Jetzt geht es um Gewissensbildung, Wahrhaftigkeit und Freiheit. Wie muss ich unterrichten, damit der Jugendliche selber zu den Einsichten kommt, die in diesem Unterrichtsfach Sinn machen? Wie schafft man es, dass der Jugendliche nicht nacherzählt, was man selber vorgedacht hat, sondern dass man ihm Gesichtspunkte gibt, Bedingungen schildert, anhand derer er selbst die Lösung einer bestimmten Frage herausfinden kann?


·       Momente ungeteilter Aufmerksamkeit für das Kind: z.B. beim Aufstehen und Zubettgehen und dann hin und wieder während des Tages, in denen eine Begegnung, ein Sich-Wahrnehmen stattfinden kann.
==== Zu empfehlen sind: ====


·       Ein „nonverbaler" Erziehungsstil: Nicht das Wort, sondern die Handlung, das Vorbild zeigt, worum es geht. Nur so erlebt sich das Kind frei gelassen. Denn es ahmt aus eigenem Antrieb nach.
* Fragekultur entwickeln, zum „selber Denken" anregen
* Freund und Begleiter sein, Interesse haben für das, was den Jugendlichen interessiert
* Wachsendes Freiheitsbewusstsein und Selbstständigkeit respektieren, eigene Erwartungen zurückstellen
* „Familienrat" halten. Verabredungen gemeinsam treffen, deren Erfolg/Misserfolg analysieren und das weitere Vorgehen beraten
* Sich über das „ganz andere" freuen lernen, verstehen wollen, was den Jugendlichen bewegt
* Vertrauen riskieren und signalisieren: Ich stehe zu dir, egal was kommt – und bin gespannt, wie dein Leben sich entwickeln wird.


·       Möglichkeiten, der Natur zu begegnen.
=== ''Jegliche Erziehung ist Selbsterziehung'' ===
Unterricht als Selbstfindungsprozess zu begreifen, Erziehung in allen Phasen als Selbsterziehung – darauf kommt es an, erst selber nachahmen, dann selber die Stimmigkeit erleben, wenn verschiedene Zusammenhänge und Verständnismöglichkeiten erläutert werden, und schließlich selber verstehen, herausfinden, was gefragt ist – das ist der Grundnerv einer entwicklungsphysiologisch basierten Erziehung. Denn so wie das Kind es selber ist, welches sich entwickelt, so sollte es auch stets das Erleben haben, dies oder das habe ich selbst beobachtet, selbst gesehen, selbst gelernt. „Selbermachen" macht schon dem kleinen Kind weit mehr Freude, als alles Mögliche abgenommen zu bekommen, von demjenigen der es „besser" kann. Entwicklungsphysiologische Erziehung regt die Eigentätigkeit an, begreift den Erziehungsauftrag so, wie ihn Rudolf Steiner in seinem ''Baseler Lehrerkurs'' charakterisiert:[1]


·       Vermeiden von Multimedia-Angeboten und technischem Spielzeug.
Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muss.


·      Auch wenn der Tag sonst mit vielen Pflichten angespannt verläuft – das Kind im Bewusst­sein haben, es „in Gedanken tragen, mitnehmen". Diese innere Tätigkeit hilft, dass der äußere Kontakt beim Wiedersehen schnell wieder da ist. Wichtig ist, die Nähe und Zuwendung in der Beziehung zu pflegen und diese nicht abhängig zu machen von Wohlverhalten und schulischer Leistung.
Wer so zu sich kommt, ist dann auch im späteren Leben innerlich aktiv genug, um sich nicht zu langweilen. Er kann Technik sinnvoll nutzen, ohne dadurch bequem und unproduktiv-unzufrieden zu werden. Er ist weitgehend geschützt vor dem Abhängig-Werden von Drogen u.a. Er hat die Chance, selbstbestimmt zu leben.
 
''Vgl. 1. Kapitel, „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband, Verlag am Goetheanum, Dornach 2006, derzeit vergriffen''
----[1]  Rudolf Steiner, ''Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft.'' GA 301.
 
== KÖRPERLICHE ENTWICKLUNG UND LERNFÄHIGKEIT ==
''Kann die Lernfähigkeit des Kindes missbraucht werden?''
 
''Wie kann man dieser Gefahr wirksam begegnen?''
 
=== ''Zusammenhang zwischen Denk- und Lebensprozessen erkennen'' ===
Wer beginnt, den Zusammen­hang zwischen dem Gedankenleben und dem Körperleben zu durchschauen, dem erwächst eine neue Verantwortung. Er muss sich fragen:
 
''Wie ist der Prozess der Entwicklung zu lenken, dass die Wachstumskräfte, die der Körper für seine Entwicklung braucht, nicht zu früh zu intellektueller, gedanklicher Tätigkeit herangezogen und damit dem Körper für sein Gedeihen entzogen werden?''
 
Die Lernfähigkeit des Kindes macht es möglich, die Wachstumskräfte zu missbrauchen und in einseitiger Weise verfrüht zu trainieren und damit die körperliche Entwicklung zu schädigen.
 
Rudolf Steiner ist der Erste, der in seinen pädagogischen und me­dizinischen Vorträgen auf diese Gefahr hingewiesen hat. Es ist daher eines der Hauptanliegen der Waldorfpädagogik, auf diesen Entwicklungszusammenhang Rücksicht zu nehmen und den Lehrplan nicht nach abstrakten Leistungsanforderungen, sondern nach gesundheitlichen Gesichtspunkten einzurichten.
 
=== ''Krankheit als notwendig anerkennen'' ===
Auch die anthroposophische Kinderheilkunde basiert auf der Berücksichtigung dieses Zusammenhangs: Ziel kann nicht sein, eine Krankheit so schnell wie möglich „wegzuzaubern“ oder den Krankheitsprozess zu unterdrücken. Vielmehr wird in der Bereitschaft des Körpers, krank zu werden, etwas gesehen, was er für seine Entwicklung braucht. Das Kind sollte die notwendige Zeit für Bettruhe, häusliche Rekonvaleszenz und Pflege bekommen und vor seelischer und geistiger Überanstrengung während dieser Zeit geschützt werden. Sind doch die Kräfte, die der Körper für seine Heilung benötigt, dieselben, die auch im Wachs­tum und in der Regeneration, aber auch im menschlichen Denken betätigt werden.
 
Vor dem Hintergrund dieser Tatsache eröffnen sich neue Perspektiven für Krankheits­prophylaxe:
 
* Man wird alles tun, um zu verhindern, dass dem heranreifenden Organismus zu früh seine Wachstumskräfte entzogen werden, durch einseitige gedankliche Entwicklung.
* Man wird aber auch zu verhindern suchen, dass die geistigen Kräfte brachliegen und nicht zu altersentsprechenden Lernvorgängen herangezogen werden. Denn nur die gesunde Inanspruchnahme des Denkens führt zu­gleich zu einer Stärkung der vitalen Prozesse des Organismus.
 
''Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart''
 
== HOCHBEGABUNG UND WALDORFPÄDAGOGIK ==
''Was zeichnet hochbegabte Kinder aus?''
 
''Was macht sie zu Problemfällen?''
 
''Wie lassen sie sich in den Klassenzusammenhang integrieren?''
 
=== ''Buch zum Thema'' ===
Der Waldorflehrer und Lehrbeauftragte ''Michael Götte'' ''Wenzel'' an der Stuttgarter Hochschule für Waldorfpädagogik führt in dem von ihm herausgegebenen Buch ‚''Hochbegabte und Waldorfschule’[1]'' wie folgt in die Thematik ein:
 
''„Der statistische Durchschnitt hochbegabter Schüler wird gewöhnlich auf etwas über 2% eines Jahrgangs angesetzt. Bei fast 80000 Waldorfschülern in Deutschland würden über 1800 Schüler in diese Gruppe gehören. Nur von einigen wenigen wissen wir, dass sie zu „Problemfällen“ geworden sind. Auch kommt es vor, dass Schüler von der Schule abgehen, weil sie sich unterfordert fühlen bzw. Eltern der Ansicht sind, ihre Kinder müssten intellektuell mehr gefordert werden (…). Bis heute mischen sich bei diesem Thema Gefühle ein, die mit der Sache nichts zu tun haben. Elitebildung wird assoziiert, Beanspruchung von Sonderrollen, fehlende Sozialität usw.''
 
''Verständlich ist das, denn Lehrer haben es gelegentlich schwer damit, weil sie Kindern „überlegen“ sein wollen und ein Schlauberger manchmal etwas besser weiß oder schneller rechnet oder gar Fehler beim Lehrer findet.“''
 
Es ist zu hoffen, dass dieses Werk auch bald im nicht-deutschsprachigen Kulturraum verfügbar sein wird.
 
=== ''Rudolf Steiner als Kind'' ===
Dort ist auch zu lesen, wie es Rudolf Steiner selbst als Kind erging, worüber er in seiner Autobiographie ''„Mein Lebensgang“'' schreibt.[2] Die vielen Fragen, die das Kind Rudolf Steiner in sich trug, ''„…machten mich als Knaben recht einsam. Von einem Lehrer unterrichtet zu werden, dem das Schule-Halten eine lästige Beschäftigung war, das war dem Erstklässler ebenfalls eine lästige Beschäftigung.“''
 
Vorübergehend übernahm dann sein Vater selber den Unterricht, als es mit dem damaligen Lehrer wegen einer Ungerechtigkeit zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Jungen gekommen war. Nach einem beruflich bedingten Umzug wurde er wieder eingeschult und entdeckte um das neunte Lebensjahr herum bei einem Lehrer ein Geometrie-Buch: „''Mit'' ''Enthusiasmus machte ich mich darüber her. Wochenlang war meine Seele ganz erfüllt von der'' ''Kongruenz, der Ähnlichkeit von Dreiecken, Vierecken, Vielecken; ich zergrübelte mein Denken'' ''mit der Frage, wo sich eigentlich die Parallelen schneiden; der Pythagoräische Lehrsatz bezauberte'' ''mich.“''
 
=== ''Hochbegabte denken und fühlen anders'' ===
Da Hochbegabte selten „einfache“ Schüler sind, sondern eher individuell oder auch sozial als „schwierig“ erscheinen, gilt es zunächst, dieses Phänomen als solches ins Auge zu fassen.
 
Hochbegabte denken anders, denken schneller, empfinden differenzierter oder einfacher als „der Durchschnitt“. Auch sind sie innerlich oft mit Fragen und Sorgen beschäftigt, von denen der Erwachsene meint, dass sie dafür noch zu klein oder zu jung seien. Je weniger sich aber ein Kind verstanden fühlt, umso unwohler fühlt es sich und umso schwieriger und unangepasster erscheint es dann auch.
 
''Gise Kayser-Ganthner'' von der Landesarbeitsgemeinschaft Freie Waldorfschulen in Baden-Württemberg bringt das damit verbundene Problem in einer bildungspolitischen Diskussion mit Baden-Württembergischen Landtagsabgeordneten auf den Punkt: Heute haben Lehrer nicht nur Erziehungsarbeit, sondern auch Beziehungsarbeit zu leisten. Insofern könnte eine professionelle Beratung für Lehrer manchmal eine große Hilfe sein, egal, ob es um Kinder mit einer (Hoch)Begabung oder einer Behinderung geht. Die Frage ist, ob ein persönlicher Zugang zum Kind gefunden wird oder nicht.
 
In einem Interview sagte mir ein Waldorflehrer einmal: Als Klassenlehrer begleite ich ein Kind innerhalb von acht Jahren länger als heute manche Ehe hält. Auch solche Entwicklungen muss ein Lehrer heute in Betracht ziehen.
 
=== ''Umgang mit Hochbegabung im Schulalltag'' ===
Als Schulärztin wurde ich immer wieder in Schicksalsfragen einbezogen mit Bezug auf einen möglichen Schulwechsel, einen Teilzeitunterricht an der Waldorfschule und parallel dazu eine Hochbegabten-Förderung an der Musikhochschule oder Universität. Einzelfälle dieser Art sind eigentlich immer gut zu lösen, wenn man das Kind in den Mittelpunkt des Interesses rückt.
 
Schwieriger ist die Frage zu behandeln, ob ein Kind aus seinem Klassenverband herausgelöst werden und eine oder zwei Schulklassen überspringen soll. Daher seien zu dieser Situation einige Gesichtspunkte angefügt:
 
* Dem altersentsprechenden Klassenverband mit seiner natürlichen Schwankungsbreite von einem guten Jahr ist ein großes Gewicht beizumessen. Warum? Weil er unter den Schülern das Empfinden für den eigenen Jahrgang, die „Generation“, der man angehört, stärkt und – was besonders wesentlich ist – dem ohnehin schon vorhandenen Auseinanderklaffen körperlicher und seelischer Reifungsvorgänge entgegenwirkt.
* Es bietet sich an, den Hauptunterricht in der Waldorfschule gemeinsam im Klassenverband zu erleben und dann, je nach Fähigkeitsprofil und Begabung, die Einzelförderung anzusetzen.
* Die Vergabe spezieller Hausausgaben, die mehr fordern und dem Schüler auch die Möglichkeit geben, in seiner Klasse etwas von dem zeigen und darstellen zu können, was er sich erarbeitet hat.
* Übungen in sozialer Kompetenz verabreden, indem Anleitung gegeben wird, wie man einem Minderbegabten bei der Fertigstellung seiner Arbeiten so helfen kann, dass es ihn weiterbringt und zugleich der Zusammenhang im Klassenverband eine wichtige Unterstützung erfährt.
* Es ist darauf zu achten, dass der Schüler einen ''integrierten'' Sonderstatus hat, nicht jedoch einen generellen, so dass die harmonische Gesamtreifung der Persönlichkeit ebenfalls Unterstützung findet.
 
=== ''Präventivmedizinische Sicht'' ===
Aus präventivmedizinischer Sicht kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Mir sind viele Fälle von zentralnervösen Abbauerscheinungen bekannt, einschließlich der Alzheimer‘schen Erkrankung, die gerade Menschen mit hoher oder überdurchschnittlicher Intelligenz betroffen haben und wo sich in der Anamnese häufig das Überspringen von Klassen findet. Ebenso sind Studien bekannt, die einen Zusammenhang zwischen der Intelligenz im Kindesalter und Alzheimer’scher Erkrankung nahelegen.[3]
 
Ob dies Zufall ist oder einen wichtigen menschenkundlichen Zusammenhang aufdeckt, der die Phase der Inkarnation – d.h. der Phase der körperlichen Entwicklung, der „Verkörperung“ – in der Kindheit mit derjenigen der Exkarnation – d.h. der langsamen „Entkörperung“, die wir altern nennen – verbindet, ist die Frage.
 
Bezieht man die anthroposophische Menschenkunde mit ihrer Wissenschaft vom Ätherischen mit ein, so handelt es sich hier um einen klaren Zusammenhang: Wird Intelligenz zu früh gefördert, so wird dem ätherischen Organismus nicht die nötige Zeit gelassen, die leiborientierte Arbeit in Wachstum und Entwicklung zu leisten. Die verfrühte und ausgiebige Inanspruchnahme für die Entwicklung von verschiedenen Ausdrucksformen menschlicher Intelligenz ist eben zugleich mit der nicht mehr leibgebundenen Tätigkeit des ätherischen Organismus verbunden. Je intellektueller, d.h. abstrakter und damit leibunabhängiger ein Gedankenvorgang ist, umso mehr steht er im Gegensatz zur Aufbau- und Regenerations­tätigkeit des Organismus.
 
=== ''Kreativer Umgang mit Intelligenz'' ===
Daher werden in der Waldorfschule kreative Intelligenzformen – wie sie im künstlerischen Tun gepflegt werden, aber auch Förderung und Pflege innerer Bilder und Phantasietätigkeit – im Hauptwachstumsalter bevorzugt, da diese durch die stärkere Unterlegung mit Gefühlen physiologisch weniger leibunabhängig verlaufen als die abstrakte Gedankentätigkeit. Durch dieses Vorgehen gibt man dem Nervensystem einerseits mehr Möglichkeit zur ungestörten Reifung und fördert andererseits den kreativen Umgang mit Intelligenz. Auf diesem Gebiet bedarf es eingehender Studien, die in Zusammenarbeit von Kinder- und Schulärzten mit Internisten und Gerontologen durchgeführt werden müssen.
 
Vorbildlich für die Hochbegabtenförderung war für mich immer der Fall ''Else Klink'' in der Stuttgarter Waldorfschule noch zu Rudolf Steiners Zeiten. Da war es selbstverständlich, dass sie schon ab der 10. Klasse nach dem Hauptunterricht ihre Eurythmie-Ausbildung beginnen und so die Voraussetzung schaffen konnte für ihre spätere Laufbahn als herausragende Bühnenkünstlerin. Dennoch war sie aber sozial noch voll in ihrem altersentsprechenden Klassenverband integriert. Meiner Erfahrung nach genügt es schon, wenn man hochbegabte Kinder auf ein oder zwei Gebieten ihrer Wahl einzeln fördert und im Übrigen der Klasse das Glück gönnt, ein hochbegabtes Kind in seiner Mitte zu haben. Dies kann eine ganze Klasse enorm stimulieren und begeistern und umgekehrt den Hochbegabten die Möglichkeit geben, neben der Intelligenz auch die heute so dringend nötigen ethisch-sozialen Fähigkeiten zu erwerben.
 
''Vgl. 14. Kapitel von „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband 2006, derzeit vergriffen''
 
----[1] Michael Götte Wenzel, ''Hochbegabte und Waldorfschule: Grundlagen, Aufgaben, Anregungen, ISBN: 9783772522642''
 
[2] Rudolf Steiner, ''Mein Lebensgang''. Verlag am Goetheanum, Dornach 2000, S. 55-56.
 
[3] J. Arehart-Treichel, ''Childhood Intelligence Linked to Alzheimer’s Risk. Psychiatric News'', January 19, 2001, Vol. 36, No. 2.
 
== DIE FÜNF EBENEN DES MENSCHSEINS ==
''Was ist mit den fünf Ebenen des Menschseins gemeint?''
 
''Was meint Rudolf Steiner mit der Metamorphose der Wesensglieder?''
 
''Wo befindet sich die Austrittspforte für das Ätherische?''
 
In der Waldorfpädagogik wird mit den fünf Ebenen des Menschseins gearbeitet:
 
# Physische Ebene
# Ätherische Ebene
# Astralische Ebene
# Ich-Organisations-Ebene
# „Quinta essentia“
 
=== ''Die Metamorphose der Wesensglieder'' ===
In der ersten Lebensphase wird der '''physische Leib''' durch das Zusammenwirken der höheren Wesensglieder gebildet:
 
* Der '''Ätherleib''' ermöglicht ''Wachstum'' und regt alle ''Bildeprozesse'' an.
* Der '''Astralleib''' ist zuständig für alle ''Differenzierungsprozesse'' von der notwendigen Zelldifferenzierung bis hin zur Differenzierung der Geschlechter.
* Die '''Ich-Organisation''' ist unsere integrierende Kompetenz und sorgt für eine einheitliche Gesamtgestalt, aber auch für die Abstimmung aller Organ-Funktionen untereinander.
 
Im Zuge der körperlichen Reifung haben die bildenden, differenzierenden und integrierenden Kräfte nach und nach ihr Werk getan. Sukzessive verlassen sie Tag für Tag und Jahr für Jahr den im Wandel begriffenen Körper und metamorphosieren sich in die leibfreien, rein seelisch-geistigen Kräfte unserer Aura, die unser leibfreies Denken, Fühlen und Wollen ermöglichen:
 
* So verdanken wir unser '''Denken dem Ätherleib''', den ''formgebenden Wachstumskräften'', die im Laufe des Lebens und Alterns immer weniger im Körper gebraucht werden und so zunehmend als leibfreie Denktätigkeit zur Verfügung stehen.
* Wir verdanken unser '''Fühlen dem Astralleib''', weil auch die ''differenzierenden und polarisierenden Kräfte'' den Körper sukzessive verlassen, um frei zu werden für das „Mit“- und „Selbst“-Gefühl.
* Wir verdanken unser '''(leib-)freies Wollen''' den ''integrierenden Kräften'' der '''Ich-Organisation''', die sich ebenfalls sukzessive aus dem Körper herauslösen, wenn ihre Arbeit am Körper getan ist.
 
Nach ''Paracelsus'' ist die quinta essentia das Prinzip der rein spirituellen „leibfreien“ Wesensglieder-Tätigkeit des Denkens (leibfreier Ätherleib), des Fühlens (leibfreier Astralleib) und Wollens (leibfreie Ich-Organisation).
 
=== ''Das Herz als Schwelle und Pforte'' ===
Wir kennen dank der Ausführungen Rudolf Steiners über die Ätherisation des Blutes[1] auch den Ort, an dem diese Wesensglieder-Kräfte den Leib verlassen: unser Herz. Im Herzen steht das Blut am Ende jeder Diastole für Sekundenbruchteile still, bevor das einströmende Blut sich wieder anschickt, den Rückweg aus dem Herzen in den Lungen- und Körperkreislauf anzutreten. Bevor das geschieht, sind Muskulatur und Herzklappen um den für Bruchteile von Sekunden stillstehenden Blutinhalt des Herzens geschlossen und angespannt. Dieser Moment des vorübergehenden Stillstands – für Sekundenbruchteile! –  wird in der Physiologie Diastase genannt und ist die Voraussetzung dafür, dass das Ätherische sich aus dem Blut lösen kann. Die Kräfte von Astralleib und Ich verlassen den Körper ebenfalls auf diesem Weg, durch die Pforte des Herzens, ''„auf den Bahnen des Ätherischen“,'' wie Rudolf Steiner es ausdrückt.
 
''Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012''
 
----[1] Rudolf Steiner, ''Die Ätherisation des Blutes. Das Eingreifen des ätherischen Christus in die Erdenentwickelung.'' Vortrag vom 1. Oktober 1911 in Basel.
 
== PÄDAGOGISCHER UMGANG MIT DEN FÜNF EBENEN DES MENSCHSEINS ==
''Wie nimmt die Waldorfpädagogik Einfluss auf die fünf Ebenen des Menschseins?''
 
''Welche konkreten Maßnahmen kann der Lehrer ergreifen, um auf sie einzuwirken?''
 
=== 1. Einflussnahme auf die physische Ebene über die Sinne und den Raum ===
Im Physischen spielt die Vererbung eine wichtige Rolle. Doch werden die Gene heute dank der Epigenetik als offenes System verstanden – eine Tatsache, von der Rudolf Steiner immer ausgegangen ist.
 
* Er erläuterte ''den Ärzten gegenüber'', wie sie z.B. durch gute Fieberbehandlung zur Veränderung des Erbguts beitragen können.
* ''Zu den Pädagogen'' sagte er, dass Impfung kein Problem darstelle, wenn die betroffenen Kinder eine spirituelle Erziehung bekämen, denn das Erbgut ließ sich auch durch Erziehung verwandeln.


·       Freude und Dankbarkeit zeigen.
Der Hauptansatzpunkt für die Verwandlung des physischen Leibes sind die Sinne. Denn der physische Leib ist sinnesoffen, d.h. über Sinne und mithilfe der Spiegelneuronen sind Kinder fähig zur Nachahmung. Doch alles, womit ein Kind über Sinneseindrücke in Resonanz geht, wirkt sich auch auf die Bildung des physischen Leibes aus. Wenn wir das wissen und ernst nehmen, werden wir beginnen uns in Bezug auf einzelne Kinder mit Unterstützungsbedarf zu fragen:


·       Klare Grenzen setzen und „leben". Das gibt Sicherheit und Orientierung. 
''Welche Eindrücke brauchst Du, dass sich Dein Leib mit Hilfe Deiner Geisteskräfte, die ich in ihrer Tätigkeit unterstützen will, so formen kann, wie es für die Erfüllung Deines Schicksals optimal ist? ''


...bis zum 14./15. Jahr
In diesen Bereich gehört auch der Schulbau, die Farbgebung, die Einrichtung und Gestaltung des Klassenzimmers, die Gartengestaltung, die Bekleidung, die Ernährung. Alles das sollte bei Bedarf auch mit Blick auf jedes einzelne Kind hinterfragt werden. Um die genannten Faktoren jedoch zum individuellen Wohle jedes Kindes einsetzen zu können, brauchen wir ein Team aus Schularzt, Förderpädagogen, Sprachtherapeuten, Spezialisten für Bewegung und Körperarbeit und Ernährungsexperten, wie es im Urkonzept der Waldorfschule vorgesehen ist – selbstverständlich ergänzt durch die Möglichkeiten, die wir heute haben.[1]


Jetzt wird vor allem wichtig, was Ausbildung und Entwicklung der rhythmischen Funktionen fördert: Das sind Empfindungen und Gefühle. Nie atmen wir tiefer durch, als wenn wir uns wohl fühlen, nie schlägt das Herz gesünder, als wenn sich die Kinder freuen oder mit Eifer tätig sind. Zwischen dem 9. und 15. Lebensjahr zielt die gesamte Pädagogik und Didaktik darauf hin, das prozessual-künstlerische, aber auch ästhetische Element in allen Unterrichtsfächern zu be­rücksichtigen. Was beim Geräteturnen im Sport exakter und vollendeter Bewegungsablauf ist, den es einzuüben gilt, das sind im Geschichtsunterricht Gespräche und Unterrichtsfragen, in denen Ereignisse von mehreren Seiten so betrachtet werden, dass sich für den Schüler ein sinn­volles Ganzes ergibt, eine Art ästhetischer Zustand, „durch den er mit sich und der Welt überein­zustimmen lernt." Im naturwissenschaftlichen Unterricht sind es insbesondere die Experimente: Der Schüler beobachtet exakt und dokumentiert die sich darin zeigenden Gesetzmäßigkeiten übersichtlich und „schön". Er lernt ihren Wirkradius verstehen und sie handhaben. Auch mathe­matische Gesetze haben ihre Schönheit, weil sie „stimmen" und konstituierend sind, nicht nur in Technik und Wissenschaft, sondern auch im Leben. So werden die Schüler vertraut gemacht mit den Eigentümlichkeiten und „Stimmigkeiten" der Welt und der menschlichen Kultur. Auch in diesen Lebensjahren empfiehlt sich noch Zurückhaltung im Bezug auf das digitale Zeitalter. Nur das sollte an Maschinen delegiert werden, was man im Prinzip auch selbst beherrscht und durch­schaut. Selber Kopfrechnen, Theaterspielen, Musizieren, Tanzen, Erlebnisfahrten und Entdeckungen machen, lernen, wie man „live" Beziehungen pflegt – das sollte jetzt im Vor­dergrund stehen. Was zu Hause oft schon viel zu früh als Konzessionen an die Multimedia-Industrie zugelassen wird, sollte in der Schule um so mehr dazu motivieren, Leben und Realität an die Stelle von Technik und Virtualität zu setzen. Manchmal hilft auch der einfache Gedanke, El­tern und Schüler für diesen „Verzicht auf Zeit" zu mobilisieren, dass die Erfinder der Computer in ihrer eigenen Kindheit ohne diese Spielmöglichkeiten aufgewachsen sind. Um Neues zu fin­den, braucht man Kreativität und nicht Konditionierung.
=== 2. Einflussnahme auf die ätherische Ebene über zeitlich-rhythmische Prozesse ===
Auf dieser Ebene kommt der altersentsprechende Lehrplan zum Tragen. Jeder Unterrichtsprozess verläuft in der Zeit, braucht Rhythmus und Wiederholung. Auch die Rücksichtnahme auf die Prozesse, die im Wechsel von Tag und Nacht sowie im Jahreslauf wirksam sind, gehört hier dazu. Im Folgenden ein paar Worte zu vier wichtigen menschlich-kosmischen Rhythmen.


''Zu empfehlen sind:''
==== - Der 24-Stunden-Rhythmus – Ich-Organisation ====
Ich-Organisation und Willen des Kindes werden gestärkt, wenn sie bewusst gepflegt werden durch


·       Gesprächskultur – das Kind, den Jugendlichen teilnehmen lassen an interessanten Gesprä­chen Erwachsener. Mit inneren Fragen leben: Wann war unser letztes Gespräch? Wann hatte ich Zeit, Interesse? Habe ich das Anerkennenswerte bemerkt, lobe ich genug oder bringe ich eher zum Ausdruck, was mich stört?
* ein '''Tagesritual''' mit jedem Kind in Form von individueller '''Begrüßung''' und An-Erkennung seines So-Seins
* den '''Morgenspruch'''
* '''individuelle Ermutigung''' und ggf. auch Aufgabenstellung, was für Hochbegabte ebenso wichtig ist wie für minderbegabte Schüler. (Die 0/8-15-Hausaufgaben sind unter diesem Aspekt ein konventioneller Gräuel)
* die Art der '''Verabschiedung'''
* '''Blickkultur''', die Art, wie und wann man ein Kind ansieht: Echter Blickkontakt bedeutet Ich-Erkraftung für das Kind, vermittelt ihm, dass es gesehen, angenommen, erkannt wird.


·       Moderne Führungsstrukturen sprechen gern von „Fehlerkultur". Wer aus seinen Fehlern lernt, entwickelt sich nachhaltig entsprechend auch ein Team zusammenarbeitender Men­schen. Wie gehe ich mit Fehlern und Fehlverhalten in der Schule um? Wie helfe ich aus Feh­lern zu lernen und diese nicht (nur) schlimm zu finden?
Im Einzelfall lässt sich noch vieles andere finden, was wir zur Befestigung der Ich-Organisation und des Willens täglich – also im 24-Stunden-Rhythmus tun können.  


·       Klare Führung in Grundsatzfragen im Tagesablauf unter Einbeziehung der Wünsche der Kinder. Verabredungen treffen und klar vereinbaren, wie sie überwacht werden.
==== - 7-Tage-Rhythmus – Ätherleib (reaktiv heilend) ====
Im Hinblick auf den 7-Tages-Rhythmus der Woche sei auf die Ergebnisse der Rhythmusforschung[2] verwiesen, die ihn als ''reaktiv heilend'' klassifiziert. Unter rhythmologischen Gesichtspunkten ist es angesichts der fünf Schultage eine schädliche „Un-Rhythmik“, in der Woche jeweils zwei Rhythmen zu pflegen: eins-zwei-drei-vier-fünf (Montag bis Freitag) und eins-zwei (Samstag und Sonntag). Das bedeutet: Mit der Fünf, der Zahl der Krise, bricht die Schulwoche ab. Der Prozess der 7-Tages-Rhytmik stagniert bezogen auf die von Steiner beschriebenen sieben Lebensprozesse im Prozess der „Erhaltung“. Zu „Wachstum“ und „Reproduktion“ kommt es nicht mehr. Stattdessen beginnt ein neuer Rhythmus am Wochenende, der anders ist und mit eins-zwei endet – wobei hier wiederum der entscheidende dritte Schritt fehlt.  


·       Künstlerische Betätigung, insbesondere Erlernen eines Musikinstrumentes.
Ich spreche daher bei allen passenden Gelegenheiten die Empfehlung aus, wenn es irgend geht, den Samstag wieder in das Schulleben miteinzubeziehen, z.B. in Form von klassenweise gut organisierter Zeit für Hausaufgaben in bestimmten Elternhäusern, möglichst zur selben Zeit wie der Vormittagsunterricht. Es wäre heilsam und stärkend, wenn die Schüler am Samstag einen in diesem Sinne gut begleiteten Vormittag erleben könnten, an dem sie in kleinen Gruppen ihr Hausaufgabenpaket der Woche abarbeiten. Sie wären dann an den normalen Schultagen von Hausaufgaben entlastet und hätten mehr Zeit für Bewegung, Hobbys, Kunst u.a.m.


·       Kontrollierter Multimediagebrauch und, wo immer möglich, das Aufarbeiten des Gesehe­nen und Erlebten im Gespräch.
==== - Monatsrhythmus – Ätherleib (regenerativ heilend) ====
Der 4-Wochen-Rhythmus ist der wichtigste ''regenerative Heilrhythmus''. Er dient der Stabilisierung und Befestigung des Ätherleibes. Eine Epoche ist kein Fach, sondern verfolgt eine bestimmte Idee. Das kann man anhand der Lehrplanvorträge[3] studieren am Beispiel der Gesundheitslehre: Gesundheitslehre wird in Verbindung mit den Wirtschafts- und Verkehrsverhältnissen behandelt, auch wenn Wirtschaft, Verkehr und Gesundheit äußerlich betrachtet unterschiedliche Fächer betreffen. Ihnen liegt aber dieselbe Idee zugrunde – die Idee, einen gesunden Ausgleich herzustellen: wo Mangel herrscht, auszugleichen, wo Fülle herrscht, abzutransportieren, also einen gesunden Waren-, Geld-, Verkehrs- und Blutkreislauf herzustellen.  


Epochen sollten bestimmte Ideen zugrunde liegen, die in Ruhe von verschiedenen Fächern her beleuchtet werden – in ''4-Wochen-Blocks'' und nicht in drei oder zwei Wochen, wie es momentan oft der Fall ist. Diese kurzen Epochen sind für den Ätherleib nur eine Notlösung, aber keine Stärkung. Wird eine Idee, z.B. die Idee der Gesundheit, von verschiedenen Fächern aus beleuchtet, entsteht ein reiches, interessantes Panorama des Lebens, zu dem die Schüler viel beisteuern, von dem sie viel profitieren können.


... bis zum 21./22. Jahr
==== - Jahresrhythmus – physischer Leib ====
Der Jahresrhythmus wird über die christlichen Jahresfeste, den Seelenkalender[4] und über Gedenktage gepflegt als Impuls, der zur Stabilisierung des physischen Leibes beiträgt. Bis ins späteste Alter sind die Feste etwas Wunderbares für die Sinne.  


Vom 13., 14., 15. Lebensjahr an bis zum 19., 20., 21. Lebensjahr erhebt sich die Frage, auf wel­che Weise mit pädagogischen Mitteln unterstützt werden kann, was jetzt physiologisch an Entwicklungsprozessen im Vordergrund steht: die Ausreifung des Skelettsystems bis zur Erwachsenengröße und die hormonelle Umstellung und Ausreifung des intermediären Stoffwechsels nach der Pubertät. Zunächst könnte man meinen, Stoffwechsel und Skelett brauchen primär körperliche Betätigung – das ist natürlich richtig, jedoch nicht genug. Vielmehr gibt es eine an­dere Fähigkeit, die kontinuierlich, sozusagen von innen her, den Menschen erwärmt, anregt, aber vor allem auch aufrichtet und erfüllt: Es sind die zielorientierten Ideen, Interessen, Ge­sichtspunkte und Motivationen, die befeuern, die begeistern. Man sieht es den Jugendlichen unmittelbar am Gang und Bewegungsspiel an, an der Körperhaltung und Mimik, ob sie Ge­danken hegen, durch die sie sich innerlich angeregt, motiviert, „aufgerichtet" fühlen oder ob sie Gedankenöde erleben und infolgedessen Lustlosigkeit und Desinteresse. Die Sprachweisheit bringt dies klar zum Ausdruck, wenn das Wort „Aufrichtigkeit" gerade diese doppelte Be­deutung hat: einmal „ehrlich, aufrichtig, wahrheitsorientiert" und zum anderen „körperlich aufgerichtet, gerade".
=== 3. Einflussnahme auf die astrale Ebene über Kohärenz ===
Astrale Kultur ist Beziehungskultur. ''Aaron Antonowsky'' brachte mit seinem Kohärenz- und Salutogenese-Konzept[5] zur Sprache, was auch Rudolf Steiner bereits deutlich betonte und in der Kinder-Sonntagshandlung wunderbar formulierte: „''Wir lernen um die Welt zu verstehen. Wir lernen, um in der Welt zu arbeiten. Die Liebe der Menschen zu einander belebt alle Menschenarbeit. Ohne die Liebe ist das Menschensein öde und leer. Christus ist der Lehrer der Menschliebe.“[6]''


In der Oberstufe kommt den Erziehungsmaximen von Nachahmung und Vorbild, von Stimmigkeit und Schönheit untergeordnete Bedeutung zu. Jetzt geht es um Gewissensbildung, Wahrhaftigkeit und Freiheit.  
Antonowskys Forschungen haben ergeben, dass es auf den Menschen gesundend wirkt, wenn er versteht, was geschieht (understandibility), einen Sinn bzw. eine persönliche Bedeutung darin sehen kann (meaningfullness) und diese Einsichten entsprechend handhabt (managebility). Er nennt diese Dreiheit den „sense of coherence“, ''den Kohärenzsinn''. 


''Wie muss ich unterrichten, damit der Jugendliche'' selber ''zu den Einsichten kommt, die in diesem Unterrichtsfach Sinn machen?''  
* ''„Wir lernen, um die Welt zu verstehen.“'': Wenn man etwas lernt, es jedoch nicht versteht, ist das kränkend; und wenn man etwas versteht, aber nicht sinnvoll finden bzw. bejahen kann, so wird es zu einer Belastung.
* ''„Wir lernen, um in der Welt zu arbeiten.“'': Antonowsky spricht von Handhabbarkeit, von der Fähigkeit, mit den Anforderungen konstruktiv umzugehen. ''„Yes, we can“'', war Obamas klug gewählter Slogan. Den Eindruck zu haben, dass man etwas bewältigen kann, macht gesund.
* ''„Die Liebe der Menschen zu einander belebt alle Menschenarbeit.“'': Das ist wohl das schwierigste: Die Liebe für die anderen aufzubringen, die alle Menschenarbeit belebt und Sinn schenkt.
* ''„Ohne die Liebe ist das Menschensein öde und leer.“'': Ein junger Mann, der sich zum Terroristen hat ausbilden lassen, sprach nach seinem Ausstieg aus der Gewaltszene von der Öde, Leere und Langeweile, von denen seine lieblose Welt durchdrungen war.


''Wie schafft man es, dass der Jugendliche nicht nacherzählt, was man selber vorgedacht hat, sondern dass man ihm Gesichts­punkte gibt, Bedingungen schildert, anhand derer er selbst die Lösung einer bestimmten Frage herausfinden kann?''
All diese Empfindungen sind in der Sonntags-Kinderhandlung gleich einem ''salutogenetischen Manifest'' formuliert und integriert. Daran wird auch deutlich, warum eine ethisch-religiöse Lebenshaltung für den Lehrer unabdingbar ist. Dazu gehören Werte wie Wahrhaftigkeit, Verstehen-Wollen, Liebe, Interesse, Handlungsbereitschaft, Sinnsuche, Respekt vor der Autonomie des anderen. Nur dann ist er wirklich in der Lage, den anderen Kollegen bzw. seine Schüler zu sehen, anzunehmen, einzubeziehen, zu motivieren, ihnen Raum zu geben – Faktoren, die die Grundlage pädagogischer Kultur- und Entwicklungsarbeit bilden.


'''''Zu empfehlen sind:'''''
Auf die nächsten beiden Ebenen kann der Lehrer nur indirekt – über die Arbeit an sich selbst – einwirken. Das ist eine sehr hohe Anforderung.


·       Fragekultur entwickeln, zum „selber Denken" anregen.
=== 4. Einflussnahme auf die Ich-Ebene über Entwicklung von Menschlichkeit   ===
Zur Stärkung von Ich-Organisation und Identitätsbildung sind vor allem die folgenden Übungen zu nennen, die Ich und Identität des Lehrers stärken helfen:


·       Freund und Begleiter sein, Interesse haben für das, was den Jugendlichen interessiert.
* die 6 Nebenübungen,
* die abendliche Rückschau,
* die Übung der inneren Ruhe,
* für die Kollegiumsarbeit insbesondere das Kapitel über die sieben Bedingungen für den inneren Weg.[7]


·       Wachsendes Freiheitsbewusstsein und Selbstständigkeit respektieren, eigene Erwartungen zurückstellen.
Das Ringen um die Einhaltung der sieben Bedingungen macht eine Entwicklung zur Freiheit in größtmöglichem Umfang erst denk- und realisierbar, weil sie die Lernbedingungen für einen Erwachsenen sind, der sich selbst und sein Umfeld menschlicher gestalten möchte.  


·       „Familienrat" halten. Verabredungen gemeinsam treffen, deren Erfolg/Misserfolg analysie­ren und das weitere Vorgehen beraten.
=== 5. Einflussnahme auf die Ebene der „quinta essentia“ ===
Allem voran brauchen und erwarten die Schüler, dass der Lehrer beherrscht oder zumindest daran arbeitet, was sie selber lernen wollen: authentische, selbständige, lebensfrohe Menschen zu werden. Ein Mensch, der weiß, warum das Leben auf der Erde Sinn macht, und dass Probleme dazu da sind, dass man daran lernt und sie löst.


·       Sich über das „ganz andere" freuen lernen, verstehen wollen, was den Jugendlichen bewegt.
In der positiven Psychotherapie unterscheidet man problemorientierte und ich-orientierte Menschen.


·       Vertrauen riskieren und signalisieren: Ich stehe zu dir – egal was kommt – und bin gespannt, wie dein Leben sich entwickeln wird.
* ''Ich-orientierte'' haben stets sich und ihr Wohl und Fortkommen im Auge und suchen meist bei anderen oder in den Verhältnissen des Lebens die Schuld für ihre Sorgen und Probleme. Sie befinden sich noch auf dem Weg der Selbstfindung und brauchen deshalb andere Formen der Unterstützung als Problemorientierte.
* ''Problemorientierte'' suchen Partner, die ihnen bei der Problemlösung helfen. Ihr Selbstbewusstsein ist gesund und stabil. Sie bemühen sich um Formen der Team- und Gemeinschaftsbildung, die zur Lösung der kleinen und großen Probleme von Mensch und Welt beitragen können.


Unterricht als Selbstfindungsprozess zu begreifen, Erziehung in allen Phasen als Selbsterzie­hung – darauf kommt es an, erst selber nachahmen, dann selber die Stimmigkeit erleben, wenn verschiedene Zusammenhänge und Verständnismöglichkeiten erläutert werden, und schließ­lich selber verstehen, herausfinden, was gefragt ist – das ist der Grundnerv einer entwicklungs­physiologisch basierten Erziehung. Denn so wie das Kind es selber ist, welches sich entwickelt, so sollte es auch stets das Erleben haben, dies oder das habe ich selbst beobachtet, selbst gese­hen, selbst gelernt. „Selbermachen" macht schon dem kleinen Kind weit mehr Freude, als alles Mögliche abgenommen zu bekommen, von demjenigen der es „besser" kann. Entwicklungsphysiologische Erziehung regt die Eigentätigkeit an, begreift den Erziehungsauftrag so, wie ihn Rudolf Steiner in seinem Baseler Lehrerkurs[1] charakterisiert:
Es geht bei der Ebene der Quinta Essentia keineswegs darum, den Schülern die eigene Weltanschauung und Lebenstechnik beizubringen, wohl aber den Schülern vorzuleben, wie gut es ist, eine Weltanschauung zu haben, die man sich selber erarbeitet hat. Die Waldorfschule ist keine Weltanschauungsschule, sondern eine Schule, in der möglichst jeder Schüler lernen kann, seine eigene Weltanschauung zu formen. Das gelingt besonders gut, wenn er Lehrer hat, die ihm diesbezüglich Vorbild und Ansporn sind.


„Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muss.“
''Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012''


Wer so zu sich kommt, ist dann auch im späteren Leben innerlich aktiv genug, um sich nicht zu langweilen. Er kann Technik sinnvoll nutzen, ohne dadurch bequem und unproduktiv-unzufrieden zu werden. Er ist weitgehend geschützt vor dem Abhängig-Werden von Drogen u.a. Er hat die Chance, selbstbestimmt zu leben.
----[1] Michaela Glöckler, ''Erziehung als therapeutische Aufgabe''. In: Peter Loebell (Hrsg.), ''Waldorf-Schule heute.'' 1. Aufl. der Neuausgabe. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2011.
 
[2] Gunther Hildebrandt, ''Chronobiologische Aspekte des Kinder- und Jugendalters''. Bildung und Erziehung 47:452-456 1994.
 
[3] Rudolf Steiner, ''Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge.'' GA 295. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1984.
 
[4] U.a. in: Rudolf Steiner, ''Wahrspruchworte,'' GA 40.
 
[5] Aaron Antonovsky, ''Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit.'' Deutsche Herausgabe von Alexa Franke. dgvt-Verlag, Tübingen 1997.
 
[6] In: Rudolf Steiner, ''Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts.'' GA 269.
 
[7] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?'' GA 10; siehe auch: ''Geheimwissenschaft im Umriss''. Kap. „Die Erkenntnis der höheren Welten“ (von der Einweihung oder Initiation). GA 13. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989.
 
== LEHRERTUGENDEN UND PROFESSIONALITÄT ==
''Inwiefern haben die Lehrertugenden mit Professionalität zu tun?''
 
''Sind sie persönliche Angelegenheit des Lehrers oder Sache des Kollegiums?''
 
=== ''Bedeutsame Lehrertugenden'' ===
Rudolf Steiner war auch in Bezug auf die Umsetzbarkeit von Idealen (hier: der Waldorfpädagogik) Realist und sagte deshalb, der Lehrer solle seinen „maroden Alltagsmenschen“ mit dem Mantel vor der Klassenzimmertüre am Kleiderhaken ablegen, um wenigstens den Unterricht und den Umgang mit den Schülern als unvoreingenommener, heiterer Mensch zu gestalten. Eine heitere, frische Seelenstimmung sei ''die'' professionelle Grundausstattung eines Waldorflehrers. Die Lehrertugenden sollen helfen, die Wesensglieder unter die Kontrolle des Ich zu bringen. Es sei Sache des Lehrerkollegiums, einander diese professionellen Lehrertugenden unablässig nahezubringen.
 
Diese sind deshalb so bedeutsam, weil sie genau das betreffen, was auch die Schüler lernen sollen: sich körperlich, seelisch und geistig zu beherrschen. Optimalerweise gehen Kinder zur Schule, damit
 
* ihr '''Körper''' ''Instrument des Seelischen''
* und die '''Seele''' ''Wohnort des Geistes'' werden kann.
 
Einen anderen Sinn kann Schule aus menschenkundlich-geistes­wissen­schaftlicher Sicht nicht haben.
 
Wenn ein Lehrer von diesen Zusammenhängen nichts versteht und ständig gegen diese eigentliche Intention von Schule verstößt, ist er kein Profi und fehl am Platz in einer Waldorfschule. Obwohl jeder nur selbst an diesen Tugenden arbeiten kann und keiner sie vom anderen einfordern darf, sollte die Konferenz ein Ort sein, an dem auch darüber gesprochen wird und sie gemeinsam gepflegt werden.
 
=== ''Selbstschulung als Voraussetzung für Verständnis'' ===
Rudolf Steiner und Ita Wegmann zitieren im Grundlagenwerk für Mediziner, ''„Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“[1],'' im 1. Kapitel zwei Bücher: ''„Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?“'''[2]''''' und die ''„Geheimwissenschaft im Umriss“''[3]. Diese beiden Werke, die von Entwicklung durch Selbstschulung handeln, sind ein Muss für jeden Arzt und jeden Lehrer. Denn Selbstschulung ist die entscheidende Voraussetzung für erfolgreiche Fremdschulung:
 
* Wer nicht für sich selbst zum Lehrer wird, kann auch Schüler nicht vernünftig lehren.
* Wer sich selbst nicht führt, kann auch andere nicht führen.
 
Diese Kongruenz zu entwickeln gehört zur pädagogischen Professionalität. Dann führen das Studium der Anthroposophie und die bewusste Arbeit an der eigenen inneren Entwicklung zu tiefer Lebenseinsicht. Man erkennt die Selbstschulung als Notwendigkeit, weil man nur so auch die Entwicklung eines Schülers oder eines Kollegen richtig einschätzen kann. Wer sich selbst nicht weiterentwickelt hat, kann den Entwicklungsbedarf eines anderen nicht wahrnehmen. Dann kann man nur den eigenen Bildungsgrad, den eigenen Entwicklungsstand projizieren und mehr oder weniger bewusst mit dem umgehen, was ihm ähnlich ist.
 
So gesehen wäre es sinnvoll, eines oder beide der genannten Bücher drei Jahre lang im Rahmen der Lehrerkonferenz gemeinsam mit den Kollegen durchzuarbeiten. Denn in dem Moment, in dem man sich als Lehrer bewusst zu entwickeln beginnt, wird man merken, dass alleine schon
 
* das '''Denken dieser Entwicklungsmöglichkeiten'''
* sowie das '''Empfinden, dass das alles möglich ist''', was man wirklich will,
 
eine Art Hellsichtigkeit für den Entwicklungsbedarf der Schüler und der Menschen im Umkreis hervorrufen. Man unterrichtet dann respektvoller, demütiger, bewusster, sensibler – mit einem intimeren Verständnis für die jeweiligen Lebenssituationen und Verhaltensweisen der Schüler.
 
''Vgl. „Hilfen im Umgang mit Angst im Schulalter''“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013
 
----[1] Rudolf Steiner; Ita Wegman, ''Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen,'' GA 27.
 
[2] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?,'' GA 10.
 
[3] Rudolf Steiner, ''Geheimwissenschaft im Umriss,'' GA 13.
 
== KRITERIEN EINER PÄDAGOGISCHEN ETHIK ==
''Welche Kriterien umfasst eine pädagogische Ethik?''
 
''Welche Fragen haben Schüler an ihre Lehrer?''
 
=== ''Neue Ethik im Kampf um Menschlichkeit'' ===
Ethik fragt nach dem Guten, nach der richtigen Handlung. Das 20. Jahrhundert hat die Quellen des Bösen in einer nie da gewesenen Weise offengelegt. Weltkriege als Macht- und Wirtschaftskämpfe, rechts- und linksradikaler Fundamentalismus, kollektiver Sozialismus, totalitäre Regimes, Militär- und Polizeidiktaturen, Völkermord und abgrundtiefer Hass haben das Schicksal ungezählter Millionen Menschen geprägt und prägen es weiterhin.
 
Gut und Böse können einerseits von außen auf uns wirken, aber auch mehr oder weniger bewusst aus dem eigenen Inneren aufsteigen und so wirksam werden. So können wir fassungslos vor Beispielen von Korruption und Verlogenheit stehen, wie sie täglich durch die Medien präsentiert werden, aber gleichzeitig die Tendenzen ein und desselben Verhaltens in uns selber nicht bemerken, weil eine Gefälligkeitslüge oder eine auf eine Gegengabe abzielende „gute Tat“ uns eher selbstverständlich und harmlos erscheinen.
 
Eine neue Ethik ist gefragt – sie muss da ansetzen, wo der Kampf um die Menschlichkeit heute stattfindet: in jedem Einzelnen. Die Zeiten sind vorbei, in denen Entscheidungen von den Großen und Mächtigen für ein unmündiges Volk getroffen wurden. In den modernen Demokratien kommt es auf die vielen Einzelnen an, die letztlich entscheiden, wer an die Macht kommt und welche Produkte konsumiert werden. Dies ernst zu nehmen, ist der Anfang der neuen Ethik. So wie terroristische Einzelaktionen und Gewaltanwendungen jede Gesellschaft destabilisieren und chaotische Zustände herbeiführen können, so können fundamentali-stische Parolen, Gruppenmeinungen und Ausgrenzungen in jedem einzelnen Menschen neutralisiert und gestoppt werden.
 
=== ''Fragen der Schüler an ihren Lehrer'' ===
Genau diese Fähigkeit wollen die Schüler an ihrem Lehrer erleben. Sie sitzen oder stehen ihm mit der nonverbalen Frage gegenüber:
 
''Wer bist Du?''
 
''Wie meisterst Du das Leben?''
 
''Wie siehst Du die Welt?''
 
''Aus welchen Erfahrungen kannst Du sprechen?''
 
''Kannst Du mir helfen, ich selber zu werden?''
 
Folgt man Rudolf Steiners Ausführungen über die Entwicklungsfähigkeit des Menschen, so stimmt es optimistisch, wenn man in seinem Schulungsbuch „''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“'' liest: „''Es schlummern in '''jedem''' Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann.“[1]''
 
''Jeder'' kann lernen, menschlicher zu werden, wenn er die göttlich-geistigen Daseinsbereiche in sich selber bewusst macht, „erweckt“. Denn Entwicklung bedeutet, dass ein Späteres aus einem Früheren hervorgeht, dass man sich verwandelt, über sich, d.h. über das Bestehende hinauswächst.
 
=== ''Das Leben als Einweihungsweg verstehen'' ===
Es gehört zu den ganz besonderen Begleiterscheinungen des von Steiner skizzierten Entwicklungsweges, dass er das Leben selber als Einweihungsweg beschreibt. Deutlich arbeitet er heraus, dass die Aneignung von Wissen oder meditative Übungen nur dann segensreich sind, wenn man die Ergebnisse dieser Arbeit nicht als Selbstzweck betrachtet, sondern für das tägliche Leben fruchtbar macht. Selbstentwicklung, so verstanden, bedeutet, lebenserfahren zu werden, das heißt, das Leben in all seinen Höhen und Tiefen zu entdecken und zu verstehen. Denn: Wie will man Charaktereigenschaften lernen wie Verehrung, innere Ruhe, Mut und Zuversicht, Hoffnung, Treue, Andacht, Liebe und Wahrhaftigkeit bis hin zur Autonomie – die auch die Autonomie anderer bejahen kann –, wenn diese Eigenschaften nicht so gelernt werden, dass sie auch im Alltag Bestand haben, ja geradezu deutlich wird, dass das Leben selbst der allerbeste Lehrmeister dieser Eigenschaften ist.
 
Das bedeutet aber auch, dass es keinen „geistlosen“ Unterricht geben kann. Man steht als Pädagoge vor der Herausforderung, Unterrichtsstoff, Methodik und Didaktik der körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklung dienstbar zu machen. Um das leisten zu können, braucht es einen Weg der Selbstentwicklung, der dies ermöglicht und fördert.
 
Als wegweisende Kriterien auf diesem Weg hat Rudolf Steiner sieben Charaktereigenschaften bzw. Lebenshaltungen beschrieben. Wer daran arbeitet wird bald bemerken, wie er dadurch inneren Halt und klare Lebensorientierung gewinnt. Steiner nennt diese Lebenshaltungen „die sieben Bedingungen“ für den inneren Weg und bemerkt dazu: ''Ganz erfüllen kann die Bedingungen niemand; aber sich auf den Weg zu ihrer Erfüllung begeben kann jeder. Nur auf den Willen, auf die Gesinnung, sich auf diesen Weg zu begeben, kommt es an.'''[2]'''''
 
Ich werde sie im nächsten Beitrag mit direktem Bezug zum Lehrerberuf näher ausführen.
 
''Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärzte-tagung 2013''
----[1] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten'', GA 10. Dornach 1993, S. 16. (Ausgabe 1992, die auch der Online-GA zugrunde liegt).
 
[2] Ebenda, S. 103.
 
== DIE SIEBEN BEDINGUNGEN FÜR DEN WEG DER SELBSTENTWICKLUNG ==
''Was gilt es auf dem Weg der Selbstentwicklung als Lehrer zu beachten?''
 
''Wie lauten die von Rudolf Steiner genannten Bedingungen für den inneren Weg?''
 
''Welche Eigenschaften bringen sie hervor?''
 
=== ''Die sieben Bedingungen'' ===
Rudolf Steiner nannte sieben Charaktereigenschaften bzw. Lebenshaltungen als Wegweiser auf dem inneren Weg. Wer daran arbeitet, wird bald bemerken, wie er dadurch inneren Halt und klare Lebensorientierung gewinnt. Steiner nennt diese Lebenshaltungen ''„die sieben Bedingungen“'' für den inneren Weg und bemerkt dazu: ''Ganz erfüllen kann die Bedingungen niemand; aber sich auf den Weg zu ihrer Erfüllung begeben kann jeder. Nur auf den Willen, auf die Gesinnung, sich auf diesen Weg zu begeben, kommt es an.'''[1]'''''
 
==== 1. Bedingung – Förderung körperlich-geistiger Gesundheit ====
''„Man richte sein Augenmerk darauf, die körperliche und geistige Gesundheit zu fördern. Wie gesund ein Mensch ist, das hängt zunächst natürlich nicht von ihm ab. Danach trachten, sich nach dieser Richtung zu fördern, das kann jeder.“'''[2]'''''
 
Man könnte nun meinen, hier sei eine Anleitung zum Gesundheitsegoismus gegeben. Im Folgenden wird jedoch geschildert, wie wir das richtige Verhältnis zum Genuss – wie auch zur Pflicht – finden können. Körper und Seele sind in die tägliche Arbeit eingespannt und es kommt vor, dass man der Pflicht zuliebe auf seine Gesundheit zu achten vergisst. Man verzichtet vielleicht auf eine Mahlzeit oder man muss eine Nacht halb oder ganz durcharbeiten, damit es weitergehen kann. Das heißt, die Arbeit veranlasst uns oft dazu, unsere Gesundheit zu vernachlässigen.
 
Was in diesen Fällen kränkend wirken kann, soll nun ausgeglichen werden durch das richtige Verhältnis zum Genuss. Wir können lernen, intensiv zu genießen, aber so, dass dieser Genuss uns die Kraft gibt, die Arbeit besser und zufriedener zu tun. Es geht darum, zu lernen, nie den Genuss als Selbstzweck aufzusuchen – der dann Kraft kostet –, sondern so genießen zu lernen, dass wir daraus Kraft und neue Motivation für das Leben und die Entwicklung schöpfen. Für Menschen, die nicht genießen können, ist es besonders wichtig, sich klarzumachen, dass der Genuss eine Grundbedingung für die Erhaltung der Gesundheit ist, die Seele und Leib brauchen. Das Problem ist nur, darin bewusst bleiben zu können und im richtigen Augenblick auch wieder aufzuhören, frei nach dem Motto: ''„Mit dem Essen aufhören, wenn es am besten schmeckt.“'' Genießen wir über den Höhepunkt hinaus oder mit Hilfe von gesundheitsschädigenden Drogen oder Genussmitteln, so kostet uns das mehr Kraft, als es spendet.
 
==== 2. Bedingung – sich als ein Glied des ganzen Lebens fühlen ====
''„In der Erfüllung dieser Bedingung ist viel eingeschlossen. Aber ein jeder kann sie nur auf seine eigene Art erfüllen. Bin ich Erzieher und mein Zögling entspricht nicht dem, was ich wünsche, so soll ich mein Gefühl zunächst nicht gegen den Zögling richten, sondern gegen mich selbst. Ich soll mich so weit als eins mit meinem Zögling fühlen, dass ich mich frage: ‚Ist das, was beim Zögling nicht genügt, nicht die Folge meiner eigenen Tat?‘ Statt mein Gefühl gegen ihn zu richten, werde ich dann vielmehr darüber nachdenken, wie ich mich selbst verhalten soll, damit in Zukunft der Zögling meinen Forderungen besser entsprechen könne. Aus solcher Gesinnungsart heraus ändert sich allmählich die ganze Denkungsart des Menschen. Das gilt für das Kleinste wie für das Größte. Ich sehe aus solcher Gesinnung heraus zum Beispiel einen Verbrecher anders an als ohne dieselbe. Ich halte zurück mit meinem Urteile und sage mir: ‚Ich bin nur ein Mensch wie dieser. Die Erziehung, die durch die Verhältnisse mir geworden ist, hat mich vielleicht allein vor seinem Schicksale bewahrt.‘ Ich komme dann wohl auch zu dem Gedanken, dass dieser Menschenbruder ein anderer geworden wäre, wenn die Lehrer, die ihre Mühe auf mich verwendet haben, sie hätten ihm angedeihen lassen. Ich werde bedenken, dass mir etwas zuteilgeworden ist, was ihm entzogen war, dass ich mein Gutes gerade dem Umstand verdanke, dass es ihm entzogen worden ist. Und dann wird mir die Vorstellung auch nicht mehr ferne liegen, dass ich nur ein Glied in der ganzen Menschheit bin und mitverantwortlich für alles, was geschieht.“[3]''
 
Wer diese Bedingung übt, wird bemerken, in wie hohem Maße er durch sein Verhalten auf andere Macht ausübt. Wir alle tun es, oft ohne uns dessen bewusst zu sein. Diese Bedingung will den Blick dafür schärfen. Wenn mich z.B. jemand ärgert und ich auf derselben Ebene reagiere, so kann die Situation leicht eskalieren oder eine anhaltende Missstimmung die Folge sein. Rudolf Steiner bringt oben das Beispiel von einem frechen Schüler, der seinen Lehrer ärgert. Anstatt sich zu einer entsprechenden Gegenreaktion hinreißen zu lassen, kann der Lehrer sich jetzt fragen:
 
''Wie muss ich mich verhalten, damit sich dieser Schüler von seiner besten Seite zeigen kann?''
 
''Was muss in ihm vorgegangen sein, was hat er vielleicht zu Hause erlebt, dass seine Hemmschwelle so niedrig war, mir diese ganzen Unverschämtheiten so unverblümt zu sagen?''
 
Meist spricht ein Mensch über seine Vorwürfe von sich selbst, er projiziert seinen Doppelgänger in den anderen. Daher sollte man Vorhaltungen und Urteile nie persönlich nehmen, auch wenn sie einen persönlich betreffen und treffen. Man kann das zunächst einfach stehenlassen und sich fragen:
 
''Warum sucht der Schüler das Doppelgänger-Erlebnis gerade mit mir?''
 
''Warum ist er ausgerechnet '''zu mir''' so frech?''
 
''Was hat es mit mir zu tun als anderem „Ende der Fahnenstange“?''
 
''Was kann ich zu seiner Selbsterkenntnis beitragen, ohne dass die Beziehung negativ eskaliert oder ich selbst in meiner Würde verletzt bin?''
 
Selbst wenn man diese Fragen nicht sogleich beantworten kann, bedeutet schon die Tatsache, dass man sie ehrlich stellt und den anderen nicht „richtet“ und verurteilt oder Gleiches mit Gleichem vergilt, einen wichtigen Schritt. Bei solchem Bemühen kommt es nicht selten vor, dass der andere sich nach einer gewissen Zeit in seinem Verhalten ändert oder sogar nach ein paar Tagen kommt und sich entschuldigt.
 
Das Leben als das zu nehmen, was es ist, stellt eine tolle Übung dar: Leben ist so gesehen eine doppelspurige Straße, auf der ich ständig empfange und gebe. Die anderen tragen bei zu meiner Selbsterkenntnis und zur Beziehungsgestaltung. Das zu erkennen, führt zu einer gewissen Lebenszufriedenheit, stabilisiert enorm und entängstigt zugleich.
 
==== ''„Man nehme den anderen, wie er ist…“'' ====
Ich verliere die Angst vor dem anderen, wenn er von mir aus so sein darf, wie er ist. Stellt euch das mal konkret vor: Wer schimpft, darf schimpfen, wer aggressiv ist, darf aggressiv sein, wer nicht grüßt, grüßt nicht – das alles dürfen die Menschen um uns herum! Und ich kann mich ganz souverän fragen, wie ich damit umgehen, was ich daraus machen möchte. Wenn jemand so mit anderen umgeht, dass sie so sein dürfen, wie sie sind, wirkt das magisch auf den Betreffenden zurück. Steiner sagt als soziales „Rezept“: ''„Man nehme jeden Menschen, wie er ist, und versuche, daraus das Allerbeste zu machen.“'''[4]'''''
 
Als ich das zum ersten Mal las, merkte ich, dass es sich bei mir meist umgekehrt verhält: Ich nehme '''mich''' so, wie ich bin, und mache an den anderen rum, wünsche mir die anderen anders als sie sind: Ich gebe ihnen ungefragt gute Ratschläge, kritisiere, habe gute Ideen, was sie alles besser machen könnten…
 
Es geht nun darum, das umzudrehen – das ist doch total spannend! Der andere darf so sein, wie er ist und ich versuche mich zu ändern, dass er besser mit mir zurechtkommt. Er hat vielleicht einen Grund und ich kann etwas von ihm lernen!
 
==== 3. Bedingung – Wirkung von Gefühlen und Gedanken erkennen ====
Sie besagt, „''(…) dass Gedanken und Gefühle ebenso Bedeutung für die Welt haben wie unsere Handlungen. Es muss erkannt werden, dass es ebenso verderblich ist, wenn ich meinen Mitmenschen hasse, wie wenn ich ihn schlage. Dann komme ich auch zu der Erkenntnis, dass ich nicht nur für mich etwas tue, wenn ich mich selbst vervollkommne, sondern auch für die Welt. Aus meinen reinen Gefühlen und Gedanken zieht die Welt ebensolchen Nutzen wie aus meinem Wohlverhalten.“'''[5]'''''
 
Wie wirksam gute Gedanken und Gefühle im Hinblick auf andere Menschen sein können, weiß jeder, der Menschen in seinem Umkreis hat, an die er mit Liebe, Achtung und Wertschätzung denkt. Kinder, denen mit liebevollem Respekt begegnet wird, wachsen in einer solchen Atmosphäre wie in einem moralischen Schutzwall auf, der sie alltäglichen Ärger, beängstigende Erlebnisse oder Streit mit Kameraden mit einer anderen inneren Sicherheit verkraften lässt, als es ohne einen solchen Schutz möglich wäre. Sich klar zu machen, dass gute Gedanken Keimkräfte möglicher guter Taten sind, dass positive Gefühle lebensfördernd sind, ist die Aufgabe.
 
Auf die Frage einer Besucherin im russisch-orthodoxen Kloster Sagorsk, wo sich die Mönche rund um die Uhr in einem Gebet für den Frieden in der Welt ablösen: ''„Denken Sie, dass das hilft? Es gibt doch so viel Kriegszustände auf der Erde –“'', wurde ihr geantwortet: ''„Wissen Sie wie es auf Erden zugehen würde, wenn wir hier nicht beten?“'' Es ist unsere Aufgabe, mit dem Bewusstsein leben zu lernen, dass man für die Qualität der eigenen Gedanken und Gefühle ebenso Verantwortung trägt wie für das eigene Handeln. Dadurch prägen sich Stimmung und Klima, die „Aura“ einer Situation.
 
==== 4. Bedingung – Wesenheit des Menschen im Inneren suchen ====
Hier geht es um die „''(…) Ansicht, dass des Menschen eigentliche Wesenheit nicht im Äußerlichen, sondern im Inneren liegt. (…) Wer zu solchen Gefühlen vordringt, der ist dann geeignet zu unterscheiden zwischen innerer Verpflichtung und dem äußeren Erfolg. Er lernt erkennen, dass das Eine nicht unmittelbar an dem Anderen gemessen werden kann. Es gilt die rechte Mitte zu finden zwischen dem, was die äußeren Bedingungen vorschreiben, und dem, was er als das Richtige für sein Verhalten erkennt. Er soll nicht seiner Umgebung etwas aufdrängen, wofür diese kein Verständnis haben kann; aber er soll auch ganz frei sein von der Sucht, nur das zu tun, was von dieser Umgebung anerkannt werden kann. Die Anerkennung für seine Wahrheiten muss er einzig und allein in der Stimme seiner ehrlichen, nach Erkenntnis ringenden Seele suchen. Aber lernen soll er von seiner Umgebung, soviel er nur irgend kann, um herauszufinden, was ihr frommt und nützlich ist. So wird er in sich selbst das entwickeln, was man (…) die „geistige Waage“ nennt. Auf einer ihrer Waageschalen liegt ein „offenes Herz“ für die Bedürfnisse der Außenwelt, auf der anderen „innere Festigkeit und unerschütterliche Ausdauer.“[6]''
 
Die Erfüllung dieser Bedingung ist zugleich auch ein Gradmesser für das Maß an Autonomie und innerer Unabhängigkeit, was schon errungen ist. Den Lehrer als unbestechlich und im Urteil eigenständig zu erleben, wirkt motivierend auf den Schüler, „auch so“ zu werden. Letztlich beruht darauf auch die Drogenprävention: Abhängigkeit entsteht durch die Unfähigkeit, zu sich selber zu stehen. Man sucht nicht die Selbsterfahrung, das Erlebnis, auf dem Weg persönlicher Anstrengung und Arbeit, sondern mit Hilfe von Stimulanzien und Drogen. Man macht sich nicht von ''sich'' abhängig, sondern von Stoffen, Kräften oder von Menschen und Dingen. Mit Hilfe der vierten Bedingung lernt man, sich diesen Tatbestand bewusst zu machen und zu verstehen, warum in einer so auf Äußerlichkeit und Konditionierung ausgerichteten Kultur das Phänomen ‘Abhängigkeit und Integritätsverlust’ zum Problem Nummer 1 werden kann. Denn letztlich ist nur ''eine'' geistige und emotionale Abhängigkeit „gesund“: die von sich selbst.
 
==== 5. Bedingung – gefasste Entschlüsse befolgen ====
''„(…) die Standhaftigkeit in der Befolgung eines einmal gefassten Entschlusses. Nichts darf einen dazu bringen, von einem gefassten Entschluss abzukommen, als die Einsicht, dass man im Irrtum befangen ist. Jeder Entschluss ist eine Kraft, und wenn diese Kraft auch nicht einen unmittelbaren Erfolg da hat, wohin sie zunächst gewandt ist, sie wirkt in ihrer Weise. Der Erfolg ist nur entscheidend, wenn man eine Handlung aus Begierde vollbringt. Aber alle Handlungen, die aus Begierde vollbracht werden, sind wertlos gegenüber der höheren Welt. Hier entscheidet allein die Liebe zu einer Handlung.“[7]''
 
Arbeit zu leisten aus dem ''inneren'' Beweggrund der Liebe zur Sache oder zu Menschen und nicht aus der Begierde nach Geld, Anerkennung oder Erfolg – das ist heutzutage wie eine Botschaft von einem anderen Planeten. Dennoch kann nur eine solche Arbeitsmoral den Charakterzug der Standhaftigkeit ausbilden. Geschieht die Arbeit aus anderen Beweggründen, so begibt sich das Ich in Abhängigkeiten, die seine Standfestigkeit untergraben und es manipulierbar und bestechlich machen.
 
Ein Entschluss birgt die Kraft der Verwirklichung. Daher ist es eine Frage der Standhaftigkeit, der Unbeirrbarkeit, der Liebe zur Sache, ob die Ausführung gelingt. Andererseits braucht es Kraft, die Kraft selbstloser Liebe, um sich einen Irrtum einzugestehen oder eine Enttäuschung gesund zu verkraften. Auch dieses fördert die Standfestigkeit im Leben und verhindert das „Zusammenbrechen“ oder „Einknicken“, wenn Rückschläge oder Enttäuschungen kommen, die jeder Lebenslauf mit sich bringt. Wenn Schüler Lehrern begegnen, die um solche Standhaftigkeit ringen, wird ihnen die Schule zu einem zweiten Zuhause. Sie gewinnen Maßstäbe des „Leben Lernens“ und fühlen sich mit ihren eigenen Unsicherheiten, Idealen und Enttäuschungen verstanden und „angenommen“.
 
==== 6. Bedingung – Dankbarkeit für alles entwickeln ====
Hier geht es um „''(…) die Entwicklung des Gefühles der Dankbarkeit gegenüber allem, was dem Menschen zukommt. Man muss wissen, dass das eigene Dasein ein Geschenk des ganzen Weltalls ist. Was ist alles notwendig, damit jeder von uns sein Dasein empfangen und fristen kann! Was verdanken wir der Natur und anderen Menschen! (…) Wer sich solchen Gedanken nicht hingeben kann, der vermag nicht in sich jene All-Liebe zu entwickeln, die notwendig ist, um zu höherer Erkenntnis zu kommen. Etwas, das ich nicht liebe, kann sich mir nicht offenbaren. Und eine jede Offenbarung muss mich mit Dank erfüllen, denn ich werde durch sie reicher.“[8]''
 
Gerade in der Schule ist es so notwendig, aufmerksam zu werden für die Tatsache, dass das Schicksal, die vielen kleinen und großen Begebenheiten im Leben, letztlich immer lebensfreundlich sind und Anlass geben zu lernen, etwas Positives daraus zu machen, die Entwicklung zu fördern. Schüler erleben ihren Lehrer als Lebenskünstler, wenn er an dieser 6. Bedingung arbeitet. Dankbarkeit ist ''die'' seelische Atemluft zwischen Menschen. Man fühlt sich frei und leicht in einer von Dankbarkeit geprägten seelischen Atmosphäre. Die Stimmung der Dankbarkeit schließt zusammen, bewirkt Offenheit und Vertrauen. Rudolf Steiner beschreibt das Gefühl der Dankbarkeit auch als die Brücke zu den Verstorbenen. Ist doch die Dankbarkeit dasjenige, was man aus allen Erfahrungen im Irdischen, die an Raum und Zeit gebunden sind, als das Unvergängliche herausarbeiten kann. In der Dankbarkeit findet jede noch so schwierige, schöne oder auch von Sehnsucht schmerzhaft geprägte Erfahrung ihre Beruhigung und Dauer im eigenen Wesen.
 
==== 7. Bedingung – die Bedingungen als Gesamtheit im Bewusstsein behalten ====
''„Alle die genannten Bedingungen müssen sich in einer siebenten vereinigen: das Leben unablässig in dem Sinne aufzufassen, wie es die Bedingungen fordern.“[9]''
 
Dadurch bekommt die eigene Lebensgestaltung ein einheitliches Gepräge, eine gewisse Integrität und Geschlossenheit. Als Folge dieser Bemühungen wächst die Fähigkeit der inneren Ruhe. Der ruhende Pol in der Klasse zu sein, ist nun aber ''die'' Voraussetzung für eine konstruktive und erfreuliche Berufspraxis. Wer das Leben im Sinne dieser Bedingungen auffassen lernt, macht dieses sein Leben selber ''zu der großen Schule'', in die er geht und dessen Lehrer der Herr der Schöpfung ist. Zu entdecken, dass die Evolution von Mensch, Erde und Weltall zusammenhängen, aufeinander abgestimmt sind, ''für'' einander und ''durch'' einander da sind, kann zur überkonfessionellen, interreligiösen Gotteserfahrung werden, zur Begegnung mit dem schöpferischen Logos in uns, um uns. Lehrplan, Methodik und Didaktik in der Schule in diesem Sinne aufzufassen und zu handhaben ist Auftrag und Engagement der Waldorfpädagogik.
 
=== ''Erwerb von positiven Eigenschaften'' ===
Die aus der Arbeit an den sieben Bedingungen folgenden Charaktereigenschaften bzw. „spirituellen Haltungen“ sind:
 
* ''Gesunde Lebensgestaltung''
* ''Integrationsfähigkeit''
* ''Realitätssinn''
* ''Innere Selbständigkeit und Unabhängigkeit''
* ''Geduld''
* ''Schicksalsvertrauen („All-Liebe“)''
* ''Innere Ruhe''
 
Auf der Basis einer solchen inneren Arbeit wird Pädagogik, wird der Beruf des Lehrers selbst zum Prototyp des menschlichen Entwicklungsweges. Wir sind als Menschen zwar unvollkommen und lernbedürftig. Dieses aber macht unsere Entwicklungsfähigkeit aus, deren Besonderheit die ''Selbst''entwicklung ist. Menschlichkeit lässt sich nur lernen, wenn man bereit ist, sie zu denken, zu empfinden, zu üben und immer wieder neu zu wollen. Erzwingen lässt sie sich nicht, auch nicht von außen, „per Natur“ erzeugen. Sie ist das Ergebnis eigener seelischer und geistiger Arbeit und kommt stets von innen, „von Herzen“.
 
''Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013''
 
----[1] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten'', GA 10. Dornach 1993, S. 103. (Ausgabe 1992, die auch der Online-GA zugrunde liegt.
 
[2] Ebenda.
 
[3] Ebenda, S. 105.
 
[4] Rudolf Steiner, ''Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden?'' Vortrag vom 10.10.1916 in Zürich. In: ''Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten,'' GA 168.
 
[5] Ebenda, S. 107.
 
[6] Ebenda, S. 108.
 
[7] Ebenda, S. 109.
 
[8] Ebenda, S. 109f.
 
[9] Ebenda, S. 110.
 
== EMIL MOLT UND DIE WALDORFSCHULE ==
''Wie kam es zur Gründung der Waldorfschule?''
 
''Was war der eigentliche Impuls für die Schulgründung?''
 
=== ''Rudolf Steiners Wirken zum Thema Pädagogik'' ===
Rudolf Steiner sprach vom Anfang seines Wirkens an immer wieder über Erziehung und ihre Bedeutung für den einzelnen und die Gesellschaft. Auch schrieb er ein Entwicklungs- und Schulungsbuch, ''„Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?",[1]'' dessen Inhalt er ab 1903 zunächst in Zeitschriftenartikeln publizierte.[2] 1907 folgte der Aufsatz ''„Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft".[3]''
 
Wie viele Lehrer davon Kenntnis hatten und ihn gelesen haben, wissen wir nicht – nur dies, dass keiner von ihnen Rudolf Steiner fragte, wie eine Schule kind- und entwicklungsgerecht eingerichtet werden könnte. Es war ähnlich wie bei der Begründung der Anthroposophischen Medizin, wo erst 1920 ein Chemiker, ''Oskar Schmiedel'', die entscheidende Frage stellte, ob er denn auch bereit wäre, vor Ärzten über therapeutische Ansätze aus der Anthroposophie zu sprechen.
 
=== ''Den Arbeitern und ihren Kindern zuliebe'' ===
Der erste Impuls in Richtung Schule kam vom Stuttgarter Fabrikbesitzer ''Emil Molt'', der wollte, dass seine Arbeiter nicht nur Zigaretten herstellen, sondern – gleich den Arbeitern am Goetheanum – auch Vorträge anhören und Gespräche über Kultur und Lebensfragen führen können. Daraufhin begann der Philologe und spätere Waldorflehrer ''Herbert Hahn'' in der Arbeitszeit Werkstunden über verschiedene Themen zu geben. Bald fragten die Arbeiter, ob solch ein Unterricht nicht auch für ihre Kinder durchgeführt werden könnte – woraufhin Emil Molt Rudolf Steiner fragte, ob es denkbar wäre, für die Kinder seiner Arbeiter eine Schule einzurichten. Ab diesem Zeitpunkt hatten die Pädagogik und der Unterricht, Steiners „Kind der Sorge“, Priorität in seinem Leben.
 
Emil Molt hatte jedoch nicht nur die Idee und den Mut zu fragen, sondern auch das Geld für eine Schulgründung 1919. Rudolf Steiner erschuf das Konzept, die Methodik und Didaktik[4] und suchte geeignete Menschen und Lehrer,[5] die dem Unterrichtskonzept dieser neuen Schule vertrauten, obwohl es noch nicht aufgeschrieben war. Es ging allen um die Begründung einer Schule aus dem Geist der Anthroposophie heraus – das war das gemeinsame Band. Berufen wurden ausnahmslos Menschen, die selbstständig in der Anthroposophie standen, selber den Bezug zu ihr gefunden und aufgebaut hatten, die „Ideen zu Idealen machen“ konnten.
 
''Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012''
 
----[1] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?,'' GA 10.
 
[2] Rudolf Steiner, ''Luzifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften „Luzifer“ und „Lucifer-Gnosis“ 1903–1908''. GA 34. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1987.
 
[3] Ebenda.


''Vgl. 1. Kapitel, „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband, Verlag am Goetheanum, Dornach 2006, derzeit vergriffen''
[4] Rudolf Steiner, ''Erziehungskunst: Methodisch-Didaktisches.'' GA 294. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1990.


----[1]  Rudolf Steiner, ''Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft'', GA 301, Dor­nach 1991.
[5] Johannes Tautz, ''Der Lehrerkreis um Rudolf Steiner in der ersten Waldorfschule.'' Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1979.

Aktuelle Version vom 5. April 2025, 13:09 Uhr

Waldorfpädagogik – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

IDEAL UND PRINZIPIEN DER WALDORFPÄDAGOGIK

Wie lassen sich die Prinzipien der Waldorfpädagogik auf den Punkt bringen?

Welche Anforderungen werden dabei an den Lehrer gestellt?

Herausfordernder Lehrerberuf

Das Ideal der Waldorfpädagogik darzustellen ist leicht, es umzusetzen ist schwer. Ich wage dies so zu formulieren, da ich selbst unterrichtend tätig war und weiß, dass der Lehrerberuf de facto der anstrengendste Beruf ist. Arzt zu werden, bringt auch Herausforderungen mit sich, doch von anderer Art. So habe ich vor Prüfungen oder Examen auf dem Gebiet der Medizin keine schlaflosen Nächte verbracht, vor einer ersten Epoche in einer neuen Klasse einer Waldorfschule dagegen wohl! Ich kannte als ungeübte Lehrerin – d.h. als Schulärztin, die hin und wieder eine Epoche gibt in Menschenkunde, Biologie, Chemie oder in Erster Hilfe und Gesundheitslehre – die Klassen noch nicht, nur einzelne Schüler. Ich memorierte die Namen der Schüler, ihre Sitzordnung, die „schwierigen Schüler“, auf die ich besonders achten sollte. Ich hatte Sorge, guten Kontakt zu allen zu bekommen, ihnen gerecht zu werden, mit dem Inhalt so einzusteigen, dass es die Klasse erfasst usw.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, eine authentische Haltung gegenüber den Idealen der Waldorfpädagogik zu entwickeln, um nicht den Gefahren eines falschen Idealismus zu erliegen.

Sich der Idee erlebend gegenüberstellen

Anhand von Wolfgang Schmidbauers Buch „Alles oder nichts" mit dem sprechenden Untertitel „Über die Destruktivität von Idealen"[1], wird einem das Problem eines falschen Idealismus rasch klar. Ideale entarten nur dann nicht zu einer destruktiven moralischen Forderung und führen in die Selbstüberschätzung und Selbstüberforderung, wenn man sie sich selbst erarbeitet hat, wenn sie das Konzept sind, nach dem man sein Leben und seine Arbeit ausrichtet. Ist das nicht der Fall, sollte man ehrlicherweise sagen: Das will ich nicht – und gehen. Man sollte dorthin gehen, wo man die Ideen und Ideale verwirklichen kann, die zu einem passen.

Rudolf Steiner sagte zur Frage des Idealismus und seiner möglichen Gefahr: „Jede Idee, die dir nicht zum Ideal wird, ertötet in deiner Seele eine Kraft; jede Idee, die aber zum Ideal wird, erschafft in dir Lebenskräfte.“[2] Am Ende der Philosophie der Freiheit heißt es: „Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können, sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“[3] Ideale dagegen, mit denen man sich wirklich identifiziert, befeuern und geben Kraft.

Heilende Prinzipien

Doch obwohl mir bewusst ist, wie schwer es ist ein „guter Waldorflehrer“ zu werden, wage ich zu behaupten, dass die Waldorfschule eine ideale Inklusionsschule ist. Im Folgenden möchte ich die heilenden Prinzipien der Waldorfpädagogik, die Lehrern helfen können bei ihrer pädagogisch-therapeutischen Arbeit, aus meiner Sicht und Erfahrung näher ausführen.

· Charakterisieren statt definieren

Das Allerwichtigste ist das Charakterisieren anstelle des Definierens – egal, ob es um Lehrinhalte oder um die Beurteilung von Schülern geht. Es gibt Lehrer, bei denen sich die Schüler verurteilt fühlen wie auf dem Schafott. Bis in die Abiturklasse erlebte ich in meiner Schulzeit, dass bei Schülern an der Tafel Tränen flossen oder wenn sie vor der Klasse standen, weil sie sich verurteilt fühlten.

Völlig anders wirkt es, wenn ein Lehrer das Können und das Engagement eines Schülers charakterisiert, indem er den Prozess beschreibt und bereits den guten Ansatz lobt bzw. den Mut des Betreffenden an die Tafel zu kommen. Wenn er ihm darüber hinaus vermittelt – ‚Ich helfe Dir, ich unterstütze Dich‘ – ist schon viel gewonnen. Wenn das Kind trotzdem total blockiert ist oder ein Black-out hat, wird er das klar benennen und es eventuell später nochmals drannehmen. Durch die Art, wie der Lehrer damit umgeht, wie er den Prozess charakterisiert, wird das Kind nicht bloßgestellt, sondern als normal behandelt. Es erlebt, dass das alles im Leben vorkommen darf. Ein Kind muss lernen dürfen, mit Blockaden zurechtzukommen – die es ja bei Erwachsenen auch gibt. Durch das Charakterisieren bejaht der Lehrer all diese Prozesse, die Teil der Entwicklung sind.

Urteile sind Endstationen

Definitionen und Urteile sind dagegen immer „Endstationen“, das betrifft nicht nur den Lernprozess, sondern auch die Lerninhalte: Jeder Schüler kann selbst auf die Definitionen kommen, indem er die zugrunde liegenden Gesetze zu finden lernt – entweder mithilfe der vom Lehrer geschilderten Charakteristika oder anhand seiner eigenen Beobachtungen. Wer charakterisiert, beschreibt den (oft künstlerischen) Prozess, wer definiert, umreißt die wissenschaftliche Endstation. In Bezug auf den Unterrichtsprozess sollte man sich klarmachen: Vorgegebene Endstationen ermöglichen keine Weiterentwicklung. Ergebnisse müssen vom Schüler selbst gefunden werden, bevor man zum nächsten Thema weitergeht. Deswegen folgt der Unterricht schrittweise diesem Rhythmus:

1.     Ein Experiment wird beobachtet und genau beschrieben.

Ich fand das mühsam in meiner Schulzeit, ich wollte sofort die dazugehörige Gesetzmäßigkeit erfahren. Einseitige Kinder, die Sackgassen lieben, reagieren allergisch auf all das Beschreiben, weil sie schnell zum nächsten Thema springen wollen. Doch genau wahrzunehmen und zu beobachten ist genauso wichtig, wie das Feststellen von Gesetzmäßigkeiten.

2.     Am nächsten Tag darf der Schüler das zugrundeliegende Gesetz selbst entdecken und formulieren.

Das ist etwas sehr Spannendes und setzt in die Praxis um, was Rudolf Steiner behauptete: Alle Erziehung wäre Selbsterziehung und der Lehrer hätte nur die Aufgabe, das richtige Ambiente, die richtige Umgebung zu schaffen, damit sich das Kind in und an dieser Umgebung selbst so erzieht, wie es seinem Schicksal gemäß ist und wie es das auf bestmögliche Art und Weise vermag. Diesem Ideal folgt unsere Unterrichtsmethodik.

· Freudig aus Fehlern lernen

Eine solche Haltung bedeutet, dass der Lehrer sich über die Fehler des Schülers freuen kann, weil dieser an dem kleinen Schmerz, etwas nicht zu können, aufwacht und sich jetzt engagiert, es richtig zu lernen. Auch Lehrer sind nur Menschen mit Eitelkeiten. Deswegen müssen sie sich immer wieder vergegenwärtigen, dass es zu den Lehrertugenden gehört, Ehrfurcht gegenüber Wahrheit und Erkenntnis zu vermitteln und nicht vor dem eigenen Wissen. Lehrer sind nur deshalb Könner, weil etwas von der weltenschaffenden Wahrheit durch sie hindurch wirkt. Deshalb sollten sie mit ihrem angehäuften Wissen nicht angeben.

· Lernbegierde pflegen

In einem Morgenspruch sagt Rudolf Steiner: „… dass ich kann arbeitsam und lernbegierig sein.“ Lernbegierde ist nicht gleichzusetzen mit Ehrgeiz. Sie ist die Sehnsucht nach Entwicklung, die deutlich zu unterscheiden ist vom Ehrgeiz, der Angst macht und Konflikte hervorruft. Lernbegierde verbindet alle. Wenn in einer Klasse Ehrgeiz ausbricht, kommt es zu problematischen Verhaltensweisen: Einer sticht den anderen aus; man möchte mehr scheinen, als man ist; der Schein wird wichtiger als die Fähigkeit. Lernbegierde wirkt sich dagegen positiv auf die Klasse aus.

· Weltinteresse wecken

Eine weitere Aufgabe des Lehrers als Weltenbürger ist es, Weltinteresse zu wecken. Das ist wiederum eine Frage der Haltung: frei, offen, freilassend und neugierig zu sein. Von Rudolf Steiner wird berichtet, dass er einmal bei Eugen Kolisko im Chemieunterricht hospitierte, als dieser die Knallgasreaktion zeigte, die einen lauten Knall erzeugt. Rudolf Steiner soll so erschrocken sein, dass er vor Schreck aufgesprungen ist – weil er ganz in die Wahrnehmung versunken war wie ein neugieriger Schulbub und mehr erschrak als alle anderen.

· Gesundes Selbstvertrauen vorleben

Der Lehrer ist im Optimalfall ein vertikaler Mensch, der gesundes Selbstbewusstsein, Sicherheit, Kompetenz und Großzügigkeit ausstrahlt; der das Positive lobt und seine Schüler ermutigt, aus dem Negativen zu lernen.

Lehrertugenden stärken

Rudolf Steiner nannte vier Stärkungsmöglichkeiten der Lehrertugenden, für jedes Wesensglied eine:

1. Das Ich wird durch jede noch so kleine Aktion oder Initiative gestärkt.

2. Der Astralleib wird jedes Mal gestärkt, wenn wir Interesse für etwas aufbringen.

Rudolf Steiner sagte, der Lehrer möge ein Mensch sein, der für alles Weltliche und Menschliche Interesse hat. Das ist das Gegenteil von Aussprüchen wie: „Das gehört nicht hierher!“ Man kann sagen – „Darüber sprechen wir in der Pause“, – aber niemals: „Das ist nicht interessant!“. Es geht vielmehr darum, für all die interessanten Dinge den angemessenen Ort zu finden. Bekäme alles Platz im Unterricht, liefe der Lehrer Gefahr, von den Schülern abgelenkt zu werden von den eigentlichen Themen, die er unterrichten wollte.

3. Wahrhaftigkeit stärkt den Ätherleib.

Der Lehrer soll üben, in seinem Inneren keinen Kompromiss in Bezug auf die Wahrheit zu schließen. Im Äußeren ist es oft nötig, im Inneren darf es nicht sein.

4. Die beste Übung für den physischen Leib ist, nicht „sauer“ zu werden, die eigenen Aggressionen bzw. die eigene Bitterkeit beherrschen zu lernen.

Die natürliche Physiologie unseres Blutes beruht auf einem Säure-Basen-Gleichgewicht: Unser Blut soll weder alkalisch-bitter, noch angesäuert sein. Indem man das vom Seelischen her unterstützt, fördert man die Salz-Struktur, das Säure-Basen-Gleichgewicht des physischen Leibes.

Ich habe immer den Eindruck, die Worte – „Ihr seid das Salz der Erde“[4] – beziehen sich auf diese 4. Lehrertugend und sind eine Aufforderung, das elektrolytische Gleichgewicht in Blut und Interstitium zu unterstützen. „Nicht versauern!“,[5] sagte Rudolf Steiner auch. Es dürfe keinen „sauren“ Lehrer geben. Das ist natürlich ein hartes Wort und zugleich ein hoher Anspruch, der vor allem die Lehrer als Profis betrifft und nicht so sehr die Eltern.

Vgl. „Hilfen im Umgang mit Angst im Schulalter“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013


[1] Wolfgang Schmidbauer, Alles oder nichts. Über die Destruktivität von Idealen. Rowohlt, Reinbek 1987.

[2] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Kap. Bedingungen. GA 10. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1993.

[3] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. GA 4. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995.

[4] Neues Testament, Matthäus 5, 13.

[5] Rudolf Steiner, Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches. GA 294, S. 193.

ALLGEMEINE GRÜNDE FÜR EINE WALDORFERZIEHUNG

Gibt es konkrete Kriterien für die Wahl einer Waldorfschule, die über die Vermittlung von Lerninhalten hinausgehen?

Positive Nebenwirkungen der Waldorfpädagogik

Wenn ich Elternabende zur Einschulung hielt und die Frage gestellt wurde, ob ein Kind auf die Waldorfschule gehen soll oder nicht, erwähnte ich diese Studie und setzte hinzu, dass es u.a. aus meiner Sicht drei wichtige Gründe gebe, Kinder auf die Waldorfschule zu schicken.

1. Gesundheitsvorsorge fürs Alter

Waldorferziehung stellt eine echte Gesundheitsvorsorge fürs Alter dar, die beste, die ich kenne. Sie ist eine Art Präventivmedizin für die zweite Lebenshälfte, bzw. für das letzte Lebensdrittel, in dem man heute ohnehin oft Gefahr läuft arbeitslos zu werden. Wird man auch noch krank, leidet man doppelt. Deshalb ist es eine echte Hilfe, wenn man früh gelernt hat, eine selbstbestimmte Haltung mit der damit einhergehenden Verantwortlichkeit und Initiativfreude zu entwickeln.

2. Abschwächung des materialistischen Einflusses

Waldorferziehung ist zudem ein Gegengewicht zur Tendenz, sich blind an die materialistische Kultur anzupassen. Das heranwachsende Kind hat es deshalb manchmal etwas schwerer im Leben, weil es nach anderen Gesichtspunkten handelt als üblich. Wer dieses Anders-Sein übersteht, hat oft Lust, sich zu engagieren, um an der heutigen Kultur etwas zu ändern.

Eltern allerdings, die wollen, dass ihre Kinder nirgends anecken, sollten sie nicht auf die Waldorfschule geben. Denn es kann Einsamkeit mit sich bringen, immer auch andere Gesichtspunkte zu sehen und einzubeziehen. Man hat auch weniger Gesprächspartner und benötigt ein ausgeprägtes Taktgefühl im Sozialen, damit man sich nicht überall wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt, sondern sich so zurückzunehmen weiß, wie Rudolf Steiner es von seinen Schülern verlangte: Man solle über seine Gedanken und Ansichten nur sprechen, wenn man danach gefragt wird.

3. Erlangung einer überkonfessionellen Orientierung

Waldorfschüler lernen eine tolerante, überkonfessionelle Orientierung kennen, die ihnen die Möglichkeit gibt, sich später für die verschiedensten Philosophien und Religionen zu interessieren, weil sie von allem schon gehört haben und mit allen wesentlichen Strömungen Bekanntschaft schließen durften.

Solange man jung ist, hat man kein großes Interesse an Gesundheitsfragen. In der zweiten Lebenshälfte ist dieses Thema jedoch von großer Bedeutung – wenn man noch in der Lage dazu ist. Ich bin zunehmend dankbar dafür, dass ich in meiner Waldorfschulzeit wertvolle Gesundheits-Ressourcen veranlagen konnte für die zweite Lebenshälfte.

Vgl. Vortrag „Ursprung und Ziel von Gesundheit“ an der Tagung „Connect“, Dornach, April 2007

WALDORFPÄDAGOGIK ALS ERZIEHUNG ZUR FREIHEIT

Was sind die physiologisch-konstitutionellen Voraussetzungen für Freiheit?

Inwiefern ist Waldorfpädagogik Erziehung zur Freiheit?

Spezialisierung versus Freiheit

Alle Säugetiere haben, wenn sie noch klein sind, dieselben Formen und Anlagen wie wir Menschen. Diese gehen jedoch im Laufe der Entwicklung verloren. Was sagt uns das? Je spezialisierter die Gliedmaßen und Körperteile werden, umso weniger frei kann das Lebewesen sie handhaben. Das kann man gut an der Art sehen, wie sich die Tiere vom Menschen weg entwickeln, indem sie sich spezialisieren.

Nehmen wir zum Beispiel das Fluggelenk in seiner Anlage im Vergleich von Mensch und Tier:

  • Das Fluggelenk entwickelt sich aus der Armanlage, ist hoch spezialisiert und ermöglicht es den Vögeln zu fliegen.
  • Der Mensch dagegen kann mit seinen Armen zwar nicht fliegen, aber wir können dank des rundum beweglichen Schultergelenks mit unseren Armen und Händen Musik machen, können zeichnen und malen, können jemanden streicheln – wir sind frei zu wählen, wofür wir unsere Arme als Organe der Freiheit, der Möglichkeit zu vielem einsetzen wollen.

Waldorfpädagogik will Erziehung zur Freiheit sein. Das bedeutet konsequenterweise, in der frühen Kindheit bis hin zu den ersten Schuljahren, weitestgehend auf Spezialisierung zu verzichten. Je mehr das Kind die Möglichkeit bekommt, als „allgemein-menschliches Instrument“ ein breites Spektrum an Fähigkeiten zu veranlagen, umso vielseitiger und menschlicher, umso weniger körpergebunden und „tierisch“ im besten Sinn des Wortes, wird dann der erwachsene Mensch sein.

Entwicklungs- und Schicksalsexperten werden

In diesem Sinne sollten wir uns bemühen, Experten des physischen Leibes und der physischen Entwicklung zu werden. Die Schritte der Ich-Werdung ernst zu nehmen bedeutet, uns immer wieder neu das Mysterium der Inkarnation zu erarbeiten. Denn alle Kinder, alle Menschen, tragen die Weltgesetze als angeborene Kompetenz in sich: die Bildungsgesetze, die Schicksalsgesetze, aber auch die Gesetze eines höheren Wesenhaften, das mit anderen höheren Wesen immer in Verbindung ist und mit ihnen kommuniziert. Das kann sehr unterschiedlich aussehen. Deshalb haben wir es mit so unterschiedlichen Kindern zu tun, deren Selbstbewusstsein sich auf so unterschiedliche Art entwickelt.

Wir dürfen aber auch zu Schicksalsexperten werden. Ich empfehle immer, dass man in der Lehrer- bzw. Erzieher-Konferenz Passagen aus Vorträgen über Inkarnation und Karma liest, auch aus Steiners „Karmavorträgen“[1] und den wunderbaren „Vorträgen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt“[2] und wenn es nur 10-15 Minuten sind. Denn das ist die Welt, der die Ich-Werdung entspringt. Dort entscheidet sich ein Menschenwesen in der Weltenmitternachtsstunde des Daseins wieder auf die Erde zu kommen. Das ist die Welt, in der Wesen sich mit anderen Wesen verständigen: Unser Ich ist nicht nur mit den Menschen verbunden, denen wir im Leben begegnen, unser Ich ist auch mit den Verstorbenen, den Elementarwesen, den Engelhierarchien, der Gottheit und der Trinität verbunden, die unseren Leib trinitarisch bildet nach ihrem Abbild.

Wir sind dem Wesen nach Abbilder der Gottheit. Wenn wir die wunderbaren Schicksalsgesetze studieren, begreifen wir, dass das, was wir in einem Leben aufwenden an seelischer Mühe, Liebe, Freiheit, Wahrhaftigkeit, an Überwindung von Hass, Neid, Angst und Eitelkeit, sich im nächsten Leben niederschlägt in einem gesünderen Körperbau und einem harmonischeren Schicksalsumfeld. Wir dürfen Wesens- und Schicksalsexperten werden, wir dürfen bewusst Bürger zweier Welten werden und den Kindern geistig, seelisch, und physisch ein Zuhause bieten, egal, wo sie herkommen, egal, wo sie hingehen.

Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012


[1] Rudolf Steiner, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge aus dem Jahre 1924. GA 235-238.

[2] Rudolf Steiner, Okkulte Betrachtungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. GA 140.

JEDE ERZIEHUNG IST SELBSTERZIEHUNG

Nach welchen Bedingungen vollzieht sich Selbsterziehung?

Wovon hängt ab, womit ein Mensch in Resonanz geht, um sich weiterzuentwickeln?

Pädagogen schaffen Umgebung für Selbsterziehung des Kindes

Rudolf Steiner formuliert in seinem Basler Lehrerkurs, dass jede Erziehung im Grunde genommen Selbsterziehung sei.[1] Der Lehrer müsse nur eine möglichst günstige Umgebung schaffen, in der sich das Kind so erziehen kann, wie es sich nach seinem innersten Wesen erziehen muss.

An dem Muss habe ich mich zunächst gestoßen: Das Muss ist jedoch die karmische Prädisposition. Man hat nur das in seinem „seelisch-geistigen Resonanzboden“, was man sich im Laufe seiner Erdenleben errungen hat. So ist das Muss ein Ich-will(-nicht) aus früherer Zeit. Wenn jemanden große Altlasten in seinem Karma trägt, schwingt das mit.

Dennoch gibt es in jeder Seele auch einen „Goldgrund“ der aus Urzeiten stammt und mit dem sie in Resonanz gehen kann. Das heißt, jedes Kind ist zu einer feinen, rein menschlichen Ur-Resonanz fähig, auch wenn es mit größten karmischen Schwierigkeiten, Schicksalsbelastungen oder konstitutionellen Herausforderungen zu kämpfen hat. Wir gehen davon aus, dass dieser Goldgrund im Untergrund jeder Seele als Voraussetzung da ist, als eine Art Gottesgrund in jedem von uns. An ihn will die Waldorfpädagogik anschließen, will ihn in Schwingung versetzen und zur Kraftquelle werden lassen, sodass das betreffende Kind seine Biografie menschenwürdig gestalten kann.

Schlummernde Fähigkeiten zu höherer Erkenntnis

Das ist der zentrale Nerv, das eigentliche Anliegen der Waldorfpädagogik. Daher sollte auch am Anfang der Lehrerausbildung die Anforderung stehen, sich mit dem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?"[2] zu beschäftigen – gerade, weil es mit folgendem Satz beginnt: „Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann."

Dass das wirklich so ist, davon konnte ich mich als Kinderärztin immer wieder überzeugen, denn ich hatte vor allem Babys und Kleinkinder in den ersten drei Lebensjahren zu untersuchen. Das ist das Lebensalter, in dem Erziehung von außen nicht greift. Die Kinder erziehen sich vielmehr selbst aus ihrem Gottesgrund heraus zu aufrechten, sprechenden und denkenden Wesen – und das ist bekanntlich die umfassendste Lernleistung des Kindes, an die sich in der weiteren Entwicklung alles andere anschließt. 

Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012


[1] Rudolf Steiner, Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft. GA 301. Dornach 1991.

[2] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1993.

ERZIEHUNG ZUR SELBSTLOSIGKEIT DURCH WALDORFPÄDAGOGIK

Wie möchte Waldorfpädagogik einem Überhandnehmen des Egoismus gegensteuern?

Wie hängen Selbstlosigkeit und Selbstbewusstsein zusammen?

Selbstlosigkeit statt Egoismus fördern

Wir sollten als Pädagogen wissen, wie der Prozess der Metamorphose der Wachs­tumskräfte in Gedanken-, Gefühls- und Willenskräfte begleitet werden muss, damit möglichst wenig an den Egoismus des Kindes appelliert, sondern vielmehr die Fähigkeit zu echter Selbstlosigkeit veranlagt wird.

Für mich ist die beeindruckendste Aussage Rudolf Steiners über die Waldorfpädagogik folgender Satz aus dem 1. Vortrag der „Allgemeinen Menschenkunde“[1]: „Wir beginnen hiermit mit einer Pädagogik, die nicht auf den Egoismus baut.“ Damit meint Steiner eine Pädagogik, die nicht den Ehrgeiz stimuliert, sondern auf den Altruismus baut, die eine Erziehung zur Selbstlosigkeit praktiziert.

Wer den Grundsteinspruch der Waldorfpädagogik[2] unter diesem Aspekt liest, kann verstehen, warum Rudolf Steiner, der eine überkonfessionelle, rein menschliche Erziehung veranlagt, an dieser Stelle ein göttliches Wesen nennt – den Christus. Nach der Schilderung der Ideale und Ziele kommen folgende Worte: „Dies wollen sie (alle diejenigen, die die Schule machen: die Lehrer, der Schulvorstand, einige Eltern) bekennen in Christi Namen, in reinen Absichten, mit gutem Willen.“

Christliche Qualitäten aufsuchen

Wird in Asien eine Waldorfschule gegründet und dieser Spruch übersetzt, muss man auch übersetzen, was z.B. in Thailand „in Christi Namen“ heißt, was der Bezug zu Buddha ist und zu Qualitäten, die dem Wesen des Christus entsprechen. Dieses Wesen lebt überall, die Frage ist nur, wie der Weg dahin jeweils aussieht.

Ich sage das hier, weil Christus

  • nicht nur „der Lehrer der Menschenliebe“ ist, wie es in der Kinderhandlung[3] heißt;
  • auch „der Spender der Daseinsfreuden“
  • bzw. „der Tröster im Daseinsleiden“ ist, wie es in der Jugendfeier[4] heißt;
  • aber auch derjenige ist, der, wie es in der Opferfeier[5] heißt, uns die Möglichkeit gibt, dass wir „Christi Geist empfangen“ dürfen.

Der Egoismus muss geopfert werden, wenn das wahre Menschen-Ich Einlass finden soll. Wer sich entsprechend vorbereitet, wer also seinen Egoismus opfert und das niedere Ego in der Gewalt hat, darf ihn empfangen, kann sich dem Höheren gegenüber öffnen. Das Selbstbewusstsein wird dann zur Schale für das wahre Ich.

Schule der Selbstlosigkeit

Deswegen sagte Rudolf Steiner 1913 in dem Zyklus „Vorstufen zum Mysterium von Golgatha“[6] über den Christus: „Christus hat eine Schule, die große Schule der Selbstlosigkeit.“ Davon ist die Waldorfschule nur ein kleines Abbild. Die Waldorfpädagogik versucht Selbstlosigkeit zu veranlagen, indem sie den Kindern hilft, in drei Schritten ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln:

1. Entwicklung von körperlicher Stärke

Wenn ein Kind ohne traumatisierende Verletzungen durch das erste Jahrsiebt kommt, fühlt es sich körperlich stark. Diese Stärke bildet die Grundlage für ein gesundes Selbstbewusstsein.

2. Entwicklung von seelischer Stärke

Wenn ein Kind nun durch die emotionale Begleitung von Eltern und Lehrer im zweiten Jahrsiebt Weltliebe entwickelt und gute Taten zu schätzen lernt bzw. zornig über böse Handlungen sein kann, d.h. wenn es ein weltbezogenes Gefühlsleben entwickelt, erwachsen daraus ein starkes Selbstbewusstsein und großer seelischer Mut. Das Kind will dann etwas im Positiven verändern, will mitarbeiten an der Weltgestaltung, mitmachen im Weltgeschehen.

3. Entwicklung von geistiger Stärke

Im dritten Jahrsiebt kommt es zum entscheidenden dritten Schritt, zu dem die folgende Frage hinführt:

Wie können wir Jugendlichen helfen, ein so starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln, dass sie keine Angst haben müssen, es je wieder zu verlieren?

Das Aufflammen von Selbstbewusstsein markiert einen echten Endpunkt der Entwicklung: das Ende der körperlichen Reifung. Es ist zugleich ein Zeichen von Mündigkeit. Wer körperlich, seelisch und geistig zu sich selbst aufgewacht ist und ein Bewusstsein seiner selbst erworben hat, weiß, wer er als denkender, fühlender und tätiger Mensch ist. Er hat auf der Erde alles über das eigene Selbst gelernt, was es darüber zu erfahren gibt. Fortan kann dieses Selbst der Stärkung des Selbstbewusstseins anderer dienen: Das ist eine Dienstleistung an der Menschheit im Sinne einer Mitarbeit bei der allgemeinen Entwicklung von menschlichem Selbstbewusstsein.

Das Selbst wird paradoxerweise umso stärker, je mehr man sich um andere kümmert. Wenn man nur an sich selbst denkt, geschieht das Gegenteil, wird man dadurch schwächer. Nur wer kein Selbstbewusstsein hat, wer sich ständig als Opfer fühlt und den Eindruck hat, etwas zu verpassen oder ausgenützt zu werden, erlebt es als Schwächung, sich um andere zu kümmern. Er verfügt von vornherein über ein schwaches Selbstbewusstsein und ist nicht in der Lage, selbstbestimmt zu arbeiten und sich freiwillig für andere einzusetzen. Ein starkes Selbstbewusstsein ist durchaus mit Altruismus vereinbar – beides bedingt sich sogar gegenseitig.

Vgl. „Ängste im Jugendalter und ihre Überwindung“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013


[1] Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293.

[2] Grundsteinspruch für die Freie Waldorfschule Stuttgart: „Es walte, was Geisteskraft in Liebe …“. In: Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts. GA 269, S. 167.

[3] In: Rudolf Steiner, Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts. GA 269.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda.

[6] Rudolf Steiner, Vorstufen zum Mysterium von Golgatha. GA 152.

SALUTOGENETISCHE WALDORFPÄDAGOGIK

Inwiefern kann Waldorfpädagogik salutogenetisch genannt werden?

Was sind die signifikanten Ergebnisse der unten genannten Studie über Waldorfabsolventen?

Welche Gründe sprechen demnach für eine Waldorferziehung?

Studie über ehemalige Waldorfschüler

Nach dem zweiten Weltkrieg, 1945, hatten wir in Deutschland 6 Waldorfschulen. 2006 waren es bereits 203, 2017 238, 2022/23 241. Das ist eine bemerkenswerte Wachstumskurve einer Bildungseinrichtung, die Gesundheit verspricht und auch aktiv dazu beiträgt.

Anfang 2007 wurde in Deutschland eine Studie[1] veröffentlicht, die mit drei Altersgruppen von ca. 1000 ehemaligen Waldorfschülern durchgeführt worden war und zwar mit drei Altersgruppen: mit Absolventen zwischen 30 und 40, zwischen 53 und 62 und zwischen 65 und 70 Jahren. Sie enthielt ausführliche Interviews über ihr Leben und ihren Gesundheitszustand. Die Auswertung ergab, dass Waldorfschüler im Vergleich mit dem statistisch erfassten Gesundheitsdurchschnitt dieser drei Altersgruppen bei typischen Erkrankungen wie Arteriosklerose, Bluthochdruck und Rheuma deutlich besser abschnitten. Das ist ein aufregendes Ergebnis.

Gesundheit für das ganze Leben veranlagen

Für Rudolf Steiner war die Schule ein Ort, an dem all die Qualitäten erworben werden sollten, die von Antonovsky[2] und Maslov[3] Jahre später als gesundheitsfördernd erkannt wurden. Steiner sagte, Lehren sei stilles Heilen:[4]

  • Denn alles soll so gelehrt werden, dass es als Einladung aufgefasst werden kann, die Welt verstehen zu lernen, die geistige Welt miteingeschlossen (Verstehbarkeit).
  • Jede gute Erziehung sollte auch die Motive hervorbringen, aus denen heraus Schüler lernen wollen. Damit das erreicht werden kann, müssen Lehrer und Schüler zusammenarbeiten in einem sinnstiftenden Miteinander (Sinnhaftigkeit).
  • Die Schule muss den Schülern zudem helfen, so viele Fähigkeiten wie möglich zu entwickeln, damit sie im späteren Leben in vielen Bereichen „anpacken“ können (Handlungsfähigkeit).

Dafür engagiert sich die Waldorfpädagogik. Das heißt, das Konzept der Salutogenese wird in den Waldorfschulen praktiziert, obwohl zu Steiners Zeiten noch kein Mensch davon wusste. Von Anfang an ging es nicht nur darum, Wissen zu vermitteln, sondern jungen Leuten zu helfen, Gesundheit für das ganze Leben zu veranlagen. Das ist vor dem Hintergrund des Entwicklungsgedankens ein Hauptanliegen der Waldorfpädagogik.

Entstehung der Salutogenese-Bewegung

Wie kam es zu diesem neuen Verständnis von Gesundheit?

In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die bahnbrechende salutogenetische Forschung Aaron Antonovskys international bekannt.[5] Im Auftrag der Universität Beer Sheva in Israel hatte er den Gesundheitszustand älterer Frauen untersucht, unter denen auch Holocaust-Überlebende waren, die 1939 16 bis 25 Jahre alt gewesen sind. Dabei stieß er auf die überraschende Tatsache, dass ein knappes Drittel von ihnen bei guter Gesundheit war. Dies war ihm unverständlich.

Wie konnten sie grausamste Lebensbedingungen, Demütigungen und körperliche Entbehrungen eines Konzentrationslagers gesund überstehen?

Er hätte erwartet, dass seine Klientinnen alle mehr oder weniger unter posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Dass dies jedoch nicht der Fall war, führte ihn zu der Frage:

Wie entsteht eigentlich Gesundheit?

Die Ergebnisse seiner Untersuchungen hatten die Entwicklung seines Salutogenese-Konzeptes zur Folge.[6] Antonovsky brachte damit auch den Begriff der Salutogenese in die Wissenschaft ein in bewusstem Gegensatz zum etablierten Begriff der Pathogenese, unter der man die Entstehung von Krankheit und Leiden versteht.[7]

Rettender Kohärenzsinn

Infolge der Antworten auf eine Fülle von Fragen zu Einzelheiten ihrer Lebensführung und Lebensgeschichte und deren Beantwortung konnte Antonovsky schließlich auch das Rätsel des guten Gesundheitszustands dieser Frauen lösen. Denn eines war ihnen gemeinsam: Sie hatten schon als junge Erwachsene die Möglichkeit, alles, was ihnen das Leben und Schicksal entgegenbrachte, irgendwie verarbeiten zu können.

Antonovsky gab dieser Fähigkeit den Namen „sense of coherence“, zu Deutsch „Kohärenzsinn“ bzw. „Kohärenzgefühl“ – ein Gefühl der Übereinstimmung zwischen sich und der Umwelt im Bereich der zentralen seelischen Erfahrungsfelder von Denken und Beobachten, Empfinden und Fühlen sowie auf der Handlungsebene. Dementsprechend gab er diesen drei verschiedenen Aspekten des Kohärenzgefühls die Namen

  • sense of comprehensibility (Gefühl der Verstehbarkeit)
  • sense of meaningfullness (Gefühl der Sinnhaftigkeit)
  • sense of manageability (Gefühl der Handhabbarkeit)

Denn diese von ihm untersuchten Frauen verfügten offensichtlich über die „gefühlte“ Fähigkeit, selbst die Abgründigkeit des Holocaust in ihr Leben und Schicksal integrieren zu können. Für Antonovsky war damit deutlich, dass diese Fähigkeit zur Integration bzw. dieses Kohärenzgefühl, im Laufe der Erziehung veranlagt und im jungen Erwachsenenalter erprobt, die beste Voraussetzung abgibt für lebenslange Gesundheit und Lebenstüchtigkeit.

Wie Kohärenzgefühl erworben wird

Wie muss Erziehung aussehen, damit sich ein starkes Kohärenzgefühl ausbilden kann?

Diese Frage konnte Antonovsky im Zuge seiner Forschungen nicht beantworten. Sie hat bis heute keine stringente Antwort gefunden. Als Kennerin der Waldorfpädagogik wurde mir bei der Lektüre von Antonovskys grundlegender Publikation jedoch bewusst, dass die Waldorfpädagogik konsequent salutogenetisch ausgerichtet ist, auch wenn es diesen Begriff zur Zeit ihrer Begründung vor hundert Jahren noch nicht gab.

In Rudolf Steiners Vorträgen zur Waldorfpädagogik und -didaktik in den Jahren 1919-24 findet sich ein umfassend beschriebener salutogenetisch orientierter Erziehungsauftrag, den er am 24. August 1922 in Oxford so zusammenfasste: „Es [alles Unterrichten und Erziehen, M. G.] soll danach streben, aus Menschenkindern physisch gesunde und starke, seelisch freie und geistig klare Menschen zu machen. Physische Gesundheit und Stärke, seelische Freiheit und geistige Klarheit machen aus, was die Menschheit in der zukünftigen Entwicklung auch in sozialer Beziehung am meisten brauchen wird“.[8] Und so ist der ganze Waldorflehrplan angelegt: entwicklungsbezogen und altersgerecht.[9] Dazu werden Vorschläge für die Stundenplangestaltung gemacht, für die Farben der Klassenzimmer, für die Schulverwaltung, für die Kommunikation mit der Elternschaft und unter den Lehrern selbst.

Vgl. Vortrag „Ursprung und Ziel von Gesundheit“ an der Tagung „Connect“, Dornach, April 2007


[1] Heiner Barz und Dirk Randoll (Hsg.), Absolventen von Waldorfschulen: Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung, 2007.

[2] Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1987.

[3] Abraham Maslow, Motivation und Persönlichkeit, Hamburg 1981.

[4] Rudolf Steiner, Mantrische Sprüche. Seelenübungen II., GA 268, S. 304; wortwörtlich heißt es dort: „…Und Erziehen ward angesehen gleich dem Heilprozess, der dem Kinde mit dem Reifen die Gesundheit zugleich erbrachte für des Lebens vollendetes Menschsein. “

[5] Vgl. Aaron Antonovski, Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997.

[6] Salutogenese: von lat. salus (=Gesundheit) und grch. genese (=Herkunft, Entstehen, Werden).

[7] Vgl. grch. páthos (= Leiden[schaft], Sucht)

[8] Rudolf Steiner, Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst,GA 305, Dornach 1991, S. 146.

[9] Vgl. E.A. Karl Stockmeyer, Rudolf Steiners Lehrplan für die Waldorfschulen, 2 Bde., 7. Aufl., Stuttgart 2017.

SEELISCHE, KÖRPERLICHE UND GEISTIGE GESUNDHEIT DURCH ERZIEHUNG

Inwiefern trägt Erziehung zur Gesundheit der Kinder bei?

Was gilt es seitens der Pädagogik zu beachten und beizutragen?

Einflüsse der Erziehung auf die Gesundheit

Grundsätzlich gilt, dass alles, was im Umfeld eines Kindes geschieht, sich auf sein Wohlbefinden auswirkt. Kinder sind sinnesoffene Wesen, die dank der Spiegelneuronen ihr Umfeld genau nachahmen – was nicht immer zu ihrem Vorteil ist. Umso mehr muss sich der Erwachsene seiner prägenden Wirkung bewusst sein, ja nicht nur das: Er sollte an sich arbeiten, um einen positiven Einfluss auf die ihm anvertrauten Kinder und ihre Gesundheit zu haben.

· Erziehung und seelische Gesundheit

Zentrales Instrument zur Förderung der seelischen Gesundheit ist die Pflege guter Beziehungen unter den Schülern, zwischen Lehrern und Schülern sowie zwischen Schule und Elternhaus. Gerne fragte Rudolf Steiner, wenn er die Waldorfschule besuchte: „Habt Ihr eure Lehrer lieb?“

Lernen aus Angst, aus Pflicht, unter Druck wegen eines Tests oder Examens ist ein Unding – und heute leider vollkommen normal. Solche Lernmotive sind nicht freilassend, sondern konditionieren die Kinder und erziehen sie zur Abhängigkeit. Wer meint, Kinder konditionieren zu müssen, ist der Ansicht, das Kind wolle nur lernen, wenn bzw. weil es „muss“. Das geht aber vollkommen am Wesen des Kindes vorbei. Wenn es aus Interesse an einem bestimmten Bereich des Lebens oder aus Zuneigung zu einem Erwachsenen, dem dieses Fach ein Herzensanliegen ist, lernt, steht das nicht im Widerspruch zu dem natürlichen Autonomiebestreben des Kindes.

Alles, was die Kinder und Jugendlichen nicht in ihrem Erleben erreicht, wird von ihnen als „blutleer“ oder schlimmer noch: als sinnlos empfunden. „Leben liebt Lehre und Lehre liebt Leben“, so formulierte Rudolf Steiner einmal dieses Urgesetz dialogischen Lernens. Ohne dass der Lehrer mit Kopf, Herz und Hand im Leben steht und aus diesem Darinnen-Stehen die Schüler unterrichtet, haben Schüler kein Vorbild, kein erstrebenswertes Modell, keine wirkliche Orientierung und können so auch nicht miterlebend lernen.

Die seelische Entwicklung braucht die Orientierung an Menschen, welche die Fähigkeiten bereits entwickelt haben, die beim Kind noch in Entwicklung sind. Das Kind muss konkret erleben, mitfühlen, dabei sein können bei dem, worum es geht, und aus den gemachten Erfahrungen des Lehrers lernen.

Behindernd für die seelische Gesundheit ist daher auch das Vergleichen der Schüler untereinander nach abstrakten Kriterien wie z.B. nach der Fehlerzahl und darauf basierend eine Bewertung, wer „besser“ und wer „schlechter“ ist. Die Frage, wer der Beste in der Klasse sei, ist ungesund. Daraus können Schüler letztlich nur entnehmen, dass sie offenbar weniger wert sind als andere, die „besser“ sind als sie – oder umgekehrt: Die einen gewöhnen sich daran, auf andere herabzublicken, die „weniger gut“ sind als sie. Die daraus resultierenden Minderwertigkeitskomplexe und Selbstüberschätzung tragen beide nicht zur seelischen Gesundheit bei.

Entscheidend ist doch, welche Fehler der Einzelne gemacht hat und wie er lernen kann, diese nicht mehr zu machen. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin das erkennt und die Lehrerin oder der Lehrer ihm oder ihr dabei hilft, aus den eigenen Fehlern zu lernen, so wird der oder die Betreffende in der seelischen Reifung unterstützt.

Fehler zu machen ist an sich schon nichts Angenehmes, dieser Schmerz muss erst verarbeitet werden. Wenn das Fehler-Machen auf positive Art begleitet wird, kann daraus eine seelisch gesunde Lebenshaltung entstehen: Was auch geschieht, ich kann aus allem lernen, immer wieder das Beste daraus machen und einen nächsten Schritt wagen!

Rudolf Steiner empfahl den Lehrern, vier Tugenden zu üben: Initiative, Interesse, innere Wahrhaftigkeit und „Nicht-sauer-Sein“. Das sind auch die wichtigsten Qualitäten zur Pflege einer guten Beziehung: immer wieder aufeinander zuzugehen, sich wahrhaft zu interessieren für den Weg und die Entwicklung des Anderen, ehrlich miteinander zu sein und sich über Fehler und Probleme nicht zu ärgern, sondern aus ihnen zu lernen.

· Erziehung und körperliche Gesundheit

Als notwendig für eine gesunde körperliche Konstitution werden üblicherweise genügend Bewegung, Spiel und Sport, möglichst regelmäßige Schlaf- und Wachzeiten sowie eine gesunde Ernährung genannt.

In der Waldorfschule kommt noch ein entscheidendes weiteres Prinzip hinzu: Körperliche Gesundheit beruht auch darauf, dass das Kind und der Jugendliche lernen, ihren Körper intelligent und feinfühlig zu beherrschen sowie ausdrucksstark zu bewegen, ihn zu einem „Instrument der Seele“ zu machen, wie es der Buchtitel von Walther Bühlers Klassiker zum Thema sagt.[1] Sich in seinem Körper wohl zu fühlen, darin „zuhause“ zu sein ist wichtig für die Gesundheit im späteren Leben. „Nicht gut drauf zu sein“, sich mit seinem Körper nicht identifizieren zu können, ist nicht zuletzt auch häufige Ursache für den Missbrauch von Alkohol oder Drogen.

Als pädagogisches Mittel zur Schulung von Ausdrucksfähigkeit und Ausdrucksvermögen durch den Körper eignet sich insbesondere alle Arten künstlerischen Übens. Im Umgang mit Sprache, Gesang, Instrumentalmusik, Malen, Plastizieren und Eurythmie werden ganz unterschiedliche Möglichkeiten erprobt, sich selbst oder einem erlebten Vorgang auf stimmige Weise Ausdruck zu verleihen. Dabei kommt der von Rudolf Steiner als Bühnenkunst entwickelten sowie für Pädagogik und Therapie spezifizierten Eurythmie eine besondere Stellung zu, indem sie gewissermaßen alle anderen Künste zusammenfasst und integriert: Sie ist bewegte Körperplastik, arbeitet mit Farben und Formen, bringt nicht nur Sprache und Musik, sondern auch geometrische Raumformen und soziale Figuren choreographisch zum Ausdruck. Wer vom Kindergartenalter an bis zum Ende der Schulzeit regelmäßig Eurythmie-Unterricht hatte, bewegt sich in der Regel sicher, hat eine gute Körperhaltung, ein differenziertes Ausdrucksvermögen, eine klare Körpersprache und ein gesundes Körpergefühl.

· Erziehung und geistige Gesundheit

Spiritualität dient nicht nur der geistigen Befähigung des Menschen. Sie ist auch Ausdruck seiner geistigen Gesundheit und der Art und Weise, wie der Mensch sein Denken als die ihm eigene geistige Kompetenz handhabt.

Dabei gilt zu bedenken, dass Kinder und Jugendliche nur dann geistig gesund in das Leben hineinwachsen können, wenn sie nicht einseitig auf eine Weltanschauung – z.B. die des Materialismus – oder auf eine bestimmte Art des Denkens festgelegt werden.

Diesem Anspruch versucht die Waldorfpädagogik gerecht zu werden, indem sie zu beweglichem Denken ermutigt und die Schüler dazu auffordert, Dinge und Themen unter unterschiedlichen Aspekten zu erforschen.

Vgl. „Hilfen im Umgang mit Angst im Schulalter“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013


[1] Vgl. Walter Bühler: Der Leib als Instrument der Seele, Stuttgart 1993. Für die Waldorfschule bedeutet diese Haltung immer wieder, sich für gewisse „Traditionen“ rechtfertigen zu müssen: z.B. dafür, dass kein Fußball gespielt wird. Auch wird jeglicher Leistungssport dem Privatleben der Schüler überlassen.

WALDORFPÄDAGOGIK UND INKLUSION

Wie steht Waldorfpädagogik zur Inklusion?

Wie war es zu Steiners Zeiten, wie ist es heute?

Als Inklusionspädagogik gedacht

Waldorfpädagogik war von Anfang an Inklusionspädagogik, hat sich aber zur „Regelschulpädagogik“ mit ihren üblichen Anforderungen weiterentwickelt und leistet hier Hervorragendes. Waldorfpädagogik auf Regelschulpädagogik zu reduzieren, wird dem ursprünglichen Ideal von Waldorf jedoch nicht gerecht. Nicht zuletzt erinnerte uns die UNO „von außen“ daran, dass Inklusionspädagogik die Pädagogik des 21. Jahrhunderts ist.[1] Das ist auch für uns eine neue Chance, an das von Rudolf Steiner entwickelte Schulkonzept, „das nicht auf den Egoismus baut“,[2] anzuknüpfen und Schule als mutige Dienstleistung im Sinne der Inklusion anzubieten. Das sollte vor allem auch Konsequenzen haben für Forschung und Ausbildung.

Auch wir Ärzte sollten in jedem Fall möglichst gute Schulmediziner werden als Grundlage für die Anthroposophische Medizin, die uns wiederum lehrt, das Gelernte im rechten Lichte zu sehen. So sollten auch die Waldorflehrer gut Bescheid wissen über die aktuellen Entwicklungen in der Regel- und Sonderschulpädagogik. Vor diesem Hintergrund kann dann eine ganz andere Form von Begeisterung für das Bildungsideal der Waldorfpädagogik erwachen – eine echte Begeisterung, die tief in der Menschenliebe wurzelt.

Grundlagen der Waldorfpädagogik neu entdecken

Die Waldorfpädagogik kann einen bedeutenden Beitrag zur Inklusion  leisten, wenn sie in ihren pädagogischen Grundlagen neu entdeckt und gegriffen wird. Andernfalls wird das Gelingen von Inklusion aufgrund von falschen Hoffnungen seitens der Eltern infrage gestellt, da diese Erwartungen vonseiten der Schule möglicherweise nicht eingelöst werden können – was zu beiderseitigem Schaden gereichen würde. In diesem Falle wäre es besser zu sagen: Wir sind gegen Inklusion. Jeder Mensch, aber auch jede Institution, wird sich selbst zum Risiko, wenn er bzw. sie nicht wirklich eins ist mit sich ist, wenn er bzw. sie nicht der eigenen Spur folgt.

Rudolf Steiner initiierte die Waldorfpädagogik mit einer Anrufung der dritten Hierarchie[3] und wies damit auf zwei Grundsäulen der Arbeit hin:

  • Waldorfpädagogik wurzelt einerseits in einer Kultur gegenseitigen Vertrauens, dass jeder Kollege mit seinem Engel im Gespräch ist und sich innerlich auf den Weg gemacht hat, weil er mit den anderen zusammenarbeiten will. So gesehen ist es auch eine „Gesinnungspädagogik“, weil alle spüren, dass sie einander brauchen.
  • Andererseits entspringt Waldorfpädagogik einer Kultur der Selbstlosigkeit.

Rudolf Steiner nennt Christus nicht nur den Lehrer der Menschenliebe, sondern auch vor 100 Jahren, im Mai 1913 in einem Vortrag, den Begründer der großen Schule der Selbstlosigkeit.

Altruismus als Fundament

Das Fundament der Waldorfpädagogik ist demnach Altruismus. Zu Altruismus ist nur fähig, wer zu sich selber hingefunden hat. Rudolf Steiner sagt, erst der auf sich selbst gestellte Mensch könne dienstleistend zur Verfügung stehen. Denn nur ein Mensch, der wirklich selbständig ist, hat auch Lust, sich um andere zu kümmern. Nur so jemand ist mit sich selber im Reinen und hat genug Überschusskräfte, um sich um andere Belange als sein eigenes Wohlergehen zu kümmern. Wenn wir bei uns angekommen sind, ist die Reise keineswegs zu Ende. Denn jetzt können wir uns um den Rest der Welt kümmern und denen helfen, die noch nicht am Ziel angekommen sind. Deswegen heißt es im Evangelium so schön: „Die Ersten werden die Letzten sein.“[4] Wer bei sich selbst angekommen ist, kann so lange weiterhelfen, bis auch der letzte Mensch bei sich angekommen ist. Dann erst ist die „Erdenmission“ der Menschwerdung am Ziel. Bis dahin ist es noch weit.

Postulat der Liebe

Michael Bauer, Dorfschullehrer und esoterischer Schüler Rudolf Steiners, sagte: „Der Wiederverkörperungsgedanke ist ein Postulat der Liebe. Wer wirklich helfen will, wird nicht schon in einem Erdenleben müde.“ Auch Waldorfpädagogik ist ein Postulat der Liebe, denn sie will

  • dazu beitragen, Schicksale zu heilen und auszugleichen;
  • ein Fundament legen für eine erfüllte, innerlich lebendige und äußerlich sinnvolle Biografie;
  • bei allen Beteiligten Lebenskraft erzeugen;
  • eine Kultur der Mitmenschlichkeit und Geselligkeit stiften, der Geistes- und Seelenfreundschaft: des Sich-Aneinander-Freuens und Sich-Füreinander-Interessierens, aber auch des Aneinander-Leidens und -Erwachens;
  • zur Selbstfindung beitragen, zu der tiefen Gewissheit: Ich bin getragen vom ewigen Selbst, das in mir wirkt, das mich prägt – ich bin selbst die Tür zur geistigen Welt. Der Christus in mir ist die Tür, der Weg und alles, was ich brauche.

Diese Absichten können uns helfen mit unserem Denken, Fühlen und Wollen den geforderten Dienst am Zeitgeist vollziehen, was heute bedeutet: Die Waldorfschule darf sich wieder dazu bekennen, dass sie jedes Kind aufnimmt. Sie muss sich dessen nicht mehr schämen. Die Zeit des Schämens ist vorbei – die Zeit der Freude im Lichte großer globaler Herausforderungen ist angebrochen.

Vgl. Vortrag „Chancen und Risiken für Waldorfpädagogik und Inklusion“, gehalten 2014


[1] Die "UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen" inklusive Zusatzprotokoll wird 2006 von der UN-Generalversammlung verabschiedet: Gesellschaftliche Teilhabe ist demnach ein Menschenrecht, das ohne Einschränkungen auch für behinderte Menschen gilt. Die UN-Konvention erfasst sämtliche Lebensbereiche, von der Arbeit über Bildung, Gesundheit und Pflege, persönliche Mobilität, Fragen des Bauens und Wohnens bis hin zur politischen Teilhabe. Zentraler Leitgedanke bei der Umsetzung der Konvention ist das Prinzip der Inklusion, wonach Menschen mit Behinderungen von Anfang an und in allen Lebensbereichen an der Gesellschaft teilhaben sollen (http://www.inklusion-schule.info/inklusion/un-konvention.html).

[2] Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293.

[3] Grundsteinspruch für die Freie Waldorfschule Stuttgart: „Es walte, was Geisteskraft in Liebe …“. In: Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts. GA 269, S. 167.

[4] Neues Testament, Matthäus 20, 16. Kompletter Vers: „So werden die letzten die ersten sein und die ersten die letzten.“

FÖRDERLEHRER UND SCHULARZT DAMALS UND HEUTE

Wie stand die Ur-Waldorfschule zur Inklusion?

Wie sollten Förderlehrer und Schularzt heute zusammenwirken?

Warum gehört in jede Schule ein Arzt, nicht nur ein Schulpsychologe oder eine school nurse (Schulkankenschwester), wie es sie in vielen englischsprachigen Schulen gibt?

Aufgaben des Schularztes

Um mit der letzten Frage zu beginnen: Selbstverständlich ist es viel besser, einen Schulpsychologen oder Pfleger zu haben als niemanden dergleichen. Doch der Schularzt sollte nicht nur den Gesundheitszustand eines jeden Kindes kennen, sondern die ganze Schule dahingehend im Blick haben, auch die Lehrergesundheit. Das war Rudolf Steiner ganz wichtig.

Karl Schubert war Förderlehrer, ein echter Inklusionslehrer. Er hatte die „Hilfsklasse“ und nahm jedes Kind auf, das man ihm brachte. Zwei Jahre später, 1921, stieß zur großen Freude Rudolf Steiners der österreichische Arzt Eugen Kolisko zum Kollegium hinzu. Ab da erwähnte Rudolf Steiner überglücklich in jedem Vortrag, den er in einem größeren Zusammenhang hielt, dass jetzt auch ein Arzt an der Schule sei.

Für die Lehrergesundheit sorgen

Auf den seit 1978 jährlich am Goetheanum stattfindenden Weiterbildungen zum Kindergarten- und Schularzt, findet ein reger Austausch darüber statt, wie wichtig es ist, Lehrer rechtzeitig „aufzuspüren“, bevor sie krank werden. Es macht Sinn, sie für 4 Wochen zu beurlauben, bevor sie gänzlich erschöpft sind und ernsthaft krank werden. Auf diese Weise sind die Fehlzeiten kürzer und die Zeit der Krankschreibung kann für Erholung und Unterrichtsvorbereitung genützt werden. Ich habe es immer sehr bedauert, wenn Lehrer einen gesundheitlichen Zusammenbruch erlitten und oft auch aus Rücksicht gegenüber den vertretenden Kollegen wieder zu früh in die volle Unterrichtsbelastung eingestiegen sind. Unnötiger Kräfteverschleiß ist die Folge. Wir müssen diesbezüglich umdenken lernen.

Vor allem sollte im normalen Zeitbudget vorgesehen sein, dass jeder Lehrer zwei Förderstunden pro Woche für die Schüler der eigenen Klasse haben darf. Warum? Weil der eigene Lehrer in der Regel auch der beste Förderlehrer ist und die Durchführung von Förderunterricht zugleich die nachhaltigste Fortbildung und Kompetenzerweiterung für ihn ist. Er lernt seine Schüler besser zu verstehen und seinen Unterricht differenzierter vorzubereiten.

Ärztliche und pädagogische Intuition

Als Lehrer Fortbildungen zu Inklusionspädagogik, Sonderpädagogik, Förderpädagogik bei bestimmten Krankheitsbildern zu besuchen. ist zwar interessant, doch wird daraus noch keine inklusive Unterrichtspraxis. Man kann sich heute auch im Internet fachlich hervorragende Videos anschauen und sich so weiterbilden. Wirkliche Kompetenz wird nur durch Tun erworben – durch Versuch und Irrtum und vor allem durch liebevolle Hinwendung zum einzelnen Kind. Natürlich können dabei Förderlehrer, Schularzt, Heileurythmist und Sprachgestalter eine entscheidende Hilfe sein.

Erst indem der Lehrer so etwas wie ärztliche Intuition erwirbt, wird Pädagogik heilsame Auswirkungen haben. Meine Erfahrung ist, dass die ärztliche und die pädagogische Intuition ganz nahe beieinander liegen. Es geht um dieselbe Haltung, weshalb beide Berufe sehr viel voneinander lernen können. Denn beide stellen dem Kind (oft nur innerlich) die gleichen Fragen:

Wie kann ich dir am besten helfen?

Was brauchst du von mir?

Wie kann ich dich mit meinen Fähigkeiten auf deinem Weg so begleiten, dass du bestmöglich zu dir kommst, dass du die oder der werden kannst, der oder die du werden möchtest?

Waldorfpädagogik als ursprünglich inklusive Pädagogik

Die inklusive Pädagogik gehörte zum Grundkonzept der ersten Waldorfschule[1] und war leitendes Ideal bis zum Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft 1935 durch die Nationalsozialisten, was auch die Schließung der Waldorfschulen zur Folge hatte.

Nach Ende des zweiten Weltkrieges begannen die Waldorfschulen wieder neu. Es fing pionierhaft an: Man heizte mit Öfen in den Klassenzimmern, die Kinder brachten Kohlen und auch anderes mit, was in der Schule fehlte. Auch Karl Schubert kam 1946 wieder zurück an „seine Schule“ und brachte „seine Schüler“ mit. Karl Schuberts Förderklasse war die einzige Waldorfklasse, die nicht geschlossen wurde, die von der Grundsteinlegung der Waldorfschule an durch die Zeit des Nationalsozialismus hindurch weiterbestand. Mehrmals entgingen Karl Schubert und seine Kinder wie durch ein Wunder der Deportation. Somit hat die inklusive Waldorfpädagogik den Krieg in ungebrochener Kontinuität überdauert.

Ende der Inklusion nach dem Krieg

Trotzdem entschied sich das Lehrerkollegium nach dem Krieg gegen die Wiederaufnahme des Förderbereiches. Man wollte die Differenzierung in eine Schule für seelenbedürftige Kinder und Jugendliche und eine „normale“ Waldorfschule. Dass dieser Entscheid verständlich war – schon um den Ruf zu überwinden, die Waldorfschule sei eine „Dummenschule“ – liegt auf der Hand. Da ich selbst seinerzeit auf diese Schule gegangen war, kann ich mich noch gut erinnern, wie wir damals von Schülern anderer Schulen diesbezüglich gehänselt wurden. „Dummenschule“ wurde uns nachgerufen. Worauf wir stolz erzählten, schon Englisch- und Französisch-Unterricht zu haben und betonten, dass es keine „schwierigen“ oder „dummen“ Kinder in unserer Klasse gäbe.

Karl Schubert war nur noch als Religionslehrer willkommen und studierte die Oberuferer Weihnachtsspiele ein, für die er die Regieanweisungen von Rudolf Steiner erhalten hatte. Seine Förderklasse wurde zum Grundstock der späteren Karl-Schubert-Schule. Sein wichtigstes Anliegen war es gewesen, auszustrahlen, dass jedes Kind in der Schule willkommen ist, dass es hier Erwachsene gibt, die um jedes Kind kämpfen. Das war mit dieser Teilung vorbei.

Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012


[1] Dietrich Esterl, Die erste Waldorfschule: Stuttgart Uhlandshöhe 1919-2004. Daten – Dokumente – Bilder. DRUCKtuell Druck- und Verlagsgesellschaft mbH, Gerlingen 2006.

ENTWICKLUNGSPHASEN UND PÄDAGOGIK

Wie lässt sich die Notwendigkeit altersgerechter Pädagogik erklären?

Zu welchen Entwicklungsphasen gehören welche pädagogischen Angebote?

Vorschulzeit und erste Schuljahre bis ca. 9. Lebensjahr

Differenziertes Ausreifen des Nervensystems und der sensomotorischen Koordination (d.h. die Verknüpfung von Sinnesfunktionen mit der muskulären Tätigkeit) brauchen vielseitiges Üben und Betätigen. Koordinierte körperliche Bewegung und Freude am Entdecken der Sinneswelt – mit Hilfe aller Sinne – ist die natürliche Begabung der Kinder dieses Alters. Sie wissen instinktiv, dass ihnen das gut tut. So gilt es, Bewegungs- und Spielräume zu schaffen, in denen sie sich geschickt und altersentsprechend bewegen und betätigen können. Diesem Prinzip folgt der Waldorflehrplan von der Kinderkrippe an bis zum 9. Lebensjahr konsequent. In jedem Unterricht ist das Bewegungselement in irgendeiner Weise mit integriert, nicht nur in den so genannten Bewegungsfächern, deren Lehrplan insbesondere sensomotorisch wertvoll veranlagt ist. Denn alle Bewegungen – einschließlich dem kindgerechten Spiel- und Turnunterricht – werden in diesem Alter noch eng verknüpft mit Sinneserlebnissen praktiziert und oft begleitet durch musikalisch-rhythmische Übungen in Form von Sing-, Sprach- und Bewegungsspielen. Durch die musikalisch-rhythmischen Tätigkeiten wird auch die zur Sozialisation notwendige Fähigkeit des Zuhörens mit veranlagt.

Auch sind es ausschließlich entwicklungsphysiologische und psychologische Gründe, die ein striktes PC- und Multimediaverbot für Kindergärten und Grundschulen zum Ideal der Waldorferziehung machen. Was jetzt weltweit propagiert wird und einen hohen wirtschaftlichen Gewinn verspricht, „one Laptop per child" (der Mini-Bildschirm mit Flash-Speicher, WLAN und dem Betriebssystem Linux), um insbesondere Kindern der 3. Welt Anschluss an das digitale Zeitalter zu geben, ist eine gute Idee zum falschen Zeitpunkt. Und zwar nicht nur, weil die so genannten Entwicklungsländer sauberes Wasser, medizinische Grundversorgung und „richtige Schulen" brauchen, sondern weil jede Stunde vor dem Bildschirm das Aufsteigen eigener, nicht manipulierter innerer Bilder behindert und die Kinder am In-Bewegung-Sein hindert. Die Gehirnaktivität wird dadurch eingeschränkt, die sensomotorische Integration gestört – ganz unabhängig von dem Inhalt der Informationen und dem Problem, diese nicht eigenständig verarbeiten zu können.

Zu empfehlen sind:

  • Anregung von Initiative durch eigenes Tun und „Vorbild-Sein"
  • Spielmaterial, das die Eigenaktivität fördert: einfache Gegenstände und Materialien, die der Phantasie Raum lassen und zu vielen Gestaltungsmöglichkeiten anregen
  • Aktivierung und Pflege der Sinne durch entsprechend ausgestattete Spielräume
  • Veranlagen guter Gewohnheiten durch regelmäßiges Tun, kleine Rituale am Morgen, beim Essen, am Abend vor dem Schlafengehen
  • Rhythmische Gestaltung des Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreslaufes
  • Momente ungeteilter Aufmerksamkeit für das Kind: z.B. beim Aufstehen und Zubettgehen und dann hin und wieder während des Tages, in denen eine Begegnung, ein Sich-Wahrnehmen stattfinden kann.
  • Ein „nonverbaler" Erziehungsstil: Nicht das Wort, sondern die Handlung, das Vorbild zeigt, worum es geht. Nur so erlebt sich das Kind frei gelassen. Denn es ahmt aus eigenem Antrieb nach.
  • Möglichkeiten, der Natur zu begegnen
  • Vermeiden von Multimedia-Angeboten und technischem Spielzeug
  • Auch wenn der Tag sonst mit vielen Pflichten angespannt verläuft – das Kind im Bewusstsein haben, es „in Gedanken tragen, mitnehmen". Diese innere Tätigkeit hilft, dass der äußere Kontakt beim Wiedersehen schnell wieder da ist. Wichtig ist, die Nähe und Zugewandheit in der Beziehung zu pflegen und diese nicht abhängig zu machen von Wohlverhalten und schulischer Leistung.
  • Freude und Dankbarkeit zeigen
  • Klare Grenzen setzen und „leben". Das gibt Sicherheit und Orientierung.

...bis zum 14./15. Jahr

Jetzt wird vor allem wichtig, was Ausbildung und Entwicklung der rhythmischen Funktionen fördert: Das sind Empfindungen und Gefühle. Nie atmen wir tiefer durch, als wenn wir uns wohl fühlen, nie schlägt das Herz gesünder, als wenn sich die Kinder freuen oder mit Eifer tätig sind. Zwischen dem 9. und 15. Lebensjahr zielt die gesamte Pädagogik und Didaktik darauf hin, das prozessual-künstlerische, aber auch ästhetische Element in allen Unterrichtsfächern zu berücksichtigen. Was beim Geräteturnen im Sport exakter und vollendeter Bewegungsablauf ist, den es einzuüben gilt, das sind im Geschichtsunterricht Gespräche und Unterrichtsfragen, in denen Ereignisse von mehreren Seiten so betrachtet werden, dass sich für den Schüler ein sinn­volles Ganzes ergibt, eine Art ästhetischer Zustand, „durch den er mit sich und der Welt übereinzustimmen lernt." Im naturwissenschaftlichen Unterricht sind es insbesondere die Experimente: Der Schüler beobachtet exakt und dokumentiert die sich darin zeigenden Gesetzmäßigkeiten übersichtlich und „schön". Er lernt ihren Wirkradius verstehen und sie handhaben. Auch mathe­matische Gesetze haben ihre Schönheit, weil sie „stimmen" und konstituierend sind, nicht nur in Technik und Wissenschaft, sondern auch im Leben. So werden die Schüler vertraut gemacht mit den Eigentümlichkeiten und „Stimmigkeiten" der Welt und der menschlichen Kultur.

Auch in diesen Lebensjahren empfiehlt sich noch Zurückhaltung in Bezug auf das digitale Zeitalter. Nur das sollte an Maschinen delegiert werden, was man im Prinzip auch selbst beherrscht und durchschaut. Selber Kopfrechnen, Theaterspielen, Musizieren, Tanzen, Erlebnisfahrten und Entdeckungen machen, lernen, wie man „live" Beziehungen pflegt – das sollte jetzt im Vordergrund stehen. Was zu Hause oft schon viel zu früh als Konzessionen an die Multimedia-Industrie zugelassen wird, sollte in der Schule umso mehr dazu motivieren, Leben und Realität an die Stelle von Technik und Virtualität zu setzen. Manchmal hilft auch der einfache Gedanke, Eltern und Schüler für diesen „Verzicht auf Zeit" zu mobilisieren, dass die Erfinder der Computer in ihrer eigenen Kindheit ohne diese Spielmöglichkeiten aufgewachsen sind. Um Neues zu finden, braucht man Kreativität und nicht Konditionierung.

Zu empfehlen sind:

  • Gesprächskultur – das Kind, den Jugendlichen teilnehmen lassen an interessanten Gesprächen Erwachsener. Mit inneren Fragen leben: Wann war unser letztes Gespräch? Wann hatte ich Zeit, Interesse? Habe ich das Anerkennenswerte bemerkt, lobe ich genug oder bringe ich eher zum Ausdruck, was mich stört?
  • Moderne Führungsstrukturen sprechen gern von „Fehlerkultur". Wer aus seinen Fehlern lernt, entwickelt sich nachhaltig – entsprechend auch ein Team zusammenarbeitender Menschen. Wie gehe ich mit Fehlern und Fehlverhalten in der Schule um? Wie helfe ich aus Fehlern zu lernen und diese nicht (nur) schlimm zu finden?
  • Klare Führung in Grundsatzfragen im Tagesablauf unter Einbeziehung der Wünsche der Kinder. Verabredungen treffen und klar vereinbaren, wie sie überwacht werden.
  • Künstlerische Betätigung, insbesondere Erlernen eines Musikinstrumentes
  • Kontrollierter Multimediagebrauch und wo immer möglich das Aufarbeiten des Gesehenen und Erlebten im Gespräch.

... bis zum 21./22. Jahr

Vom 13., 14., 15. Lebensjahr an bis zum 19., 20., 21. Lebensjahr erhebt sich die Frage, auf welche Weise mit pädagogischen Mitteln unterstützt werden kann, was jetzt physiologisch an Entwicklungsprozessen im Vordergrund steht: die Ausreifung des Skelettsystems bis zur Erwachsenengröße und die hormonelle Umstellung und Ausreifung des intermediären Stoffwechsels nach der Pubertät. Zunächst könnte man meinen, Stoffwechsel und Skelett brauchen primär körperliche Betätigung – das ist natürlich richtig, jedoch nicht genug. Vielmehr gibt es eine andere Fähigkeit, die kontinuierlich, sozusagen von innen her, den Menschen erwärmt, anregt, aber vor allem auch aufrichtet und erfüllt: Es sind die zielorientierten Ideen, Interessen, Gesichtspunkte und Motivationen, die befeuern, die begeistern. Man sieht es den Jugendlichen unmittelbar am Gang und Bewegungsspiel an, an der Körperhaltung und Mimik, ob sie Gedanken hegen, durch die sie sich innerlich angeregt, motiviert, „aufgerichtet" fühlen oder ob sie Gedankenöde erleben und infolgedessen Lustlosigkeit und Desinteresse. Die Sprachweisheit bringt dies klar zum Ausdruck, wenn das Wort „Aufrichtigkeit" gerade diese doppelte Bedeutung hat: einmal „ehrlich, aufrichtig, wahrheitsorientiert" und zum anderen „körperlich aufgerichtet, gerade".

In der Oberstufe kommt den Erziehungsmaximen von Nachahmung und Vorbild, von Stimmigkeit und Schönheit untergeordnete Bedeutung zu. Jetzt geht es um Gewissensbildung, Wahrhaftigkeit und Freiheit. Wie muss ich unterrichten, damit der Jugendliche selber zu den Einsichten kommt, die in diesem Unterrichtsfach Sinn machen? Wie schafft man es, dass der Jugendliche nicht nacherzählt, was man selber vorgedacht hat, sondern dass man ihm Gesichtspunkte gibt, Bedingungen schildert, anhand derer er selbst die Lösung einer bestimmten Frage herausfinden kann?

Zu empfehlen sind:

  • Fragekultur entwickeln, zum „selber Denken" anregen
  • Freund und Begleiter sein, Interesse haben für das, was den Jugendlichen interessiert
  • Wachsendes Freiheitsbewusstsein und Selbstständigkeit respektieren, eigene Erwartungen zurückstellen
  • „Familienrat" halten. Verabredungen gemeinsam treffen, deren Erfolg/Misserfolg analysieren und das weitere Vorgehen beraten
  • Sich über das „ganz andere" freuen lernen, verstehen wollen, was den Jugendlichen bewegt
  • Vertrauen riskieren und signalisieren: Ich stehe zu dir, egal was kommt – und bin gespannt, wie dein Leben sich entwickeln wird.

Jegliche Erziehung ist Selbsterziehung

Unterricht als Selbstfindungsprozess zu begreifen, Erziehung in allen Phasen als Selbsterziehung – darauf kommt es an, erst selber nachahmen, dann selber die Stimmigkeit erleben, wenn verschiedene Zusammenhänge und Verständnismöglichkeiten erläutert werden, und schließlich selber verstehen, herausfinden, was gefragt ist – das ist der Grundnerv einer entwicklungsphysiologisch basierten Erziehung. Denn so wie das Kind es selber ist, welches sich entwickelt, so sollte es auch stets das Erleben haben, dies oder das habe ich selbst beobachtet, selbst gesehen, selbst gelernt. „Selbermachen" macht schon dem kleinen Kind weit mehr Freude, als alles Mögliche abgenommen zu bekommen, von demjenigen der es „besser" kann. Entwicklungsphysiologische Erziehung regt die Eigentätigkeit an, begreift den Erziehungsauftrag so, wie ihn Rudolf Steiner in seinem Baseler Lehrerkurs charakterisiert:[1]

Jede Erziehung ist Selbsterziehung, und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muss.

Wer so zu sich kommt, ist dann auch im späteren Leben innerlich aktiv genug, um sich nicht zu langweilen. Er kann Technik sinnvoll nutzen, ohne dadurch bequem und unproduktiv-unzufrieden zu werden. Er ist weitgehend geschützt vor dem Abhängig-Werden von Drogen u.a. Er hat die Chance, selbstbestimmt zu leben.

Vgl. 1. Kapitel, „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband, Verlag am Goetheanum, Dornach 2006, derzeit vergriffen


[1]  Rudolf Steiner, Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft. GA 301.

KÖRPERLICHE ENTWICKLUNG UND LERNFÄHIGKEIT

Kann die Lernfähigkeit des Kindes missbraucht werden?

Wie kann man dieser Gefahr wirksam begegnen?

Zusammenhang zwischen Denk- und Lebensprozessen erkennen

Wer beginnt, den Zusammen­hang zwischen dem Gedankenleben und dem Körperleben zu durchschauen, dem erwächst eine neue Verantwortung. Er muss sich fragen:

Wie ist der Prozess der Entwicklung zu lenken, dass die Wachstumskräfte, die der Körper für seine Entwicklung braucht, nicht zu früh zu intellektueller, gedanklicher Tätigkeit herangezogen und damit dem Körper für sein Gedeihen entzogen werden?

Die Lernfähigkeit des Kindes macht es möglich, die Wachstumskräfte zu missbrauchen und in einseitiger Weise verfrüht zu trainieren und damit die körperliche Entwicklung zu schädigen.

Rudolf Steiner ist der Erste, der in seinen pädagogischen und me­dizinischen Vorträgen auf diese Gefahr hingewiesen hat. Es ist daher eines der Hauptanliegen der Waldorfpädagogik, auf diesen Entwicklungszusammenhang Rücksicht zu nehmen und den Lehrplan nicht nach abstrakten Leistungsanforderungen, sondern nach gesundheitlichen Gesichtspunkten einzurichten.

Krankheit als notwendig anerkennen

Auch die anthroposophische Kinderheilkunde basiert auf der Berücksichtigung dieses Zusammenhangs: Ziel kann nicht sein, eine Krankheit so schnell wie möglich „wegzuzaubern“ oder den Krankheitsprozess zu unterdrücken. Vielmehr wird in der Bereitschaft des Körpers, krank zu werden, etwas gesehen, was er für seine Entwicklung braucht. Das Kind sollte die notwendige Zeit für Bettruhe, häusliche Rekonvaleszenz und Pflege bekommen und vor seelischer und geistiger Überanstrengung während dieser Zeit geschützt werden. Sind doch die Kräfte, die der Körper für seine Heilung benötigt, dieselben, die auch im Wachs­tum und in der Regeneration, aber auch im menschlichen Denken betätigt werden.

Vor dem Hintergrund dieser Tatsache eröffnen sich neue Perspektiven für Krankheits­prophylaxe:

  • Man wird alles tun, um zu verhindern, dass dem heranreifenden Organismus zu früh seine Wachstumskräfte entzogen werden, durch einseitige gedankliche Entwicklung.
  • Man wird aber auch zu verhindern suchen, dass die geistigen Kräfte brachliegen und nicht zu altersentsprechenden Lernvorgängen herangezogen werden. Denn nur die gesunde Inanspruchnahme des Denkens führt zu­gleich zu einer Stärkung der vitalen Prozesse des Organismus.

Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart

HOCHBEGABUNG UND WALDORFPÄDAGOGIK

Was zeichnet hochbegabte Kinder aus?

Was macht sie zu Problemfällen?

Wie lassen sie sich in den Klassenzusammenhang integrieren?

Buch zum Thema

Der Waldorflehrer und Lehrbeauftragte Michael Götte Wenzel an der Stuttgarter Hochschule für Waldorfpädagogik führt in dem von ihm herausgegebenen Buch ‚Hochbegabte und Waldorfschule’[1] wie folgt in die Thematik ein:

„Der statistische Durchschnitt hochbegabter Schüler wird gewöhnlich auf etwas über 2% eines Jahrgangs angesetzt. Bei fast 80000 Waldorfschülern in Deutschland würden über 1800 Schüler in diese Gruppe gehören. Nur von einigen wenigen wissen wir, dass sie zu „Problemfällen“ geworden sind. Auch kommt es vor, dass Schüler von der Schule abgehen, weil sie sich unterfordert fühlen bzw. Eltern der Ansicht sind, ihre Kinder müssten intellektuell mehr gefordert werden (…). Bis heute mischen sich bei diesem Thema Gefühle ein, die mit der Sache nichts zu tun haben. Elitebildung wird assoziiert, Beanspruchung von Sonderrollen, fehlende Sozialität usw.

Verständlich ist das, denn Lehrer haben es gelegentlich schwer damit, weil sie Kindern „überlegen“ sein wollen und ein Schlauberger manchmal etwas besser weiß oder schneller rechnet oder gar Fehler beim Lehrer findet.“

Es ist zu hoffen, dass dieses Werk auch bald im nicht-deutschsprachigen Kulturraum verfügbar sein wird.

Rudolf Steiner als Kind

Dort ist auch zu lesen, wie es Rudolf Steiner selbst als Kind erging, worüber er in seiner Autobiographie „Mein Lebensgang“ schreibt.[2] Die vielen Fragen, die das Kind Rudolf Steiner in sich trug, „…machten mich als Knaben recht einsam. Von einem Lehrer unterrichtet zu werden, dem das Schule-Halten eine lästige Beschäftigung war, das war dem Erstklässler ebenfalls eine lästige Beschäftigung.“

Vorübergehend übernahm dann sein Vater selber den Unterricht, als es mit dem damaligen Lehrer wegen einer Ungerechtigkeit zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Jungen gekommen war. Nach einem beruflich bedingten Umzug wurde er wieder eingeschult und entdeckte um das neunte Lebensjahr herum bei einem Lehrer ein Geometrie-Buch: „Mit Enthusiasmus machte ich mich darüber her. Wochenlang war meine Seele ganz erfüllt von der Kongruenz, der Ähnlichkeit von Dreiecken, Vierecken, Vielecken; ich zergrübelte mein Denken mit der Frage, wo sich eigentlich die Parallelen schneiden; der Pythagoräische Lehrsatz bezauberte mich.“

Hochbegabte denken und fühlen anders

Da Hochbegabte selten „einfache“ Schüler sind, sondern eher individuell oder auch sozial als „schwierig“ erscheinen, gilt es zunächst, dieses Phänomen als solches ins Auge zu fassen.

Hochbegabte denken anders, denken schneller, empfinden differenzierter oder einfacher als „der Durchschnitt“. Auch sind sie innerlich oft mit Fragen und Sorgen beschäftigt, von denen der Erwachsene meint, dass sie dafür noch zu klein oder zu jung seien. Je weniger sich aber ein Kind verstanden fühlt, umso unwohler fühlt es sich und umso schwieriger und unangepasster erscheint es dann auch.

Gise Kayser-Ganthner von der Landesarbeitsgemeinschaft Freie Waldorfschulen in Baden-Württemberg bringt das damit verbundene Problem in einer bildungspolitischen Diskussion mit Baden-Württembergischen Landtagsabgeordneten auf den Punkt: Heute haben Lehrer nicht nur Erziehungsarbeit, sondern auch Beziehungsarbeit zu leisten. Insofern könnte eine professionelle Beratung für Lehrer manchmal eine große Hilfe sein, egal, ob es um Kinder mit einer (Hoch)Begabung oder einer Behinderung geht. Die Frage ist, ob ein persönlicher Zugang zum Kind gefunden wird oder nicht.

In einem Interview sagte mir ein Waldorflehrer einmal: Als Klassenlehrer begleite ich ein Kind innerhalb von acht Jahren länger als heute manche Ehe hält. Auch solche Entwicklungen muss ein Lehrer heute in Betracht ziehen.

Umgang mit Hochbegabung im Schulalltag

Als Schulärztin wurde ich immer wieder in Schicksalsfragen einbezogen mit Bezug auf einen möglichen Schulwechsel, einen Teilzeitunterricht an der Waldorfschule und parallel dazu eine Hochbegabten-Förderung an der Musikhochschule oder Universität. Einzelfälle dieser Art sind eigentlich immer gut zu lösen, wenn man das Kind in den Mittelpunkt des Interesses rückt.

Schwieriger ist die Frage zu behandeln, ob ein Kind aus seinem Klassenverband herausgelöst werden und eine oder zwei Schulklassen überspringen soll. Daher seien zu dieser Situation einige Gesichtspunkte angefügt:

  • Dem altersentsprechenden Klassenverband mit seiner natürlichen Schwankungsbreite von einem guten Jahr ist ein großes Gewicht beizumessen. Warum? Weil er unter den Schülern das Empfinden für den eigenen Jahrgang, die „Generation“, der man angehört, stärkt und – was besonders wesentlich ist – dem ohnehin schon vorhandenen Auseinanderklaffen körperlicher und seelischer Reifungsvorgänge entgegenwirkt.
  • Es bietet sich an, den Hauptunterricht in der Waldorfschule gemeinsam im Klassenverband zu erleben und dann, je nach Fähigkeitsprofil und Begabung, die Einzelförderung anzusetzen.
  • Die Vergabe spezieller Hausausgaben, die mehr fordern und dem Schüler auch die Möglichkeit geben, in seiner Klasse etwas von dem zeigen und darstellen zu können, was er sich erarbeitet hat.
  • Übungen in sozialer Kompetenz verabreden, indem Anleitung gegeben wird, wie man einem Minderbegabten bei der Fertigstellung seiner Arbeiten so helfen kann, dass es ihn weiterbringt und zugleich der Zusammenhang im Klassenverband eine wichtige Unterstützung erfährt.
  • Es ist darauf zu achten, dass der Schüler einen integrierten Sonderstatus hat, nicht jedoch einen generellen, so dass die harmonische Gesamtreifung der Persönlichkeit ebenfalls Unterstützung findet.

Präventivmedizinische Sicht

Aus präventivmedizinischer Sicht kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Mir sind viele Fälle von zentralnervösen Abbauerscheinungen bekannt, einschließlich der Alzheimer‘schen Erkrankung, die gerade Menschen mit hoher oder überdurchschnittlicher Intelligenz betroffen haben und wo sich in der Anamnese häufig das Überspringen von Klassen findet. Ebenso sind Studien bekannt, die einen Zusammenhang zwischen der Intelligenz im Kindesalter und Alzheimer’scher Erkrankung nahelegen.[3]

Ob dies Zufall ist oder einen wichtigen menschenkundlichen Zusammenhang aufdeckt, der die Phase der Inkarnation – d.h. der Phase der körperlichen Entwicklung, der „Verkörperung“ – in der Kindheit mit derjenigen der Exkarnation – d.h. der langsamen „Entkörperung“, die wir altern nennen – verbindet, ist die Frage.

Bezieht man die anthroposophische Menschenkunde mit ihrer Wissenschaft vom Ätherischen mit ein, so handelt es sich hier um einen klaren Zusammenhang: Wird Intelligenz zu früh gefördert, so wird dem ätherischen Organismus nicht die nötige Zeit gelassen, die leiborientierte Arbeit in Wachstum und Entwicklung zu leisten. Die verfrühte und ausgiebige Inanspruchnahme für die Entwicklung von verschiedenen Ausdrucksformen menschlicher Intelligenz ist eben zugleich mit der nicht mehr leibgebundenen Tätigkeit des ätherischen Organismus verbunden. Je intellektueller, d.h. abstrakter und damit leibunabhängiger ein Gedankenvorgang ist, umso mehr steht er im Gegensatz zur Aufbau- und Regenerations­tätigkeit des Organismus.

Kreativer Umgang mit Intelligenz

Daher werden in der Waldorfschule kreative Intelligenzformen – wie sie im künstlerischen Tun gepflegt werden, aber auch Förderung und Pflege innerer Bilder und Phantasietätigkeit – im Hauptwachstumsalter bevorzugt, da diese durch die stärkere Unterlegung mit Gefühlen physiologisch weniger leibunabhängig verlaufen als die abstrakte Gedankentätigkeit. Durch dieses Vorgehen gibt man dem Nervensystem einerseits mehr Möglichkeit zur ungestörten Reifung und fördert andererseits den kreativen Umgang mit Intelligenz. Auf diesem Gebiet bedarf es eingehender Studien, die in Zusammenarbeit von Kinder- und Schulärzten mit Internisten und Gerontologen durchgeführt werden müssen.

Vorbildlich für die Hochbegabtenförderung war für mich immer der Fall Else Klink in der Stuttgarter Waldorfschule noch zu Rudolf Steiners Zeiten. Da war es selbstverständlich, dass sie schon ab der 10. Klasse nach dem Hauptunterricht ihre Eurythmie-Ausbildung beginnen und so die Voraussetzung schaffen konnte für ihre spätere Laufbahn als herausragende Bühnenkünstlerin. Dennoch war sie aber sozial noch voll in ihrem altersentsprechenden Klassenverband integriert. Meiner Erfahrung nach genügt es schon, wenn man hochbegabte Kinder auf ein oder zwei Gebieten ihrer Wahl einzeln fördert und im Übrigen der Klasse das Glück gönnt, ein hochbegabtes Kind in seiner Mitte zu haben. Dies kann eine ganze Klasse enorm stimulieren und begeistern und umgekehrt den Hochbegabten die Möglichkeit geben, neben der Intelligenz auch die heute so dringend nötigen ethisch-sozialen Fähigkeiten zu erwerben.

Vgl. 14. Kapitel von „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband 2006, derzeit vergriffen


[1] Michael Götte Wenzel, Hochbegabte und Waldorfschule: Grundlagen, Aufgaben, Anregungen, ISBN: 9783772522642

[2] Rudolf Steiner, Mein Lebensgang. Verlag am Goetheanum, Dornach 2000, S. 55-56.

[3] J. Arehart-Treichel, Childhood Intelligence Linked to Alzheimer’s Risk. Psychiatric News, January 19, 2001, Vol. 36, No. 2.

DIE FÜNF EBENEN DES MENSCHSEINS

Was ist mit den fünf Ebenen des Menschseins gemeint?

Was meint Rudolf Steiner mit der Metamorphose der Wesensglieder?

Wo befindet sich die Austrittspforte für das Ätherische?

In der Waldorfpädagogik wird mit den fünf Ebenen des Menschseins gearbeitet:

  1. Physische Ebene
  2. Ätherische Ebene
  3. Astralische Ebene
  4. Ich-Organisations-Ebene
  5. „Quinta essentia“

Die Metamorphose der Wesensglieder

In der ersten Lebensphase wird der physische Leib durch das Zusammenwirken der höheren Wesensglieder gebildet:

  • Der Ätherleib ermöglicht Wachstum und regt alle Bildeprozesse an.
  • Der Astralleib ist zuständig für alle Differenzierungsprozesse von der notwendigen Zelldifferenzierung bis hin zur Differenzierung der Geschlechter.
  • Die Ich-Organisation ist unsere integrierende Kompetenz und sorgt für eine einheitliche Gesamtgestalt, aber auch für die Abstimmung aller Organ-Funktionen untereinander.

Im Zuge der körperlichen Reifung haben die bildenden, differenzierenden und integrierenden Kräfte nach und nach ihr Werk getan. Sukzessive verlassen sie Tag für Tag und Jahr für Jahr den im Wandel begriffenen Körper und metamorphosieren sich in die leibfreien, rein seelisch-geistigen Kräfte unserer Aura, die unser leibfreies Denken, Fühlen und Wollen ermöglichen:

  • So verdanken wir unser Denken dem Ätherleib, den formgebenden Wachstumskräften, die im Laufe des Lebens und Alterns immer weniger im Körper gebraucht werden und so zunehmend als leibfreie Denktätigkeit zur Verfügung stehen.
  • Wir verdanken unser Fühlen dem Astralleib, weil auch die differenzierenden und polarisierenden Kräfte den Körper sukzessive verlassen, um frei zu werden für das „Mit“- und „Selbst“-Gefühl.
  • Wir verdanken unser (leib-)freies Wollen den integrierenden Kräften der Ich-Organisation, die sich ebenfalls sukzessive aus dem Körper herauslösen, wenn ihre Arbeit am Körper getan ist.

Nach Paracelsus ist die quinta essentia das Prinzip der rein spirituellen „leibfreien“ Wesensglieder-Tätigkeit des Denkens (leibfreier Ätherleib), des Fühlens (leibfreier Astralleib) und Wollens (leibfreie Ich-Organisation).

Das Herz als Schwelle und Pforte

Wir kennen dank der Ausführungen Rudolf Steiners über die Ätherisation des Blutes[1] auch den Ort, an dem diese Wesensglieder-Kräfte den Leib verlassen: unser Herz. Im Herzen steht das Blut am Ende jeder Diastole für Sekundenbruchteile still, bevor das einströmende Blut sich wieder anschickt, den Rückweg aus dem Herzen in den Lungen- und Körperkreislauf anzutreten. Bevor das geschieht, sind Muskulatur und Herzklappen um den für Bruchteile von Sekunden stillstehenden Blutinhalt des Herzens geschlossen und angespannt. Dieser Moment des vorübergehenden Stillstands – für Sekundenbruchteile! –  wird in der Physiologie Diastase genannt und ist die Voraussetzung dafür, dass das Ätherische sich aus dem Blut lösen kann. Die Kräfte von Astralleib und Ich verlassen den Körper ebenfalls auf diesem Weg, durch die Pforte des Herzens, „auf den Bahnen des Ätherischen“, wie Rudolf Steiner es ausdrückt.

Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012


[1] Rudolf Steiner, Die Ätherisation des Blutes. Das Eingreifen des ätherischen Christus in die Erdenentwickelung. Vortrag vom 1. Oktober 1911 in Basel.

PÄDAGOGISCHER UMGANG MIT DEN FÜNF EBENEN DES MENSCHSEINS

Wie nimmt die Waldorfpädagogik Einfluss auf die fünf Ebenen des Menschseins?

Welche konkreten Maßnahmen kann der Lehrer ergreifen, um auf sie einzuwirken?

1. Einflussnahme auf die physische Ebene über die Sinne und den Raum

Im Physischen spielt die Vererbung eine wichtige Rolle. Doch werden die Gene heute dank der Epigenetik als offenes System verstanden – eine Tatsache, von der Rudolf Steiner immer ausgegangen ist.

  • Er erläuterte den Ärzten gegenüber, wie sie z.B. durch gute Fieberbehandlung zur Veränderung des Erbguts beitragen können.
  • Zu den Pädagogen sagte er, dass Impfung kein Problem darstelle, wenn die betroffenen Kinder eine spirituelle Erziehung bekämen, denn das Erbgut ließ sich auch durch Erziehung verwandeln.

Der Hauptansatzpunkt für die Verwandlung des physischen Leibes sind die Sinne. Denn der physische Leib ist sinnesoffen, d.h. über Sinne und mithilfe der Spiegelneuronen sind Kinder fähig zur Nachahmung. Doch alles, womit ein Kind über Sinneseindrücke in Resonanz geht, wirkt sich auch auf die Bildung des physischen Leibes aus. Wenn wir das wissen und ernst nehmen, werden wir beginnen uns in Bezug auf einzelne Kinder mit Unterstützungsbedarf zu fragen:

Welche Eindrücke brauchst Du, dass sich Dein Leib mit Hilfe Deiner Geisteskräfte, die ich in ihrer Tätigkeit unterstützen will, so formen kann, wie es für die Erfüllung Deines Schicksals optimal ist? 

In diesen Bereich gehört auch der Schulbau, die Farbgebung, die Einrichtung und Gestaltung des Klassenzimmers, die Gartengestaltung, die Bekleidung, die Ernährung. Alles das sollte bei Bedarf auch mit Blick auf jedes einzelne Kind hinterfragt werden. Um die genannten Faktoren jedoch zum individuellen Wohle jedes Kindes einsetzen zu können, brauchen wir ein Team aus Schularzt, Förderpädagogen, Sprachtherapeuten, Spezialisten für Bewegung und Körperarbeit und Ernährungsexperten, wie es im Urkonzept der Waldorfschule vorgesehen ist – selbstverständlich ergänzt durch die Möglichkeiten, die wir heute haben.[1]

2. Einflussnahme auf die ätherische Ebene über zeitlich-rhythmische Prozesse

Auf dieser Ebene kommt der altersentsprechende Lehrplan zum Tragen. Jeder Unterrichtsprozess verläuft in der Zeit, braucht Rhythmus und Wiederholung. Auch die Rücksichtnahme auf die Prozesse, die im Wechsel von Tag und Nacht sowie im Jahreslauf wirksam sind, gehört hier dazu. Im Folgenden ein paar Worte zu vier wichtigen menschlich-kosmischen Rhythmen.

- Der 24-Stunden-Rhythmus – Ich-Organisation

Ich-Organisation und Willen des Kindes werden gestärkt, wenn sie bewusst gepflegt werden durch

  • ein Tagesritual mit jedem Kind in Form von individueller Begrüßung und An-Erkennung seines So-Seins
  • den Morgenspruch
  • individuelle Ermutigung und ggf. auch Aufgabenstellung, was für Hochbegabte ebenso wichtig ist wie für minderbegabte Schüler. (Die 0/8-15-Hausaufgaben sind unter diesem Aspekt ein konventioneller Gräuel)
  • die Art der Verabschiedung
  • Blickkultur, die Art, wie und wann man ein Kind ansieht: Echter Blickkontakt bedeutet Ich-Erkraftung für das Kind, vermittelt ihm, dass es gesehen, angenommen, erkannt wird.

Im Einzelfall lässt sich noch vieles andere finden, was wir zur Befestigung der Ich-Organisation und des Willens täglich – also im 24-Stunden-Rhythmus – tun können.

- 7-Tage-Rhythmus – Ätherleib (reaktiv heilend)

Im Hinblick auf den 7-Tages-Rhythmus der Woche sei auf die Ergebnisse der Rhythmusforschung[2] verwiesen, die ihn als reaktiv heilend klassifiziert. Unter rhythmologischen Gesichtspunkten ist es angesichts der fünf Schultage eine schädliche „Un-Rhythmik“, in der Woche jeweils zwei Rhythmen zu pflegen: eins-zwei-drei-vier-fünf (Montag bis Freitag) und eins-zwei (Samstag und Sonntag). Das bedeutet: Mit der Fünf, der Zahl der Krise, bricht die Schulwoche ab. Der Prozess der 7-Tages-Rhytmik stagniert bezogen auf die von Steiner beschriebenen sieben Lebensprozesse im Prozess der „Erhaltung“. Zu „Wachstum“ und „Reproduktion“ kommt es nicht mehr. Stattdessen beginnt ein neuer Rhythmus am Wochenende, der anders ist und mit eins-zwei endet – wobei hier wiederum der entscheidende dritte Schritt fehlt.

Ich spreche daher bei allen passenden Gelegenheiten die Empfehlung aus, wenn es irgend geht, den Samstag wieder in das Schulleben miteinzubeziehen, z.B. in Form von klassenweise gut organisierter Zeit für Hausaufgaben in bestimmten Elternhäusern, möglichst zur selben Zeit wie der Vormittagsunterricht. Es wäre heilsam und stärkend, wenn die Schüler am Samstag einen in diesem Sinne gut begleiteten Vormittag erleben könnten, an dem sie in kleinen Gruppen ihr Hausaufgabenpaket der Woche abarbeiten. Sie wären dann an den normalen Schultagen von Hausaufgaben entlastet und hätten mehr Zeit für Bewegung, Hobbys, Kunst u.a.m.

- Monatsrhythmus – Ätherleib (regenerativ heilend)

Der 4-Wochen-Rhythmus ist der wichtigste regenerative Heilrhythmus. Er dient der Stabilisierung und Befestigung des Ätherleibes. Eine Epoche ist kein Fach, sondern verfolgt eine bestimmte Idee. Das kann man anhand der Lehrplanvorträge[3] studieren am Beispiel der Gesundheitslehre: Gesundheitslehre wird in Verbindung mit den Wirtschafts- und Verkehrsverhältnissen behandelt, auch wenn Wirtschaft, Verkehr und Gesundheit äußerlich betrachtet unterschiedliche Fächer betreffen. Ihnen liegt aber dieselbe Idee zugrunde – die Idee, einen gesunden Ausgleich herzustellen: wo Mangel herrscht, auszugleichen, wo Fülle herrscht, abzutransportieren, also einen gesunden Waren-, Geld-, Verkehrs- und Blutkreislauf herzustellen.

Epochen sollten bestimmte Ideen zugrunde liegen, die in Ruhe von verschiedenen Fächern her beleuchtet werden – in 4-Wochen-Blocks und nicht in drei oder zwei Wochen, wie es momentan oft der Fall ist. Diese kurzen Epochen sind für den Ätherleib nur eine Notlösung, aber keine Stärkung. Wird eine Idee, z.B. die Idee der Gesundheit, von verschiedenen Fächern aus beleuchtet, entsteht ein reiches, interessantes Panorama des Lebens, zu dem die Schüler viel beisteuern, von dem sie viel profitieren können.

- Jahresrhythmus – physischer Leib

Der Jahresrhythmus wird über die christlichen Jahresfeste, den Seelenkalender[4] und über Gedenktage gepflegt als Impuls, der zur Stabilisierung des physischen Leibes beiträgt. Bis ins späteste Alter sind die Feste etwas Wunderbares für die Sinne.

3. Einflussnahme auf die astrale Ebene über Kohärenz

Astrale Kultur ist Beziehungskultur. Aaron Antonowsky brachte mit seinem Kohärenz- und Salutogenese-Konzept[5] zur Sprache, was auch Rudolf Steiner bereits deutlich betonte und in der Kinder-Sonntagshandlung wunderbar formulierte: „Wir lernen um die Welt zu verstehen. Wir lernen, um in der Welt zu arbeiten. Die Liebe der Menschen zu einander belebt alle Menschenarbeit. Ohne die Liebe ist das Menschensein öde und leer. Christus ist der Lehrer der Menschliebe.“[6]

Antonowskys Forschungen haben ergeben, dass es auf den Menschen gesundend wirkt, wenn er versteht, was geschieht (understandibility), einen Sinn bzw. eine persönliche Bedeutung darin sehen kann (meaningfullness) und diese Einsichten entsprechend handhabt (managebility). Er nennt diese Dreiheit den „sense of coherence“, den Kohärenzsinn

  • „Wir lernen, um die Welt zu verstehen.“: Wenn man etwas lernt, es jedoch nicht versteht, ist das kränkend; und wenn man etwas versteht, aber nicht sinnvoll finden bzw. bejahen kann, so wird es zu einer Belastung.
  • „Wir lernen, um in der Welt zu arbeiten.“: Antonowsky spricht von Handhabbarkeit, von der Fähigkeit, mit den Anforderungen konstruktiv umzugehen. „Yes, we can“, war Obamas klug gewählter Slogan. Den Eindruck zu haben, dass man etwas bewältigen kann, macht gesund.
  • „Die Liebe der Menschen zu einander belebt alle Menschenarbeit.“: Das ist wohl das schwierigste: Die Liebe für die anderen aufzubringen, die alle Menschenarbeit belebt und Sinn schenkt.
  • „Ohne die Liebe ist das Menschensein öde und leer.“: Ein junger Mann, der sich zum Terroristen hat ausbilden lassen, sprach nach seinem Ausstieg aus der Gewaltszene von der Öde, Leere und Langeweile, von denen seine lieblose Welt durchdrungen war.

All diese Empfindungen sind in der Sonntags-Kinderhandlung gleich einem salutogenetischen Manifest formuliert und integriert. Daran wird auch deutlich, warum eine ethisch-religiöse Lebenshaltung für den Lehrer unabdingbar ist. Dazu gehören Werte wie Wahrhaftigkeit, Verstehen-Wollen, Liebe, Interesse, Handlungsbereitschaft, Sinnsuche, Respekt vor der Autonomie des anderen. Nur dann ist er wirklich in der Lage, den anderen Kollegen bzw. seine Schüler zu sehen, anzunehmen, einzubeziehen, zu motivieren, ihnen Raum zu geben – Faktoren, die die Grundlage pädagogischer Kultur- und Entwicklungsarbeit bilden.

Auf die nächsten beiden Ebenen kann der Lehrer nur indirekt – über die Arbeit an sich selbst – einwirken. Das ist eine sehr hohe Anforderung.

4. Einflussnahme auf die Ich-Ebene über Entwicklung von Menschlichkeit  

Zur Stärkung von Ich-Organisation und Identitätsbildung sind vor allem die folgenden Übungen zu nennen, die Ich und Identität des Lehrers stärken helfen:

  • die 6 Nebenübungen,
  • die abendliche Rückschau,
  • die Übung der inneren Ruhe,
  • für die Kollegiumsarbeit insbesondere das Kapitel über die sieben Bedingungen für den inneren Weg.[7]

Das Ringen um die Einhaltung der sieben Bedingungen macht eine Entwicklung zur Freiheit in größtmöglichem Umfang erst denk- und realisierbar, weil sie die Lernbedingungen für einen Erwachsenen sind, der sich selbst und sein Umfeld menschlicher gestalten möchte.

5. Einflussnahme auf die Ebene der „quinta essentia“

Allem voran brauchen und erwarten die Schüler, dass der Lehrer beherrscht oder zumindest daran arbeitet, was sie selber lernen wollen: authentische, selbständige, lebensfrohe Menschen zu werden. Ein Mensch, der weiß, warum das Leben auf der Erde Sinn macht, und dass Probleme dazu da sind, dass man daran lernt und sie löst.

In der positiven Psychotherapie unterscheidet man problemorientierte und ich-orientierte Menschen.

  • Ich-orientierte haben stets sich und ihr Wohl und Fortkommen im Auge und suchen meist bei anderen oder in den Verhältnissen des Lebens die Schuld für ihre Sorgen und Probleme. Sie befinden sich noch auf dem Weg der Selbstfindung und brauchen deshalb andere Formen der Unterstützung als Problemorientierte.
  • Problemorientierte suchen Partner, die ihnen bei der Problemlösung helfen. Ihr Selbstbewusstsein ist gesund und stabil. Sie bemühen sich um Formen der Team- und Gemeinschaftsbildung, die zur Lösung der kleinen und großen Probleme von Mensch und Welt beitragen können.

Es geht bei der Ebene der Quinta Essentia keineswegs darum, den Schülern die eigene Weltanschauung und Lebenstechnik beizubringen, wohl aber den Schülern vorzuleben, wie gut es ist, eine Weltanschauung zu haben, die man sich selber erarbeitet hat. Die Waldorfschule ist keine Weltanschauungsschule, sondern eine Schule, in der möglichst jeder Schüler lernen kann, seine eigene Weltanschauung zu formen. Das gelingt besonders gut, wenn er Lehrer hat, die ihm diesbezüglich Vorbild und Ansporn sind.

Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012


[1] Michaela Glöckler, Erziehung als therapeutische Aufgabe. In: Peter Loebell (Hrsg.), Waldorf-Schule heute. 1. Aufl. der Neuausgabe. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2011.

[2] Gunther Hildebrandt, Chronobiologische Aspekte des Kinder- und Jugendalters. Bildung und Erziehung 47:452-456 1994.

[3] Rudolf Steiner, Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge. GA 295. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1984.

[4] U.a. in: Rudolf Steiner, Wahrspruchworte, GA 40.

[5] Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche Herausgabe von Alexa Franke. dgvt-Verlag, Tübingen 1997.

[6] In: Rudolf Steiner, Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts. GA 269.

[7] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10; siehe auch: Geheimwissenschaft im Umriss. Kap. „Die Erkenntnis der höheren Welten“ (von der Einweihung oder Initiation). GA 13. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989.

LEHRERTUGENDEN UND PROFESSIONALITÄT

Inwiefern haben die Lehrertugenden mit Professionalität zu tun?

Sind sie persönliche Angelegenheit des Lehrers oder Sache des Kollegiums?

Bedeutsame Lehrertugenden

Rudolf Steiner war auch in Bezug auf die Umsetzbarkeit von Idealen (hier: der Waldorfpädagogik) Realist und sagte deshalb, der Lehrer solle seinen „maroden Alltagsmenschen“ mit dem Mantel vor der Klassenzimmertüre am Kleiderhaken ablegen, um wenigstens den Unterricht und den Umgang mit den Schülern als unvoreingenommener, heiterer Mensch zu gestalten. Eine heitere, frische Seelenstimmung sei die professionelle Grundausstattung eines Waldorflehrers. Die Lehrertugenden sollen helfen, die Wesensglieder unter die Kontrolle des Ich zu bringen. Es sei Sache des Lehrerkollegiums, einander diese professionellen Lehrertugenden unablässig nahezubringen.

Diese sind deshalb so bedeutsam, weil sie genau das betreffen, was auch die Schüler lernen sollen: sich körperlich, seelisch und geistig zu beherrschen. Optimalerweise gehen Kinder zur Schule, damit

  • ihr Körper Instrument des Seelischen
  • und die Seele Wohnort des Geistes werden kann.

Einen anderen Sinn kann Schule aus menschenkundlich-geistes­wissen­schaftlicher Sicht nicht haben.

Wenn ein Lehrer von diesen Zusammenhängen nichts versteht und ständig gegen diese eigentliche Intention von Schule verstößt, ist er kein Profi und fehl am Platz in einer Waldorfschule. Obwohl jeder nur selbst an diesen Tugenden arbeiten kann und keiner sie vom anderen einfordern darf, sollte die Konferenz ein Ort sein, an dem auch darüber gesprochen wird und sie gemeinsam gepflegt werden.

Selbstschulung als Voraussetzung für Verständnis

Rudolf Steiner und Ita Wegmann zitieren im Grundlagenwerk für Mediziner, „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“[1], im 1. Kapitel zwei Bücher: „Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?“[2] und die „Geheimwissenschaft im Umriss“[3]. Diese beiden Werke, die von Entwicklung durch Selbstschulung handeln, sind ein Muss für jeden Arzt und jeden Lehrer. Denn Selbstschulung ist die entscheidende Voraussetzung für erfolgreiche Fremdschulung:

  • Wer nicht für sich selbst zum Lehrer wird, kann auch Schüler nicht vernünftig lehren.
  • Wer sich selbst nicht führt, kann auch andere nicht führen.

Diese Kongruenz zu entwickeln gehört zur pädagogischen Professionalität. Dann führen das Studium der Anthroposophie und die bewusste Arbeit an der eigenen inneren Entwicklung zu tiefer Lebenseinsicht. Man erkennt die Selbstschulung als Notwendigkeit, weil man nur so auch die Entwicklung eines Schülers oder eines Kollegen richtig einschätzen kann. Wer sich selbst nicht weiterentwickelt hat, kann den Entwicklungsbedarf eines anderen nicht wahrnehmen. Dann kann man nur den eigenen Bildungsgrad, den eigenen Entwicklungsstand projizieren und mehr oder weniger bewusst mit dem umgehen, was ihm ähnlich ist.

So gesehen wäre es sinnvoll, eines oder beide der genannten Bücher drei Jahre lang im Rahmen der Lehrerkonferenz gemeinsam mit den Kollegen durchzuarbeiten. Denn in dem Moment, in dem man sich als Lehrer bewusst zu entwickeln beginnt, wird man merken, dass alleine schon

  • das Denken dieser Entwicklungsmöglichkeiten
  • sowie das Empfinden, dass das alles möglich ist, was man wirklich will,

eine Art Hellsichtigkeit für den Entwicklungsbedarf der Schüler und der Menschen im Umkreis hervorrufen. Man unterrichtet dann respektvoller, demütiger, bewusster, sensibler – mit einem intimeren Verständnis für die jeweiligen Lebenssituationen und Verhaltensweisen der Schüler.

Vgl. „Hilfen im Umgang mit Angst im Schulalter“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013


[1] Rudolf Steiner; Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27.

[2] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?, GA 10.

[3] Rudolf Steiner, Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13.

KRITERIEN EINER PÄDAGOGISCHEN ETHIK

Welche Kriterien umfasst eine pädagogische Ethik?

Welche Fragen haben Schüler an ihre Lehrer?

Neue Ethik im Kampf um Menschlichkeit

Ethik fragt nach dem Guten, nach der richtigen Handlung. Das 20. Jahrhundert hat die Quellen des Bösen in einer nie da gewesenen Weise offengelegt. Weltkriege als Macht- und Wirtschaftskämpfe, rechts- und linksradikaler Fundamentalismus, kollektiver Sozialismus, totalitäre Regimes, Militär- und Polizeidiktaturen, Völkermord und abgrundtiefer Hass haben das Schicksal ungezählter Millionen Menschen geprägt und prägen es weiterhin.

Gut und Böse können einerseits von außen auf uns wirken, aber auch mehr oder weniger bewusst aus dem eigenen Inneren aufsteigen und so wirksam werden. So können wir fassungslos vor Beispielen von Korruption und Verlogenheit stehen, wie sie täglich durch die Medien präsentiert werden, aber gleichzeitig die Tendenzen ein und desselben Verhaltens in uns selber nicht bemerken, weil eine Gefälligkeitslüge oder eine auf eine Gegengabe abzielende „gute Tat“ uns eher selbstverständlich und harmlos erscheinen.

Eine neue Ethik ist gefragt – sie muss da ansetzen, wo der Kampf um die Menschlichkeit heute stattfindet: in jedem Einzelnen. Die Zeiten sind vorbei, in denen Entscheidungen von den Großen und Mächtigen für ein unmündiges Volk getroffen wurden. In den modernen Demokratien kommt es auf die vielen Einzelnen an, die letztlich entscheiden, wer an die Macht kommt und welche Produkte konsumiert werden. Dies ernst zu nehmen, ist der Anfang der neuen Ethik. So wie terroristische Einzelaktionen und Gewaltanwendungen jede Gesellschaft destabilisieren und chaotische Zustände herbeiführen können, so können fundamentali-stische Parolen, Gruppenmeinungen und Ausgrenzungen in jedem einzelnen Menschen neutralisiert und gestoppt werden.

Fragen der Schüler an ihren Lehrer

Genau diese Fähigkeit wollen die Schüler an ihrem Lehrer erleben. Sie sitzen oder stehen ihm mit der nonverbalen Frage gegenüber:

Wer bist Du?

Wie meisterst Du das Leben?

Wie siehst Du die Welt?

Aus welchen Erfahrungen kannst Du sprechen?

Kannst Du mir helfen, ich selber zu werden?

Folgt man Rudolf Steiners Ausführungen über die Entwicklungsfähigkeit des Menschen, so stimmt es optimistisch, wenn man in seinem Schulungsbuch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ liest: „Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann.“[1]

Jeder kann lernen, menschlicher zu werden, wenn er die göttlich-geistigen Daseinsbereiche in sich selber bewusst macht, „erweckt“. Denn Entwicklung bedeutet, dass ein Späteres aus einem Früheren hervorgeht, dass man sich verwandelt, über sich, d.h. über das Bestehende hinauswächst.

Das Leben als Einweihungsweg verstehen

Es gehört zu den ganz besonderen Begleiterscheinungen des von Steiner skizzierten Entwicklungsweges, dass er das Leben selber als Einweihungsweg beschreibt. Deutlich arbeitet er heraus, dass die Aneignung von Wissen oder meditative Übungen nur dann segensreich sind, wenn man die Ergebnisse dieser Arbeit nicht als Selbstzweck betrachtet, sondern für das tägliche Leben fruchtbar macht. Selbstentwicklung, so verstanden, bedeutet, lebenserfahren zu werden, das heißt, das Leben in all seinen Höhen und Tiefen zu entdecken und zu verstehen. Denn: Wie will man Charaktereigenschaften lernen wie Verehrung, innere Ruhe, Mut und Zuversicht, Hoffnung, Treue, Andacht, Liebe und Wahrhaftigkeit bis hin zur Autonomie – die auch die Autonomie anderer bejahen kann –, wenn diese Eigenschaften nicht so gelernt werden, dass sie auch im Alltag Bestand haben, ja geradezu deutlich wird, dass das Leben selbst der allerbeste Lehrmeister dieser Eigenschaften ist.

Das bedeutet aber auch, dass es keinen „geistlosen“ Unterricht geben kann. Man steht als Pädagoge vor der Herausforderung, Unterrichtsstoff, Methodik und Didaktik der körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklung dienstbar zu machen. Um das leisten zu können, braucht es einen Weg der Selbstentwicklung, der dies ermöglicht und fördert.

Als wegweisende Kriterien auf diesem Weg hat Rudolf Steiner sieben Charaktereigenschaften bzw. Lebenshaltungen beschrieben. Wer daran arbeitet wird bald bemerken, wie er dadurch inneren Halt und klare Lebensorientierung gewinnt. Steiner nennt diese Lebenshaltungen „die sieben Bedingungen“ für den inneren Weg und bemerkt dazu: Ganz erfüllen kann die Bedingungen niemand; aber sich auf den Weg zu ihrer Erfüllung begeben kann jeder. Nur auf den Willen, auf die Gesinnung, sich auf diesen Weg zu begeben, kommt es an.[2]

Ich werde sie im nächsten Beitrag mit direktem Bezug zum Lehrerberuf näher ausführen.

Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärzte-tagung 2013


[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, GA 10. Dornach 1993, S. 16. (Ausgabe 1992, die auch der Online-GA zugrunde liegt).

[2] Ebenda, S. 103.

DIE SIEBEN BEDINGUNGEN FÜR DEN WEG DER SELBSTENTWICKLUNG

Was gilt es auf dem Weg der Selbstentwicklung als Lehrer zu beachten?

Wie lauten die von Rudolf Steiner genannten Bedingungen für den inneren Weg?

Welche Eigenschaften bringen sie hervor?

Die sieben Bedingungen

Rudolf Steiner nannte sieben Charaktereigenschaften bzw. Lebenshaltungen als Wegweiser auf dem inneren Weg. Wer daran arbeitet, wird bald bemerken, wie er dadurch inneren Halt und klare Lebensorientierung gewinnt. Steiner nennt diese Lebenshaltungen „die sieben Bedingungen“ für den inneren Weg und bemerkt dazu: Ganz erfüllen kann die Bedingungen niemand; aber sich auf den Weg zu ihrer Erfüllung begeben kann jeder. Nur auf den Willen, auf die Gesinnung, sich auf diesen Weg zu begeben, kommt es an.[1]

1. Bedingung – Förderung körperlich-geistiger Gesundheit

„Man richte sein Augenmerk darauf, die körperliche und geistige Gesundheit zu fördern. Wie gesund ein Mensch ist, das hängt zunächst natürlich nicht von ihm ab. Danach trachten, sich nach dieser Richtung zu fördern, das kann jeder.“[2]

Man könnte nun meinen, hier sei eine Anleitung zum Gesundheitsegoismus gegeben. Im Folgenden wird jedoch geschildert, wie wir das richtige Verhältnis zum Genuss – wie auch zur Pflicht – finden können. Körper und Seele sind in die tägliche Arbeit eingespannt und es kommt vor, dass man der Pflicht zuliebe auf seine Gesundheit zu achten vergisst. Man verzichtet vielleicht auf eine Mahlzeit oder man muss eine Nacht halb oder ganz durcharbeiten, damit es weitergehen kann. Das heißt, die Arbeit veranlasst uns oft dazu, unsere Gesundheit zu vernachlässigen.

Was in diesen Fällen kränkend wirken kann, soll nun ausgeglichen werden durch das richtige Verhältnis zum Genuss. Wir können lernen, intensiv zu genießen, aber so, dass dieser Genuss uns die Kraft gibt, die Arbeit besser und zufriedener zu tun. Es geht darum, zu lernen, nie den Genuss als Selbstzweck aufzusuchen – der dann Kraft kostet –, sondern so genießen zu lernen, dass wir daraus Kraft und neue Motivation für das Leben und die Entwicklung schöpfen. Für Menschen, die nicht genießen können, ist es besonders wichtig, sich klarzumachen, dass der Genuss eine Grundbedingung für die Erhaltung der Gesundheit ist, die Seele und Leib brauchen. Das Problem ist nur, darin bewusst bleiben zu können und im richtigen Augenblick auch wieder aufzuhören, frei nach dem Motto: „Mit dem Essen aufhören, wenn es am besten schmeckt.“ Genießen wir über den Höhepunkt hinaus oder mit Hilfe von gesundheitsschädigenden Drogen oder Genussmitteln, so kostet uns das mehr Kraft, als es spendet.

2. Bedingung – sich als ein Glied des ganzen Lebens fühlen

„In der Erfüllung dieser Bedingung ist viel eingeschlossen. Aber ein jeder kann sie nur auf seine eigene Art erfüllen. Bin ich Erzieher und mein Zögling entspricht nicht dem, was ich wünsche, so soll ich mein Gefühl zunächst nicht gegen den Zögling richten, sondern gegen mich selbst. Ich soll mich so weit als eins mit meinem Zögling fühlen, dass ich mich frage: ‚Ist das, was beim Zögling nicht genügt, nicht die Folge meiner eigenen Tat?‘ Statt mein Gefühl gegen ihn zu richten, werde ich dann vielmehr darüber nachdenken, wie ich mich selbst verhalten soll, damit in Zukunft der Zögling meinen Forderungen besser entsprechen könne. Aus solcher Gesinnungsart heraus ändert sich allmählich die ganze Denkungsart des Menschen. Das gilt für das Kleinste wie für das Größte. Ich sehe aus solcher Gesinnung heraus zum Beispiel einen Verbrecher anders an als ohne dieselbe. Ich halte zurück mit meinem Urteile und sage mir: ‚Ich bin nur ein Mensch wie dieser. Die Erziehung, die durch die Verhältnisse mir geworden ist, hat mich vielleicht allein vor seinem Schicksale bewahrt.‘ Ich komme dann wohl auch zu dem Gedanken, dass dieser Menschenbruder ein anderer geworden wäre, wenn die Lehrer, die ihre Mühe auf mich verwendet haben, sie hätten ihm angedeihen lassen. Ich werde bedenken, dass mir etwas zuteilgeworden ist, was ihm entzogen war, dass ich mein Gutes gerade dem Umstand verdanke, dass es ihm entzogen worden ist. Und dann wird mir die Vorstellung auch nicht mehr ferne liegen, dass ich nur ein Glied in der ganzen Menschheit bin und mitverantwortlich für alles, was geschieht.“[3]

Wer diese Bedingung übt, wird bemerken, in wie hohem Maße er durch sein Verhalten auf andere Macht ausübt. Wir alle tun es, oft ohne uns dessen bewusst zu sein. Diese Bedingung will den Blick dafür schärfen. Wenn mich z.B. jemand ärgert und ich auf derselben Ebene reagiere, so kann die Situation leicht eskalieren oder eine anhaltende Missstimmung die Folge sein. Rudolf Steiner bringt oben das Beispiel von einem frechen Schüler, der seinen Lehrer ärgert. Anstatt sich zu einer entsprechenden Gegenreaktion hinreißen zu lassen, kann der Lehrer sich jetzt fragen:

Wie muss ich mich verhalten, damit sich dieser Schüler von seiner besten Seite zeigen kann?

Was muss in ihm vorgegangen sein, was hat er vielleicht zu Hause erlebt, dass seine Hemmschwelle so niedrig war, mir diese ganzen Unverschämtheiten so unverblümt zu sagen?

Meist spricht ein Mensch über seine Vorwürfe von sich selbst, er projiziert seinen Doppelgänger in den anderen. Daher sollte man Vorhaltungen und Urteile nie persönlich nehmen, auch wenn sie einen persönlich betreffen und treffen. Man kann das zunächst einfach stehenlassen und sich fragen:

Warum sucht der Schüler das Doppelgänger-Erlebnis gerade mit mir?

Warum ist er ausgerechnet zu mir so frech?

Was hat es mit mir zu tun als anderem „Ende der Fahnenstange“?

Was kann ich zu seiner Selbsterkenntnis beitragen, ohne dass die Beziehung negativ eskaliert oder ich selbst in meiner Würde verletzt bin?

Selbst wenn man diese Fragen nicht sogleich beantworten kann, bedeutet schon die Tatsache, dass man sie ehrlich stellt und den anderen nicht „richtet“ und verurteilt oder Gleiches mit Gleichem vergilt, einen wichtigen Schritt. Bei solchem Bemühen kommt es nicht selten vor, dass der andere sich nach einer gewissen Zeit in seinem Verhalten ändert oder sogar nach ein paar Tagen kommt und sich entschuldigt.

Das Leben als das zu nehmen, was es ist, stellt eine tolle Übung dar: Leben ist so gesehen eine doppelspurige Straße, auf der ich ständig empfange und gebe. Die anderen tragen bei zu meiner Selbsterkenntnis und zur Beziehungsgestaltung. Das zu erkennen, führt zu einer gewissen Lebenszufriedenheit, stabilisiert enorm und entängstigt zugleich.

„Man nehme den anderen, wie er ist…“

Ich verliere die Angst vor dem anderen, wenn er von mir aus so sein darf, wie er ist. Stellt euch das mal konkret vor: Wer schimpft, darf schimpfen, wer aggressiv ist, darf aggressiv sein, wer nicht grüßt, grüßt nicht – das alles dürfen die Menschen um uns herum! Und ich kann mich ganz souverän fragen, wie ich damit umgehen, was ich daraus machen möchte. Wenn jemand so mit anderen umgeht, dass sie so sein dürfen, wie sie sind, wirkt das magisch auf den Betreffenden zurück. Steiner sagt als soziales „Rezept“: „Man nehme jeden Menschen, wie er ist, und versuche, daraus das Allerbeste zu machen.“[4]

Als ich das zum ersten Mal las, merkte ich, dass es sich bei mir meist umgekehrt verhält: Ich nehme mich so, wie ich bin, und mache an den anderen rum, wünsche mir die anderen anders als sie sind: Ich gebe ihnen ungefragt gute Ratschläge, kritisiere, habe gute Ideen, was sie alles besser machen könnten…

Es geht nun darum, das umzudrehen – das ist doch total spannend! Der andere darf so sein, wie er ist und ich versuche mich zu ändern, dass er besser mit mir zurechtkommt. Er hat vielleicht einen Grund und ich kann etwas von ihm lernen!

3. Bedingung – Wirkung von Gefühlen und Gedanken erkennen

Sie besagt, „(…) dass Gedanken und Gefühle ebenso Bedeutung für die Welt haben wie unsere Handlungen. Es muss erkannt werden, dass es ebenso verderblich ist, wenn ich meinen Mitmenschen hasse, wie wenn ich ihn schlage. Dann komme ich auch zu der Erkenntnis, dass ich nicht nur für mich etwas tue, wenn ich mich selbst vervollkommne, sondern auch für die Welt. Aus meinen reinen Gefühlen und Gedanken zieht die Welt ebensolchen Nutzen wie aus meinem Wohlverhalten.“[5]

Wie wirksam gute Gedanken und Gefühle im Hinblick auf andere Menschen sein können, weiß jeder, der Menschen in seinem Umkreis hat, an die er mit Liebe, Achtung und Wertschätzung denkt. Kinder, denen mit liebevollem Respekt begegnet wird, wachsen in einer solchen Atmosphäre wie in einem moralischen Schutzwall auf, der sie alltäglichen Ärger, beängstigende Erlebnisse oder Streit mit Kameraden mit einer anderen inneren Sicherheit verkraften lässt, als es ohne einen solchen Schutz möglich wäre. Sich klar zu machen, dass gute Gedanken Keimkräfte möglicher guter Taten sind, dass positive Gefühle lebensfördernd sind, ist die Aufgabe.

Auf die Frage einer Besucherin im russisch-orthodoxen Kloster Sagorsk, wo sich die Mönche rund um die Uhr in einem Gebet für den Frieden in der Welt ablösen: „Denken Sie, dass das hilft? Es gibt doch so viel Kriegszustände auf der Erde –“, wurde ihr geantwortet: „Wissen Sie wie es auf Erden zugehen würde, wenn wir hier nicht beten?“ Es ist unsere Aufgabe, mit dem Bewusstsein leben zu lernen, dass man für die Qualität der eigenen Gedanken und Gefühle ebenso Verantwortung trägt wie für das eigene Handeln. Dadurch prägen sich Stimmung und Klima, die „Aura“ einer Situation.

4. Bedingung – Wesenheit des Menschen im Inneren suchen

Hier geht es um die „(…) Ansicht, dass des Menschen eigentliche Wesenheit nicht im Äußerlichen, sondern im Inneren liegt. (…) Wer zu solchen Gefühlen vordringt, der ist dann geeignet zu unterscheiden zwischen innerer Verpflichtung und dem äußeren Erfolg. Er lernt erkennen, dass das Eine nicht unmittelbar an dem Anderen gemessen werden kann. Es gilt die rechte Mitte zu finden zwischen dem, was die äußeren Bedingungen vorschreiben, und dem, was er als das Richtige für sein Verhalten erkennt. Er soll nicht seiner Umgebung etwas aufdrängen, wofür diese kein Verständnis haben kann; aber er soll auch ganz frei sein von der Sucht, nur das zu tun, was von dieser Umgebung anerkannt werden kann. Die Anerkennung für seine Wahrheiten muss er einzig und allein in der Stimme seiner ehrlichen, nach Erkenntnis ringenden Seele suchen. Aber lernen soll er von seiner Umgebung, soviel er nur irgend kann, um herauszufinden, was ihr frommt und nützlich ist. So wird er in sich selbst das entwickeln, was man (…) die „geistige Waage“ nennt. Auf einer ihrer Waageschalen liegt ein „offenes Herz“ für die Bedürfnisse der Außenwelt, auf der anderen „innere Festigkeit und unerschütterliche Ausdauer.“[6]

Die Erfüllung dieser Bedingung ist zugleich auch ein Gradmesser für das Maß an Autonomie und innerer Unabhängigkeit, was schon errungen ist. Den Lehrer als unbestechlich und im Urteil eigenständig zu erleben, wirkt motivierend auf den Schüler, „auch so“ zu werden. Letztlich beruht darauf auch die Drogenprävention: Abhängigkeit entsteht durch die Unfähigkeit, zu sich selber zu stehen. Man sucht nicht die Selbsterfahrung, das Erlebnis, auf dem Weg persönlicher Anstrengung und Arbeit, sondern mit Hilfe von Stimulanzien und Drogen. Man macht sich nicht von sich abhängig, sondern von Stoffen, Kräften oder von Menschen und Dingen. Mit Hilfe der vierten Bedingung lernt man, sich diesen Tatbestand bewusst zu machen und zu verstehen, warum in einer so auf Äußerlichkeit und Konditionierung ausgerichteten Kultur das Phänomen ‘Abhängigkeit und Integritätsverlust’ zum Problem Nummer 1 werden kann. Denn letztlich ist nur eine geistige und emotionale Abhängigkeit „gesund“: die von sich selbst.

5. Bedingung – gefasste Entschlüsse befolgen

„(…) die Standhaftigkeit in der Befolgung eines einmal gefassten Entschlusses. Nichts darf einen dazu bringen, von einem gefassten Entschluss abzukommen, als die Einsicht, dass man im Irrtum befangen ist. Jeder Entschluss ist eine Kraft, und wenn diese Kraft auch nicht einen unmittelbaren Erfolg da hat, wohin sie zunächst gewandt ist, sie wirkt in ihrer Weise. Der Erfolg ist nur entscheidend, wenn man eine Handlung aus Begierde vollbringt. Aber alle Handlungen, die aus Begierde vollbracht werden, sind wertlos gegenüber der höheren Welt. Hier entscheidet allein die Liebe zu einer Handlung.“[7]

Arbeit zu leisten aus dem inneren Beweggrund der Liebe zur Sache oder zu Menschen und nicht aus der Begierde nach Geld, Anerkennung oder Erfolg – das ist heutzutage wie eine Botschaft von einem anderen Planeten. Dennoch kann nur eine solche Arbeitsmoral den Charakterzug der Standhaftigkeit ausbilden. Geschieht die Arbeit aus anderen Beweggründen, so begibt sich das Ich in Abhängigkeiten, die seine Standfestigkeit untergraben und es manipulierbar und bestechlich machen.

Ein Entschluss birgt die Kraft der Verwirklichung. Daher ist es eine Frage der Standhaftigkeit, der Unbeirrbarkeit, der Liebe zur Sache, ob die Ausführung gelingt. Andererseits braucht es Kraft, die Kraft selbstloser Liebe, um sich einen Irrtum einzugestehen oder eine Enttäuschung gesund zu verkraften. Auch dieses fördert die Standfestigkeit im Leben und verhindert das „Zusammenbrechen“ oder „Einknicken“, wenn Rückschläge oder Enttäuschungen kommen, die jeder Lebenslauf mit sich bringt. Wenn Schüler Lehrern begegnen, die um solche Standhaftigkeit ringen, wird ihnen die Schule zu einem zweiten Zuhause. Sie gewinnen Maßstäbe des „Leben Lernens“ und fühlen sich mit ihren eigenen Unsicherheiten, Idealen und Enttäuschungen verstanden und „angenommen“.

6. Bedingung – Dankbarkeit für alles entwickeln

Hier geht es um „(…) die Entwicklung des Gefühles der Dankbarkeit gegenüber allem, was dem Menschen zukommt. Man muss wissen, dass das eigene Dasein ein Geschenk des ganzen Weltalls ist. Was ist alles notwendig, damit jeder von uns sein Dasein empfangen und fristen kann! Was verdanken wir der Natur und anderen Menschen! (…) Wer sich solchen Gedanken nicht hingeben kann, der vermag nicht in sich jene All-Liebe zu entwickeln, die notwendig ist, um zu höherer Erkenntnis zu kommen. Etwas, das ich nicht liebe, kann sich mir nicht offenbaren. Und eine jede Offenbarung muss mich mit Dank erfüllen, denn ich werde durch sie reicher.“[8]

Gerade in der Schule ist es so notwendig, aufmerksam zu werden für die Tatsache, dass das Schicksal, die vielen kleinen und großen Begebenheiten im Leben, letztlich immer lebensfreundlich sind und Anlass geben zu lernen, etwas Positives daraus zu machen, die Entwicklung zu fördern. Schüler erleben ihren Lehrer als Lebenskünstler, wenn er an dieser 6. Bedingung arbeitet. Dankbarkeit ist die seelische Atemluft zwischen Menschen. Man fühlt sich frei und leicht in einer von Dankbarkeit geprägten seelischen Atmosphäre. Die Stimmung der Dankbarkeit schließt zusammen, bewirkt Offenheit und Vertrauen. Rudolf Steiner beschreibt das Gefühl der Dankbarkeit auch als die Brücke zu den Verstorbenen. Ist doch die Dankbarkeit dasjenige, was man aus allen Erfahrungen im Irdischen, die an Raum und Zeit gebunden sind, als das Unvergängliche herausarbeiten kann. In der Dankbarkeit findet jede noch so schwierige, schöne oder auch von Sehnsucht schmerzhaft geprägte Erfahrung ihre Beruhigung und Dauer im eigenen Wesen.

7. Bedingung – die Bedingungen als Gesamtheit im Bewusstsein behalten

„Alle die genannten Bedingungen müssen sich in einer siebenten vereinigen: das Leben unablässig in dem Sinne aufzufassen, wie es die Bedingungen fordern.“[9]

Dadurch bekommt die eigene Lebensgestaltung ein einheitliches Gepräge, eine gewisse Integrität und Geschlossenheit. Als Folge dieser Bemühungen wächst die Fähigkeit der inneren Ruhe. Der ruhende Pol in der Klasse zu sein, ist nun aber die Voraussetzung für eine konstruktive und erfreuliche Berufspraxis. Wer das Leben im Sinne dieser Bedingungen auffassen lernt, macht dieses sein Leben selber zu der großen Schule, in die er geht und dessen Lehrer der Herr der Schöpfung ist. Zu entdecken, dass die Evolution von Mensch, Erde und Weltall zusammenhängen, aufeinander abgestimmt sind, für einander und durch einander da sind, kann zur überkonfessionellen, interreligiösen Gotteserfahrung werden, zur Begegnung mit dem schöpferischen Logos in uns, um uns. Lehrplan, Methodik und Didaktik in der Schule in diesem Sinne aufzufassen und zu handhaben ist Auftrag und Engagement der Waldorfpädagogik.

Erwerb von positiven Eigenschaften

Die aus der Arbeit an den sieben Bedingungen folgenden Charaktereigenschaften bzw. „spirituellen Haltungen“ sind:

  • Gesunde Lebensgestaltung
  • Integrationsfähigkeit
  • Realitätssinn
  • Innere Selbständigkeit und Unabhängigkeit
  • Geduld
  • Schicksalsvertrauen („All-Liebe“)
  • Innere Ruhe

Auf der Basis einer solchen inneren Arbeit wird Pädagogik, wird der Beruf des Lehrers selbst zum Prototyp des menschlichen Entwicklungsweges. Wir sind als Menschen zwar unvollkommen und lernbedürftig. Dieses aber macht unsere Entwicklungsfähigkeit aus, deren Besonderheit die Selbstentwicklung ist. Menschlichkeit lässt sich nur lernen, wenn man bereit ist, sie zu denken, zu empfinden, zu üben und immer wieder neu zu wollen. Erzwingen lässt sie sich nicht, auch nicht von außen, „per Natur“ erzeugen. Sie ist das Ergebnis eigener seelischer und geistiger Arbeit und kommt stets von innen, „von Herzen“.

Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013


[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, GA 10. Dornach 1993, S. 103. (Ausgabe 1992, die auch der Online-GA zugrunde liegt.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda, S. 105.

[4] Rudolf Steiner, Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden? Vortrag vom 10.10.1916 in Zürich. In: Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten, GA 168.

[5] Ebenda, S. 107.

[6] Ebenda, S. 108.

[7] Ebenda, S. 109.

[8] Ebenda, S. 109f.

[9] Ebenda, S. 110.

EMIL MOLT UND DIE WALDORFSCHULE

Wie kam es zur Gründung der Waldorfschule?

Was war der eigentliche Impuls für die Schulgründung?

Rudolf Steiners Wirken zum Thema Pädagogik

Rudolf Steiner sprach vom Anfang seines Wirkens an immer wieder über Erziehung und ihre Bedeutung für den einzelnen und die Gesellschaft. Auch schrieb er ein Entwicklungs- und Schulungsbuch, „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?",[1] dessen Inhalt er ab 1903 zunächst in Zeitschriftenartikeln publizierte.[2] 1907 folgte der Aufsatz „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft".[3]

Wie viele Lehrer davon Kenntnis hatten und ihn gelesen haben, wissen wir nicht – nur dies, dass keiner von ihnen Rudolf Steiner fragte, wie eine Schule kind- und entwicklungsgerecht eingerichtet werden könnte. Es war ähnlich wie bei der Begründung der Anthroposophischen Medizin, wo erst 1920 ein Chemiker, Oskar Schmiedel, die entscheidende Frage stellte, ob er denn auch bereit wäre, vor Ärzten über therapeutische Ansätze aus der Anthroposophie zu sprechen.

Den Arbeitern und ihren Kindern zuliebe

Der erste Impuls in Richtung Schule kam vom Stuttgarter Fabrikbesitzer Emil Molt, der wollte, dass seine Arbeiter nicht nur Zigaretten herstellen, sondern – gleich den Arbeitern am Goetheanum – auch Vorträge anhören und Gespräche über Kultur und Lebensfragen führen können. Daraufhin begann der Philologe und spätere Waldorflehrer Herbert Hahn in der Arbeitszeit Werkstunden über verschiedene Themen zu geben. Bald fragten die Arbeiter, ob solch ein Unterricht nicht auch für ihre Kinder durchgeführt werden könnte – woraufhin Emil Molt Rudolf Steiner fragte, ob es denkbar wäre, für die Kinder seiner Arbeiter eine Schule einzurichten. Ab diesem Zeitpunkt hatten die Pädagogik und der Unterricht, Steiners „Kind der Sorge“, Priorität in seinem Leben.

Emil Molt hatte jedoch nicht nur die Idee und den Mut zu fragen, sondern auch das Geld für eine Schulgründung 1919. Rudolf Steiner erschuf das Konzept, die Methodik und Didaktik[4] und suchte geeignete Menschen und Lehrer,[5] die dem Unterrichtskonzept dieser neuen Schule vertrauten, obwohl es noch nicht aufgeschrieben war. Es ging allen um die Begründung einer Schule aus dem Geist der Anthroposophie heraus – das war das gemeinsame Band. Berufen wurden ausnahmslos Menschen, die selbstständig in der Anthroposophie standen, selber den Bezug zu ihr gefunden und aufgebaut hatten, die „Ideen zu Idealen machen“ konnten.

Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012


[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.

[2] Rudolf Steiner, Luzifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften „Luzifer“ und „Lucifer-Gnosis“ 1903–1908. GA 34. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1987.

[3] Ebenda.

[4] Rudolf Steiner, Erziehungskunst: Methodisch-Didaktisches. GA 294. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1990.

[5] Johannes Tautz, Der Lehrerkreis um Rudolf Steiner in der ersten Waldorfschule. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1979.