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Geist und geistiges Wesen: Unterschied zwischen den Versionen

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= Geist und geistiges Wesen – von Michaela Glöckler =
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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
== GEISTERKENNTNIS UND FREIHEIT ==
''Warum gehören Geisterkenntnis und Freiheit unbedingt zusammen?''
''Warum darf sich die Existenz des Geistigen nicht beweisen lassen?''
=== ''Spaltung in Glauben und Wissen'' ===
Wir leben heute in einer Zeit, in der sich Naturwissenschaft und Geisterkenntnis weitgehend verständnislos gegenüberstehen. Die in der Neuzeit vorgenommene Spaltung von Glauben und Wissen(schaft) hat sich in einer Weise vertieft, dass es zu einer Frage der Volksgesundheit geworden ist, ob diese Spaltung überwunden werden kann oder nicht. Denn das Erleben der Geistlosigkeit und damit auch der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz treibt ungezählte Menschen in Krankheit, Drogenabhängigkeit oder Selbstmord.
Man kann als Mensch kein gesundes Selbstbewusstsein erringen, wenn an die Stelle des tätigen Menschen-Ich als eines realen geistigen Wesens die abstrakte Person tritt, deren Existenz mit dem Tode endet, insofern sie nur als das Ergebnis molekularer neurophysiologischer Vorgänge gesehen wird.
Es ist ein Affront gegen die Menschenwürde, wenn an die Stelle folgenreicher Schicksalserfahrungen die Worte „Zufall“, „Glück“ oder „Pech“ als einzig wissenschaftlich vertretbares Erklärungsmodell treten. Die tiefere Bedeutung dieser Worte kann einerseits aus wissenschaftlicher „Bescheidenheit“ und methodenbedingter Selbstbeschränkung heraus nicht ausgelotet werden, andererseits sind sie einer „echten“ wissenschaftlichen Behandlung ohnehin nicht zugänglich.
=== ''Aus sich heraus die Brücke zwischen Materie und Geist finden'' ===
Angesichts der akademisch geförderten Aufspaltung von Inhalten in „sicheres Wissen“ und „beliebigen, ungewissen Glauben“ erhebt sich die Frage, warum das so gehandhabt wird. Möglicherweise entspringt dieses Phänomen dem unbewussten Wunsch, selber zu bestimmen, wann man als einzelner Mensch die Frage nach der eigenen geistigen Identität stellt.
Vielleicht spendet die unwissenschaftliche Glaubenswelt uns Trost, solange wir diese Frage noch nicht in aller Konsequenz stellen wollen. Würden wir sie ernsthaft stellen, müssten wir auch die volle Verantwortung übernehmen für alle negativen Folgen dessen, was wir aus der materialistischen und reduktionistischen Sichtweise der heutigen Wissenschaft heraus Natur und Mensch antun. Verantwortung zu übernehmen hieße, konkrete Konsequenzen zu ziehen – im eigenen Leben, im sozialen Miteinander, aber auch im Blick auf das große Ganze.
Es gibt dazu passend einen schönen Spruch: ''Wer will, findet Wege – wer nicht will, findet Gründe.'' Wer einen wissenschaftlichen und zugleich empirischen Weg zur Wirklichkeit des Geistes sucht, kann diesen – wenn er wirklich will – u.a. in der anthroposophischen Geisteswissenschaft finden. Für den, der ernstlich will, ist es nicht schwer, die Brücke zwischen Materie und Geist zu finden. Warum nicht? Weil sie in unserem eigenen Denken gegeben ist, und damit kann sie zu einem inneren Evidenzerlebnis werden, ohne dass es äußerer Beweise bedarf.
=== ''Der tiefere Sinn der Nicht-Beweisbarkeit Gottes'' ===
Dazu ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, die Existenz Gottes bzw. des Geistigen als von der Materie unabhängige und dennoch die Materie beherrschende Realität wäre unumstößlich bewiesen, sodass es keinen Widerspruch mehr gäbe – was wäre die Folge? Jeder Zweifel an der Existenz des Göttlichen, des Geistes, wäre beseitigt, wenn es wie von außen zwingend bewiesen werden könnte. Damit hätten wir Menschen aber auch keine Möglichkeit mehr, in Freiheit und selbstbestimmt den Weg zu uns selbst und zum Wesen der Welt zu gehen.
''Was würde das für uns alle bedeuten?''
Jeder Zweifel an der Existenz des Geistes müsste schwinden, wenn seine Bedeutung mit äußeren Mitteln zwingend bewiesen wäre. Damit hätten wir Menschen aber auch keine Möglichkeit mehr, in Freiheit und selbstbestimmt den Weg zu uns selbst und zum Wesen der Welt zu gehen.
''Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 2. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004''
== GEIST, SEELE UND LEIB ==
''Wie werden Leib, Seele und Geist in der anthroposophischen Menschenkunde definiert?''
=== ''Leib, Seele und Geist aus Sicht der anthroposophischen Menschenkunde'' ===
* Wenn wir von '''Leib oder Körper''' sprechen, meinen wir den ganzen ''Organismus, den der Stoffwechsel physisch aufbaut'' – das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System von den Haarspitzen bis zu den Fußsohlen.
* Wenn wir von '''Seele''' ''r''eden, meinen wir den ''Organismus des Fühlens,'' der im Zusammenspiel mit dem leibfreien Willen und dem Denken    entsteht.
* Und wenn wir von '''Geist''' sprechen, meinen wir die ''Summe der exkarnierten Wesensglieder'', die schon ganz außerkörperlich rein spirituell tätig sind.
Mit Geist wird die von der Materie ganz losgelöste Gesetzlichkeit bezeichnet, also diejenigen geistigen Kräfte, die im Zuge der Ausreifung des physischen Körpers wieder leibfrei geworden sind, die sich quasi wieder exkarniert haben. Dieser wieder leibfrei gewordene Geist hat dieselben Qualitäten wie die inkarnierten ätherischen, astralen und Ich-Organisations-Kräfte, durch die der Leib entstanden ist – mit nur einem Unterschied: die im Körper wirkenden geistigen Kräfte arbeiten im Sinne der Naturgesetze. Die leibfreien Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens sind auf die individuelle Führung durch das Menschen-Ich angewiesen.
=== ''Was unser Geist vermag'' ===
Geist ist laut Rudolf Steiner nicht das Gegenteil von Materie, sondern das außerkör­perliche Erleben unserer Wesensglieder im Denken, Fühlen und Wollen. Im Geist erwachen wir als Menschen, die
* Gedanken bilden
* Gedanken differenzieren, abwägen, beurteilen
* sich mit Gedanken verbinden, Gedanken realisieren wollen.
Rudolf Steiner sagt in dem Zusammenhang auch, wir müssten lernen im Denken Hell und Dunkel als Qualitäten zu fühlen. Erst wenn wir die Stimmigkeit, Wahrhaftigkeit bzw. Verlo­genheit und „Verbogenheit“ unserer Gedanken fühlen könnten, wenn wir fähig würden, fühlend zu erkennen, ob Gedanken gerade oder krumm sind, erst dann wären wir urteilsfähig und fähig zu michaelischem Denken. Unser Denken wird also von unserem leibfreien Denken, Fühlen und Wollen gleichermaßen ermöglicht und ist eine rein außerkörperliche, geistige Tätigkeit:
* Der '''leibfreie Ätherleib''' liefert das ''Baumaterial für die Gedanken''.
* Der '''leibfreie Astralleib''' ist für das ''Fühlen der Qualität der Gedanken'' zuständig.
* Aus der '''leibfreien Ich-Organisation''' kommt unser ''Wille zum Denken''.
Dergestalt selbständig denken zu lernen, ist Ziel der gesamten Waldorfpädagogik.
=== ''Urangst vor dem Geist'' ===
Der Materialismus hat Angst vor dem Unbekannten, vor dem Geist, weil er auch das Denken, unsere spirituelle Kompetenz, ganz und gar auf die vergängliche Welt reduziert glaubt. Der Geist wird plötzlich zu einem Gespenst, das Angst macht.
Um dieser Angst entgegenzuwirken, muss man lernen, das Denken zwar für die Alltagsverrichtungen einzusetzen – auch da hat es seine Aufgabe – es aber dann loszulösen von diesen nur sinnlich gegeben Dingen. Man muss lernen, sich mit Gedanken zu befassen, die über die Sinneswelt hinausgehen, sich z.B. Gedanken zu machen über „Wahrheit“, „Liebe“, „Freiheit“, „Treue“. Diese Qualitäten kann man als Mensch nur erringen, weil man sie in ihrer Vollkommenheit denken kann. In der Folge kann man daran arbeiten, ein bisschen davon in die sinnliche Wirklichkeit treten zu lassen, indem man das Übersinnliche, das man sich denkend bewusst gemacht hat, im Alltag übt.
Manche sehen Treue erst, wenn ein anderer sie lebt. Und der treue Mensch wird sagen, dass sich seine Treue noch steigern ließe. Das trifft auch auf die Qualitäten „Wahrheit“ und „Vertrauen“ zu.
=== ''Bewusstsein als Abhilfe gegen Angst'' ===
Der Mensch ist in aller Vollkommenheit übersinnlich „da“, indem ich ihn denke, aber als Individuum muss ich mir diese Vollkommenheit noch persönlich erringen. Das geht nur durch Üben. Die Urangst vor dem Geist weckt uns auf für diese Möglichkeiten in unserem materialistischen Zeitalter. Es geht darum, zu begreifen, dass das Erdenleben uns für unseren übersinnlichen wahren Menschen wach machen soll. Zu versuchen, ihn uns bewusst anzueignen, bis wir wissen, was es wirklich heißt, ein Mensch zu sein, ist das beste Mittel gegen die Angst vor dem Geist. Dadurch finden wir unsere wahre Identität. Das ist ein Prozess, den wir nur auf der Erde vollziehen können. Es gibt ein wunderbares Wort von dem mittelalterlichen Mystiker ''Meister Ekkehart'':
''„Wär‘ ich ein König und wüsste es nicht, ich wäre kein König.“''
Als ich den Spruch zum ersten Mal hörte, wurde mir bewusst, dass das der Grund ist, warum ich – neben anderen Dingen, die mich auch interessieren – die Anthroposophie so wichtig finde. Anthroposophie heißt übersetzt nur, dass man weiß, was es heißt, ein Mensch zu sein: anthropos – Mensch, sophia – Wissen, Erkenntnis. So wollte Rudolf Steiner die Anthroposophie verstanden wissen. Denn wäre ich ein wunderbarer Mensch und wüsste es nicht, wäre ich vielleicht nur ein von Angst besetztes, scheues, verzagtes Wesen.
''Vgl. Vortrag „Angst in Krankheit und Gesundheit“ vom 14. Februar 2007''
== GEISTIGE DIMENSION ALS RESSOURCE ==
''Inwiefern ist der Mensch Angehöriger zweier Welten?''
''Wie vollzieht sich die geistige Identitätsbildung?''
=== ''Die eigene geistige Identität erkennen'' ===
Jesus sagte: ''„In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“'''[1]''''' Rein physisch gesehen sind wir sehr verletzlich und angreifbar. Der Vergänglichkeit unterworfen zu sein, macht logischerweise Angst.
''Wie können wir diese Angst überwinden?''
Als ich als junger Mensch mit Existenzangst zu kämpfen hatte, wurde es mir zu einem elementaren Erlebnis, dass ich meine Freiheit der denkenden Selbstbestimmung verdanke und dass sich in diesen Bereich niemand anderer einmischen konnte, weil er nur mir zugänglich war. Indem ich denkend zu mir stand, hatte ich mithilfe der geistig-spirituellen Dimension meines Wesens den ersten Schritt zur Bewältigung meiner Existenzangst unternommen. Ich hatte die vergängliche Welt überwunden, indem ich mir der unvergänglichen Seite meines Wesens bewusst wurde
Im Zuge der Identitätsbildung ist es unerlässlich sich klar zu machen, mit welchen Dimensionen man als Mensch umgeht, einfach aufgrund der Tatsache, dass man als physisches Wesen auf dieser Erde lebt, ''das denken kann''. Das macht uns zu Angehörigen der physischen ''und'' der geistigen Dimension. Im Denken betreten wir rein spirituellen Boden, auch wenn das den meisten Menschen nicht bewusst ist. Insofern kann jeder schrittweise und aus sich heraus die eigene geistige Identität denken und dann auch erfahren lernen.
==== '''·''' Geistige Identität denken ====
Dabei ist man nicht auf von außen kommende, schicksalhafte Ereignisse angewiesen. Man kann sich das schlicht vornehmen, sogar ohne Zuhilfenahme von Büchern: ''„Ab heute stehe ich zu mir mitsamt all meinen Ängsten. Ich begegne allem, was auf mich zukommt, möglichst bewusst und versuche alle Erfahrungen als die Meinigen anzuerkennen und in diesem Sinne zu verarbeiten.“''
==== '''·''' Geistige Identität erleben ====
Damit uns das gelingt, sind wir in einem zweiten Schritt herausgefordert, die eigene geistige Identität nicht nur zu denken, sondern tatsächlich ''zu erfahren'' und zu befestigen, indem wir begreifen: ''„Ich bin in dieser Welt, wurde hier geboren und sterbe hier, aber ich komme aus einer anderen Welt, der ich als geistiges Wesen angehöre, in der ich den Zerfallsprozessen aus Raum und Zeit nicht unterworfen bin.“'' Wir denken den Gedanken des eigenen Wesens nicht nur, sondern erfahren uns im Denken selbst als ein übersinnliches, rein spirituelles, energetisches Wesen.
Ab diesem Punkt werden wir die Macht der unsichtbaren, rein spirituell fassbaren Gedanken ganz neu als Kraftquelle entdecken – einer Macht, die über Raum und Zeit hinaus geht und jederzeit verfügbar ist.
Es ist Aufgabe der Angst, uns auf die Suche nach der unzerstörbaren Dimension unseres Wesens zu begeben, um Trost und Sicherheit darin zu finden. Die Angst bringt uns, die wir in einer Welt des Vergänglichen leben, in Beziehung mit der Welt des Unvergänglichen und fordert uns auf, im rein Geistigen unsere spirituelle Heimat und unser wahres Wesen zu entdecken.
Vgl. ''Vortrag „Angst in Krankheit und Gesundheit“ vom 14. Februar 2007''
----[1] Neues Testament, ''Johannes'' ''16, 33.''
== EIGENER ZUGANG ZUM GEISTIGEN ==
''Wie kann man einen eigenen Zugang zum Geistigen finden?''
=== ''Einsamer Weg zur Wahrheit'' ===
Es gehört zu den größten Wundern des menschlichen Erkenntnislebens, dass jeder Mensch selbst um Selbsterkenntnis ringen muss und nur sich selbst die Frage nach seinem wahren Wesen beantworten kann. Das kann keiner einem anderen abnehmen. Wir können uns zwar dabei helfen, die letzte Gewissheit muss jedoch jeder für sich selbst erringen und erfahren.
Rudolf Steiner formuliert das in seiner ''„Philosophie der Freiheit“'' so: „''Die Natur macht aus dem Menschen ein Naturwesen. Die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes. Ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen.“''[1]
Christian Morgenstern hat das in einem seiner Gedichte treffend charakterisiert:
''Die zur Wahrheit wandern,''
''wandern allein,''
''keiner kann dem andern''
''Wegbruder sein.''
''Eine Spanne geh‘n wir,''
''scheint es, im Chor...  ''
''bis zuletzt sich, seh‘n wir,''
''jeder verlor.''
''Selbst der Liebste ringet''
''irgendwo fern;''
''doch wer's ganz vollbringet,''
''siegt sich zum Stern,''
''schafft, sein selbst Durchchrister,''
''Neugottesgrund –''
''und ihn grüßt Geschwister''
''Ewiger Bund.'''[2]'''''
=== ''Freiheit und Erkenntnis selbst erringen'' ===
Wäre dies nicht so, würden uns Menschen die wichtigsten Grundpfeiler unserer Existenz, Selbstverantwortung und Freiheitsbewusstsein, fehlen.
So wie das Wort „ich“ von jedem einzelnen Menschen einerseits nur auf sich selbst angewendet werden kann und dennoch auch ganz objektiv für jeden anderen Menschen gilt, so bleiben die objektiven Schulungswege und Hilfen zur Geisterkenntnis, die schon seit Urzeiten zu den Kulturgütern jeder Religion und jeder nach Wahrheit suchenden Philosophie gehören, unzureichend für den einzelnen, wenn er nicht selbst über diese Themen nachdenkt und durch eigene Erfahrung einen persönlichen Bezug dazu herstellt.
·       Das sogenannte sichere Wissen des materialistischen Weltbildes stützt sich ausschließlich auf die Sinneserfahrung und ein Denken, das diese physischen Wahrnehmungen verarbeitet und die Endlichkeit des Physischen auf den ganzen Menschen projiziert.
·      Der Glaube hingegen ist auf die Welt des Seelisch-Geistigen gerichtet, ist für Inhalte und Erkenntnisse offen, die den Sinnen verborgen und auch nicht herzeigbar sind.
Insofern tut sich tatsächlich ein tiefer Abgrund zwischen Wissen und Glauben auf, gibt es scheinbar keine Berührungspunkte zwischen den beiden. Dieses gegenseitige Ausschließen, diese Unvereinbarkeit zweier Wesensanteile des Menschen, erweist sich als das größte Hindernis für die Erlangung krisenfester seelischer Gesundheit und Stärke.
Auch stellt die Annahme des Todes als Ende der Existenz die Bedeutsamkeit der menschlichen Entwicklung als solches infrage.
''Denn welchen Sinn sollte alle Anstrengung und Mühe haben – gerade auch unter schwierigen Lebensbedingungen –, wenn Existenz und Entwicklung mit dem Tode enden?''
Doch bringt uns bereits das Nachdenken über die Frage, warum es so schwer ist, die Brücke zwischen dem materiellen und dem geistigen Dasein zu schlagen, der eigenen Identität ein entscheidendes Stück näher – auch wenn wir noch nicht den Mut und den Willen aufbringen, das Geistige in uns in aller Konsequenz ernst zu nehmen.
''Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 2. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004''
----[1] Rudolf Steiner, ''Philosophie der Freiheit'', GA 4, 9. Kapitel.
[2] Christian Morgenstern aus ''Wir fanden einen Pfad. Werke und Briefe.'' Stuttgarter Ausgabe Band II, Stuttgart 1992, S. 207.
== DIE WIRKSAMKEIT DES GEISTES UND DENKEN ==
''Was ist Geist?''
''Wie hängen unser Geist und unser Denken zusammen?''
=== ''Denken als Brücke zum Geistigen'' ===
Unser Geist ist für uns etwas so Selbstverständli­ches, etwas so Alltägliches wie unser Körper und unser persönliches Seelenleben. Das Geistige in der Welt und in uns ist die in allem wirksame Gesetzmäßigkeit, über die wir Menschen erst die geistige Dimension erfassen können. Indem wir sie in bewusster Weise denken, finden wir einen allerersten Zugang dazu. Wenn wir über etwas nachdenken, haben wir immer das Bestreben, das Richtige zu denken und uns keinen Illusionen hinzugeben. Wenn wir uns im besten Falle wirklichkeitsgemäße Gedanken über die Welt und uns selbst machen, stimmt das, was wir denken, mit dem, was wirklich ist, überein. Nun gibt es ganz verschiedene Arten zu denken:
==== '''·''' Exaktes Nachdenken ====
Wir können über die äußere Welt und die in der Natur wirksamen Naturgesetze nachdenken. Auf diesem Felde sind wir heute schon ziemlich weit gekommen. Wir können alles denken: die Gesetze der Aerodynamik, der Thermodynamik, der Physik, der Ma­thematik, der Chemie. Weltweit, ob in China, in Amerika, in den Laboratorien Russlands oder in Prag, man forscht an denselben Objekten und Themen und tauscht sich auf großen internationalen Symposien darüber aus – unabhängig vom politischen System. Hier zeigt sich eine Überein­stimmung von Gedanken und gegenseitiges Verstehen über alle persön­lichen, ideologischen und nationalen Interessen hin­weg. In manchen Bereichen verstehen sich die großen Forscher aller Kontinente und aller Regi­mes mit derselben Selbstverständlichkeit wie zwei Schul­kinder, die herausbekommen haben, dass 2 X 2 gleich 4 ist.
Beim Nachdenken wird uns die Übereinstimmung von unserem Denken mit den Gesetzen der sichtbaren Natur deutlich. Es liegt in der Natur des menschli­chen Denkens, dass jedes Weltgesetz darin wie­dergefunden werden kann. Als mir das als junger Mensch bewusstwurde, fühlte ich mich zum ersten Mal auf dieser Erde so richtig zu Hause. Ich hatte mir immer eingeredet, ich wäre letztlich heimatlos und allein, von der Welt abgetrennt und unfähig, etwas zu ihrem Ge­deihen beizutragen – und erkannte nun, dass das ein Irrtum war. Denn über das Denken können wir mit allem, was es gibt, in Beziehung treten. In Gedanken lässt sich alles nachvollziehen, was in der Welt geschieht. Wir können die Übereinstimmung erleben zwischen den Gesetzen, die in unserem Den­ken wirksam sind und denjenigen, die in der Welt wirksam sind. Das führt zu einem Gefühl tiefen Ver­bunden-Seins mit allem Geschehen, mit der Entwicklung der Erde und den Wesen, die auf ihr leben.
==== '''·''' Schöpferisches Vorausdenken ====
Wir haben als Menschen aber auch die Fähigkeit vor­auszudenken, indem wir uns z.B. fragen:
''Wie wird die Welt in zehn Jahren ausse­hen, wie sollte sie aussehen?''
''Wie will ich mein Leben in den nächsten Jahren gestalten?''
Solche Fragen appellieren an unsere visionäre Kraft, die nicht nur passiver Zuschauer eines sich entrollenden Geschehens ist, sondern aktiver Mitgestalter von Zukunft. Insofern ist sind eine Überleitung zu einer dritten Art des Denkens:
==== '''·''' Idealistisches Denken ====
Ideale können wir nicht mit Augen sehen oder mit Händen greifen. Sie sind ideeller Natur und können nur rein ge­danklich erfasst werden. Sie existieren für uns schlicht nicht, wenn wir sie nicht bewusst denken. Viele, die Schweres in ihrem Leben durchgemacht haben, haben erlebt, dass das, was sie durchhalten ließ, was sie getragen hat, ihre Ideale waren. Ideale können zu einem Lebensmotiv werden, dem man sich immer verbunden fühlt.
Das Ideal der Liebe, bzw. der Treue, der Freundschaft oder der Güte, kann von uns in einem ersten Schritt bloß gedacht werden. Es kann aber auch zu etwas Verbindlicherem für uns werden, indem wir es in einem nächsten Schritt allen in­neren Widerständen zum Trotz zu verwirklichen versuchen.
=== ''Zwei Aspekte des Geistes'' ===
Über unser Denken haben wir also Zugang zu zwei Aspekten des Geistes:
# zu dem in der sichtbaren Natur und damit auch im menschlichen Leib wirksamen Geist
# und zu dem geistigen Aspekt, der sich nur dem den­kenden Bemühen erschließt, wenn wir über Ziel und Form des Lebens nachdenken, uns für Ideale begeistern.
Indem wir das tun, stellen wir der Naturordnung eine moralische Ordnung an die Seite.
Im Zusammenhang mit Idealen, mit den ethischen Werten des Lebens, sprechen die Religionen und Philosophien auch oft von Ein­sichten, Intuitionen oder Offenbarungen. Rudolf Steiner wies darauf hin, dass Ideale gedankliche Offenbarungen geistiger Wesen sind. Er schilderte auch, welche geistigen Wesen sich uns Menschen nähern, wenn wir dieses oder jenes Ideal erstreben. Wenn wir unser Denken zur Imaginations-, Inspirations- und Intuitionsfähigkeit weiterbilden,[1] können wir die Wirklichkeit der geistigen übersinnlichen Welt in ähnlicher Weise erfor­schen, wie man über ein Naturgesetz Zugang zur Natur bekommt.
=== ''Pädagogische Herausforderung'' ===
Menschen, die sich kaum Gedanken über die Welt machen, werden in ihrer Seele auch keine befriedigende Übereinstimmung mit den Weltgesetzmäßigkeiten erleben. Sie befassen sich hauptsächlich mit ihren leiblichen Bedürfnissen, sind auf ihr eigenes Wohlergehen fixiert. Ihr Seelenleben ist verarmt, weil der Seelenraum nur das enthält, was jemand tief gefühlt und dadurch verinnerlicht hat. Das lässt die Größe der so­zialen und pädagogischen Herausforderung unserer Zeit erahnen. Denn das Lebensglück eines Menschen hängt nicht allein von der Befriedigung seiner Bedürfnisse ab, sondern noch mehr davon, in welches Verhältnis er sich zur Welt zu setzen vermag.
Und DAS ist eine Frage der Er­ziehung: ob man angespornt wurde, sich mit geistigen Inhalten, sprich: mit Wahrheiten dieser Welt, und mit Menschheitsfragen auseinanderzusetzen. Eine solche Art der Erziehung bringt einen lebenslangen Prozess in Gang. Wenn man ein Leben lang Freude am Lernen hat und sich gerne mit dem, was Welt und Leben an Herausforderungen und Erfahrungen zu bieten haben, befasst, wird man sich in jeder Le­benslage zurechtfinden.
''Vgl.'' ''Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987''
----[1] Vgl. Rudolf Steiner, ''Die Geheimwissenschaft im Umriss.'' GA 13.
== DER TOD ALS GEBURTSMOMENT DES GEISTES ==
''Was ist unter Geistgeburt zu verstehen?''
''Wie können wir sie begleiten?''
=== ''Physische Geburt versus Geistgeburt'' ===
Die physische Geburt geht einher mit einer Bewusstseinsverdunkelung und einem totalen Kompetenzverlust. Wir Menschen haben größte Empathie, wenn so ein hilfloses, zappelndes, strampelndes, enorm reagibles Wesen plötzlich unter uns erscheint. Wir sind bereit, ihm jegliche Unterstützung zu geben, die es braucht. Die Erwachsenenwelt scheut sich nicht, fünfzehn, zwanzig, manchmal sogar fünfundzwanzig Jahre für diesen Pflegling zu sorgen – bis schon fast ein Viertel seines Lebens um ist.
Ganz anders verhalten wir uns, wenn es um die Geistgeburt geht. Sie betrifft jeden, wie auch jeder Mensch als hilfloser Säugling geboren wurde, doch sind sich viele der Bedeutung des Todes als Geburtsmoment des Geistes in die geistige Welt hinein nicht bewusst. Und das, obwohl wir uns alle unser ganzes Leben lang auf diesen Punkt zu bewegen. Wir können auch sagen, wir gehen schwanger mit unserem unsterblichen Geist, der im Todesaugenblick aus dem sterblichen Körper befreit und ins geistige Leben hinein geboren wird. Aus Sicht der geistigen Welt ist diese Geistgeburt die Krönung des menschlichen Lebens, das von vielen Wesen freudig gefeiert wird – nur nicht von den Hinterbliebenen.
=== ''Problem der Begleitung der Geistgeburt'' ===
''Warum ist das so?                                                     ''
''Warum sind wir uns der Bedeutsamkeit und Heiligkeit des Sterbens nicht bewusst?''
Das hat mehrere Gründe. Spätestens im Sterbeprozess sind wir genauso hilflos wie ein kleines Kind – das will niemand wirklich erleben, nicht die Betroffenen und nicht die Angehörigen. Unsere Gesellschaft ist auch gar nicht wirklich darauf vorbereitet, alte Menschen würdig bis an ihr Lebensende zu begleiten. Das überlässt man gerne Spezialisten wie Palliativ-Teams, Sterbestationen und Hospiz-Einrichtungen.
Es sind nicht nur wirtschaftliche Gründe, die uns die Geistgeburt mit ihren hochindividuellen Variationen als so viel beschwerlicher ansehen lassen als die physische Geburt: Bei der physischen Geburt wissen wir ungefähr, was ein Baby braucht. Allzu wenig wissen wir jedoch in unserer materialistischen Zeit darüber, was uns am Lebensende erwartet und was der einzelne Mensch dann braucht. Umso wichtiger ist es, dass wir das Geheimnis des Todes als Geistgeburt sorgfältig studieren und dieses Tor zur geistigen Welt wieder öffnen lernen.
Wenn uns als Pflegenden – egal, ob Angehörigen, Medizinern oder professionellen Sterbebegleitern, die spirituellen Entwicklungszusammenhänge klar vor Augen stehen, sind wir in der Lage, die Würde des Menschen beim Sterben zu wahren, auch wenn er immer hilfloser und pflegebedürftiger wird. Dabei hilft es, wenn wir uns diesen Prozess der Vorbereitung der Geistgeburt in seiner ganzen Schönheit und Bedeutsamkeit vorstellen und uns darüber freuen, dass wir den dahinschwindenden Menschen bis zuletzt begleiten und seinen physischen Körper pflegen dürfen.
=== ''Schmerz stärkt spirituelles Selbstbewusstsein'' ===
Beim Sterben ist es mit Sicherheit so, dass der Schmerz, den der Betroffene fühlt, sein spirituelles Selbstbewusstsein bestärkt, indem er ihm hilft, sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch-geistig zu spüren. Das ist die Mission des Schmerzes. Fakt ist auch: Je stärker man sich ''spirituell'' spüren kann, desto weniger braucht man den physischen Schmerz. Aber oft geht das Sterben durch den Schmerz hindurch, der in jedem Fall mit palliativmedizinischen Mitteln so gut wie möglich behandelt werden sollte. Doch sollte der Sterbende selbst entscheiden dürfen, inwieweit er bewusstseinstrübende Mittel in Anspruch nehmen möchte. Das kann im Rahmen einer Patientenverfügung geregelt werden.
Man ist als Sterbebegleiter in der Situation, dass man jemanden wie ein Geburtshelfer begleiten darf bei seiner Geistgeburt, und dass man alles daransetzt, ihm viele bewusste, sinnvolle, menschliche, intensive Erfahrungen zu ermöglichen. Dazu gehört auch, dem Sterbenden die Freude spüren zu lassen, dass man ihn begleiten darf und dass man sich gewiss ist, dass ihn drüben auch Freude erwartet.
''Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008''
== GEISTIGE ENTWICKLUNG AN DER TODESSCHWELLE ==
''Was ist aus anthroposophischer Sicht der Sinn davon, dass sich der Gesundheitszustand beim Älterwerden zunehmend verschlechtert?''
''Und was geschieht aus geistiger Sicht bei Demenz?''
=== ''Chronische Erkrankungen als Boten der Vergänglichkeit'' ===
Für das letzte Lebensdrittel sind chronische Erkrankungen typisch: Diabetes Typ 2, Rheuma, das nicht allzu stark auftritt, Verschleißerscheinungen an den Bandscheiben, Gelenks­arthrosen, Gallen- und Magen-Darm-Probleme. Die verschiedenen Systeme funktionieren nicht mehr so gut, die Beschwerden sind anfangs aber noch gut mit dem Leben vereinbar. Sie dienen nicht mehr der Immunisierung von Körper und Seele, sondern haben mit der anstehenden geistigen Entwicklung zu tun.
Der Sinn dieser Funktionsstörungen und Erkrankungen, die jeden mehr oder weniger betreffen – und sei es nur, dass man eine Brille braucht, weil die Augen nicht mehr so mitmachen – liegt offen zutage: Der Mensch muss sich mit der Vergänglichkeit seines Körpers auseinandersetzen. Dadurch wird er mit dem Gedanken an den Tod, an die völlige Zerstörung des Körpers, vertraut gemacht. Mit dem Auftreten einer chronischen Krankheit weiß man plötzlich, dass es nie mehr „gut“ wird, dass man nie mehr ganz gesund wird. Chronische Krankheiten entsprechen den „Boten des Todes“ aus dem Märchen der Brüder Grimm, die jeder mehr oder weniger stark am eigenen Leib erlebt. Das Ausmaß dieser Störungen kann individuell sehr unterschiedlich sein, doch jeder wird damit konfrontiert, keiner bleibt verschont.
Es geht dabei um einen Prozess der „geistigen Immunisierung“: Der Geist lernt sich in der Auseinandersetzung mit chronischen Krankheiten in seiner Unabhängigkeit von Leib und Seele als eigene Identität zu erfassen, die im Geistigen beheimatet ist.
Und auch darum geht es bei diesem Prozess im letzten Lebensdrittel: sich wieder vertraut zu machen mit der Welt des Geistigen, in die wir alle mit dem Tod wieder wie hineingeboren werden. Krankheiten sind legitime Entwicklungsmöglichkeiten und -wege und ermöglichen vielfältige Lernprozesse, deren Wirksamkeit über den Tod hinausgeht. Das gilt auch für Demenz, worauf ich im folgenden Abschnitt näher eingehen möchte.
=== ''Was Demenz uns schenkt und lehrt'' ===
Wenn man von einer geistig-seelischen Entwicklung des Menschen über die Todesschwelle hinaus ausgeht, zeigt sich der Wert und Sinn eines Lebens mit Demenz in einem völlig neuen Licht. Dann begreift man, dass es unhaltbar ist zu sagen, die Pflege eines Menschen mit Demenz koste zu viel. Diese volkswirtschaftliche Denke ist dann nicht mehr zu vertreten, zumal sie die Würde der betroffenen Menschen völlig außer Acht lässt. Menschen mit Demenz leben weiterhin ein „gültiges“ Leben, auch wenn sie sich über längere Phasen mit ihrem Geistbewusstsein bereits mehr oder weniger stark vom zeitgebundenen physischen Dasein wie abgekoppelt haben.
Als pflegende Begleitung kann man oft beobachten, wie der Betroffene hin- und herpendelt zwischen der physischen und der geistigen Welt. Aus physischer Sicht ist er oft schon ziemlich „weit weg“ und plötzlich wieder richtig „da“, ist für Minuten voll präsent und dann gleitet er oder sie wieder weg. Das vollzieht sich in einer Art rhythmischem Geschehen: Wenn nahestehende Menschen auf Besuch kommen, die der Betroffene sehr geliebt hat, spürt man förmlich, wie die Herzensverbindung das weit entfernte Geistbewusstsein wieder wie hereinzieht in den Körper, wie es durch die Augen strahlt. Man kann dabei deutlich empfinden, wie dadurch wieder Leben in das Herz, die Atmung, in das rhythmische atmende mittlere System rinnt und sich dann wieder löst.
Auch wird jeder Mensch, wenn ihm genügend äußere Unterstützung gewährt wird, seine individuelle Todesart finden, die auf natürliche Weise das physische Leben abschließt. Das ist genauso wichtig für die Geistgeburt wie eine natürliche Geburt am Lebensanfang. Dabei zählt jeder Tag, den er noch hier verweilt, ähnlich wie bei einer Schwangerschaft, unabhängig davon, ob und in welchem Ausmaß der Sterbende noch im vergänglichen Erdenbewusstsein verweilt oder ob er sich damit begnügt, mit dem jenseitigen Bewusstsein seinen Leib und die anderen Menschen liebevoll von jenseits der Schwelle schauend zu erleben.
''Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“ gehalten in Filderstadt am 19.2.2010 und Vortrag „Krankheit und Gesundheit im Lichte des Merkurstabs“, 26.09.2007''
== DEMENZ UND GEISTGEBURT ==
''Wie lässt sich die Demenzerkrankung unter dem Gesichtspunkt der Geistgeburt verstehen?''
''Wie können Pflegende dem Erkrankten dabei helfen?''
=== ''Geistgeburt über Jahre hinweg'' ===
Bei Menschen, die an Demenz erkrankt sind, kann sich der Prozess der Geistgeburt in Hilflosigkeit und Verwirrtheit sogar über viele Jahre hinziehen, bei wenigen Ausnahmen sogar zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre, bevor sich ihr Geist endgültig verabschiedet.
Das wird aus der materialistischen Weltsicht heraus als großes Drama angesehen, weil man nicht versteht, dass der Geist der Betroffenen diese Zeit braucht, um sich mit der jenseitigen Welt vertraut zu machen, indem er zwischen hier und dort wie pendelt. Dabei löst er sich zunehmend aus den irdischen Gegebenheiten und macht sich mit den geistigen Welten vertraut.
Um diese Prozesse rund ums Sterben zu wissen, kann uns als Pflegenden helfen, den Demenzkranken spirituell würdig zu begleiten, seine geistige Würde wieder wie herzustellen – einfach dadurch, dass wir wissen, was geschieht.
=== ''Der Pflegende als Stellvertreter des Ich'' ===
Als Pflegender muss ich versuchen, mich in das Leben eines anderen hineinzuversetzen – hier des Dementen – der langsam auf die Todesschwelle zugeht und dessen Ich bereits zunehmend in der geistigen Welt lebt. Das Grandiose ist, dass man auch bei Bettlägerigen immer wieder für Momente erleben kann, dass das Bewusstsein noch einmal wie „reinschießt“ und ganz bedeutende Dinge gesagt werden, manchmal nur zwei Worte.
Meine Mutter saß im letzten halben Jahr einmal morgens glückstrahlend im Bett, als die Pflegerin hereinkam, und sagte: ''„Jetzt weiß ich alles. Grandiose Überschau. Alles ist wahr.“'' Eine halbe Stunde später reagierte sie wieder aggressiv, weil man ihr die Nägel schneiden wollte und sie Angst hatte vor dem Geschehen, das sich ihr nicht mehr erschloss.
Der alles Verstehende und der Ängstliche sind ein und derselbe Mensch. Ich als Pflegender kann ihm sein Alltags-Ich ersetzen, da er nicht mehr am Physischen interessiert ist, sondern jetzt mehr im Umkreis lebt und mit dem Hereinwachsen in die geistige Welt beschäftigt ist. Je mehr man sich als Pflegender dessen bewusst ist, kann man die Gesten des Raumschaffens, des Umhüllens und des vorsichtigen Wahrnehmens vollziehen. Die Haltung gegenüber dem Betroffenen muss dabei sein: ''„Dein Wille geschehe“'' – soweit dies möglich ist. Allein diese Haltung beruhigt und gibt Sicherheit.
=== ''Seelenpflege durch Kunst'' ===
Durch Sprache und Musik pflegt man auf liebevolle, künstlerische Art die Organe des alternden, auf den Tod zugehenden Menschen. Über Worte und Töne erlebt er unmittelbar den Zusammenklang mit der Erde. Darüber hinaus nimmt die Seele alles Künstlerische, Konzerte, Musik, – gute, starke Musik – mit über die Schwelle. Sie kann mit „ihrer“ Musik noch mitschwingen. Alles, was ein Mensch auf Erden gehört hat, verbindet ihn in der Läuterungszeit der ersten 30 Jahre nach dem Tod noch mit der Erde.
Wenn die agitierte Phase der Demenzerkrankung abebbt, lassen Sprache und Bewegung nach, weil der Astralleib sich auch schon gelöst hat. Der Sterbende geht mehr in ein Ätherisch-Pflanzliches Dasein über. Hier kann man sich bewusst machen, dass Ich und Astralleib schon jenseits der Schwelle sind und der Mensch schon mit Seelen drüben kommuniziert. Manchmal wird in hellen Momenten auch davon erzählt, wird von Begegnungen mit Verstorbenen berichtet.
Wenn Demenzkranke die Möglichkeit bekommen ganz langsam und zum Teil auch unter körperlichen und seelischen Schmerzen – also bewusst, wenn auch wenig selbstbewusst – in die Sterbesituation hinein zu reifen, haben sie ihre Geistgeburt wirklich selbst errungen und stehen mit einem völlig anderen Selbstbewusstsein in der geistigen Welt.
''Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008''

Aktuelle Version vom 1. April 2025, 09:43 Uhr

Geist und geistiges Wesen – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

GEISTERKENNTNIS UND FREIHEIT

Warum gehören Geisterkenntnis und Freiheit unbedingt zusammen?

Warum darf sich die Existenz des Geistigen nicht beweisen lassen?

Spaltung in Glauben und Wissen

Wir leben heute in einer Zeit, in der sich Naturwissenschaft und Geisterkenntnis weitgehend verständnislos gegenüberstehen. Die in der Neuzeit vorgenommene Spaltung von Glauben und Wissen(schaft) hat sich in einer Weise vertieft, dass es zu einer Frage der Volksgesundheit geworden ist, ob diese Spaltung überwunden werden kann oder nicht. Denn das Erleben der Geistlosigkeit und damit auch der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz treibt ungezählte Menschen in Krankheit, Drogenabhängigkeit oder Selbstmord.

Man kann als Mensch kein gesundes Selbstbewusstsein erringen, wenn an die Stelle des tätigen Menschen-Ich als eines realen geistigen Wesens die abstrakte Person tritt, deren Existenz mit dem Tode endet, insofern sie nur als das Ergebnis molekularer neurophysiologischer Vorgänge gesehen wird.

Es ist ein Affront gegen die Menschenwürde, wenn an die Stelle folgenreicher Schicksalserfahrungen die Worte „Zufall“, „Glück“ oder „Pech“ als einzig wissenschaftlich vertretbares Erklärungsmodell treten. Die tiefere Bedeutung dieser Worte kann einerseits aus wissenschaftlicher „Bescheidenheit“ und methodenbedingter Selbstbeschränkung heraus nicht ausgelotet werden, andererseits sind sie einer „echten“ wissenschaftlichen Behandlung ohnehin nicht zugänglich.

Aus sich heraus die Brücke zwischen Materie und Geist finden

Angesichts der akademisch geförderten Aufspaltung von Inhalten in „sicheres Wissen“ und „beliebigen, ungewissen Glauben“ erhebt sich die Frage, warum das so gehandhabt wird. Möglicherweise entspringt dieses Phänomen dem unbewussten Wunsch, selber zu bestimmen, wann man als einzelner Mensch die Frage nach der eigenen geistigen Identität stellt.

Vielleicht spendet die unwissenschaftliche Glaubenswelt uns Trost, solange wir diese Frage noch nicht in aller Konsequenz stellen wollen. Würden wir sie ernsthaft stellen, müssten wir auch die volle Verantwortung übernehmen für alle negativen Folgen dessen, was wir aus der materialistischen und reduktionistischen Sichtweise der heutigen Wissenschaft heraus Natur und Mensch antun. Verantwortung zu übernehmen hieße, konkrete Konsequenzen zu ziehen – im eigenen Leben, im sozialen Miteinander, aber auch im Blick auf das große Ganze.

Es gibt dazu passend einen schönen Spruch: Wer will, findet Wege – wer nicht will, findet Gründe. Wer einen wissenschaftlichen und zugleich empirischen Weg zur Wirklichkeit des Geistes sucht, kann diesen – wenn er wirklich will – u.a. in der anthroposophischen Geisteswissenschaft finden. Für den, der ernstlich will, ist es nicht schwer, die Brücke zwischen Materie und Geist zu finden. Warum nicht? Weil sie in unserem eigenen Denken gegeben ist, und damit kann sie zu einem inneren Evidenzerlebnis werden, ohne dass es äußerer Beweise bedarf.

Der tiefere Sinn der Nicht-Beweisbarkeit Gottes

Dazu ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, die Existenz Gottes bzw. des Geistigen als von der Materie unabhängige und dennoch die Materie beherrschende Realität wäre unumstößlich bewiesen, sodass es keinen Widerspruch mehr gäbe – was wäre die Folge? Jeder Zweifel an der Existenz des Göttlichen, des Geistes, wäre beseitigt, wenn es wie von außen zwingend bewiesen werden könnte. Damit hätten wir Menschen aber auch keine Möglichkeit mehr, in Freiheit und selbstbestimmt den Weg zu uns selbst und zum Wesen der Welt zu gehen.

Was würde das für uns alle bedeuten?

Jeder Zweifel an der Existenz des Geistes müsste schwinden, wenn seine Bedeutung mit äußeren Mitteln zwingend bewiesen wäre. Damit hätten wir Menschen aber auch keine Möglichkeit mehr, in Freiheit und selbstbestimmt den Weg zu uns selbst und zum Wesen der Welt zu gehen.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 2. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004

GEIST, SEELE UND LEIB

Wie werden Leib, Seele und Geist in der anthroposophischen Menschenkunde definiert?

Leib, Seele und Geist aus Sicht der anthroposophischen Menschenkunde

  • Wenn wir von Leib oder Körper sprechen, meinen wir den ganzen Organismus, den der Stoffwechsel physisch aufbaut – das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System von den Haarspitzen bis zu den Fußsohlen.
  • Wenn wir von Seele reden, meinen wir den Organismus des Fühlens, der im Zusammenspiel mit dem leibfreien Willen und dem Denken entsteht.
  • Und wenn wir von Geist sprechen, meinen wir die Summe der exkarnierten Wesensglieder, die schon ganz außerkörperlich rein spirituell tätig sind.

Mit Geist wird die von der Materie ganz losgelöste Gesetzlichkeit bezeichnet, also diejenigen geistigen Kräfte, die im Zuge der Ausreifung des physischen Körpers wieder leibfrei geworden sind, die sich quasi wieder exkarniert haben. Dieser wieder leibfrei gewordene Geist hat dieselben Qualitäten wie die inkarnierten ätherischen, astralen und Ich-Organisations-Kräfte, durch die der Leib entstanden ist – mit nur einem Unterschied: die im Körper wirkenden geistigen Kräfte arbeiten im Sinne der Naturgesetze. Die leibfreien Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens sind auf die individuelle Führung durch das Menschen-Ich angewiesen.

Was unser Geist vermag

Geist ist laut Rudolf Steiner nicht das Gegenteil von Materie, sondern das außerkör­perliche Erleben unserer Wesensglieder im Denken, Fühlen und Wollen. Im Geist erwachen wir als Menschen, die

  • Gedanken bilden
  • Gedanken differenzieren, abwägen, beurteilen
  • sich mit Gedanken verbinden, Gedanken realisieren wollen.

Rudolf Steiner sagt in dem Zusammenhang auch, wir müssten lernen im Denken Hell und Dunkel als Qualitäten zu fühlen. Erst wenn wir die Stimmigkeit, Wahrhaftigkeit bzw. Verlo­genheit und „Verbogenheit“ unserer Gedanken fühlen könnten, wenn wir fähig würden, fühlend zu erkennen, ob Gedanken gerade oder krumm sind, erst dann wären wir urteilsfähig und fähig zu michaelischem Denken. Unser Denken wird also von unserem leibfreien Denken, Fühlen und Wollen gleichermaßen ermöglicht und ist eine rein außerkörperliche, geistige Tätigkeit:

  • Der leibfreie Ätherleib liefert das Baumaterial für die Gedanken.
  • Der leibfreie Astralleib ist für das Fühlen der Qualität der Gedanken zuständig.
  • Aus der leibfreien Ich-Organisation kommt unser Wille zum Denken.

Dergestalt selbständig denken zu lernen, ist Ziel der gesamten Waldorfpädagogik.

Urangst vor dem Geist

Der Materialismus hat Angst vor dem Unbekannten, vor dem Geist, weil er auch das Denken, unsere spirituelle Kompetenz, ganz und gar auf die vergängliche Welt reduziert glaubt. Der Geist wird plötzlich zu einem Gespenst, das Angst macht.

Um dieser Angst entgegenzuwirken, muss man lernen, das Denken zwar für die Alltagsverrichtungen einzusetzen – auch da hat es seine Aufgabe – es aber dann loszulösen von diesen nur sinnlich gegeben Dingen. Man muss lernen, sich mit Gedanken zu befassen, die über die Sinneswelt hinausgehen, sich z.B. Gedanken zu machen über „Wahrheit“, „Liebe“, „Freiheit“, „Treue“. Diese Qualitäten kann man als Mensch nur erringen, weil man sie in ihrer Vollkommenheit denken kann. In der Folge kann man daran arbeiten, ein bisschen davon in die sinnliche Wirklichkeit treten zu lassen, indem man das Übersinnliche, das man sich denkend bewusst gemacht hat, im Alltag übt.

Manche sehen Treue erst, wenn ein anderer sie lebt. Und der treue Mensch wird sagen, dass sich seine Treue noch steigern ließe. Das trifft auch auf die Qualitäten „Wahrheit“ und „Vertrauen“ zu.

Bewusstsein als Abhilfe gegen Angst

Der Mensch ist in aller Vollkommenheit übersinnlich „da“, indem ich ihn denke, aber als Individuum muss ich mir diese Vollkommenheit noch persönlich erringen. Das geht nur durch Üben. Die Urangst vor dem Geist weckt uns auf für diese Möglichkeiten in unserem materialistischen Zeitalter. Es geht darum, zu begreifen, dass das Erdenleben uns für unseren übersinnlichen wahren Menschen wach machen soll. Zu versuchen, ihn uns bewusst anzueignen, bis wir wissen, was es wirklich heißt, ein Mensch zu sein, ist das beste Mittel gegen die Angst vor dem Geist. Dadurch finden wir unsere wahre Identität. Das ist ein Prozess, den wir nur auf der Erde vollziehen können. Es gibt ein wunderbares Wort von dem mittelalterlichen Mystiker Meister Ekkehart:

„Wär‘ ich ein König und wüsste es nicht, ich wäre kein König.“

Als ich den Spruch zum ersten Mal hörte, wurde mir bewusst, dass das der Grund ist, warum ich – neben anderen Dingen, die mich auch interessieren – die Anthroposophie so wichtig finde. Anthroposophie heißt übersetzt nur, dass man weiß, was es heißt, ein Mensch zu sein: anthropos – Mensch, sophia – Wissen, Erkenntnis. So wollte Rudolf Steiner die Anthroposophie verstanden wissen. Denn wäre ich ein wunderbarer Mensch und wüsste es nicht, wäre ich vielleicht nur ein von Angst besetztes, scheues, verzagtes Wesen.

Vgl. Vortrag „Angst in Krankheit und Gesundheit“ vom 14. Februar 2007

GEISTIGE DIMENSION ALS RESSOURCE

Inwiefern ist der Mensch Angehöriger zweier Welten?

Wie vollzieht sich die geistige Identitätsbildung?

Die eigene geistige Identität erkennen

Jesus sagte: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“[1] Rein physisch gesehen sind wir sehr verletzlich und angreifbar. Der Vergänglichkeit unterworfen zu sein, macht logischerweise Angst.

Wie können wir diese Angst überwinden?

Als ich als junger Mensch mit Existenzangst zu kämpfen hatte, wurde es mir zu einem elementaren Erlebnis, dass ich meine Freiheit der denkenden Selbstbestimmung verdanke und dass sich in diesen Bereich niemand anderer einmischen konnte, weil er nur mir zugänglich war. Indem ich denkend zu mir stand, hatte ich mithilfe der geistig-spirituellen Dimension meines Wesens den ersten Schritt zur Bewältigung meiner Existenzangst unternommen. Ich hatte die vergängliche Welt überwunden, indem ich mir der unvergänglichen Seite meines Wesens bewusst wurde

Im Zuge der Identitätsbildung ist es unerlässlich sich klar zu machen, mit welchen Dimensionen man als Mensch umgeht, einfach aufgrund der Tatsache, dass man als physisches Wesen auf dieser Erde lebt, das denken kann. Das macht uns zu Angehörigen der physischen und der geistigen Dimension. Im Denken betreten wir rein spirituellen Boden, auch wenn das den meisten Menschen nicht bewusst ist. Insofern kann jeder schrittweise und aus sich heraus die eigene geistige Identität denken und dann auch erfahren lernen.

· Geistige Identität denken

Dabei ist man nicht auf von außen kommende, schicksalhafte Ereignisse angewiesen. Man kann sich das schlicht vornehmen, sogar ohne Zuhilfenahme von Büchern: „Ab heute stehe ich zu mir mitsamt all meinen Ängsten. Ich begegne allem, was auf mich zukommt, möglichst bewusst und versuche alle Erfahrungen als die Meinigen anzuerkennen und in diesem Sinne zu verarbeiten.“

· Geistige Identität erleben

Damit uns das gelingt, sind wir in einem zweiten Schritt herausgefordert, die eigene geistige Identität nicht nur zu denken, sondern tatsächlich zu erfahren und zu befestigen, indem wir begreifen: „Ich bin in dieser Welt, wurde hier geboren und sterbe hier, aber ich komme aus einer anderen Welt, der ich als geistiges Wesen angehöre, in der ich den Zerfallsprozessen aus Raum und Zeit nicht unterworfen bin.“ Wir denken den Gedanken des eigenen Wesens nicht nur, sondern erfahren uns im Denken selbst als ein übersinnliches, rein spirituelles, energetisches Wesen.

Ab diesem Punkt werden wir die Macht der unsichtbaren, rein spirituell fassbaren Gedanken ganz neu als Kraftquelle entdecken – einer Macht, die über Raum und Zeit hinaus geht und jederzeit verfügbar ist.

Es ist Aufgabe der Angst, uns auf die Suche nach der unzerstörbaren Dimension unseres Wesens zu begeben, um Trost und Sicherheit darin zu finden. Die Angst bringt uns, die wir in einer Welt des Vergänglichen leben, in Beziehung mit der Welt des Unvergänglichen und fordert uns auf, im rein Geistigen unsere spirituelle Heimat und unser wahres Wesen zu entdecken.

Vgl. Vortrag „Angst in Krankheit und Gesundheit“ vom 14. Februar 2007


[1] Neues Testament, Johannes 16, 33.

EIGENER ZUGANG ZUM GEISTIGEN

Wie kann man einen eigenen Zugang zum Geistigen finden?

Einsamer Weg zur Wahrheit

Es gehört zu den größten Wundern des menschlichen Erkenntnislebens, dass jeder Mensch selbst um Selbsterkenntnis ringen muss und nur sich selbst die Frage nach seinem wahren Wesen beantworten kann. Das kann keiner einem anderen abnehmen. Wir können uns zwar dabei helfen, die letzte Gewissheit muss jedoch jeder für sich selbst erringen und erfahren.

Rudolf Steiner formuliert das in seiner „Philosophie der Freiheit“ so: „Die Natur macht aus dem Menschen ein Naturwesen. Die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes. Ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen.“[1]

Christian Morgenstern hat das in einem seiner Gedichte treffend charakterisiert:

Die zur Wahrheit wandern,

wandern allein,

keiner kann dem andern

Wegbruder sein.

Eine Spanne geh‘n wir,

scheint es, im Chor...  

bis zuletzt sich, seh‘n wir,

jeder verlor.

Selbst der Liebste ringet

irgendwo fern;

doch wer's ganz vollbringet,

siegt sich zum Stern,

schafft, sein selbst Durchchrister,

Neugottesgrund –

und ihn grüßt Geschwister

Ewiger Bund.[2]

Freiheit und Erkenntnis selbst erringen

Wäre dies nicht so, würden uns Menschen die wichtigsten Grundpfeiler unserer Existenz, Selbstverantwortung und Freiheitsbewusstsein, fehlen.

So wie das Wort „ich“ von jedem einzelnen Menschen einerseits nur auf sich selbst angewendet werden kann und dennoch auch ganz objektiv für jeden anderen Menschen gilt, so bleiben die objektiven Schulungswege und Hilfen zur Geisterkenntnis, die schon seit Urzeiten zu den Kulturgütern jeder Religion und jeder nach Wahrheit suchenden Philosophie gehören, unzureichend für den einzelnen, wenn er nicht selbst über diese Themen nachdenkt und durch eigene Erfahrung einen persönlichen Bezug dazu herstellt.

·       Das sogenannte sichere Wissen des materialistischen Weltbildes stützt sich ausschließlich auf die Sinneserfahrung und ein Denken, das diese physischen Wahrnehmungen verarbeitet und die Endlichkeit des Physischen auf den ganzen Menschen projiziert.

·      Der Glaube hingegen ist auf die Welt des Seelisch-Geistigen gerichtet, ist für Inhalte und Erkenntnisse offen, die den Sinnen verborgen und auch nicht herzeigbar sind.

Insofern tut sich tatsächlich ein tiefer Abgrund zwischen Wissen und Glauben auf, gibt es scheinbar keine Berührungspunkte zwischen den beiden. Dieses gegenseitige Ausschließen, diese Unvereinbarkeit zweier Wesensanteile des Menschen, erweist sich als das größte Hindernis für die Erlangung krisenfester seelischer Gesundheit und Stärke.

Auch stellt die Annahme des Todes als Ende der Existenz die Bedeutsamkeit der menschlichen Entwicklung als solches infrage.

Denn welchen Sinn sollte alle Anstrengung und Mühe haben – gerade auch unter schwierigen Lebensbedingungen –, wenn Existenz und Entwicklung mit dem Tode enden?

Doch bringt uns bereits das Nachdenken über die Frage, warum es so schwer ist, die Brücke zwischen dem materiellen und dem geistigen Dasein zu schlagen, der eigenen Identität ein entscheidendes Stück näher – auch wenn wir noch nicht den Mut und den Willen aufbringen, das Geistige in uns in aller Konsequenz ernst zu nehmen.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 2. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004


[1] Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, GA 4, 9. Kapitel.

[2] Christian Morgenstern aus Wir fanden einen Pfad. Werke und Briefe. Stuttgarter Ausgabe Band II, Stuttgart 1992, S. 207.

DIE WIRKSAMKEIT DES GEISTES UND DENKEN

Was ist Geist?

Wie hängen unser Geist und unser Denken zusammen?

Denken als Brücke zum Geistigen

Unser Geist ist für uns etwas so Selbstverständli­ches, etwas so Alltägliches wie unser Körper und unser persönliches Seelenleben. Das Geistige in der Welt und in uns ist die in allem wirksame Gesetzmäßigkeit, über die wir Menschen erst die geistige Dimension erfassen können. Indem wir sie in bewusster Weise denken, finden wir einen allerersten Zugang dazu. Wenn wir über etwas nachdenken, haben wir immer das Bestreben, das Richtige zu denken und uns keinen Illusionen hinzugeben. Wenn wir uns im besten Falle wirklichkeitsgemäße Gedanken über die Welt und uns selbst machen, stimmt das, was wir denken, mit dem, was wirklich ist, überein. Nun gibt es ganz verschiedene Arten zu denken:

· Exaktes Nachdenken

Wir können über die äußere Welt und die in der Natur wirksamen Naturgesetze nachdenken. Auf diesem Felde sind wir heute schon ziemlich weit gekommen. Wir können alles denken: die Gesetze der Aerodynamik, der Thermodynamik, der Physik, der Ma­thematik, der Chemie. Weltweit, ob in China, in Amerika, in den Laboratorien Russlands oder in Prag, man forscht an denselben Objekten und Themen und tauscht sich auf großen internationalen Symposien darüber aus – unabhängig vom politischen System. Hier zeigt sich eine Überein­stimmung von Gedanken und gegenseitiges Verstehen über alle persön­lichen, ideologischen und nationalen Interessen hin­weg. In manchen Bereichen verstehen sich die großen Forscher aller Kontinente und aller Regi­mes mit derselben Selbstverständlichkeit wie zwei Schul­kinder, die herausbekommen haben, dass 2 X 2 gleich 4 ist.

Beim Nachdenken wird uns die Übereinstimmung von unserem Denken mit den Gesetzen der sichtbaren Natur deutlich. Es liegt in der Natur des menschli­chen Denkens, dass jedes Weltgesetz darin wie­dergefunden werden kann. Als mir das als junger Mensch bewusstwurde, fühlte ich mich zum ersten Mal auf dieser Erde so richtig zu Hause. Ich hatte mir immer eingeredet, ich wäre letztlich heimatlos und allein, von der Welt abgetrennt und unfähig, etwas zu ihrem Ge­deihen beizutragen – und erkannte nun, dass das ein Irrtum war. Denn über das Denken können wir mit allem, was es gibt, in Beziehung treten. In Gedanken lässt sich alles nachvollziehen, was in der Welt geschieht. Wir können die Übereinstimmung erleben zwischen den Gesetzen, die in unserem Den­ken wirksam sind und denjenigen, die in der Welt wirksam sind. Das führt zu einem Gefühl tiefen Ver­bunden-Seins mit allem Geschehen, mit der Entwicklung der Erde und den Wesen, die auf ihr leben.

· Schöpferisches Vorausdenken

Wir haben als Menschen aber auch die Fähigkeit vor­auszudenken, indem wir uns z.B. fragen:

Wie wird die Welt in zehn Jahren ausse­hen, wie sollte sie aussehen?

Wie will ich mein Leben in den nächsten Jahren gestalten?

Solche Fragen appellieren an unsere visionäre Kraft, die nicht nur passiver Zuschauer eines sich entrollenden Geschehens ist, sondern aktiver Mitgestalter von Zukunft. Insofern ist sind eine Überleitung zu einer dritten Art des Denkens:

· Idealistisches Denken

Ideale können wir nicht mit Augen sehen oder mit Händen greifen. Sie sind ideeller Natur und können nur rein ge­danklich erfasst werden. Sie existieren für uns schlicht nicht, wenn wir sie nicht bewusst denken. Viele, die Schweres in ihrem Leben durchgemacht haben, haben erlebt, dass das, was sie durchhalten ließ, was sie getragen hat, ihre Ideale waren. Ideale können zu einem Lebensmotiv werden, dem man sich immer verbunden fühlt.

Das Ideal der Liebe, bzw. der Treue, der Freundschaft oder der Güte, kann von uns in einem ersten Schritt bloß gedacht werden. Es kann aber auch zu etwas Verbindlicherem für uns werden, indem wir es in einem nächsten Schritt allen in­neren Widerständen zum Trotz zu verwirklichen versuchen.

Zwei Aspekte des Geistes

Über unser Denken haben wir also Zugang zu zwei Aspekten des Geistes:

  1. zu dem in der sichtbaren Natur und damit auch im menschlichen Leib wirksamen Geist
  2. und zu dem geistigen Aspekt, der sich nur dem den­kenden Bemühen erschließt, wenn wir über Ziel und Form des Lebens nachdenken, uns für Ideale begeistern.

Indem wir das tun, stellen wir der Naturordnung eine moralische Ordnung an die Seite.

Im Zusammenhang mit Idealen, mit den ethischen Werten des Lebens, sprechen die Religionen und Philosophien auch oft von Ein­sichten, Intuitionen oder Offenbarungen. Rudolf Steiner wies darauf hin, dass Ideale gedankliche Offenbarungen geistiger Wesen sind. Er schilderte auch, welche geistigen Wesen sich uns Menschen nähern, wenn wir dieses oder jenes Ideal erstreben. Wenn wir unser Denken zur Imaginations-, Inspirations- und Intuitionsfähigkeit weiterbilden,[1] können wir die Wirklichkeit der geistigen übersinnlichen Welt in ähnlicher Weise erfor­schen, wie man über ein Naturgesetz Zugang zur Natur bekommt.

Pädagogische Herausforderung

Menschen, die sich kaum Gedanken über die Welt machen, werden in ihrer Seele auch keine befriedigende Übereinstimmung mit den Weltgesetzmäßigkeiten erleben. Sie befassen sich hauptsächlich mit ihren leiblichen Bedürfnissen, sind auf ihr eigenes Wohlergehen fixiert. Ihr Seelenleben ist verarmt, weil der Seelenraum nur das enthält, was jemand tief gefühlt und dadurch verinnerlicht hat. Das lässt die Größe der so­zialen und pädagogischen Herausforderung unserer Zeit erahnen. Denn das Lebensglück eines Menschen hängt nicht allein von der Befriedigung seiner Bedürfnisse ab, sondern noch mehr davon, in welches Verhältnis er sich zur Welt zu setzen vermag.

Und DAS ist eine Frage der Er­ziehung: ob man angespornt wurde, sich mit geistigen Inhalten, sprich: mit Wahrheiten dieser Welt, und mit Menschheitsfragen auseinanderzusetzen. Eine solche Art der Erziehung bringt einen lebenslangen Prozess in Gang. Wenn man ein Leben lang Freude am Lernen hat und sich gerne mit dem, was Welt und Leben an Herausforderungen und Erfahrungen zu bieten haben, befasst, wird man sich in jeder Le­benslage zurechtfinden.

Vgl. Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987


[1] Vgl. Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss. GA 13.

DER TOD ALS GEBURTSMOMENT DES GEISTES

Was ist unter Geistgeburt zu verstehen?

Wie können wir sie begleiten?

Physische Geburt versus Geistgeburt

Die physische Geburt geht einher mit einer Bewusstseinsverdunkelung und einem totalen Kompetenzverlust. Wir Menschen haben größte Empathie, wenn so ein hilfloses, zappelndes, strampelndes, enorm reagibles Wesen plötzlich unter uns erscheint. Wir sind bereit, ihm jegliche Unterstützung zu geben, die es braucht. Die Erwachsenenwelt scheut sich nicht, fünfzehn, zwanzig, manchmal sogar fünfundzwanzig Jahre für diesen Pflegling zu sorgen – bis schon fast ein Viertel seines Lebens um ist.

Ganz anders verhalten wir uns, wenn es um die Geistgeburt geht. Sie betrifft jeden, wie auch jeder Mensch als hilfloser Säugling geboren wurde, doch sind sich viele der Bedeutung des Todes als Geburtsmoment des Geistes in die geistige Welt hinein nicht bewusst. Und das, obwohl wir uns alle unser ganzes Leben lang auf diesen Punkt zu bewegen. Wir können auch sagen, wir gehen schwanger mit unserem unsterblichen Geist, der im Todesaugenblick aus dem sterblichen Körper befreit und ins geistige Leben hinein geboren wird. Aus Sicht der geistigen Welt ist diese Geistgeburt die Krönung des menschlichen Lebens, das von vielen Wesen freudig gefeiert wird – nur nicht von den Hinterbliebenen.

Problem der Begleitung der Geistgeburt

Warum ist das so?                                                     

Warum sind wir uns der Bedeutsamkeit und Heiligkeit des Sterbens nicht bewusst?

Das hat mehrere Gründe. Spätestens im Sterbeprozess sind wir genauso hilflos wie ein kleines Kind – das will niemand wirklich erleben, nicht die Betroffenen und nicht die Angehörigen. Unsere Gesellschaft ist auch gar nicht wirklich darauf vorbereitet, alte Menschen würdig bis an ihr Lebensende zu begleiten. Das überlässt man gerne Spezialisten wie Palliativ-Teams, Sterbestationen und Hospiz-Einrichtungen.

Es sind nicht nur wirtschaftliche Gründe, die uns die Geistgeburt mit ihren hochindividuellen Variationen als so viel beschwerlicher ansehen lassen als die physische Geburt: Bei der physischen Geburt wissen wir ungefähr, was ein Baby braucht. Allzu wenig wissen wir jedoch in unserer materialistischen Zeit darüber, was uns am Lebensende erwartet und was der einzelne Mensch dann braucht. Umso wichtiger ist es, dass wir das Geheimnis des Todes als Geistgeburt sorgfältig studieren und dieses Tor zur geistigen Welt wieder öffnen lernen.

Wenn uns als Pflegenden – egal, ob Angehörigen, Medizinern oder professionellen Sterbebegleitern, die spirituellen Entwicklungszusammenhänge klar vor Augen stehen, sind wir in der Lage, die Würde des Menschen beim Sterben zu wahren, auch wenn er immer hilfloser und pflegebedürftiger wird. Dabei hilft es, wenn wir uns diesen Prozess der Vorbereitung der Geistgeburt in seiner ganzen Schönheit und Bedeutsamkeit vorstellen und uns darüber freuen, dass wir den dahinschwindenden Menschen bis zuletzt begleiten und seinen physischen Körper pflegen dürfen.

Schmerz stärkt spirituelles Selbstbewusstsein

Beim Sterben ist es mit Sicherheit so, dass der Schmerz, den der Betroffene fühlt, sein spirituelles Selbstbewusstsein bestärkt, indem er ihm hilft, sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch-geistig zu spüren. Das ist die Mission des Schmerzes. Fakt ist auch: Je stärker man sich spirituell spüren kann, desto weniger braucht man den physischen Schmerz. Aber oft geht das Sterben durch den Schmerz hindurch, der in jedem Fall mit palliativmedizinischen Mitteln so gut wie möglich behandelt werden sollte. Doch sollte der Sterbende selbst entscheiden dürfen, inwieweit er bewusstseinstrübende Mittel in Anspruch nehmen möchte. Das kann im Rahmen einer Patientenverfügung geregelt werden.

Man ist als Sterbebegleiter in der Situation, dass man jemanden wie ein Geburtshelfer begleiten darf bei seiner Geistgeburt, und dass man alles daransetzt, ihm viele bewusste, sinnvolle, menschliche, intensive Erfahrungen zu ermöglichen. Dazu gehört auch, dem Sterbenden die Freude spüren zu lassen, dass man ihn begleiten darf und dass man sich gewiss ist, dass ihn drüben auch Freude erwartet.

Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008

GEISTIGE ENTWICKLUNG AN DER TODESSCHWELLE

Was ist aus anthroposophischer Sicht der Sinn davon, dass sich der Gesundheitszustand beim Älterwerden zunehmend verschlechtert?

Und was geschieht aus geistiger Sicht bei Demenz?

Chronische Erkrankungen als Boten der Vergänglichkeit

Für das letzte Lebensdrittel sind chronische Erkrankungen typisch: Diabetes Typ 2, Rheuma, das nicht allzu stark auftritt, Verschleißerscheinungen an den Bandscheiben, Gelenks­arthrosen, Gallen- und Magen-Darm-Probleme. Die verschiedenen Systeme funktionieren nicht mehr so gut, die Beschwerden sind anfangs aber noch gut mit dem Leben vereinbar. Sie dienen nicht mehr der Immunisierung von Körper und Seele, sondern haben mit der anstehenden geistigen Entwicklung zu tun.

Der Sinn dieser Funktionsstörungen und Erkrankungen, die jeden mehr oder weniger betreffen – und sei es nur, dass man eine Brille braucht, weil die Augen nicht mehr so mitmachen – liegt offen zutage: Der Mensch muss sich mit der Vergänglichkeit seines Körpers auseinandersetzen. Dadurch wird er mit dem Gedanken an den Tod, an die völlige Zerstörung des Körpers, vertraut gemacht. Mit dem Auftreten einer chronischen Krankheit weiß man plötzlich, dass es nie mehr „gut“ wird, dass man nie mehr ganz gesund wird. Chronische Krankheiten entsprechen den „Boten des Todes“ aus dem Märchen der Brüder Grimm, die jeder mehr oder weniger stark am eigenen Leib erlebt. Das Ausmaß dieser Störungen kann individuell sehr unterschiedlich sein, doch jeder wird damit konfrontiert, keiner bleibt verschont.

Es geht dabei um einen Prozess der „geistigen Immunisierung“: Der Geist lernt sich in der Auseinandersetzung mit chronischen Krankheiten in seiner Unabhängigkeit von Leib und Seele als eigene Identität zu erfassen, die im Geistigen beheimatet ist.

Und auch darum geht es bei diesem Prozess im letzten Lebensdrittel: sich wieder vertraut zu machen mit der Welt des Geistigen, in die wir alle mit dem Tod wieder wie hineingeboren werden. Krankheiten sind legitime Entwicklungsmöglichkeiten und -wege und ermöglichen vielfältige Lernprozesse, deren Wirksamkeit über den Tod hinausgeht. Das gilt auch für Demenz, worauf ich im folgenden Abschnitt näher eingehen möchte.

Was Demenz uns schenkt und lehrt

Wenn man von einer geistig-seelischen Entwicklung des Menschen über die Todesschwelle hinaus ausgeht, zeigt sich der Wert und Sinn eines Lebens mit Demenz in einem völlig neuen Licht. Dann begreift man, dass es unhaltbar ist zu sagen, die Pflege eines Menschen mit Demenz koste zu viel. Diese volkswirtschaftliche Denke ist dann nicht mehr zu vertreten, zumal sie die Würde der betroffenen Menschen völlig außer Acht lässt. Menschen mit Demenz leben weiterhin ein „gültiges“ Leben, auch wenn sie sich über längere Phasen mit ihrem Geistbewusstsein bereits mehr oder weniger stark vom zeitgebundenen physischen Dasein wie abgekoppelt haben.

Als pflegende Begleitung kann man oft beobachten, wie der Betroffene hin- und herpendelt zwischen der physischen und der geistigen Welt. Aus physischer Sicht ist er oft schon ziemlich „weit weg“ und plötzlich wieder richtig „da“, ist für Minuten voll präsent und dann gleitet er oder sie wieder weg. Das vollzieht sich in einer Art rhythmischem Geschehen: Wenn nahestehende Menschen auf Besuch kommen, die der Betroffene sehr geliebt hat, spürt man förmlich, wie die Herzensverbindung das weit entfernte Geistbewusstsein wieder wie hereinzieht in den Körper, wie es durch die Augen strahlt. Man kann dabei deutlich empfinden, wie dadurch wieder Leben in das Herz, die Atmung, in das rhythmische atmende mittlere System rinnt und sich dann wieder löst.

Auch wird jeder Mensch, wenn ihm genügend äußere Unterstützung gewährt wird, seine individuelle Todesart finden, die auf natürliche Weise das physische Leben abschließt. Das ist genauso wichtig für die Geistgeburt wie eine natürliche Geburt am Lebensanfang. Dabei zählt jeder Tag, den er noch hier verweilt, ähnlich wie bei einer Schwangerschaft, unabhängig davon, ob und in welchem Ausmaß der Sterbende noch im vergänglichen Erdenbewusstsein verweilt oder ob er sich damit begnügt, mit dem jenseitigen Bewusstsein seinen Leib und die anderen Menschen liebevoll von jenseits der Schwelle schauend zu erleben.

Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“ gehalten in Filderstadt am 19.2.2010 und Vortrag „Krankheit und Gesundheit im Lichte des Merkurstabs“, 26.09.2007

DEMENZ UND GEISTGEBURT

Wie lässt sich die Demenzerkrankung unter dem Gesichtspunkt der Geistgeburt verstehen?

Wie können Pflegende dem Erkrankten dabei helfen?

Geistgeburt über Jahre hinweg

Bei Menschen, die an Demenz erkrankt sind, kann sich der Prozess der Geistgeburt in Hilflosigkeit und Verwirrtheit sogar über viele Jahre hinziehen, bei wenigen Ausnahmen sogar zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre, bevor sich ihr Geist endgültig verabschiedet.

Das wird aus der materialistischen Weltsicht heraus als großes Drama angesehen, weil man nicht versteht, dass der Geist der Betroffenen diese Zeit braucht, um sich mit der jenseitigen Welt vertraut zu machen, indem er zwischen hier und dort wie pendelt. Dabei löst er sich zunehmend aus den irdischen Gegebenheiten und macht sich mit den geistigen Welten vertraut.

Um diese Prozesse rund ums Sterben zu wissen, kann uns als Pflegenden helfen, den Demenzkranken spirituell würdig zu begleiten, seine geistige Würde wieder wie herzustellen – einfach dadurch, dass wir wissen, was geschieht.

Der Pflegende als Stellvertreter des Ich

Als Pflegender muss ich versuchen, mich in das Leben eines anderen hineinzuversetzen – hier des Dementen – der langsam auf die Todesschwelle zugeht und dessen Ich bereits zunehmend in der geistigen Welt lebt. Das Grandiose ist, dass man auch bei Bettlägerigen immer wieder für Momente erleben kann, dass das Bewusstsein noch einmal wie „reinschießt“ und ganz bedeutende Dinge gesagt werden, manchmal nur zwei Worte.

Meine Mutter saß im letzten halben Jahr einmal morgens glückstrahlend im Bett, als die Pflegerin hereinkam, und sagte: „Jetzt weiß ich alles. Grandiose Überschau. Alles ist wahr.“ Eine halbe Stunde später reagierte sie wieder aggressiv, weil man ihr die Nägel schneiden wollte und sie Angst hatte vor dem Geschehen, das sich ihr nicht mehr erschloss.

Der alles Verstehende und der Ängstliche sind ein und derselbe Mensch. Ich als Pflegender kann ihm sein Alltags-Ich ersetzen, da er nicht mehr am Physischen interessiert ist, sondern jetzt mehr im Umkreis lebt und mit dem Hereinwachsen in die geistige Welt beschäftigt ist. Je mehr man sich als Pflegender dessen bewusst ist, kann man die Gesten des Raumschaffens, des Umhüllens und des vorsichtigen Wahrnehmens vollziehen. Die Haltung gegenüber dem Betroffenen muss dabei sein: „Dein Wille geschehe“ – soweit dies möglich ist. Allein diese Haltung beruhigt und gibt Sicherheit.

Seelenpflege durch Kunst

Durch Sprache und Musik pflegt man auf liebevolle, künstlerische Art die Organe des alternden, auf den Tod zugehenden Menschen. Über Worte und Töne erlebt er unmittelbar den Zusammenklang mit der Erde. Darüber hinaus nimmt die Seele alles Künstlerische, Konzerte, Musik, – gute, starke Musik – mit über die Schwelle. Sie kann mit „ihrer“ Musik noch mitschwingen. Alles, was ein Mensch auf Erden gehört hat, verbindet ihn in der Läuterungszeit der ersten 30 Jahre nach dem Tod noch mit der Erde.

Wenn die agitierte Phase der Demenzerkrankung abebbt, lassen Sprache und Bewegung nach, weil der Astralleib sich auch schon gelöst hat. Der Sterbende geht mehr in ein Ätherisch-Pflanzliches Dasein über. Hier kann man sich bewusst machen, dass Ich und Astralleib schon jenseits der Schwelle sind und der Mensch schon mit Seelen drüben kommuniziert. Manchmal wird in hellen Momenten auch davon erzählt, wird von Begegnungen mit Verstorbenen berichtet.

Wenn Demenzkranke die Möglichkeit bekommen ganz langsam und zum Teil auch unter körperlichen und seelischen Schmerzen – also bewusst, wenn auch wenig selbstbewusst – in die Sterbesituation hinein zu reifen, haben sie ihre Geistgeburt wirklich selbst errungen und stehen mit einem völlig anderen Selbstbewusstsein in der geistigen Welt.

Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008