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Kindsein heute: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Geistesforschung
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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
== WAS KINDER BRAUCHEN ==
''Was erwartet ein Kind von seiner Mutter und anderen Bezugspersonen?''
=== ''Geborgenheit geben vor und nach der Geburt'' ===
Ein Kind erwartet von seiner Mutter vor allem das, was es schon emp­fangen hat, bevor es geboren wurde und woran es sich gewöhnt hat: Geborgenheit. Was sich während der Schwangerschaft zwischen Mutter und Kind entwickelt hat als Geste des Bergens, Hütens und Ernäh­rens, will nach der Geburt fortgesetzt werden.
Bergen und Ernähren sind während der Schwangerschaft biologische Tatsachen, die an das Organ des Uterus und an die Keimreifung gebunden sind. In diesem Stadium tritt bereits ein grundsätzliches Problem des Menschseins auf: Im Gegensatz zum Tier, das seine biologischen Funktionen mit entsprechenden seelischen Verhaltensweisen hingebungsvoll beglei­tet, ist dies beim Menschen nicht selbstverständlich der Fall. Es kann eine Kluft bestehen zwischen der leiblichen Fähigkeit zu bergen, und der Möglichkeit, auch seelisch Geborgenheit zu bieten, vor allem, wenn sich die Mutter selbst nicht geborgen fühlt.
Ein gesunder Mensch hat auf der leiblichen Ebene alles, was er braucht: Organe zur Kraftentfaltung, zur Rhythmus-Gebung, zur Ernährung, zur innerkörperlichen Wahrnehmung, zum Ausgleichen, zur Aufrichtung, zur Orientierung zwischen Oben und Unten und Links und Rechts.
Seelisch sind diese „Organe“ bei uns Menschen meist nicht in derselben Weise entwickelt. Oft fehlt der Mut, fehlt für vie­les die richtige Orientierung. Auch kann einem seelisch „das Rückgrat gebrochen“ sein, obwohl es physisch ganz in Ordnung ist. Der Leib mit seinen Funktionen ist vollkommen ausgebildet, während im Seelischen alles offen, in Entwicklung ist, im Umbruch: Alles, was leiblich veranlagt ist, muss man sich seelisch, also bewusst, erst erwerben, da­mit es zu einer eigenen seelischen oder geistigen Eigenschaft werden kann.
=== ''Voraussetzungen für Geborgenheit'' ===
''Was sind also die Voraussetzungen für Geborgenheit?''
''Was braucht ein Kind, damit es sich geborgen fühlen kann?''
* '''Auf leiblicher Ebene''': Wärme, Nahrung, Kleidung, Platz zum Wohnen, regelmäßige Lebensgestaltung.
* '''Auf seelischer Ebene''': Interesse und liebevolle Zuwendung.
* '''Auf geistiger Ebene''': sichere Orientierung, Fähigkeit, den Sinn der Dinge zu erleben, Verstehen- und Einordnen-Können von Schwierigkeiten.
''Wie können diese Eigenschaften erworben  werden?''
Die Sorge um das Kind und seine Erziehung lassen sich nicht von der eigenen Entwicklung trennen. Nicht nur das Kind hat es nötig, dass wir nach den optimalen Entwicklungsbedingungen fragen, son­dern jeder Mensch muss sich diese Frage für jedes Lebensalter neu stellen. Seelisch und geistig sind wir genauso wenig „ausgewachsen“, wie ein Kind in physischer Hinsicht ausgewachsen ist. Seelisch und geistig  sind wir oft in einer ähnlichen Lage wie ein Kind, das gehen und sprechen lernt: Wir stolpern, verlieren den Halt, be­nutzen die falschen Worte...
''Woher nehmen kleine Kinder ihre Energie, unverdrossen und unermüdlich das Aufrichten und Sprechen zu üben und sich durch keine Misserfolge beirren zu lassen?''
In Beantwortung dieser Frage stoßen wir auf eine entscheidende Tatsache: Das Kind beginnt erst bewusst „ich“ zu sich zu sagen, wenn diese wesentlichen Lern­schritte absolviert sind. Darin ist auch das Geheimnis seines Erfol­ges begründet. Denn erst ab dem Augenblick, ab dem die Lernprozesse von Selbstbewusstsein begleitet werden, hat man die Mög­lichkeit – und damit die Freiheit –, sich die Frage zu stellen, ob man das oder jenes überhaupt lernen kann oder will. Ein älteres Kind oder ein Erwachsener kann nach zwei Misserfolgen entscheiden: ''„Das kann ich nicht erlernen, ich gebe auf. Das ist mir jetzt schon zweimal misslungen, davon habe ich genug!“'' Ein kleines Kind kann niemals so reagieren, weil es die Fähigkeit zur Selbstkritik noch gar nicht besitzt und stattdessen unverdrossen und hingebungsvoll seinem Nachahmungstrieb folgt und weiter ­übt.
=== ''Vom Kind lernen'' ===
In dieser Hinsicht kann der Erwachsene vom Kind lernen. Die freudige Lernbereitschaft kleiner Kinder kann uns darauf aufmerksam machen, in welchem Ausmaß Unzufriedenheit, Unlust und Destruktivität davon herrühren, dass wir un­sere Lernbereitschaft durch zu kritische Selbst- und Weltbetrach­tung lähmen und stören. Sich das bewusst zu machen, kann für jede Mutter eine große Hilfe sein. Sie kann sich täglich beim Beobachten ihres Kindes sagen: Das Vertrauen, mit dem du auf mich zugehst, deine Bereit­schaft, mich und meine Umwelt als sinnvoll und nachahmenswürdig anzunehmen, deine Daseinsfreude – all das will ich dir wieder­geben, indem ich an meinem Vertrauen in die Welt und in mich selber arbeite, indem ich mir Ziele für meine Entwicklung setze und lerne, ein zufriedener und daseinsfroher Mensch zu werden. Eine Mutter, die das anstrebt, kann ihrem Kind geben, was es braucht: geistige Geborgenheit durch Zuversicht und Vertrauen, seelische Geborgenheit durch Liebe und leibliche Ge­borgenheit durch Wärme, Sicherheit und Stabilität.
Der Erwerb dieser Qualitäten ist nicht primär davon abhängig, ob man haupt- oder nebenberuflich Mutter ist und ob ein Vater in der Familie lebt oder nicht. Diese Eigenschaften kann jeder Mensch sich erarbeiten und sie dann anderen Menschen, insbesondere Kindern, schenken.
''Vgl. Kapitel „Die alleinerziehende Mutter“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart''
== DER BLICK EINES DREI MONATE ALTEN KINDES ==
''Was drückt der Blick eines dreimonatigen Kindes aus?''
=== ''Alles durchdringender Blick'' ===
Aus der Entwicklungspsychologie, aber auch aus eigener Erfahrung ist gut bekannt, dass ein Säugling im dritten Monat Menschen und Dinge mit seinem Blick zu fixieren beginnt. Erst von diesem Zeitpunkt an kann er Gegenstände wirklich wahrnehmen. Die vollständige Ausreifung des Sehvermögens bis hin zur Wahrnehmung aller Farbschattierungen dauert jedoch sechs bis acht Jahre; der physiologische Sehvorgang reift von Tag zu Tag weiter aus.
Ein ganz besonderer Einschlag erfolgt jedoch im dritten Monat. Von diesem Zeitpunkt an nimmt das Kind uns immer direkter und konkreter wahr und sucht mit den Augen die Beziehung zu uns, mit einem Blick, der uns ganz zu durchdringen scheint; ein Säugling wendet seinen Blick auch nicht ab – wir können in Ruhe und unverwandt in seine offenen, klaren Augen schauen. Aus ihnen spricht eine geistige Liebeskraft, die objektiv, vertrauensvoll und trotzdem ganz persönlich ist. Nur Liebende schenken einander einen vergleichbar langen Blick.
=== ''Sehen ist ätherisches Tasten'' ===
Unsere Blicke können „ätherisch“ tasten; wir merken das in Momenten, wenn wir den Blick eines Menschen auf uns fühlen – im Guten wie im Schlechten, denn dieses Tasten kann auch von unsauberen Gefühlen begleitet sein. Wie sehr kann ein guter, von reinen Gefühlen begleiteter Blick dagegen aufmuntern, heilen, trösten und Licht bringen! Der Ätherleib, d.h. die Summe aller, das Leben unterhaltenden Gesetzmäßigkeiten – kann sich aus dem Auge relativ frei, gelenkt durch die Blickintention, bewegen.
Sehen ist ein ätherisches Abtasten, Formen-Abgreifen, und Nachbilden. Die Augenmuskeln helfen dem Auge, sich beim Sehen immer mitzubewegen; es ist im Grunde wie eine „ätherische Kamera”, mit der wir alle Sinneseindrücke abtasten, aufnehmen und dem Gedankenleben als Vorstellungen einprägen. Da wir mit dem aus der körperlichen Lebenstätigkeit heraus entlassenen Ätherleib auch denken, können wir uns das, was wir sehen, auch sogleich innerlich vorstellen, wenn wir die Augen schließen und uns daran erinnern.
=== ''Aufforderung zu ehrlicher Beziehung'' ===
Dieser Blick des Säuglings kann uns ein Bild dafür sein, wie wichtig eine reine, ehrliche Beziehung ist. Denn das Kind, das uns mit einem ernsten, vertrauenden Blick anschaut, prüft uns und fragt:
''Stehst du zu mir?''
''Gibst du mir, was ich brauche?''
''Kann ich dir wirklich vertrauen?''
''Gehst du ein Stück Wegs mit mir?''
All das leuchtet vor unserem inneren Auge auf, wenn wir dem ernsten, fragenden, vertrauensvollen Blick des Säuglings begegnen. Wir erkennen unsere Aufgabe, wieder so beziehungsfähig zu werden, wie wir es selbst einmal als kleines Kind waren – und diesen Blick nicht zu enttäuschen.
''Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 3. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft''
== GELINGENDE KINDHEIT DURCH SCHICKSALSVERTRAUEN ==
''Wie kann Schicksalsvertrauen auch in schwierigen Zeiten und Lebenssituationen veranlagt werden?''
''Welche Rolle spielt dabei die Bindung an die Mutter bzw. an eine andere Bezugsperson?''
=== ''Hospitalismus-Forschung und Bindung'' ===
Von den Möglichkeiten her ging es Kindern noch nie so gut wie heute. Wir haben Schulen selbst für Gehörlose, wir haben Schulen für Blinde und für Menschen mit allen Arten von geistiger und körperlicher Behinderung. Wir wissen heute sehr viel über die kindliche Entwicklung. Was Hirnforschung, Vererbungsforschung und Verhaltensforschung in den letzten fünfzig Jahren zutage gefördert haben, ergibt Erkenntnisse, die – in die Tat umgesetzt, Kindern zu einem aussichtsreichen Start in das Leben verhelfen können.
Allein die Hospitalismus-Forschung – allen voran ''René Spitz'' – hat viele wertvolle Erkenntnisse erbracht. Sie hat die Anschauung über das Aufwachsen in den ersten drei Lebensjahren revolutioniert und Grund gelegt für alle weiteren Studien zur frühen Kindheit.[1] Die Kernaussage ist, dass Kinder nicht gedeihen, wenn ihnen eine sichere menschliche Bindung fehlt.
Dieser Mangel führt insbesondere in den ersten drei Lebensjahren nicht nur zu schweren seelischen, sondern auch zu tiefgreifenden körperlichen Störungen. Beim Fehlen einer konstanten Bezugsperson kommt es innerhalb von zwei bis drei Monaten z.B. bei Säuglingen im ersten Lebensjahr zum Entwicklungsstillstand. Es folgt eine Zeit ängstlichen Anklammerns an die wechselnden Betreuungspersonen. Schließlich weicht das weinerliche Verhalten einer zunehmenden Teilnahmslosigkeit. Lethargie, Wimmern, Kopfschaukeln, Schlaflosigkeit und Anfälligkeit für Infektionen treten auf. Diese Störungen können so gravierend werden, dass sie sogar zum Tode führen.
=== ''Erziehungsauftrag und Schicksal'' ===
Gerade diese Hospitalismus- und Deprivationssymptome zeigen deutlich, dass sich die leibliche Entwicklung des Menschen nicht nur aufgrund von Vererbung und guter Ernährung vollzieht, sondern in Abhängigkeit von der seelisch-geistigen Zuwendung zur Persönlichkeit des heranwachsenden Kindes. Wird diese nicht angenommen, bejaht und angesprochen, so kann sie nicht „ankommen“, sich nicht richtig „verkörpern“.
Diese Zuwendung zum Kind, die ihm das Gefühl angenommen zu sein gibt, kann dadurch noch eine Vertiefung erfahren, dass leibliche oder Adoptiveltern sich die Dimensionen ihres Erziehungsauftrages bewusst machen und die Frage nach der geistigen Wirklichkeit des Schicksals stellen:
''Warum hat mir das Schicksal gerade dieses Kind zur Obhut gegeben?''
''Hat es sich vielleicht schon lange im Vorgeburtlichen diese Begegnung gewünscht?''
''Was können wir einander bedeuten?''
''Was erwartet es von mir für seinen Start ins Leben?''
Wenn man davon ausgeht, dass jede Beziehung Teil einer umfassenden Schicksals-konstellation ist, die ihre Wurzeln in früheren Erdenleben hat und die in der Gegenwart erneuert und weiterentwickelt werden will, gibt jeder Tag von Neuem die Möglichkeit, das Schicksal bewusst zu gestalten und die Zukunft gut vorzubereiten.[2] Die Art der Beziehung, ihre Verbindlichkeit im Hier und Jetzt, ihr Gegründet-Sein in einem umfassenden Schicksalsvertrauen, das es zu erringen und zu pflegen gilt, bestimmt die Qualität der Erziehung entscheidend mit.[3]
=== ''Kindheit in der Nachkriegszeit'' ===
Ich bin Jahrgang 1946, wuchs in der Nachkriegszeit auf, in einem Szenario von zerbombten Häusern – ganze Straßenzeilen in Stuttgart waren nach dem Krieg plattgemacht worden – ein zerbombter Luftschutzbunker befand sich ganz in der Nähe. Wir spielten in Ruinen und sahen die ersten Huflattiche kommen. Alles war durchsetzt von Bildern der Zerstörung, das Fernsehen war noch nicht erfunden, man las aber Zeitung, hörte Radio und sah und hörte viel vom Krieg. Ich hatte als Kind den Eindruck: Diese Welt ist gefährlich, in dieser Welt geht viel kaputt, in dieser Welt gibt es unglaubliche Katastrophen, da werden Millionen von Juden umgebracht. Davon hatten wir natürlich auch gehört. Das war für mich als Kind nur ganz schwer einzuordnen.
Meine Mutter war Diplomchemikerin und hatte sechs Geburten. Für mich als Nachkriegskind war die Tatsache, dass meine Mutter darauf verzichtet hatte, ihren Beruf auszuüben und sich ganz der Kindererziehung zur Verfügung stellte, extrem wichtig. Sie half mir inmitten der geschilderten Verhältnisse Vertrauen ins Leben zu entwickeln, indem sie mir mit ihrer Haltung und durch viele Gespräche half, all das Beunruhigende einzuordnen, damit sinnstiftend umzugehen. Ich weiß aus dieser Erfahrung, was es bedeutet, dieses hohe Ausmaß an Vertrauen und Nähe zu erleben durch die Bindung an den Menschen, der mich geboren hat, in dem ich wachsen durfte, und von dem ich alles, was ich brauchte, bekam.
=== ''Weiterführende Fragen zum Tag'' ===
Schicksalsvertrauen ist eine Frage der Haltung – und auch der Übung. Es kann bereits mit dem kleinen Kind geübt werden, bevor es in die Nacht entlassen wird. Man setzt sich an das Bettchen und fragt:
''Wie war denn heute unser Tag?''
Man kann mit dem Abend beginnen und die Geschehnisse bis zum Morgen rückwärts ins Gedächtnis rufen, man kann aber auch mit dem Morgen beginnen, das spielt zunächst keine Rolle. Man kann sich auch fragen:
''Was war heute das Schönste am Tag?''
''Was hat uns heute den meisten Kummer gemacht?''
Man lässt es nochmals an sich vorüberziehen, und das, was schwer zu verkraften war, versucht man für sich selbst aufzuarbeiten, indem man fragt:
''Was kann ich daraus lernen?''
''Wozu war es vielleicht auch gut?''
Im Märchen ist oft der Dummling derjenige, dem am Schluss das Glück lacht, weil er etwas, das ihm unterwegs begegnet war, mitnimmt mit dem Gedanken: Wer weiß, wozu das gut ist! So kann man auch mit dem umgehen, was der Tag gebracht hat und was man vielleicht furchtbar findet oder dumm oder ungerecht. Man sollte dann versuchen zu fragen:
''Warum geschah es mir?''
''Was hat es mit mir zu tun?''
''Welche Botschaft hat das Ereignis für mich?''
''Was will es mich lehren?''
''Wer weiß, wozu es gut war?''
=== ''In Weisheit verwandelte Erfahrung'' ===
Das Leben zeigt uns oft, dass etwas, was in einem bestimmten Lebensalter Stress verursachte, fünf, zehn oder fünfzehn Jahre später sich in Weisheit verwandelt hat, aufgrund derer man anderen Menschen beistehen kann oder die einen das Leben viel ruhiger betrachten lässt.
Die Ereignisse im täglichen Leben bleiben nicht so, wie sie im ersten Moment erscheinen. Das zeigt sich, wenn man ein bisschen offen ist und versucht, sie vor dem Hintergrund des Entwicklungsgedankens aus der Distanz zu betrachten. Das wird in vielen Fällen nicht sofort gelingen, kann aber dennoch ein hilfreicher Gedanke sein.
Was oft im späteren Leben über eine Therapie erarbeitet werden muss, z.B. dass Menschen lernen müssen, miteinander in Kontakt zu treten, miteinander zu reden, einander ernst zu nehmen und auszuhalten, wird hier selbstverständlich veranlagt und kann zu einer Gewohnheit werden, die einem später hilft, mit dem Lebenspartner Gespräche zu führen, sodass nichts Wesentliches liegen bleibt, sich nichts aufstaut oder unverarbeitet „rumort“.
''Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003''
----[1] René Spitz, ''Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr'', 10. Aufl. Stuttgart 1992; und: ''Die Entstehung der ersten Objektbeziehungen'', 5. veränd. Aufl. Stuttgart 1992.
[2] Vgl. Michaela Glöckler, ''Begabung und Behinderung. Hinweise für Erziehung und Schicksalsfragen'', Praxis Anthroposophie, 2. Aufl. Stuttgart 1999.
[3] Siehe Michaela Glöckler, Wolfgang Goebel, ''Kindersprechstunde. Ein medizinisch-pädagogischer Ratgeber'', 13. Aufl. Stuttgart 1998.
== ALARMIERENDE ZAHLEN ==
''Was besagen Studien zum Gesundheitszustand von Kindern aller Altersgruppen?''
=== ''Studien zum Gesundheitszustand von Kindern'' ===
Vor ein paar Jahren wurde in Köln an 1750 Jugendlichen eine umfangreiche Studie zu ihrem Gesundheitszustand sowie ihren persönlichen und psychischen Problemen gemacht. Die meisten der Elf- bis Achtzehnjährigen bekannten, dass sie unter Ängsten, Depressionen oder Zwängen litten. Ihre Eltern hatten lediglich Schulprobleme und Beziehungsprobleme oder trotziges und unkonzentriertes Verhalten bemerkt…
Schon ein Fünftel aller Kindergartenkinder zwischen drei und sechs Jahren zeigt Verhaltensauffälligkeiten wie Aggression, Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen oder Ängstlichkeit. Und so geht es weiter – eine alarmierende Zahl folgt der anderen. Erneut müssen wir uns die beklemmende Frage stellen:
''Wie lange schauen wir noch zu, ohne energisch auf allen kulturellen und politischen Ebenen für eine Änderung der schulischen Betreuung einzutreten und eine Weiterbildung für Eltern aus Steuergeldern zur Pflicht zu machen?''
Auch hier ist das Geheimnis der kleinen Schritte anzuwenden, um dann – wenn das Problembewusstsein im Großen da ist – wirklich etwas bewegen zu können.
=== ''Was der Therapeut tun kann'' ===
Als Arzt oder Therapeut kann man nicht einfach in das häusliche Umfeld von Kindern oder in Schulen „einbrechen“ und „für Ordnung sorgen“. Man kann eigentlich nur an Stellen, an denen man Kindern in der Schule oder in der Therapie begegnet, fragen:
''Was kann ich für die Entwicklung dieses Kindes tun?''
''Wie muss eine Kind-Therapeut-Beziehung aufgebaut werden, damit sie ein Kind resilient macht, damit die innere Widerstandskraft, die Glaubenskraft, die Liebe zum Menschsein, die Zuversicht, die Hoffnung auf Zukunft gestärkt wird?''
''Was kann ich tun unter dem Eindruck all der Schäden, all der Schwierigkeiten, der Jugendkriminalität, der Gewalttätigkeit, der Drogensucht – alles Probleme, die bereits ab dem neunten Lebensjahr auftreten?''
Bereits Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stellte ich im Rückblick auf zehn Jahre schulärztliche Tätigkeit fest, dass Verhaltensauffälligkeiten, Skelett-Deformationen, aber auch Schwächezustände und psychosomatische Beschwerden bei den Kindern, die ich jedes Jahr untersucht und beobachtet hatte, in diesen zehn Jahren um etwa ein Viertel zugenommen hatten. Und ich nehme an, dass sich diese Entwicklung in den letzten Jahrzehnten eher noch beschleunigt hat. Von daher verwundern mich die Ergebnisse der Kölner Studie auch nicht.
=== ''Schicksalslandschaft aktiv mitgestalten'' ===
''Was aber kann geschehen, nicht nur für die eigenen Kinder, sondern allgemein zum Wohle der Kinder heute?''
Wir müssen das Schicksal von Kindern aktiv mitgestalten, indem sie in uns gleichsam Anwälte und Lobbyisten finden und wir mit größerer Sensibilität Beziehungen mit ihnen – wo auch immer sie sich ergeben – pflegen.
Man kann nicht wissen, ob sich hinter einer Provokation, Aggression oder einer sonstigen Verhaltensauffälligkeit nicht eine Depression oder tiefe Lebensangst verbirgt. Wie schnell sind wir geneigt, ein Kind abzulehnen, weil es uns stört und aufsässig oder schwierig wirkt! Dabei sind gerade solche Kinder oft sehr verletzlich und empfindsam, und auffällig zu werden ist für sie die einzige Möglichkeit, um Hilfe zu rufen. Wir sind alle dazu aufgerufen, diesen Kindern mit Verständnis zu begegnen und ihnen durch uns Schicksalshilfe zukommen zu lassen.
''Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003''
== RESILIENZ TROTZ RISIKO ==
''Wie erwirbt ein Mensch Resilienz?''
=== ''Gesunde Persönlichkeitsentwicklung'' ===
Im französischen und englischen Sprachraum bürgerte sich in der Salutogenese der Begriff Resilienz (engl. resilience = Spannkraft, Elastizität) ein. Gemeint ist damit eine stabile und gesunde Persönlichkeits- und Verhaltensentwicklung, trotz ungünstiger kindlicher Erfahrungen und Belastungen.
Langfristige Beobachtungen von Kindern, die schon früh in Armut und chaotischen Familienverhältnissen leben mussten, zeigen, dass der Lebensweg der meisten von ihnen auch entsprechend chaotisch verlief. Einige kamen jedoch erstaunlicherweise ausgesprochen gut über die Runden. Diese Kinder waren trotz ihrer schwierigen Familienverhältnisse ''„intelligent und selbständig [...] im sozialen Umgang fröhlich, zugewandt und gelöst und bei der Meisterung praktischer Lebensprobleme sachlich, nüchtern und einfallsreich.“[1]''
Offensichtlich standen diesen Kindern, die als „verletzlich, aber unbesiegbar“ bezeichnet wurden, bereits frühzeitig innere Ressourcen zur Verfügung. Zugleich hatten sie jedoch auch das Glück, Zugang zu äußeren Ressourcen zu erhalten: Sie hatten Freunde, die prägend waren für ihr Leben, fanden Materialien, entdeckten Landschaften und soziale Freiräume, über die sie ihre Talente spielerisch entfalten konnten.
''„Mir fielen bei der Beschreibung dieser Kinder Pippi Langstrumpf und Huckleberry Finn ein“,'' so ''Ursula Brucks'' im Handbuch der Salutogenese. ''„Die beiden Literaturgestalten Pippi Langstrumpf und Huckleberry Finn verkörpern beispielhaft diejenigen Anteile unseres Fühlens und Handelns, die zum Verständnis von Kreativität und Gesundheit wichtig, jedoch in der medizinischen Wissenschaft bislang weitgehend ausgeklammert sind [...] Unser Wissensverständnis schließt [...] das Spontane, Kreative, Unplanbare und Unbeherrschbare aus. Dies ist von Nachteil für die Medizin wie für jede angewandte Wissenschaft.“''[2]
=== ''Was Kinder stärkt'' ===
''„Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz“[3]'' ist der Titel einer weiteren Publikation, in der ebenfalls zahlreiche Studien zur Lebensqualität von Kindern vorgestellt werden, aus denen abgelesen werden kann, wodurch Gesundheit entsteht und für ein ganzes Leben veranlagt wird. Auch sie sagen aus, dass Kinder trotz zahlreicher Risikofaktoren, denen sie ausgesetzt waren, dennoch über Widerstandskräfte verfügen können.
Mit Risikofaktoren sind Umstände wie Alkoholismus in der Familie, sexueller Missbrauch, Gewalt, Vernachlässigung, Kälte, schlechte Ernährung, unhygienische Verhältnisse, aber auch charakterliche Eigenschaften von Erziehenden wie Verlogenheit und Respektlosigkeit gemeint. Das sind alles krankmachende Faktoren.
''Können Kinder überhaupt Widerstandskraft gegen ihr Milieu entwickeln?''
Auch in Bezug darauf finden sich in dem genannten Buch die erstaunlichsten Untersuchungsergebnisse. So wurde in Hawai über vierzig Jahre eine Langzeitstudie gemacht, bei der die Ärmsten der Armen untersucht wurden, also die, die jeder für Opfer hielt, aus denen nur wieder neue Täter werden können.
Umso erstaunter war man, dass sich weit mehr von ihnen als erwartet zu ganz normalen, gesunden Erwachsenen entwickelten, die voll im Berufsleben standen – die Hälfte davon, ohne jemals auffällig oder kriminell geworden zu sein! Die andere Hälfte war vorübergehend verhaltensauffällig oder in der Jugend kriminell und konnte diese Schwächen jedoch mit den Jahren überwinden. Aufgrund der zahlreichen vorliegenden Daten konnte man systematisch untersuchen, woran es lag, dass diese Kinder vor allem auch seelisch widerstandsfähig waren. Es stellte sich heraus, dass die „menschliche Beziehung“ ein ausschlaggebender Faktor war, die in ihrer salutogenetischen Bedeutung stärker wirkte als Vererbung und Milieu.
=== ''Merkmale einer guten Beziehung'' ===
Dass Vererbung und Milieu den Charakter weitestgehend beeinflussen, ist ja seit Aristoteles bekannt und immer wieder neu diskutiert und bewertet worden. Aber dass es etwas gibt, das stärker ist als Vererbung und Milieu – eine gute menschliche Beziehung –wurde erst durch die Verhaltensforschung der letzten dreißig Jahre deutlich und wird jetzt durch die Resilienzforschung belegt.
Eine gute Beziehung zeichnet sich durch drei entscheidende Wesensmerkmale aus:
* Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit,
* Liebe,
* Respekt vor der Autonomie und Eigenwürde des anderen - auch wenn er im Kleinkindstadium oder im Zustand großer Hilfsbedürftigkeit ist.
Erlebt ein Kind solch eine gute Beziehung – und sei es nur zu einem einzigen Menschen bzw. nur in einer bestimmten Zeit seiner Kindheit – kann es sich trotz allem seelisch gesund entwickeln, selbst wenn die Lebensbedingungen sonst sehr ungünstig sind, es abends geprügelt wird und es auch tagsüber nicht gut betreut wird. Wenn ein Kind zu ''einem'' Menschen eine tiefe innere Beziehung hat, braucht seine seelische Gesundheit nicht in Frage gestellt zu werden. Im Gegenteil, ein solches Kind kann sogar besonders sensibel und mitleidsfähig werden.
Das Buch ''„Plus fort que la haine“'', das in Frankreich großes Aufsehen erregte, ist dafür ein eindrückliches Beispiel.[4] ''„Stärker als der Hass“'' schildert die Erfahrung von Liebe und Mitmenschlichkeit, die ein extrem traumatisiertes und vernachlässigtes Kind im Alter von drei Jahren während dreier kostbarer Monate in einer Pflegefamilie erfuhr. Diese Erfahrung prägte es für das ganze weitere Leben und ermöglichte die Identifikation mit dem Guten und einem liebevollen Menschsein.
''Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003''
----[1] Ursula Brucks, ''Salutogenese – der nächstmögliche Schritt in der Entwicklung medizinischen Denkens?,'' in: W. Schüffel et al. (Hrsg.), ''Handbuch der Salutogenese. Konzept und Praxis'', Wiesbaden 1998, zit. bei Schiffer, a.a.O.
[2] U. Brucks, zit. bei Schiffer, a.a.O.
[3] Günther Opp, Michael Fingerle, Andreas Freitag (Hrsg.), ''Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz'', München 1999.
[4] T. Guenard, ''Plus fort que la haine'', Presse de la renaissance, Paris 1999.
== DIE BEDEUTUNG DES KINDLICHEN SPIELS AM BEISPIEL VON „FLOW“ ==
''Welche Bedeutung hat das kindliche Spiel für die Entwicklung?''
=== ''Im Flow sein'' ===
Der amerikanisch-ungarische Psychologe und Philosoph ''Mihaly Csikszentmihaly''[1] fühlte sich durch die psychologische Literatur zur Selbstverwirklichung und die von Maslow so genannten „Peak Experiences“[2] sehr animiert. Maslow lieferte detaillierte Beschreibungen subjektiver Gefühlszustände, wie sie ihm in Interviews mit Künstlern, aber auch Bergsteigern und Chirurgen und schließlich einfachen Bauern und Handwerkern, während ihres Tuns berichtet worden waren.
Csikszentmihaly prägte einen Begriff, den man inhaltlich dem gesunderhaltenden Kohärenzgefühl gleichsetzen könnte. Es ist der Begriff des „Flow“.[3] Damit ist die Erlebnisqualität des Fließens, des Im-Fluss-Seins, gemeint: Wenn wir „im Flow“ sind, befinden sich Fühlen, Denken und Wollen in völliger Übereinstimmung miteinander. Wir erleben uns in eine fließende Erfahrung eingebettet, wobei wir unser Tun mühelos meistern und Umwelt und wir selbst, Stimulus und Reaktion eins sind. Auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehen zeitlos fließend ineinander über. Wir sind vollkommen glücklich, wobei das Beglückt-Sein durch das eigene Tun hervorgerufen wird. Wer in dieser Art Freude am Tun erlebt, dessen Selbstvertrauen wird ebenso gestärkt, er ist zufrieden und fühlt sich solidarisch mit anderen.
=== ''Dem Flow-Erlebnis auf der Spur'' ===
''Wie kommt es nun zu diesem Flow-Erlebnis?''
''Wodurch zeichnet es sich aus?''
Csikszentmihaly stellte nun die Frage, ob nicht jedermann unter geeigneten Bedingungen zu solchen Erlebnissen kommen könnte. Dann ließen sich auch „langweilige“ Alltagsaufgaben in erfreuliche und sinnvolle Aktivitäten umwandeln. Er interviewte Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen, die intensive Sinneserfahrungen bei spielerischen wie auch ernsthaften Aktivitäten gemacht hatten, und kam zu dem Schluss…
„…, ''dass jede Aktivität innerlich lohnend sein kann, vorausgesetzt, sie ist passend strukturiert und unsere Fähigkeiten sind ihren Herausforderungen angepasst. Unter diesen optimalen Bedingungen haben wir auch an der Arbeit Freude und sogar an Gefahren und Stress.“'''[4]'''''
Die Möglichkeit, dass ''das Tun als solches'' befriedigend sein kann, wies ihm den Weg zu einer potentiellen Kraftquelle der Menschheit, die die Jagd nach Geld, Status, Macht und Prestige, die landläufig als Glück bringend missverstanden wird, ersetzen könnte. Csikszentmihaly versuchte bei seinen Untersuchungen genau zu verstehen, wie Menschen sich fühlen, wenn sie sich im Flow-Zustand befinden: Körper und Seele sind bis an die Grenzen angespannt bei dem freiwilligen Bemühen, etwas Schwieriges, für sie Wichtiges zu erreichen – und das dann auch zu schaffen. Jedem Menschen böten sich unzählige Gelegenheiten, über sich selbst hinauszuwachsen. Man müsse nur darauf aufmerksam werden und sich dann entsprechende Herausforderungen suchen.
=== ''Im Spiel ganz Mensch sein'' ===
Im Rahmen seiner Forschungen befasste sich Csikszentmihaly intensiv mit dem Spiel: ''„Wenn der Mensch spielt, ist er im Vollbesitz seiner Freiheit und Würde. Wenn wir herausfinden könnten, was das Spielen zu einer derart befreienden und belohnenden Aktivität macht, kämen wir in die Lage, dieses Wissen auch außerhalb des spielerischen Rahmens anzuwenden.“'''[5]'''''Als bildhaftes Beispiel schilderte er, wie sich ein Kind fühlt, wenn es ''„mit zitternden Fingern die letzten Klötze auf einen Turm legt, der höher als jeder andere ist, den es bislang gebaut hat“.''
Was für den Jugendlichen und Erwachsenen Entspannung, Ausgleich von Stress oder fröhlicher Zeitvertreib ist, ist für das Kind Fähigkeitsbildung an Leib und Seele mit Hilfe geeigneter, die altersentsprechende Entwicklung fördernder Materialien:
* Spielend ist das Kind ganz bei der Sache und gleichzeitig ganz bei sich. Selbstvergessen erlebt es sich eins mit seinem Tun.
* Spiel ist für das Kind Arbeit, Beschäftigung, sinnerfülltes Leben – alles, nur nicht „Spiel“.
* Es gewinnt über das vertiefte Tun essentielle Erkenntnisse über sich und die Gesetze der Welt.
* Das eigene Vorstellungsvermögen, die kreative Phantasie, wird beim Spielen aktiviert.
* Die Eigenaktivität bestärkt Kinder in ihrer Autonomie.
* Das Kind bildet dabei neue Fähigkeiten aus – und wächst buchstäblich über sich selbst hinaus.
Wer so spielen durfte, wird im Erwachsenenalter auf höherem Bewusstseinsniveau darauf zurückgreifen und sich selbst zu immer neuen Lebenshöhepunkten führen können. Denn das Flow-Erlebnis ist Ausdruck des menschlichen Spieltriebs, der uns allen innewohnt. Schon Friedrich Schiller sagte etwas zutiefst Wahres:
''„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“''[6]
''Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003''
----[1] Mihály Csíkszentmihályi (*29. September 1934 in Rijeka) ist emeritierter Professor für Psychologie an der University of Chicago und Autor. Er wurde als Sohn des ungarischen Konsuls im heutigen Rijeka, das damals zu Italien gehörte, geboren. 1975 beschrieb er das Flow-Erleben und gilt seither als der herausragendste Wissenschaftler auf diesem Gebiet.
[2] Abraham Maslow, ''Motivation und Persönlichkeit'', Hamburg 1981.
[3] Mihaly Gsikszentmihaly, ''„Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen'', 6. Aufl. Stuttgart 1996, und ''Flow. Das Geheimnis des Glücks'', 5. Aufl. Stuttgart 1995.
Siehe dazu: Roswitha v. dem Borne, ''Einfach fallen lassen. Der Rausch nach Grenzerfahrungen'', Stuttgart 2001.
[4] Mihaly Gsikszentmihaly, a.a.O.
[5] Mihaly Gsikszentmihaly, a.a.O.
[6] Friedrich Schiller, ''„Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“,'' Prosa Schriften, Stuttgart 1956.
== DAS KIND ERKENNEN, VERSTEHEN, UNTERSTÜTZEN ==
''Wie können Pädagogen die ihnen anvertrauten Kinder besser verstehen und unterstützen?''
=== ''Das kindliche Verhalten verstehen'' ===
Aus der Psychologie ist bekannt, dass eine gesunde seelische Entwicklung einhergeht mit einem gewissen Maß an Selbstvertrauen und der Fähigkeit zur Wertschätzung. Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern, Lehrer und Therapeuten das Kind erkennen und seine Verhaltensweisen verstehen lernen – auch oder gerade, wenn es auffälliges Verhalten zeigt: Wenn ein Kind aggressiv und unstet ist und alles kaputt macht, was es in die Finger bekommt, wenn es nichts wertschätzen kann, sind Eltern oft ganz verzweifelt, weil sie Angst haben, es nicht mit „normalen“ Reaktionen zu tun zu haben. In diesem Fall ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie zu erkennen versuchen, welche Begabungen sich hinter dem problematischen Verhalten verbergen:
''Zeigt ein Kind nicht unbändiges Interesse an der Umgebung, wenn es alles anfasst?''
''Will es den Gegenstand vielleicht nur „untersuchen“ und gar nicht kaputt machen?''
Unruhige, ständig herumsausende Kinder haben auch eine enorme Bewegungsbegabung und wenn sie auf wildfremde Leute zuzugehen – was einem Angst und Bange machen oder als Distanzlosigkeit erscheinen könnte – zeigen sie im Grunde rückhaltloses Vertrauen.
=== ''Interesse und Fragehaltung vertiefen'' ===
Belegt man die Verhaltensweisen nicht von vornherein mit einem negativen Urteil, sondern stellt einfach fest, dass dieses Kind über diese spezielle Konstitution verfügt und lernen möchte, die damit verbundenen Eigenschaften handhaben zu lernen, entwickelt man eine positive Erwartungshaltung ihm gegenüber. Dann kann man sich als Eltern, Lehrer und Therapeuten fragen, wie man ihm helfen kann, damit es seine Möglichkeiten und Anlagen in den Griff bekommt.
Es gilt also, die wahrnehmbaren Eigenschaften und Verhaltenselemente sachlich anzuschauen und sich ein Bild davon zu machen, was aus dem Kind werden kann, wenn es gelernt hat, mit sich und seinen Möglichkeiten umzugehen. Auch kann es sehr hilfreich sein, sich die Frage zu stellen:
''Wie war dein früheres Erdenleben, dass du jetzt mit diesen Anlagen und Aufgabenstellungen zu uns gekommen bist?''
Durch dieses fragende Interesse wird die Verständnisbereit­schaft dem Kind gegenüber vertieft.
=== ''Vertrauensvorschub'' ===
''Ist es nicht im Grunde ein großer Vertrauensvorschub, dass sich gerade die „schwierigen“, einseitig begabten Kinder zu uns wagen in der Hoffnung, dass wir ihnen helfen und sie verstehen werden?''
Diese Hoffnung, diese Aufforderung ist nonverbal einfach durch die Tatsache gegeben, dass dieses Kind nicht bei den Nachbarsleuten zur Welt kam, sondern bei eben diesen Eltern oder dass es auf uns als Betreuer, Erzieher, Therapeuten gestoßen ist. Dieses nonverbale tiefe Vertrauen des Kindes – Du bist der Mensch, auf den ich setze, mit dir habe ich etwas zu tun und deswegen bin ich zu dir gekommen – kann man sich als Erwachsener immer wieder vor Augen führen und daraus Kraft und Motivation schöpfen.
Damit sind wir wieder in dem Bereich, wo man sein Denken und Fühlen miteinbeziehen muss, um die tieferen Schichten der menschlichen Existenz wahrnehmen zu können, um zu erkennen, was wahr ist. Die Wahrheit muss man fühlen – und einsehen. Nur mit dieser Haltung kommt man der Beantwortung der Frage näher:
''Warum hat mir mein Schicksal ein Kind gegeben, das zu lieben mir solche Mühe macht?''
Als Erwachsene, die dieses Kind umgeben, sind wir aufgerufen etwas zu tun, nicht nur etwas von ihm zu erwarten oder zu fordern. Wir müssen es fragen:
''Woher kommst du?''
''Was willst du hier?''
''Was willst Du erreichen?''
''Was kann ich für Dich tun?''
=== ''Du kannst, was du willst'' ===
Nichts stärkt das Selbstvertrauen eines Kindes mehr, als zu erleben, dass es etwas kann. Das gilt für alle Kinder. Zu diesem Erleben des eigenen Könnens gehört aber auch, dass der Erwachsene das Erreichte wahrnimmt, es bestätigt, sich darüber freut. Leistungen, für die sich das Kind angestrengt hat, dürfen nicht übersehen werden, eine Arbeit, die das Kind verrichtet hat, sollte anerkennend begutachtet werden usw. Sonst kommt es zu schweren Kränkungen, die zu späterem Fehlverhalten führen können.
Wer in der Kindheit Demütigung und Vernachlässigung erfahren hat und diese Erfahrungen im Laufe der Entwicklung nicht für sich verarbeiten und zurechtrücken konnte, neigt im späteren Leben dazu, sich unbewusst-instinktiv für das Unrecht, das ihm angetan wurde, zu rächen: So jemand genießt es dann, über andere Macht auszuüben und über Unmündige zu herrschen. Er wird nicht selten auch zum Täter, der Gewalt anwendet und sein Verhältnis zum Kind missbraucht.
Aber auch unsachgemäße, übertriebene Beurteilungen stellen eine Gefahr dar. Das Kind weiß selbst recht genau, ob ihm etwas geglückt ist oder nicht. Und so ist es enttäuscht, wenn der Erwachsene alles, was es ihm zeigt, mit einem stereotypen oder überschwänglichen – „Das hast du aber schön gemacht!“ – belohnt. Das Lobenswerte zu loben und das Verbesserungswürdige ehrlich beim Namen zu nennen und nächste kleine Schritte für das weitere Tun und Lernen aufzuzeigen, unterstützt das Kind in seiner Entwicklung. Mehr erwartet es nicht. Wenn es in dem Bewusstsein lebt, dass es alles, was es ernsthaft erreichen möchte, auch erreichen kann, und der Erwachsene es dabei unterstützt – so stellt sich ein elementares Freiheitsempfinden ein, das zu weiterer Arbeit motiviert.
=== ''Absage an Perfektion'' ===
Eltern oder auch Lehrer, die sich vor dem Kind stets als die Menschen geben, die alles richtig machen und die dem Kind ständig sagen, was es alles nicht kann und wie es dies und jenes besser zu machen hat, erzeugen nicht nur Unlust beim Kind, sondern auch das Verlangen, eines Tages als Erwachsene auch anderen sagen zu können, wo es langgeht.
Mensch-Werden bedeutet jedoch, Entwicklung ernst zu nehmen, lebenslang weiter zu lernen und offen bleiben für immer neue Entwicklungsschritte und Veränderungen – vor allem aber, sich selbst zu sagen, wo es langgehen soll. Das bedeutet eine Absage an die Illusion der Perfektion.
Daher ist es von unschätzbarem Wert, wenn Kinder an ihren Eltern und Erziehern erleben, dass auch diese selbst noch auf dem Weg sind, dass sie Fehler machen und zugeben und bereit sind, aus ihnen zu lernen. Das schafft ein Klima brüderlicher, partnerschaftlicher Verbundenheit und hilft auch, Phantasie zu entwickeln für den nächstmöglichen, wenn auch noch so kleinen Entwicklungsschritt bei sich selbst und beim Kind.
''Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003''
== HERAUSFORDERN STATT VERWÖHNEN ==
''Welche Herausforderungen braucht ein Kind?''
''Wie erkennt man, ob es über- bzw. unterfordert ist?''
''Was kann man bei Überforderung und Unterforderung tun?''
=== ''Passende Herausforderungen finden'' ===
Da Kinder auf Überforderung und Unterforderung oft mit den gleichen Symptomen reagieren, ist es nicht immer leicht, Resignation, Lustlosigkeit, Provokation und Aufbegehren richtig zuzuordnen:[1]
* Begabte Kinder werden auffällig, weil sie sich langweilen.
* Kinder mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen beginnen zu provozieren, weil sie nicht mitkommen bzw. nicht mitmachen können.
Alle Kinder brauchen Herausforderungen, die ihrem Lebensalter und Entwicklungsstand gemäß sind.[2] Durch die damit verbundenen Erfolgserlebnisse wird ihr Selbstbewusstsein gestärkt – was Mut und Kraft für neue Aktivitäten bringt.
Die Werbebranche suggeriert uns dagegen, wie erstrebenswert ein Leben ohne Probleme wäre. Das wird unterstrichen durch vieles, was die Medien täglich verbreiten. Eltern sind deshalb schnell geneigt, ihrem Kind alles abzunehmen.[3] Außerdem möchte man, dass das Kind „es guthat“.
=== ''Fatales Verwöhnen'' ===
Man hat ständig die Trinkflasche bereit, hilft den Kleinen beim Aufräumen, spendiert noch ein Eis. Im Supermarkt, wo die entsprechenden Verlockungen in Augenhöhe der Kinder angeboten werden, bekommen sie oft das Gewünschte, damit die Quengelei aufhört. Später hilft man ihnen bei den Hausaufgaben, fährt sie überall hin und nimmt ihnen jeden Handgriff ab, sobald sie ein bisschen stöhnen. Für ihren Einsatz erhalten die Eltern meist keinen Dank, sondern sind mit immer weiteren Forderungen ihrer „leidenden“ Kinder konfrontiert, die so zu notorisch Hilfsbedürftigen werden.
* Wer ständig Hilfe braucht und geschont wird, fühlt sich schwach – und ist es auch.
* Wem man dagegen etwas abverlangt und zutraut, der wird dadurch tüchtig und selbstbewusst.
Dabei sind es oft unsere eigenen Ängste, die uns daran hindern, unseren Kindern das nötige Zutrauen entgegenzubringen. Allzu gerne nehmen wir ihnen Tätigkeiten ab, die ihre Selbständigkeit fördern könnten. Dann fordern sie manchmal selbst auf „störende“, provozierende Art und Weise ein, was sie brauchen: Sie sind von Lärm, Schmutz und Chaos fasziniert, wollen Neues entdecken und ausprobieren, ihre Kräfte messen. Sie suchen die Herausforderung!
=== ''Stärkende Begleitung'' ===
Mitgefühl kann Eltern helfen, ihre Sprösslinge so zu begleiten, dass sie dadurch stark werden. Falsches Mitleid wird die situationsgerechte Begleitung behindern, indem Kindern die notwendige Orientierung und Herausforderung versagt wird und sie dadurch schwach bleiben.
Unser Vorbild ist immer noch das wirkungsvollste Erziehungsmittel. Was wir ganz selbstverständlich tun, ohne reden oder große Erklärungen, können unsere Kinder ungestört aufnehmen und nachahmen, was ja ihrem Naturell entspricht. Auch helfen sie gern, wenn man sie lässt. Es lohnt sich, selbst wenn es mehr Zeit kostet oder die ersten Male noch nicht so recht gelingt. Kinder fühlen sich wichtig und ernst genommen, wenn sie in der Küche mithelfen dürfen oder den Auftrag bekommen, den Müll hinauszutragen oder etwas zu holen, was nötig ist.  
Zum „Fördern durch Fordern“ gehört auch, Grenzen zu setzen. Wer Grenzen setzt und Grenzen vertritt, kann Halt und Schutz geben – was ja Aufgabe der Eltern ist. Zu viel Freiraum bürdet Kindern eine Verantwortung auf, der sie nicht gewachsen sind. Indem wir sie zu sehr schonen und verwöhnen, nehmen wir ihnen die Chance, verzichten und warten zu üben.
=== ''Verstehen, was das Kind sagen will'' ===
Es ließe sich viel Unheil vermeiden, wenn Eltern und Lehrer die Provokationen und Frechheiten der Kinder nicht persönlich nähmen, sondern als Versuch verstehen könnten, etwas zu sagen, was sie nicht anders ausdrücken können. Jede erfahrene Mutter weiß, dass Quengelei, Heulen und Lustlosigkeit oft nur Ausdruck sind für Übermüdung oder Hunger. Ebenso sind viele der „schlechten Eigenschaften“ oder Frechheiten von Kindern eine Form, etwas auszudrücken, wofür dem Kind noch die Worte bzw. Gedanken fehlen. Eltern und Lehrern sollten gemeinsam überlegen, wie hier Abhilfe geschaffen werden kann: Z.B. könnte in der Schule ein besonders begabtes Kind neben einem weniger begabten und dadurch überforderten Kind sitzen, um ihm helfen zu können. Dadurch lernt es, einem anderen beizubringen, was es selbst schon kann – eine große Aufgabe, die seinen Ehrgeiz in eine menschliche soziale Richtung lenken kann.
Schwachbegabte neigen leicht dazu, sich als schwach, als dauernde Versager zu fühlen, die nichts richtig mitkommen. Wenn nun zu Hause oder in der Schule noch entsprechende Bemerkungen seitens der Eltern oder Erzieher fallen, werden sie bestärkt in dem Bewusstsein, dass sie nicht dem entsprechen, was man von ihnen erwartet.
Kinder nur an Höchstleitungen oder Versagen zu messen, ist Gift für die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins, das sich nur entfalten kann, wenn sie, unabhängig davon, was sie können oder nicht, erleben, dass sie als Menschen ernst genommen und bejaht werden, so wie sie sind, und die notwendige Unterstützung erfahren für einen nächsten Schritt: Es tut jedem Kind gut, wenn Eltern, Lehrern und Erziehern ihren Fokus darauf richten, dass es die Möglichkeit bekommt, etwas zu lernen, was es noch nicht kann. Kinder sind meist sehr dankbar, wenn man ihnen den Erwerb neuer Fähigkeiten zutraut. Aufmerksamkeit für ihr Tun und Anerkennung, wenn etwas gelingt, sind Kraftquellen, die Kindern über Widerstände und Hindernisse hinweghelfen.
''Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003''
----[1] Michaela Glöckler, ''Begabung und Behinderung'', Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004.
[2] Karin Lantzsch, ''Optimale Hindernisse auf dem Weg zum Erwachsenwerden'', in: Ursula Schulz (Hrsg.), ''Kindsein heute. Alptraum oder Traum'', Waiblingen 2000.
[3] Siehe hierzu auch Mathias Wais, ''Suchtprävention beginnt im Kindesalter. Erziehung als Begleitung zur Selbständigkeit'', Stuttgart 2002.
== ERZÄHLEN UND VORLESEN ALS RESSOURCE ==
''Warum sind Erzählen und Vorlesen so wichtig als Ressource für das Kind?''
=== ''Was beim Zuhören geschieht'' ===
Neben Spiel und Gespräch sind Vorlesen und Erzählen von Märchen entscheidende Ressourcen, die ihre salutogenetische Bedeutung auf unterschiedliche Weise im Lauf des Lebens zeigen. Dabei geht es nicht nur um den differenzierten Wortschatz, die bilderreiche Sprache und die Inhalte, die stets Entwicklungs- und Lebenswahrheiten in knapper Folge zusammenge­fasst darstellen, sondern vor allem um das, was sich zwischen dem, der spricht, und dem, der zuhört, abspielt.
Beim Zuhören öffnet sich das Kind und ist, wenn mit Anteilnahme am Geschehen erzählt wird, „ganz Ohr“. Dabei übt es Aufmerksamkeit, Interesse und Konzentration aufzubringen. Im Wiedererzählen und Hören derselben Geschichte – was Kinder unter fünf Jahren ganz besonders lieben! – übt es auch, etwas zu vertiefen und damit zu leben.
Dieser Prozess der Anteilnahme an gemeinsam Erlebtem fördert zudem in schönster Weise die Beziehung selbst. Dabei ist auch das Gespräch über das eine oder andere Erlebnis im Märchen entscheidend, weil damit die Möglichkeit gegeben ist, an Alltagserlebnisse anzuknüpfen.
=== ''Sprache „aus der Konserve“'' ===
All dies leistet der „permanente“ Erzähler[1] in Form von Radio, CD und Fernsehen nicht; auch konnte bisher kein sprachfördernder Effekt eindeutig nachgewiesen werden. Denn das Erlernen von Sprache braucht den lebendigen Sprecher. Nicht nur das Kennen von Worten, sondern der verständnisvolle Umgang damit macht Sprache zu ''dem'' Kommunikationsmittel. Alarmierend sind die Artikel in Fachzeitschriften über den Sprachverfall bei Kindern, das Verstummen, ganz zu schweigen von der ständig steigenden Zahl an Sprachstörungen.[2]
Die „permanenten“ Erzähler bieten dem Zuhörer im Grunde nicht einmal eine Pause für eigene Gedanken. Im Gegenteil, alles Gebotene läuft mit einer kaum nachvollziehbaren Geschwindigkeit ab. Vor allem aber können die „permanenten“ Erzähler selbst nicht zuhören! Aber nur die wirklich dialogische Beziehung erweist sich auf Dauer als gesundheitsförderliche Ressource im Unterschied zur bloßen Ablenkung, Beschäftigung oder Betäubung eigener Gedanken und Motivationen.
=== ''Wechsel zwischen Erzählen und Zuhören'' ===
Zum Dialog gehören sowohl der Wechsel zwischen Erzählen und Zuhören wie auch das gemeinsame Nachsinnen. Das Kind vertieft sich ganz in das Erzählte, das in inneren Bildern in ihm aufsteigt, es reagiert mit Staunen, Freude oder atemloser Spannung und sagt vielleicht am Schluss: Noch einmal! Oder es räkelt sich glücklich und zufrieden in seinem Bettchen oder in der Kuschelecke des Sofas. Dann ist auch die Situation gegeben ein Gespräch anzufangen:
''War das alles so gut, wie es gewesen ist?''
''Hat hier Einer Unrecht getan, ein Anderer vielleicht gerade noch einmal Glück gehabt, weil er die Wahrheit sagte?''
Wenn man einen Tag so beendet, die Geschehnisse noch einmal an sich vorüberziehen lässt oder das eine oder andere Problem aus unterschiedlichen Perspektiven anschaut und vielleicht noch ein Lied singt, beinhaltet dieses Abendritual Musik, Sprache, lebhafte Gefühle, menschliche Begegnung, Beziehungspflege – im Grunde alles, was das Leben schön macht.
Zudem ist der Erwerb einer guten Ausdrucks- und Sprachfähigkeit das beste Mittel zur Vorbeugung aggressiver Neigungen oder Handlungen. Denn solange Menschen noch miteinander reden können, weil sie gelernt haben, zuzuhören und den anderen nicht „an die Wand zu reden“, wird keiner von beiden handgreiflich werden.
Der Zwischenraum zwischen Menschen wird durch Sprache gestaltbar, wenn man erkennt, dass der Abgrund zwischen Mensch und Mensch eine Brücke hat, die Bewegung in beiderlei Richtung zulässt.
Vgl. ''„Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“'', Stuttgart – Berlin 2003
----[1] Eckhard Schiffer, ''Wie Gesundheit entsteht'', a.a.O.
[2] Rainer Patzlaff, ''Sprachzerfall und Aggression. Geistige Hintergründe der Gewalt und des Nationalismus'', Stuttgart 1994.
== ERNÄHRUNG DES KINDES ==
''Welche Art der Ernährung empfiehlt sich für das kleine Kind?''
''Welche Rolle spielen Qualität und Art der Zubereitung für den kindlichen Organismus?''
''Was geschieht beim Verdauen seelisch-geistig?''
=== ''Abwechslungsreiche und aktivierende Kost verabreichen'' ===
Zu empfehlen ist in der Kleinkinderzeit eine lacto-vegetabile Kost, im übrigen Kindesalter eine den individuellen Bedürfnissen angepasste, abwechslungsreiche Kost, die aber nicht zu eiweißreich sein sollte.[1]
Der Zusatz von Vitaminen und Spurenelementen sollte nur vorgenommen werden, wo wirklich Mangel herrscht bzw. der Organismus nicht in der Lage ist, sich die für ihn notwendigen Vitamine und Mineralien selbst aus der Nahrung herauszuholen und aufzubauen. Aktivierung anstelle von Entlastung und Schonung ist das Grundprinzip der gesunden Ernährung.
Angesichts der Devitalisierung des modernen Menschen, die sich in der Neigung zu Ermüdung und Erschöpfung sowie in einer zunehmenden Immunschwäche und Allergiebereitschaft zeigt, wird heute die Frage nach dem Wie von Anbau, Lagerung und Zubereitung der Lebensmittel immer dringender.
=== ''Was beim Verdauen geschieht'' ===
Gesund gewachsene und schonend zubereitete Nahrungsmittel zu verdauen und in körpereigene Substanzen umzuwandeln, erfordert vom Organismus allerdings mehr Anstrengung, als das verdauen weniger vitaler bzw. lang gekochter oder konservierter Lebensmittel. Denn insbesondere in Kindheit und Jugend kommt der Nahrungsqualität grundlegende Bedeutung für die körperliche und seelische Entwicklung zu.
Denn bei der Verdauung geht es nicht nur um die stoffliche Zusammensetzung der Nahrungsmittel und deren Abbau und Umwandlung in körpereigene Substanz. Es geht auch um die Auseinandersetzung mit der Vitalität der Pflanze, ihrem eigenen Lebens- bzw. Gesundheitszustand und dem der Tiere, die wir essen. Auch Pflanzen sind Lebewesen, Tiere sind sogar bewusstseinstragende Lebewesen.
Je frischer und vitaler die Nahrung ist, umso mehr findet auch eine Auseinandersetzung mit den noch in den Substanzen nachwirkenden Lebens- und Seelenkräften der Wesen statt, deren Körperlichkeit wir essen. An der Überwindung dieser Kräfte erstarken die menschlichen Lebenskräfte (Ätherleib) und Seelenkräfte (Astralleib).
=== ''Den Organismus anregen durch unterschiedliche Angebote'' ===
Um den Organismus in seiner Verarbeitungsmöglichkeit allseitig anzuregen, ist es wichtig, die Nahrungsmittel dementsprechend zu kombinieren, auch hier nicht nur ihrer unterschiedlichen Inhaltsstoffe wegen, sondern der qualitativen Unterschiedlichkeit wegen, die dadurch zustande kommt, dass Organe von Pflanzen und Tieren spezifisch gewachsen sind. In Japan wirkt heute noch die in einem alten spirituellen Naturverständnis wurzelnde Auffassung fort, dass eine vollständige Mahlzeit aus Nahrungsmitteln zusammengestellt sein muss, die aus dem Gebirge, von der Ebene und aus dem Meer stammen.
In Europa haben wir die Tradition, Nahrungsmittel verschiedener Pflanzenorgane zu kombinieren: Wurzel, Stängel, Blatt, Blüte und Frucht. In jedem dieser Pflanzenteile findet während Wachstum und Entwicklung eine besondere Wechselwirkung mit den Kräften der Umgebung statt. Erde, Wasser, Luft, Licht und Wärme wirken nicht nur im Zusammenhang mit den jeweiligen geographischen Bedingungen, sondern auch spezifisch, je nachdem, wo sich die Pflanzenorgane entwickeln, die wir essen:
* in der Erde als Wurzeln,
* über der Erde als Blätter und Stängel,
* in Wasser, Luft und Licht als Blüte und Frucht mit besonderer Beziehung zu Licht und Wärme.
Es erscheint vielleicht mühsam, Gesichtspunkte dieser Art in Ernährungsfragen mit einzubeziehen. Doch durch den Kauf von vollwertigen Bio-Nahrungsmitteln, werden Arten des Anbaus und der Tierhaltung gefördert, die der Gesundheit des Menschen und zugleich des Bodens dienen. Das Ergebnis ist ein nachhaltiger Beitrag zur Gesundung von Mensch und Natur.
''Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003''
----[1] Siehe hierzu auch Michaela Glöckler, Wolfgang Goebel, „Kindersprechstunde“, a.a.O.;
sowie Petra Kühne, „Ernährungssprechstunde. Grundlagen einer gesunden Lebensführung“, Stuttgart 1993.
== KINDHEIT IM WANDEL DER ZEITEN ==
''Wie hat sich Kindheit im Laufe der Zeiten gewandelt?''
=== ''Neue Herausforderungen'' ===
Wenn wir davon sprechen, was das Kindsein heute mit sich bringt, gehen wir gleichzeitig davon aus, dass es im Hinblick auf die Kindheit auch ein Gestern gibt und ein Morgen geben wird. Jedem Erwachsenen, der sich an seine Kindheit erinnert, wird sofort deutlich werden, wie anders es früher im Vergleich zu heute war. Jede neue Erfindung, vor allem im Bereich der Technik, bringt neue Herausforderungen mit sich und verlangt eine Anpassung und Änderung der menschlichen Gewohnheiten.
Vor etwas über 150 Jahren, als die ersten Eisenbahnen mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h fuhren, erhoben Ärzte besorgte Einwände und meinten, die Geschwindigkeit der Züge würde bei Reisenden wie Zuschauern zu Gehirnerkrankungen führen. Tunnel gaben zu ärztlichen Warnungen vor einem gefährlichen Luftwechsel Anlass. Schilderungen aus dieser Zeit belegen, dass die Sinne größte Schwierigkeiten hatten, den Raum bei dieser Geschwindigkeit richtig zu erfassen. Dennoch sind diese Befürchtungen nicht eingetreten. Und heute erleben Kinder und Jugendliche auf den Rummelplätzen in den Achterbahnen – wenn auch nur für Sekunden – Geschwindigkeiten und Körperbelastungen wie bei dem Start einer Rakete – und halten es aus.[1]
=== ''Überschreitung der Grenze des Menschenmöglichen'' ===
Ein anderes Beispiel ist das Bergsteigen. Was vor hundert Jahren noch als „Grenze des Menschenmöglichen“ gegolten hatte und nur von Einzelgängern bewältigt wurde, wird heute bereits von Anfängern geklettert. Zu jeder Zeit entsprachen die erbrachten Leistungen jeweils auch der Grenze des Menschenmöglichen. Dass einzelne Bergkletterer eines Tages ohne jegliche Hilfsmittel äußerst schwierige Felswände erklettern, wie sie dies heute tun, hätte vor zehn Jahren sicher noch als ein Ding der Unmöglichkeit gegolten.[2]
Bedenkt man die rasante Entwicklung auf allen Gebieten, die sich allein im 20. Jahrhundert vollzog, und wie die Menschen damit fertig wurden, liegt es nahe zu denken, dass Kinder, die heute zur Welt kommen, auch für die gegenwärtigen Herausforderungen gerüstet sind. ''„Er sah, dass sein Kind ihm in vielem voraus war. Und er war der Zeit, der Gegenwart dafür dankbar“'', so ''Peter Handke'' in seiner ''„Kindergeschichte“.'''[3]''''' Kinder bringen neue Fähigkeiten mit, um mit den Gegebenheiten, in die sie hineingeboren werden und die noch auf sie zukommen, fertigzuwerden. Sie sind für sie Anlass, einen weiterführenden Entwicklungs­schritt zu meistern.
=== ''Inneren Auftrag erfüllen helfen'' ===
Außerdem müssen wir bedenken, dass jede Generation von Kindern aus dem früheren Erdenleben, aus dem Vorgeburtlichen, ganz bestimmte Impulse mitbringt in Bezug auf das, was sie hier auf der Erde tun wollen. Sie kommen mit einem Vorhaben, einem inneren Auftrag, den sie sich selbst gegeben haben. Sie wünsche sich, dass dieser Auftrag ernstgenommen wird. Deswegen gibt es ja auch nichts Schlimmeres für Jugendliche, als zu erfahren, dass sie keine Arbeitsstellen finden, weil sie dadurch erleben, dass sie gar nicht gebraucht werden.
Oft reagieren sie mit einer mehr oder weniger bewussten Stimmung von Verzweiflung, Sinnlosigkeit oder auch Wut gegenüber diesen Verhältnissen. Das äußert sich als Lustlosigkeit, Depression, Angst, zeigt sich aber auch in aggressiven, provokativen oder kriminellen Verhaltensweisen.
In vielen Publikationen werden Kinder von heute als hochbegabt, spirituell begabt, als „Indigo“- oder „Sternen“-Kinder, bezeichnet.[4] Was bei der Lektüre dankbar stimmt, ist die Tatsache, dass die Bücher eine Signalwirkung haben: Schaut euch die neue Generation an, nehmt wahr, was sie mitbringt, nehmt sie ernst! Problematisch sind solche Bücher, wenn sie zu neuen Klassifizierungen führen und damit wieder nicht erreicht wird, was Steiner schon 1919 forderte, nämlich dass man dem Verhalten jedes Kindes individuell ablesen sollte, wie man mit ihm umzugehen hat. Das gelingt nur, wenn wir Kindern mit einer inneren Fragehaltung begegnen:
''Was bringst du mit als Botschaft aus der geistigen Welt?''
''Was hast du vor?''
''Welche Temperamentsmischung kennzeichnet dich?''
''Sind deine Hände, dein Kopf so geformt, dass du ihre Funktionen gut aufeinander abstimmen kannst, oder weiß der Kopf nicht, was die Hände tun und umgekehrt?''
Jedes Kind hat eigene Impulse mitgebracht und sucht nach Möglichkeiten, sich darüber klarzuwerden, wofür es angetreten ist. Keines will typisiert, rubriziert und diagnostiziert werden.
=== ''Wunderkinder bei Goethe und Schiller'' ===
Kinder mit besonderen Schwierigkeiten und erstaunlichen Fähigkeiten gibt es nicht erst heute. Auch spirituelle Begabungen waren schon in jeder Generation des 20. Jahrhunderts zu finden.[5] Schon ''Goethe'' und ''Schiller'' bewegten solche Gedanken.
==== - Goethes Blick auf Kinder ====
Goethe schreibt in ''„Dichtung und Wahrheit“:[6]''
''„Wir können die kleinen Geschöpfe, die vor uns herumwandeln, nicht anders als mit Vergnügen, ja mit Bewunderung ansehen: denn meist versprechen sie mehr, als sie halten, und es scheint, als wenn die Natur unter anderen schelmischen Streichen, die sie uns spielt, auch hier sich ganz besonders vorgesetzt, uns zum Besten zu haben. Die ersten Organe, die sie Kindern mit auf die Welt gibt, sind dem nächsten unmittelbaren Zustand des Geschöpfes gemäß; es bedient sich derselben Kunst auf die geschickteste Weise zu den nächsten Zwecken. Das Kind an und für sich betrachtet mit seinesgleichen und in Beziehungen, die seinen Kräften angemessen sind, scheint so verständig, so vernünftig, dass nichts drübergeht, und zugleich so bequem, so heiter und gewandt, dass man keine weitere Bildung für dasselbe wünschen möchte.''
''Wüchsen die Kinder fort, wie sie sich andeuten, wir hätten lauter Genies.''
''Aber Wachstum ist nicht bloß Entwicklung; die verschiedenen organischen Systeme, die einen Menschen ausmachen, entspringen auseinander, folgen einander, verdrängen einander, ja zehren einander auf, so dass von manchen Fähigkeiten, von manchen Kraftäußerungen nach einer gewissen Zeit kaum eine Spur mehr zu finden ist. Wenn auch die menschlichen Anlagen im Ganzen eine entschiedene Richtung haben, so wird es doch dem größten und erfahrensten Kenner schwer sein, sie mit Zuverlässigkeit voraus zu verkünden; doch kann man hintendrein wohl bemerken, was auf ein Künftiges hingedeutet hat.“''
Dass Kinder dem Himmelreich nahestehen, war ein Topos durch die Jahrhunderte.
==== ''-'' Schillers Blick auf Kinder ====
Schiller sieht nicht erfüllte, aufgegebene Ideale auf rührende Weise in Kindern verkörpert:[7]
''„Nicht weil wir von der Höhe unserer Kraft und Vollkommenheit auf das Kind herabsehen, sondern weil wir aus der Beschränktheit unseres Zustands, welche von der Bestimmung, die wir einmal erlangt haben, unzertrennlich ist, zu der grenzenlosen Bestimmbarkeit in dem Kinde und zu seiner Unschuld hinaufsehen, geraten wir in Rührung. In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns ist die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegenteil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft, seiner Integrität, was uns rührt. Dem Menschen von Verstand wird ein Kind ein heiliger Gegenstand sein.“''
Aufgrund der Resilienzforschung wissen wir heute, in welch hohem Maß die Auffassung Goethes zutrifft. Begegnen wir Kindern mit der heiligen Freude an ihrem So-Sein, mit dem Willen, ihnen bei ihrer Entwicklung und Selbstfindung beizustehen, so lernen sie, von ihren Begabungen den besten Gebrauch zu machen. Gelingt das nicht, verkümmern oder verkehren sich ihre Anlagen und ursprünglich gute Kräfte, wie Intelligenz, Sensibilität, Impulsivität und Willensstärke, und treten einseitig, egozentrisch verzerrt oder destruktiv auf.
=== ''Die Haltung entscheidet'' ===
Kinder zu begleiten heißt heute, wirklich zu schauen, was jemand aus seiner Vergangenheit ganz individuell in dieses Heute hereinbringt.
''Was können wir tun, damit aus diesem Heute ein befriedigendes Morgen wird?''
Ob wir nun von „Humanistischer oder Positiver Psychologie“[8] oder von „Waldorfpädagogik“[9] und „Wesensgliederdiagnostik“ sprechen, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist die innere Haltung, die hinter den jeweiligen Begriffen und Konzepten steht und die unser Handeln prägt:
* ob man das Kind wirklich ernst nimmt in allem, was es ausmacht;
* ob man ihm tatsächlich in seiner Entwicklung helfen will;
* ob man bei allem seine Zukunft im Bewusstsein hat.
''Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003''
----[1] Roswitha v. dem Borne, ''Einfach fallen lassen. Der Rausch nach Grenzerfahrungen'', Stuttgart 2001.
[2] Roswitha v. dem Borne, a.a.O.
[3] Peter Handke, ''Kindergeschichte'', Frankfurt/M. 1971.
[4] Lee Caroll & Jan Tober'', Die Indigo-Kinder. Eltern aufgepasst... Die Kinder von morgen sind da!,'' Burgrain 2000;
Georg Kühlewind, ''Sternkinder. Kinder, die uns besondere Aufgaben stellen'', 2. Aufl. Stuttgart 2001.
[5] Siehe hierzu Dietrich Bauer, Max Hoffmeister, Hartmut Görg, ''Gespräche mit Ungeborenen. Kinder kündigen sich an'', 4. Aufl. Stuttgart 1994, und ''Wunderkinder. Schicksal und Chancen Hochbegabter'', Frankfurt 1991. In letzterem sind Beispiele bis ins 17., 18. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Nicht nur Mozart, auch Haydn, Schubert, Schumann waren Wunderkinder. Weiterhin wird von hochbegabten Mathematiker-Kindern berichtet, von anderen, die mit wenigen Monaten sprachen und vieles mehr. Manche sind früh gestorben, aus anderen sind große Meister geworden, bei anderen wiederum ist die Genialität der Kinderzeit versiegt.
[6] ''Goethes Werke'', Bd. VIII, Stuttgart 1962.
[7] Friedrich Schiller, ''Über naive und sentimentalische Dichtung, Prosaschriften'', Stuttgart 1956.
[8] Bei der Humanistischen Psychologie handelt es sich um eine psychologische Schule. Ihrem Anspruch nach trägt sie mit dazu bei, dass sich gesunde, sich selbst verwirklichende und schöpferische Persönlichkeiten entfalten können.<nowiki><br></nowiki>
Positive Psychologie ist die Selbstbezeichnung eines vom US-amerikanischen Psychologen Martin Seligman begründeten Forschungsprogramms. Dabei werden normativ positive Gegenstände der Psychologie wie Glück, Optimismus, Geborgenheit, Vertrauen, Verzeihen und Solidarität behandelt, welche laut Seligman in der anfänglich konflikt- und störungsorientierten Psychologie wenig beachtet wurden. Inzwischen benennt der Begriff eine Strömung (möglicherweise eine Schule) innerhalb der Psychologie; sie wird auch als „neues Paradigma“ bezeichnet. (Wikipedia).
[9] Die Waldorfpädagogik ist eine von Rudolf Steiner (1861–1925) begründete Pädagogik auf der Grundlage der ebenfalls von ihm entwickelten Menschenkunde Anthroposophie. Sie wird der Reformpädagogik zugerechnet. (wikipedia).
== MENSCHHEITSGESCHICHTE UND KINDSEIN ==
''Was bedeutet Kindsein im Rahmen der Stammesgeschichte?''
''Wie greifen die Entwicklungen von Allgemein-Menschlichem und Individuellem ineinander?''
''Wie kann der Erwachsene die Entwicklung des Kindes fördern?''
=== ''Primäre Entwicklung von Allgemein-Menschlichem'' ===
Menschen haben nicht nur ihre persönliche Biographie, sie prägen mit ihrem So-Sein, ihren Anlagen und Möglichkeiten auch die zukünftige Menschheitsentwicklung. In den ersten drei Jahren der Entwicklung des Kindes steht das Allgemein-Menschliche sogar im Vordergrund:
* Im ersten Jahr wird der '''aufrechte Gang''' erworben,
* im zweiten die '''Muttersprache erlernt'''
* und im dritten Jahr tritt mit dem '''Ich-Sagen''' das eigenständige Denken erstmals auf.
Diese Entwicklung vollzieht sich bei allen Völkern und in allen Kulturen auf ähnliche Weise. Erst ab dem 3. Lebensjahr gewinnt die Anpassung an die jeweiligen lokalen und nationalen Gegebenheiten an Bedeutung.
=== ''Kindheit als Wiederholung der Stammesgeschichte'' ===
Kindsein bedeutet in gewisser Weise auch, die Stammesgeschichte zu wiederholen, die von den Stufen eines magischen, mythologisch-bildhaften Bewusstseins und archaischen Gedächtnisformen bis hin zum Gegenstandsbewusstsein und dem abstrakten Gedächtnis der Gegenwartsmenschen reicht. Wer Kinder beobachtet, sieht, dass sie diese Entwicklungsstufen durchlaufen.
Man denke z.B. an das Bewusstsein der Indianer, die den „Großen Geist“ in der Natur und in ihren magischen Handlungen erlebten.
Kleine Kinder erleben noch das elementar Spirituelle in Bach, Fels, Baum und Stein. Deshalb haben sie auch Angst, über eine dunkle, dämmrige Wiese zu gehen – einfach, weil sie noch viel mehr als die meisten Erwachsenen sehen, z.B. auch Elementarwesen.
Sie befinden sich in einem anderen Bewusstseinszustand und denken noch nicht abstrakt, denn dazu ist das Gehirn noch nicht reif. Sie ''sehen'' ihre Gedanken noch wesenhaft, anstatt sie abstrakt zu reflektieren – auch wenn sie für diese Wahrnehmungen keine Worte haben, weil sie diese von den Erwachsenen, deren Bewusstsein meist auf das Gegenständliche reduziert ist, nicht lernen konnten. Eines Tages vergessen sie diese Wahrnehmungen – und dann ist der Zauber der Kindheit vorbei...
=== ''Eigenaktivität als optimale Rundum-Förderung'' ===
So durchlebt jedes Kind frühere, auch religiös-magische Entwicklungsstadien und kommt allmählich im Hier und Heute an – das eine Kind früher, ein anderes später. Gerade Kinder, die schnell ins Hier und Heute hereinstreben und eine Umwelt haben, die das fördert, brauchen eine Erziehung, die ihnen die Reifung ihrer Gesamtpersönlichkeit aus dem Gang der Menschheitsentwicklung heraus ermöglicht, indem sie z.B. Märchen und Singspiele, Rituale und sinnvolle Gewohnheiten erleben dürfen.
Betrachtet man die kindliche Entwicklung unter diesem Aspekt, leuchtet ein, dass insbesondere in den ersten neun Lebensjahren, in denen die Gehirnentwicklung – und damit die Ausreifung komplexer Strukturen – im Vordergrund steht, adäquate Anregungen nötig sind. Jede Form von Eigenaktivität – körperlich wie auch in der Phantasie – fördert diesen Reifungsprozess am intensivsten. Alles, was an Sprach-, Beziehungs- und Gefühlskultur gepflegt wird, entwickelt die sogenannte emotionale Intelligenz, ohne die sich auch die abstrakten Intelligenz- und Gedächtnisformen nicht voll entfalten können.
=== ''Aufrichtung in Denken und Haltung'' ===
Die so notwendige Eigenständigkeit im Denken und Beurteilen wird gefördert, indem man Kindern nicht nur Informationen gibt und quasi tolle Filme vor ihrem inneren Auge ablaufen lässt, sondern ihnen gute Fragen stellt, an denen sie selbst den Erkenntniserwerb üben können.
Um die Gehirnreifung und die Entwicklung im Allgemeinen voranzubringen, muss ein Kind alle seine Sinne schulen, bis es sich auch feinmotorisch betätigen kann und eine gute gesamtmotorische Koordination aufweist. Was man oft nicht bedenkt ist, dass Körperhaltung und Bewegungsspiel bzw. das Gangbild nicht nur von der körperlichen Übung, sondern insbesondere vom Denken abhängen: Ein aufrechter Gang ist oft einem klaren, beweglichen, gut strukturierten Denken geschuldet. Denn letztlich ist es das Denken selbst, das den Menschen aufrichtet und zu sich selber bringt. Ich persönlich habe lange gebraucht, bis ich diesen Zusammenhang bemerkt habe.
Physisch richtet sich der Mensch schon im ersten Lebensjahr auf. Wenn man jedoch keine gedankengetragene Aufrichtigkeit entwickelt und sich nicht eigenständig auf Wahrheitssuche begibt, wird man sich innerlich kaum aufrechten können – und dann verkümmert auch die Körperhaltung. Die Art, wie jemand geht, sich auf andere zu- und von ihnen wegbewegt, spiegelt seine Art zu denken wider.
=== ''Was Interesse vermag'' ===
Besonders eindrücklich konnte ich das erkennen, als ich im Rahmen meiner schulärztlichen Tätigkeit beobachtete, wie Jugendliche im 10. Schuljahr alle Viere von sich strecken, wenn sie sitzen, wie sie lustlos rumrutschen und den Lehrer gelangweilt anblinzeln, wenn sie der Stoff nicht interessiert.
Sobald sie aber etwas zu interessieren beginnt und sie anfangen, selbst zu denken, werden die Beine angezogen, der Oberkörper strafft sich, richtet sich auf, und der Blick wird frei und zielgerichtet bzw. – beim Denken selbst – wie nach innen gewandt. Mancher Schüler, dem im Unterricht „ein Licht aufgegangen“ war und der dadurch ein Erfolgserlebnis hatte, geht nachher ganz anders über den Schulhof: aufrecht, motiviert, gestrafft, mit starkem Rückgrat.
Selbst denken zu lernen, selbständig zu werden im Denken, ist demnach die wesentlichste Quelle geistiger, seelischer und körperlicher Gesundheit.
''Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003''
== KINDHEIT IN GEFAHR ==
''Welche Faktoren gefährden die Kindheit als solche?''
''Was macht die Kindheit zu solch einem bedeutsamen Entwicklungszeitraum?''
=== ''Kindheit als Möglichkeit, zu sich selbst zu finden'' ===
''Neil Postman'', der Autor von ''„Das Verschwinden der Kindheit“,'''[1]''''' zog Anfang der Achtziger Jahre eine Art Bilanz der Kultur Amerikas. Er stellte fest, dass es das Phänomen Kindheit erst seit dem 16. Jahrhundert gibt und zu seiner Zeit noch gar nicht global anerkannt wurde. Nur in Amerika und Europa begriff man Kindheit erstmals in der Geschichte als bedeutsame Phase der Individualisierung: Kindheit gibt den Kindern als Entwicklungsraum die Möglichkeit, ''sich selbst zu finden'' und zwingt sie nicht von vornherein,
* sich an die Gegebenheiten der Familie anzupassen,
* zu den Eltern „Sie“ zu sagen,
* Angst zu haben vor den Erwachsenen, den Eltern, dem Lehrer, dem Pfarrer,
* sich mehr oder weniger wie ein Hund abrichten zu lassen, stramm zu stehen
* und so mehr oder weniger ein Gruppen- und Obrigkeitsbewusstsein zu entwickeln.
Heutzutage gibt es zum Glück immer mehr Menschen, die sagen: ''„Wenn ich Kinder habe, will ich es anders machen! Ich möchte, dass sie sie selbst sein dürfen!“'' Dass das etwas wirklich Neues ist, das mit der Neuzeit zusammenhängt, darauf macht Neil Postman aufmerksam.
=== ''Neue gesellschaftliche Konditionierungen'' ===
Gleichzeitig ist Neil Postman aber sehr besorgt, dass die neuen Kulturgewohnheiten – vor allem die Sexualisierung der Gesellschaft über Werbung, Filme und eigenes Beispiel – sich derart auf die Kinder auswirken, dass sie wieder zu kleinen Erwachsenen gemacht und in ganz bestimmte Konditionierungen gezwungen werden. Er zieht am Ende seines Buches eine Art Bilanz, die ich zitieren möchte:
''„Dennoch, es gibt Eltern, die sich darauf eingelassen haben, dieser Entwicklung, den Anweisungen der heutigen Kultur zu trotzen. Diese Eltern verhelfen ihren Kindern nicht nur zu einer Kindheit. Sie schaffen zugleich auch eine Art von intellektueller Elite. Auf kurze Sicht nämlich werden Kinder, die in solchen Verhältnissen aufwachsen, größere Chancen im Geschäftsleben, in den freien Berufen, und sogar in den Medien haben. Und was lässt sich über die längerfristige Entwicklung sagen? Wohl nur dieses: Eltern, die sich dem Zeitgeist widersetzen, tragen zur Entstehung eines ‚Klostereffektes‘ bei, denn sie helfen mit, die Tradition der Humanität wachzuhalten. Es ist nicht vorstellbar, dass unsere Kultur vergisst, dass sie Kinder braucht. Aber, dass diese Kinder eine Kindheit brauchen, das hat unsere Kultur schon halbwegs vergessen. Jene, die sich weigern zu vergessen, leisten einen kostbaren Dienst.“''
Anstelle von Eltern kann man auch Erzieher und Erziehrinnen sagen. Es ist wunderbar, dass immer mehr Männer, nicht nur Frauen, sich entschließen, den Erzieherberuf zu ergreifen.
=== ''Daten aus der Forschung'' ===
''„Kinder heute sind aggressiv oder scheu, scheinen überfordert oder traurig, immer öfter stellen Ärzte psychische Auffälligkeiten fest, jeder 5. der jungen Patienten ist betroffen. Die meisten bleiben unbehandelt – doch Vorbeugung wäre möglich.“''
Die WHO hat 2015 Zahlen zur posttraumatischen Belastungsstörung veröffentlicht: Weltweit, in allen Kulturen, kommt es zu 10% an traumatischen Ereignissen. Auf die Gesamtbevölkerung umgelegt, handelt es sich dabei um:
* 22% Gewalt
* 17% Unfälle
* 16% Krieg
Was mich sehr gefreut hat – es gibt jetzt eine Präventionsprogramm zur Behandlung von Bindungsstörungen Namens SAFE (= '''s'''ichere '''A'''usbildung '''f'''ür '''E'''ltern). Im letzten Teil dieser Betrachtung wird uns die Frage beschäftigen, was sich an unseren Ausbildungen ändern bzw. intensivieren muss und wie wir Präventionsprogramme gerade auch für Eltern anbieten können.
Weitere Zahlen der WHO belegen: Eines von 5 weiblichen, eines von 13 männlichen Kindern hat sexuelle Gewalt erlitten. Das wird auch immer mehr zum Thema.
=== ''Pädagogen als nüchterne Vorbilder gefragt'' ===
In den USA wurde in einigen Bundesstaaten Marihuana legalisiert. Anlässlich meiner letzten Reise in den Staaten wurde ich daraufhin gefragt, ob es ginge, dass ein Lehrer Marihuana raucht. Ich konnte darauf nur antworten, dass das nicht ginge. Im Vertrag muss das als Grund für eine fristlose Kündigung gelten.
Als ich Mitte der Neunziger Jahre an der nordischen Kindergartentagung teilnahm, war es völlig normal, dass am bunten Abend Sekt getrunken wurde. Ich saß mit wenigen Leuten an dem Tisch, wo es Sprudel und Saft gab. Da sagte dann eine Kindergärtnerin zu mir: ''„Das ist bei uns im Norden so!“'' Worauf ich sagte: ''„O.k., aber gut ist das nicht!“'' Nicht alles, was üblich ist und für normal gehalten wird, ist gut. Warum? Die Tatsache, dass man als Pädagoge und Vorbild ständig freiwillig seine Leber schädigt, ist das eigentliche Problem, nicht der Alkohol selbst.
In der Medizin weiß man mittlerweile: Wenn Leitung oder Mitarbeiter einer Entzugsklinik selbst trinken – und sei es nur ihr Gläschen Wein –, ist die Rückfallquote signifikant höher als in Einrichtungen, wo die Angestellten ganz bewusst darauf verzichten. Durch solche Statistiken kommt ins Bild, dass unsere Handlungen eine Wirkung haben: Es ist nicht egal, was wir denken, fühlen und tun! Je kleiner Kinder sind, desto mehr bekommen sie alles mit, weil sie noch viel intuitiver mit uns verbunden sind.
''Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015''
----[1] Neil Postman, ''Das Verschwinden der Kindheit,'' Fischer Verlag.
== ANGRIFFE AUF DIE KINDHEIT AUF FÜNF EBENEN ==
''Auf welchen Ebenen ist die Kindheit in der Gegenwart gefährdet?''
''Wie äußern sich diese Gefährdungen?''
=== ''Fünf Gefährdungsebenen'' ===
Ich habe versucht, Kindheit unter dem Aspekt der Gefährdung seitens der heutigen Kultur anzuschauen und habe fünf gefährdende Aspekte gefunden.
==== 1. Physischer Aspekt – Schrott vom „Markt Kindheit“ ====
Kindheit ist zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren geworden. Alles, was über die Vermarktung an das Kind herankommt, geht über die Sinne und prägt sich dem physischen Leib ein. In der Computerbranche gibt es bereits Angebote ab dem 3. Lebensmonat. Ich las in den USA einen Artikel, in dem beschrieben wird, wie die Medienbranche erneut versucht, einen Vorstoß zu machen und Menschen vom Wert des PCs für die frühe Pädagogik zu überzeugen. Und das trotz aller gegenteiliger Forschungsergebnisse! Es handelt sich um einen richtigen Kampf.
Das Kind ist umgeben von „Schrott“, egal ob Spielzeug oder Gebrauchsartikel: Heute im Flugzeug sah ich ein Baby ohne Mützchen, aber mit einem hässlichen Maskottchen – das sich als Täschchen für den Schnuller entpuppte. Dieses goldige Kind musste ständig dieses Fratzending sehen… hatte es immer bei sich. Das Schlimmste war aber, dass der Kleine in dem kalten Zugwind des Flugzeugs schrie: warum? Weil der Kopf kalt war und niemand es bemerkte. Die Unwissenheit vieler Eltern in Bezug auf die prägende Wirkung des Physischen für ihr Kind ist erschütternd.
==== 2. Ätherischer Aspekt – verplante Kindheit ====
Das gilt auch für das Ätherische. Alles, was über die Strukturierung der Zeit an das Kind herankommt, prägt sich dem Ätherleib und der Gewohnheitsbildung ein. Auf einer Fahrt von Basel nach Paris bin ich kürzlich diesem zweiten Aspekt begegnet: Die Mutter hatte eine Mappe voller kleiner Bilder dabei. Sie war offensichtlich bemüht, keine Stunde für die Intelligenzentwicklung ungenützt zu lassen, weil sie wohl wusste, dass in den ersten drei Jahren eine ganz Flut an Verknüpfungen von Nervenendigungen stattfindet. Der Vater saß unbeteiligt mit seinem Bier und der Zeitung am Fenster und die Mutter zeigte auf einzelne Bildchen und benannte sie – das Kind sollte die Begriffe nachsprechen und tat es auch. Das ging solange, bis der Kleine, der etwa 2 Jahre alt war, erschöpft über dem Buch einschlief. Dann hat sie ihn hingelegt – und sobald er wieder aufwachte, ging es genauso weiter. Das war Wesen und Inhalt der Mutter-Kind-Beziehung: Intelligenzförderung.
Ganz anders die seltenen Zugfahrten mit unserem Vater – am Fenster zu sitzen und rauszuschauen und Sachen zu entdecken! Wir durften auch den Zug erforschen, loslaufen und andere Leute anschauen, wobei uns vorher eingeschärft wurde, wie wir uns zu benehmen hätten – das war spannend! Oder wir saßen im Abteil und sangen und dann gab es etwas zu essen. Das waren richtige Ereignisse, das war gelebte Kindheit. Heute überwiegt das Phänomen der verplanten Kindheit. Die Eltern meinen es gut, sie tun das Beste für ihr Kind und wissen nicht, was sie tun! Denn in den Elternausbildungen wird nicht gelehrt, was das Kind wirklich braucht. Rudolf Steiner wollte, dass kein Waldorfschüler die Schule verlässt, ohne über die ersten drei Jahre und die wichtigsten Erziehungsprinzipien Bescheid zu wissen – das verstehe ich immer besser. Das ist Aufklärungsunterricht!
==== 3. Seelischer Aspekt – mangelnde Beziehungsqualität ====
In Bezug auf diesen Aspekt müssen wir wissen: Wie wir uns den Kindern gegenüber benehmen, prägt sich dem Astralleib ein. Deswegen ist es so wichtig, die Ergebnisse der Bindungsforschung aus den letzten 40 Jahren dankbar entgegenzunehmen. Es ist wunderbar, was man heute alles weiß! Aber in der Alltagswirklichkeit geschieht das Gegenteil von Bindungsaufbau und Beziehungspflege: Menschen finden immer weniger Zeit für ihre Beziehungen. Kinder erleben sehr selten das Vorbild guter, gesundheitsfördernder menschlicher Beziehungen.
===== ''Merkmale gesunder Beziehungen'' =====
Salutogenetisch wertvolle menschliche Beziehungen sind beseelt von drei Qualitäten:
====== '''·''' Interesse füreinander – Verstehbarkeit ======
Man will den anderen verstehen. Eine Beziehung, in der die Partner sich gegenseitig verstehen wollen, ist meist eine gute Beziehung. Das zeigt sich daran, dass beide immer Fragen an den anderen haben. Und je sicherer man sich fühlt, umso mehr zeigt man dem anderen, wie man wirklich ist. Dann stellt sich heraus, dass man anders ist als der andere…
Eine Frau erzählte mir, sie hätte ihren Ehemann am Abend vor der Hochzeit total schockiert, weil sie sagte: ''„Ich möchte, dass Du eines weißt: Ich heirate Dich nicht, um Dir zu gefallen und Dich glücklich zu machen! Überlege Dir das gut!“'' Und dann verbrachten sie die Nacht vor der Hochzeit jeder bei sich zuhause in getrennten Betten. Am Hochzeitstag wäre er auf sie zugekommen und hätte ihr die Hand gegeben und sagte: ''„Ich habe es begriffen!“.''
Was ist daran so wichtig? Man macht sich dadurch gegenseitig glücklich, dass man dem anderen erlaubt so zu sein, wie er ist. Dass man Freude daran hat zu entdecken, mit wem man eigentlich verheiratet ist. Das Gegenteil geschieht, wenn man von der Erwartung ausgeht, der andere müsste so sein, wie man selbst. Frauen meinen ja sogar, sie könnten ihre Männer erziehen! Solange man sich noch verstehen will, findet Austausch statt, ist die Beziehung – zumindest mental – intakt.
====== '''·''' Gemeinsames Anliegen – Sinnhaftigkeit ======
Das Zusammenleben muss Sinn machen. Wodurch wird das Ganze sinnhaft? Nicht dadurch, dass man sich gegenseitig glücklich macht, sondern indem man sich gemeinsam auf eine sinnvolle Aufgabenstellung hin orientiert, dass man etwas Drittes, ein gemeinsames Anliegen, hat, das einen verbindet. Man macht damit die Umwelt glücklich und hat selbst auch etwas davon. Wenn eine Beziehung ihren Sinn verloren hat, sollte man sie besser beenden. Oder schauen, wie man damit umgehen kann, dass sie wieder Sinn macht. Dieses Ringen zu spüren, ist für Kinder unendlich wertvoll, hilfreich und wichtig als Orientierung.
====== '''·''' Respekt vor der Freiheit des anderen – Handhabbarkeit ======
Hier geht es um den Respekt im Umgang miteinander, dass der andere sich frei fühlt, sich entfalten kann. In Bezug auf Kinder geht es darum, dass man ihnen den Raum so absteckt, dass sie sich darin ganz frei betätigen können.
Diese Art von Beziehungskultur – ich möchte sogar das Wort „Willkommenskultur“ verwenden – heißt das Kind willkommen und signalisiert ihm: Ich möchte Dich verstehen!
==== 4. Ich-Aspekt – Orientierungslosigkeit ====
Nun zu dem gefährdeten Ich-Aspekt. Unsere Identität, die wir unserer Ich-Organisation verdanken, ist heute ebenfalls gefährdet: Viele Erwachsene stehen orientierungslos vor ihren Kindern, weil sie selber nicht wissen, wer sie sind und was das Ganze soll. Diese Orientierungslosigkeit ist erschreckend und trägt zum Anwachsen einer Kultur der Abhängigkeit bei. Denn wenn man nicht gelernt hat, Selbstständigkeit zu entwickeln, von sich selbst abzuhängen, hält man das Leben gar nicht aus, ohne von etwas anderem abhängig zu sein. Der Mensch ist auf Identifikation mit etwas hin veranlagt. Und er entwickelt nur dann ein gesundes Verhältnis zur Welt, wenn er sich mit sich selbst so identifizieren kann, dass er nicht von der Mitwelt abhängig ist, dass er sich auch nicht von ihr isoliert, sondern in einem atmenden, Bewusstsein stiftendes Verhältnis zu ihr pflegt. Das Thema Identität ist heute absolut vorrangig: Wie lebt man als Erwachsener eine gesunde Identitätssuche und -bildung vor?
==== 5. Aspekt des leibfreien Denkens-Fühlens-Wollens – materialistische Ausrichtung ====
Wir denken ja mit unseren sich vom Leib emanzipierenden ätherischen Kräften, wir fühlen mit den sich wieder aus dem Leib emanzipierenden astralischen Kräften, und wir wollen (handeln) mit den aus den sich im Laufe der Entwicklung emanzipierenden Ich-Kräften. Wie wir mit dem geistig-seelischen Potential des Denkens, Fühlens und Wollens umgehen, ist eine Frage der Kultur: ob sie materialistisch, rational, von der Ökonomie oder Machtinstinkten bestimmt ist, ob sie Abhängigkeit fördert oder ob sie spirituell in den verschiedensten Nuancen ist. Das sind große Fragen, auch im Hinblick auf die heutigen Ausbildungen.
Die Kindheit ist am stärksten gefährdet durch eine materialistische Gesinnung, durch Orientierungs­losig­keit, durch fehlende Beziehungsqualität, durch „Verplantheit“ und Vermarktung.
''Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015''
== WOVOR UND WIE MAN KINDER SCHÜTZEN KANN ==
''Woher kommen die Wachstums- bzw. die Lebenskräfte des Kindes?''
''Wie hängen Mutter und Kind kräftemäßig zusammen?''
''Wovor müssen wir unsere Kinder schützen und inwiefern sind sie geschützt?''
=== ''Geistige Quelle der Lebenskräfte'' ===
So unterschiedlich die Erlebnis­se von Müttern in der Schwangerschaft auch sein mögen, eines haben sie gemeinsam: Sie nehmen ihr Kind sehr früh als autonomes Wesen wahr, das von sich aus wächst und sich entwickelt.
Woher die Wachstumskräfte des Kindes stammen, beschreibt Rudolf Steiner aufgrund seiner geistigen Forschung folgendermaßen: Jeder Mensch erarbeitet im Nachtodlichen unter göttli­cher Führung in Verbindung mit den hierarchischen geistigen We­sen die geistige Konzeption des Körpers für sein nächstes Erdenleben. Dazu gehören auch die Wachstumskräfte. Diese geistige Konzeption ist ein weis­heitsvoller Kosmos aus Gesetzmäßigkeiten, die bei der Be­fruchtung mit der Substantialität der Erde in Berührung kommen. Die Mutter stellt dem Geistkeim des Kindes Substanz zur Verfügung, aus der heraus es im Zuge der Schwangerschaft seinen Leib entwickelt. Sie dient gleich­sam als großzügiger Stofflieferant, der alles herbeischafft, was das Kind für seine Entwicklung braucht.
Die Mutter-Kind-Beziehung ist sehr intimer Art und stellt eine besondere Form des Gebens und Nehmens dar. Vor allem die Gedanken- und Wachstumskräfte stehen in einer sehr individuellen gegenseitigen Wechselwir­kung. So ist es verständlich, dass Mütter sich bisweilen geschwächt fühlen und ein andermal einen Kräftezuwachs erleben.
=== ''Schutz durch Bindung an die Eltern'' ===
Im Zusammenleben mit anderen Menschen stärken und schwächen wir uns ständig gegenseitig, ob wir dies merken oder nicht. Das ist bei Geschwistern nicht anders. Man muss nur darauf sehen, dass bestimmte Grenzen gewahrt werden. Kleine Kinder haben einen erstaunlichen Schutz und hören bei­spielsweise bestimmte Dinge gar nicht, die sie nicht verstehen. Es ist außerdem interessant zu beobachten, dass das, was ältere Geschwister oder andere Menschen zu den kleineren Kindern sagen, längst nicht so tief geht und so wirksam ist, wie das, was die Eltern sagen. Daher brauchen wir auch keine so große Angst zu haben, dass sie von schlechten Einflüssen anderer Kinder besonders tiefgehend geschädigt wür­den. Denn dasjenige, was zu Hause gilt, entscheidet letztlich dar­über, woran sich das Kind orientiert. Die anderen Einflüsse bleiben dem gegenüber mehr an der Oberfläche.
Kinder ahmen die Menschen am intensivsten nach, die sie am meisten lieben, und das sind in der Regel die Eltern und nach ihnen auch die Geschwister. Das ist gleichsam eine Art körperlicher Idealismus – das heißt, Hingabe an das Vor­bild, dem man nachstreben möchte.
Wenn hingegen ein anderer Mensch von den Kindern etwas fordert, so kann man manchmal von ihnen hören: ''„Du bist hier nicht der Bestimmer!“.'' Oder: ''„Du bist nicht meine Mutter, du hast mir nichts zu sagen!“''. Kinder haben eben ein gutes Unterscheidungsvermögen, von wem sie etwas an­nehmen wollen und von wem nicht. Das setzt sich weitgehend durch, und darauf sollte man vertrauen und nicht in übertriebener Weise versu­chen, seine Kinder vor allen möglichen Einflüssen seitens anderer Kinder und Erwachsener zu schützen.
=== ''Nötiger Schutz vor Medien'' ===
Allerdings sollte streng darauf gesehen werden, dass alles, womit die Kinder zu Hause umgehen, ihrer altersentsprechenden Ent­wicklung Rechnung trägt. Das gilt insbesondere für Spielsa­chen, zu denen heute auch Medien gehören. Und hier gilt auch für die älteren Geschwister, dass sie bei­spielsweise mit technischen Spielsachen, die sich für die jungen Ge­schwister nicht eignen, nur spielen sollten, wenn die Kleinen nicht zugegen sind. Denn wenn man Kinder an technische Apparaturen heranlässt, sind sie davon fasziniert, aber schlicht überfordert, wie zum Beispiel von Fernsehen und Handy. Davor können sich Kinder nicht schützen.
Eventuell ist es dann auch sinnvoll, solche Spiele und Tätigkeiten bei Klassenkameraden zu machen, die keine kleineren Geschwister haben, und nicht zu Hause. Vieles lässt sich über individuelle Einzellösungen auf verschiedenste Weise so regeln, dass alle zufrieden sind.
''Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart''
== MEDIENMÜNDIGKEIT UND TECHNIK ==
''Wie wirkt sich die Entwicklung von Technik auf die Entwicklung des Menschen aus?''
''Was zeichnet einen pädagogisch sinnvollen Umgang mit Technik aus?''
''Wann ist ein Kind medienmündig?''
=== ''Schrittweise Technisierung'' ===
Technik und die Multimedia-Kultur prägen zunehmend das Leben der Erwachsenen und damit auch der Kinder. Das hat tiefgreifende Folgen, die sich in der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten 200 Jahre spiegeln. Ein entwicklungsfreundlicher Umgang mit dieser elektronischen Welt hat zur Bedingung, dass die Folgen der Technisierung für die Entwicklung des Menschen in ihrer Tragweite erkannt werden.
==== 1. Maschinelle Produktion ====
Beginnend mit der industriellen Revolution in England in der Mitte des 18. Jahrhunderts kam die Umstellung von der Handarbeit auf die maschinelle Produktion in großem Stil. Grundlage hierfür war die Entwicklung der Dampfmaschine, gefolgt von Generationen von Verbrennungsmotoren.
==== 2. Großtechnische Nutzung der Elektrizität ====
Die Elektrifizierung des Lebens bewirkte enorme gesellschaftliche Umwälzungen. Es ist kaum vorstellbar, in welch kurzem Zeitraum sich die Nutzung der Elektrizität global ausbreitete und Neuerungen ermöglichte wie:
* die Elektrifizierung der Haushalte
* kleinere und handlichere Maschinen
* eine Fülle an neuen Messinstrumenten.
* ''Heinrich Goebel'' erfand 1854 die Glühbirne, ''Thomas Edison'' weiter optimierte sie 1879 und machte sie dadurch wirtschaftlich erfolgreich.
* In denselben Zeitraum fällt die Erfindung des Kinematografen (Filmaufnahmeapparat) sowie des Kohlekörnermikrofons.
==== 3. Entwicklung von Informationstechnologie ====
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte dann die dritte große technische Revolution ein. Maschinen wurden entwickelt, die Intelligenzarbeit übernehmen können: die Informations- und Computersysteme.
==== 4. Umfassende Digitalisierung ====
Aktuell ist die zunehmende Digitalisierung des gesamten Lebens in ihren Auswirkungen zu beobachten.
=== ''Tiefgreifende Folgen für die Menschheit'' ===
Diese technischen Entwicklungen haben den „menschlichen Willen“ und seine Arbeitskraft auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene nicht nur entlastet, sondern machten ihn schrittweise überflüssig – was dazu führte, dass durch diese dreifache technische Revolution große Schübe von Massenarbeitslosigkeit mit sich gebracht hatte.
Damit einher gingen und gehen neben der Verarmung geradezu epidemische Erscheinungen von Sinnlosigkeitserleben, Resignation und Depression. Millionen von Menschen erleben sich nicht mehr als sinnvoll tätig in das gesellschaftliche Leben integriert.
Problematisch im Zusammenhang mit der technischen Entwicklung ist die fehlende Sinnbestimmung des eigenen Wollens, und das Überflüssig-werden vieler eigener Fähigkeiten. Denn Arbeit bedeutet immer auch Entwicklung von Fähigkeiten und ein damit verbundenes Sinnerlebnis. Es lähmt das schöpferische Vermögen, wenn man von den Maschinen alles und von sich selbst nicht viel zu erwarten hat. Auch erzieht es zu Anspruchshaltung und Undankbarkeit, wenn man selbst keinen Maßstab gewonnen hat für dasjenige, was einem durch die maschinellen Leistungen an eigener Arbeit erspart wird.
=== ''Goldene Regel für den Umgang mit Technik'' ===
Daraus ergibt sich für den Umgang mit Technik in der Erziehung eine goldene Regel'':''
''Erst so weit wie möglich die Arbeit selber machen und erleben, bevor sie an die'' ''Maschine abgegeben wird''.
So wie auch im Laufe der Geschichte die Übernahme menschlicher Arbeit durch Maschinen erst sukzessive erfolgt ist, so ist es auch für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen notwendig, dass sie die verschiedenen Bereiche menschlicher Arbeit und Befähigung selbst kennen und entwickeln lernen, ehe sie sich diese durch die entsprechenden Maschinen abnehmen lassen. So ist es wichtig, Kindern vorzuleben, dass es nicht selbstverständlich ist, dass jederzeit warmes Wasser aus der Leitung kommt und Licht sowie Energie in beliebiger Menge per Knopfdruck verfügbar sind.
In der Schule sollte der Taschenrechner bzw. Rechencomputer erst dann eingeführt werden, wenn die Fähigkeiten im Bereich der Grundrechenarten und insbesondere des Kopfrechnens bis zu einem gewissen Grad entwickelt sind. Der Computer sollte nicht benützt werden und zum ständigen Begleiter der Schüler geworden sein, bevor sie die Arbeiten kennen und schätzen gelernt hat, die er übernimmt, und bevor sie wissen, wie er überhaupt funktioniert.
=== ''Natur und Kunst als Ausgleich'' ===
Wie gut für ein Kind, wenn es Urlaubserfahrungen auf einem abgelegenen Bauernhof machen darf: beim Camping bzw. Urlaub in zivilisationsferner Umgebung, wo die Wäsche noch von Hand gewaschen werden muss, Wasser über dem Feuer oder mit Hilfe eines Gaskochers erwärmt wird, so dass man den Segen technischer Errungenschaften wirklich schätzen lernt.
Es ist sehr hilfreich, wenn Kinder singen, malen, gestalten, tanzen und Theater spielen lernen, bevor sie durch die Welt der Bilder, Farben und Töne infolge der optischen und akustischen Medien mit Eindrücken überschüttet werden und das eigene schöpferische Vermögen lahm gelegt zu werden droht.
Mit Energie und Technik muss so umgegangen werden, dass die Kinder lernen können, dass die Ressourcen nicht unbegrenzt sind und der Einsatz technischer Möglichkeiten nur da geschehen sollte, wo er tatsächlich gebraucht wird und sinnvoll ist.
=== ''Natur und Mensch nicht mit Maschinen verwechseln'' ===
Darüber hinaus ist es wichtig, dass Natur, Mensch und das soziale Umfeld nicht mit Maschinen verwechselt werden: Zur Technik gehören Perfektion und Optimierung. Defekte werden repariert, unbrauchbar gewordene oder alte Modelle verschrottet. Wird das so an der Technik geschulte Verhalten auf Mensch und Natur übertragen, treten Probleme auf.
Diese werden noch dadurch verschärft, dass Kinder und Erwachsene sich im Umgang mit „ihrem Computer“ oder „ihrem Handy“ über viele Stunden des Tages sehr persönlich beschäftigen. Was Menschen in der Begegnung miteinander oft vermissen – volle Aufmerksamkeit, Interesse für die Reaktionen, Fragen, Nöte und Sorgen des anderen –, wird mit einer bestürzenden Selbstverständlichkeit Computern entgegengebracht. Je mehr seelischer Umgang dieser Art mit den Maschinen gepflegt wird, die so reagieren, wie man es erwartet, oder die, nachdem man einige Korrekturen vorgenommen hat, den Erwartungen entsprechen, desto stärker wird dadurch ein Verhalten eingeübt, welches anderen Menschen gegenüber und insbesondere der Natur gegenüber versagt.
Denn Mensch und Natur reagieren nicht im vorgelegten Schema, sondern aus ihren eigenen Lebens- und Entwicklungsbedingungen heraus. Das seelisch so enge Zusammenleben mit den Möglichkeiten der Technik fördert unbewusst ein distanziertes Verhalten zur Umwelt, so dass es nicht verwunderlich ist, wenn es im Umgang mit anderen Menschen und auf der so genannten Beziehungsebene immer weniger „klappt“ bzw. „funktioniert“.
Menschliches Zusammenleben erfordert die Fähigkeit, auch Fehler und Fehlverhalten anzunehmen, selbst wenn diese nicht „rasch behebbar“ sind, sondern man mit ihnen erst einmal leben lernen muss. Offen zu sein für Lernprozesse, für Neues, Unerwartetes – das ist es, worauf es ankommt.
''Vgl. Kapitel „Kind und Technik“, aus der „Kindersprechstunde“, M. Glöckler und W. Göbel, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2005''
== VON DER GLOBALEN MISSION DER KINDERKRIPPE ==
''Was kann man als die Mission von Krippen sehen?''
=== ''Vielfalt kultureller Bedingungen'' ===
Kinder werden weltweit in eine Vielfalt kultureller Bedingungen hineingeboren: Die mitteleuropäische Situation ist ja eine völlig andere als die in Südamerika oder in den östlichen Ländern. Die Traditionen und die Geschichte eines Landes, bewirken, dass die Beziehung der Eltern zum Kind, aber auch die Stellung des Kindes innerhalb der Familie, eine jeweils andere ist. Es kommt nun darauf an, dass wir für das Empfangen und Pflegen kleiner Kinder gemeinsam einen internationalen Weg zu finden versuchen. Denn Säuglinge sind internationale Wesen, sie sind noch ganz offen für kulturelle und gesellschaftliche Prägungen.
Wenn man ein Baby aus Japan hierherholt, wird es in Kürze schwyzerdütsch sprechen und sich ganz an die hiesigen Verhältnisse anpassen. Und wenn man umgekehrt einen kleinen Schweizer aus dem Emmental nach Tokio bringt, wird er japanisch sprechen. Das ist gar nicht anders möglich. Die heutigen Hirnforscher sagen, das Gehirn des Säuglings wäre plastisch und prägbar. Das trifft aber auf den ganzen Leib des Säuglings bzw. Kleinkindes zu. Eine menschheitlich-kulturelle Veränderung, die Entwicklung von mehr Menschlichkeit, können wir nur erreichen, indem wir uns international solidarisie­ren und darauf hinwirken, dass von Japan bis in die USA die Kinder dieselben Chancen für eine Entwicklung zur Freiheit und Selbstbestimmung bekommen.
=== ''Was Kinderkrippen für Chancen bieten'' ===
Kinderkrippen bieten hier eine einmalige Chance – ich sage das ganz bewusst – denn die Eltern bringen ihre Kinder dort aus freiem Willen hin, entlassen sie sozusagen aus der engen Kultur- und Familienbindung hinein in einen Freiraum der Erziehung. So können wir von der Basis her an der Veränderung der Menschheit mitwirken.
Jeder von uns hat seine eigenen Sorgen: fehlendes Geld, schlechte Bezahlung, nicht ausreichende Räum­lichkeiten, schwierige, frustrierte Eltern, Kollegen, die krank sind oder mit denen man nicht gut zusammenarbeiten kann. Vielleicht können wir über diese regionalen Probleme hinausschauen und uns fragen, wie wir selbst anfangen können, ein globales Netzwerk einer wirklich internationalen Erziehung zur Menschlichkeit aufzubauen. Je schneller wir uns im Dienste der Kinder verbrüdern, desto besser ist es für unsere Kinder. Vor Gott und vor dem kleinen Kind mit seiner unendlichen Entwicklungsbereitschaft und Entwicklungsfreude sind wir alle gleich. Wir Erwachsenen, die wir in Bezug auf Entwicklung oft schon ein wenig resigniert haben, können von den Kindern diesbezüglich sehr viel lernen. In einem Klima, in dem kindliche Entwicklungsfreude leben kann, werden uns die besten Einfälle kommen.
''Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 1. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft''
== INKARNATIONSIMPULSE VON KINDERN ERKENNEN ==
''Wie lassen sich die unterschiedlichen Impulse beschreiben, aus denen heraus der Mensch sich inkarniert?''
''Welches Grundthema liegt den jeweiligen Inkarnationsimpulsen zugrunde?   ''
=== ''Charakteristika der fünf wesentlichen Inkarnationsimpulse'' ===
Ich finde es immens wichtig zu wissen, dass Kinder aus ganz unterschiedlichen spirituellen Richtungen stammen. ''Sigismund von Gleich'', ein Schüler Rudolf Steiners, verfasste vor Jahren einen kleinen Essay über die fünf Inspirationsquellen der Anthroposophie, der leider vergriffen ist. Diese fünf Inspirationsquellen können uns helfen, zu beobachten und zu verstehen, aus welcher weisheitsvollen Welteninspiration ein Kind kommt.
Es gibt interessanterweise fünf wesentliche Impulse. Das hängt mit dem fünfgliedrigen Charakter des Menschen als Pentagramm zusammen: mit seinen vier Wesensgliedern und dem fünften Prinzip.
==== 1. Der Karmaimpuls ====
''Der physische Aspekt'' hat seine Entsprechung im Karmaimpuls: Viele Kinder kommen auf die Erde, um Karma zu ordnen, ihr Schicksal zu verstehen, um mit ihrer Biografie zurechtzukommen. Rudolf Steiner sagt, der Lehrer müsse die Kinder, die es betrifft, dabei unterstützen und ihnen so helfen, ihr Karma auszugleichen.
==== 2. Der Gralsimpuls ====
''Der ätherische Aspekt'' hat seine Entsprechung im Gralsimpuls, der Suche nach dem Heiligen Gral, nach dem Camino, dem inneren Weg: Kinder, die diesem Impuls folgen, können schon beim ersten Hören des Wortes „Gral“ ganz sensibel darauf reagieren. Sie tragen eine tiefe Sehnsucht nach ihrem Weg in sich. Denn sie sind auf die Erde gekommen, um ihren eigenen Weg und damit sich selbst zu finden.
==== 3. Der Sophia-Impuls ====
''Der astrale Aspekt'' hat seine Entsprechung im Sophia-Impuls: Dem folgt heute jedes fünfte Kind: Dazu gehören diejenigen, die traumatisiert sind, denen Gewalt angetan wurde, die vernachlässigt und beschämt wurden, die sich schmutzig und schuldig fühlen. Weisheit wird durch Schmerz und Vernichtungserlebnisse erworben, durch die Verwandlung, die sich auf dem Weg durch den Abgrund vollzieht. Zerstörung ist die Voraussetzung dafür, dass ganz bewusst etwas Neues entstehen kann.
Ein Schwert solle durch das Herz der Maria gehen, heißt es im Evangelium. Und ''Goethe'' hat in seinem Gretchen-Gebet im Faust diesem Sophia-Impuls ein Denkmal gesetzt: ''„Neige, Du schmerzensreiche Maria, Dein Antlitz gnädig meiner Not. Das Schwert im Herzen, mit tausend Schmerzen blickst auf zu Deines Sohnes Tod.“'''[1]'''''
==== 4. Der Michaelimpuls ====
''Der Ich-Aspekt'' hat seine Entsprechung im Michaelimpuls: Der Drachen muss besiegt werden! Das Ich muss sich individualisieren und das kann es nur, wenn es den Mut hat, alles, was nicht ich-haft ist an sich und an anderen, nicht abzulehnen und schrecklich zu finden, sondern als nötigen Widerstand zu nehmen, an dem man die eigene Ich-Kraft stählt. ''Goethe'' sagt, die schwerste Lebensprobe wäre, das Niedere in sich selbst zu überwinden.
Die Anthroposophie folgt dem Michaelimpuls. Es gibt Kinder, die verlieben sich in das erste Michaelbild, das sie sehen, wollen die Postkarte haben und sie bei sich zuhause aufstellen. Diese Kinder gehen getröstet ins Leben, wenn sie michaelische Kultur in ihrem Umfeld erleben dürfen.
==== 5. Der Christusimpuls ====
''Unser Denken, Fühlen und Wollen'' ist dazu aufgerufen, dem Christusimpuls zu folgen, diesem „guten Geist der Menschheit“. Denn solange wir Menschen noch in Gruppen zerfallen und der einzelne nicht lernt, sich als Angehöriger der ganzen Menschheit zu fühlen, ist weder die Individualisierung richtig verstanden worden, noch der Sinn des Menschseins, der sich erst enthüllt, wenn man Anschluss an den Geist der Menschheit, den Christus, gefunden hat.
Mögen diese fünf Inspirationsquellen der Anthroposophie uns stärken, verbinden, Zukunft stiften und immer wieder zu guten Taten inspirieren.
''Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015''
----[1] Johann Wolfgang von Goethe, ''Faust: Eine Tragödie, Kapitel 21.''
== DIE WELT, AUS DER DIE KINDER KOMMEN ==
''Wie lässt sich die Welt der geistigen Hierarchien, aus der die Kinder kommen, beschreiben?''
''Was verdanken wir Menschen diesen Geistwesen?''
''Welche Bedeutung haben sie für die Kinder?''
=== ''Notwendiges Geist-Erinnern'' ===
Wenn man Kinder erziehen will – je kleiner, desto mehr – ist die Rückbesinnung und das aktive Sich-Verbinden mit der geistigen Welt, aus der sie kommen, eine Notwendigkeit. Im Grundsteinspruch der ''Anthroposophischen Gesellschaft'''[1]''''' spricht Rudolf Steiner von „Geist-Erinnern“.
Kinder haben noch einen unmittelbaren Bezug zu ihrem himmlischen Ursprung, in den sie ein starkes Vertrauen setzen, ein Vertrauen das sie über die Schwelle mitbringen. Sie „wissen“ noch, wie diese Hierarchien den Körper aufgebaut und die Wesensglieder geformt haben, die sich im Laufe der Entwicklung befreien und zum individuellen Seelenleben werden.
=== ''Was wir mit den Naturreichen gemeinsam haben'' ===
Der frühmittelalterliche Mönch ''Scottus Erigena'' hatte im Umgang mit seinen Studenten bereits einen sehr modernen dialogischen Lehrstil. Er stellte ihnen Fragen, auf die sie im Rahmen von Debatten Antworten finden sollten, z.B.:
* ''Was hat der Mensch mit dem Mineralreich gemeinsam?'' – den physischen Leib.
* ''Was hat der Mensch mit dem Pflanzenreich gemeinsam?'' – das Leben.
* ''Was hat der Mensch mit dem Tierreich gemeinsam?'' – die Seele.
* ''Was hat der Mensch mit den Engeln gemeinsam?'' – das Denken.
* ''Welche Entwicklungserrungenschaft hat der Mensch nur für sich?'' – das selbständige Urteil.
Das Wort Ur-teil beinhaltet das Bewusstsein, dass der Mensch ein Teil vom Ursprung ist, dass alles, was in der Schöpfung wie zerlegt und auseinandergenommen ist – alle Objekte, alle Handwerke, die verschiedenen Menschen und … und … und… – als Anregung dienen soll, es zu beur-teilen (nicht verurteilen!) und dadurch zu verstehen. Zu urteilen bedeutet im höchsten Sinne, einen Zusammenhang zum Ganzen herzustellen, etwas im Gesamtzusammenhang in seinem Wert und seiner Würde zu sehen. Das erstreckt sich auch auf das Menschenwesen selbst. Denn erst wenn der Mensch sich als Teil der ganzen Schöpfung erkennt, gewinnt er seine Würde zurück und gibt der Schöpfung damit seinen Dank und Segen zurück. Das ist etwas, das nur der Mensch leisten kann: Das Teil durch bewusstes Urteilen mit seinem Ursprung zu verbinden.
=== ''Was wir den geistigen Hierarchien verdanken'' ===
Rudolf Steiner setzt das ja dann fort:
==== '''·''' Gemeinsamkeit von Mensch und Erzengel ''–'' das Gefühlsleben ====
''Was hat der Mensch mit den Erzengeln gemeinsam?''
Es gibt zweierlei Arten von Gefühlen, je nachdem, mit welchen Bereichen in uns sie verbunden sind:
* Es gibt die '''aus dem Körper stammenden Gefühle''', die wir mit den dämonischen, gefallenen Erzengeln teilen. Diese Gefühle kommen aus dem Instinkt, der ''von der Vergangenheit geprägt'' ist, und haben mit den Blutsbanden zu tun. Sie motivieren faschistische, nationalistische, familiengruppen-egoistische Gruppierungen.
* Die '''mit dem Denken verbundene Gefühle''' folgen den christlichen Ur-Idealen – Wahrheit, Freiheit und Liebe – von denen viele der neuen Gemeinschaften motiviert sind, die mit den entsprechenden Erzengeln verbunden sind. Hier schließen sich selbstständige Menschen über persönliche Differenzen hinweg zu ''zukunftsweisenden Zielen'' zusammen. Ideale sind Botschaften von Gott, die uns von den Engeln überbracht werden und die uns mit IHM verbinden – Angelos heißt ja Bote.
Jesus sagt: ''„Ich bin die Wahrheit – und die Wahrheit wird euch frei machen.“''[2] Er sagt an keiner Stelle: Ich bin die Freiheit. Denn die muss jeder Mensch selbst erringen. Er sagt jedoch: ''„Ich bin unter euch, wenn ihr euch liebt.“'' Das sind Botschaften, die uns über die Engel zukommen und die den Menschen kräftigend durch sein ganzes Leben tragen können, wenn er sich damit verbindet. Solch eine Engelbotschaft gibt Kraft, die Tragekraft guter Gedanken. Wenn sich nun eine Menschengemeinschaft für solche Gedanken begeistert und sich damit verbindet, kann ein Erzengel diese Gemeinschaften stärken und viele soziale „Unebenheiten begradigen“ und so alles wie in eine andere Sphäre erheben.
==== '''·''' Gemeinsamkeit von Mensch und Archai ''–'' das Wollen ====
''Was hat der Mensch mit den Zeitgeistern, den Archai, gemeinsam?''
Wenn aus solchen Idealen und Gefühlen auch gute Taten werden, erweisen wir der Zeit, in der wir leben, einen guten Dienst. Dann rufen wir den richtigen Zeitgeist oder Archai herbei und fördern kulturellen Fortschritt.
Das ist, worum ''Neil Postman'' so gerungen hat: Er wendete sich an die Eltern und sagte: Widersetzt euch zum Schutze eurer Kinder! Entwickelt guten Willen! Stählt euren Willen am Widerstand.[3] Das ist echte Zeitgenossenschaft, ist für eine lebenswerte Zukunft der Menschheit engagierte Zeitgeistigkeit.
==== '''·''' Gemeinsamkeit von Mensch und Exusiai (Elohim) ''–'' das Identitätsbewusstsein ====
''Was hat der Mensch mit den Geistern der Form, den Exusiai, gemeinsam?''
Die Elohim, die Geister der Form, haben uns das Ich verliehen, die Ich-Organisation. Sie bliesen uns aber auch den Odem, den Atem, die Atemkraft ein. Wir erleben beim Atmen: Der Lebensodem geht hinaus und kehrt wieder zurück. Das ist die archetypische Grundlage für das Erleben von Identität: Was von mir hinausgeht und zurückkommt, bin beides ich – ich bin ich.
Christus dagegen erfüllt das Gefäß der Ich-Organisation mit dem wahren Ich, unserem höheren Selbst. Dass wir die Ich-Organisation dafür haben, verdanken wir den Geistern der Form. Sie haben unsere Identität als Potenz, als Möglichkeit, geformt. Doch jeder Mensch muss diese Identität selbst bestimmen, muss für sich individuell die Frage beantworten: ''Wer bin ich?'' Eine gute Kindheit, die das Kind zu einem individuellen Menschen heranreifen lässt, hilft, den Weg dafür zu bereiten.
==== '''·''' Gemeinsamkeit von Mensch und Dynamis ''–'' die Bewegungskompetenz ====
''Was hat der Mensch mit den Geistern der Bewegung, den Dynamis, gemeinsam?''
Die Geister der Bewegung, die Dynamis, haben uns auf physischer Ebene den Kreislauf geschenkt. Der Bewegung des Kreislaufs entspricht seelisch die Flexibilität. Dazu gehört, dass wir unsere Seele, unser Denken, Fühlen und Wollen, unsere Fähigkeiten, die wir erworben haben, flexibel handhaben und instrumentalisieren können.
Das bedeutet auch, einerseits fähig zu sein, das Kind dahingehend zu beobachten, was es braucht, und andererseits flexibel genug zu sein, ihm Selbstlernen zu ermöglichen. Rudolf Steiner sagt sinngemäß, alle Erziehung sei, richtig verstanden, Selbsterziehung. Der Erzieher könne nur die möglichst adäquate Umgebung gestalten, damit das Kind sich daran so selbst erzieht, wie es sich nach seinem innersten Schicksal erziehen kann und muss.[4] Wir können Angebote machen für die Selbsttätigkeit des Kindes, aber wir können ihm nichts beibringen! Wir können es nur anregen zur Selbsttätigkeit.
Diese Haltung, sich selbst so beweglich, so „flüssig“, zu machen wie die Dynamis, dass man mit den eigenen Fähigkeiten spielen kann, erwirbt ein Kind, indem der Erzieher ihm genauso begegnet: So lernt es, sich daran zu orientieren und lernt selbst zu definieren, was und wie er oder sie es braucht.
==== '''·''' Gemeinsamkeit von Mensch und Kyriotites ''–'' die Verwandlungskraft ====
''Was hat der Mensch mit den Geistern der Weisheit, den Kyriotetes, gemeinsam?''
Den Geistern der Weisheit verdanken wir im Physischen den Stoffwechsel. Ihm entspricht seelisch die Verwandlungskraft. Wenn wir etwas selbst erlebt und erfahren haben, verwandelt sich das Wissen in uns zu Weisheit – das ist eine Art Transsubstantiation, eine Verwandlung im wahrsten Sinne des Wortes.
==== '''·''' Gemeinsamkeit von Mensch und Throne ''–'' die Sehnsucht nach Menschlichkeit ====
''Was hat der Mensch mit den Geistern des Willens, den Thronen, gemeinsam?''
Den Thronen, den „Geistern des Willens“, verdanken wir den Willen, immer mehr Mensch zu werden, uns immer mehr zu „humanisieren“. Dem entspringen die Lernbegierde, der Lerntrieb, und der Entwicklungswille des Menschen.
==== '''·''' Gemeinsamkeit von Mensch und Cherubim ''–'' das Gewissen ====
''Was hat der Mensch mit den Geistern der Harmonie, den Cherubim, gemeinsam?''
Mit dieser Gabe der Cherubim ist unser Bestreben gemeint, immer für den gerechten Ausgleich zu sorgen, indem wir auf die Gewissensstimme als auf die Ausgleich schaffende Instanz in uns zu hören und sie von dem automatisch reagierenden „guten“ und „schlechten“ Gewissen unterscheiden zu lernen. Denn das feine „cherubinische Gewissen“ meldet sich nicht von selbst, es drängt sich nicht auf, sondern will befragt werden: ''Was braucht die Situation? Was brauche ich, um es besser zu machen? Was braucht dieses Kind?'' Unser schlechtes und unser gutes Gewissen dagegen drängen sich uns geradezu auf. Dabei habe ich eine geschlechterspezifische Eigenart entdeckt:
* '''Frauen''' haben spontan immer ein '''schlechtes Gewissen.'''
* '''Männer''' dagegen haben spontan immer ein '''gutes Gewissen'''.
Um das auszugleichen, sollte der Mann lernen, sein Gewissen mehr zu hinterfragen und die Frau sollte sich angewöhnen, alles lockerer zu nehmen. Wir müssen mit beiden Polen umgehen und dadurch sensibel werden für die aus der Mitte kommende Gewissensstimme, die nur spricht, wenn wir sie befragen. Sie wird inspiriert von den Cherubim als den Geistern der Harmonie.
==== '''·''' Gemeinsamkeit von Mensch und Seraphim ''–'' die Liebe (zum Schicksalsweg) ====
''Was hat der Mensch mit den Geistern der Liebe, den Seraphim, gemeinsam?''
Den Seraphim verdanken wir das Urvertrauen in die Schöpfung als in einen Kosmos, der mit Liebe durchdrungen ist. Von ihnen kommt uns aber auch das vertrauensvolle Wissen um unser persönliches Schicksal zu. Beides lässt uns aus allem, was uns zustößt, lernen und versetzt uns in die Lage, das Beste daraus zu machen, ohne zu verzagen. Diese Geister der Liebe als höchste Hierarchie stehen unmittelbar vor dem Angesicht Gottes.
=== ''Fazit:'' ===
All diese Engeltugenden helfen uns aufzublicken zu der Welt, aus der die Kinder kommen. Wenn wir Erwachsene uns durch diese „Schlüsselqualitäten“ menschlicher Kultur mit den Hierarchien der himmlischen Welten in Verbindung halten, dann erinnern sich die Kinder an die Welt, aus der sie kommen, und fühlen sich geistig zuhause bei uns.
''Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015''
----[1] Rudolf Steiner, ''Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum'', GA 260a, Dornach 1987.
[2] Neues Testament, ''Johannes 8, 32.''
[3] Neil Postman, ''Das Verschwinden der Kindheit,'' Fischer Verlag.
[4] Rudolf Steiner, ''Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis.'' GA 306, Dornach 1923, S. 131.

Aktuelle Version vom 2. April 2025, 10:59 Uhr

Kindsein heute – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

WAS KINDER BRAUCHEN

Was erwartet ein Kind von seiner Mutter und anderen Bezugspersonen?

Geborgenheit geben vor und nach der Geburt

Ein Kind erwartet von seiner Mutter vor allem das, was es schon emp­fangen hat, bevor es geboren wurde und woran es sich gewöhnt hat: Geborgenheit. Was sich während der Schwangerschaft zwischen Mutter und Kind entwickelt hat als Geste des Bergens, Hütens und Ernäh­rens, will nach der Geburt fortgesetzt werden.

Bergen und Ernähren sind während der Schwangerschaft biologische Tatsachen, die an das Organ des Uterus und an die Keimreifung gebunden sind. In diesem Stadium tritt bereits ein grundsätzliches Problem des Menschseins auf: Im Gegensatz zum Tier, das seine biologischen Funktionen mit entsprechenden seelischen Verhaltensweisen hingebungsvoll beglei­tet, ist dies beim Menschen nicht selbstverständlich der Fall. Es kann eine Kluft bestehen zwischen der leiblichen Fähigkeit zu bergen, und der Möglichkeit, auch seelisch Geborgenheit zu bieten, vor allem, wenn sich die Mutter selbst nicht geborgen fühlt.

Ein gesunder Mensch hat auf der leiblichen Ebene alles, was er braucht: Organe zur Kraftentfaltung, zur Rhythmus-Gebung, zur Ernährung, zur innerkörperlichen Wahrnehmung, zum Ausgleichen, zur Aufrichtung, zur Orientierung zwischen Oben und Unten und Links und Rechts.

Seelisch sind diese „Organe“ bei uns Menschen meist nicht in derselben Weise entwickelt. Oft fehlt der Mut, fehlt für vie­les die richtige Orientierung. Auch kann einem seelisch „das Rückgrat gebrochen“ sein, obwohl es physisch ganz in Ordnung ist. Der Leib mit seinen Funktionen ist vollkommen ausgebildet, während im Seelischen alles offen, in Entwicklung ist, im Umbruch: Alles, was leiblich veranlagt ist, muss man sich seelisch, also bewusst, erst erwerben, da­mit es zu einer eigenen seelischen oder geistigen Eigenschaft werden kann.

Voraussetzungen für Geborgenheit

Was sind also die Voraussetzungen für Geborgenheit?

Was braucht ein Kind, damit es sich geborgen fühlen kann?

  • Auf leiblicher Ebene: Wärme, Nahrung, Kleidung, Platz zum Wohnen, regelmäßige Lebensgestaltung.
  • Auf seelischer Ebene: Interesse und liebevolle Zuwendung.
  • Auf geistiger Ebene: sichere Orientierung, Fähigkeit, den Sinn der Dinge zu erleben, Verstehen- und Einordnen-Können von Schwierigkeiten.

Wie können diese Eigenschaften erworben  werden?

Die Sorge um das Kind und seine Erziehung lassen sich nicht von der eigenen Entwicklung trennen. Nicht nur das Kind hat es nötig, dass wir nach den optimalen Entwicklungsbedingungen fragen, son­dern jeder Mensch muss sich diese Frage für jedes Lebensalter neu stellen. Seelisch und geistig sind wir genauso wenig „ausgewachsen“, wie ein Kind in physischer Hinsicht ausgewachsen ist. Seelisch und geistig  sind wir oft in einer ähnlichen Lage wie ein Kind, das gehen und sprechen lernt: Wir stolpern, verlieren den Halt, be­nutzen die falschen Worte...

Woher nehmen kleine Kinder ihre Energie, unverdrossen und unermüdlich das Aufrichten und Sprechen zu üben und sich durch keine Misserfolge beirren zu lassen?

In Beantwortung dieser Frage stoßen wir auf eine entscheidende Tatsache: Das Kind beginnt erst bewusst „ich“ zu sich zu sagen, wenn diese wesentlichen Lern­schritte absolviert sind. Darin ist auch das Geheimnis seines Erfol­ges begründet. Denn erst ab dem Augenblick, ab dem die Lernprozesse von Selbstbewusstsein begleitet werden, hat man die Mög­lichkeit – und damit die Freiheit –, sich die Frage zu stellen, ob man das oder jenes überhaupt lernen kann oder will. Ein älteres Kind oder ein Erwachsener kann nach zwei Misserfolgen entscheiden: „Das kann ich nicht erlernen, ich gebe auf. Das ist mir jetzt schon zweimal misslungen, davon habe ich genug!“ Ein kleines Kind kann niemals so reagieren, weil es die Fähigkeit zur Selbstkritik noch gar nicht besitzt und stattdessen unverdrossen und hingebungsvoll seinem Nachahmungstrieb folgt und weiter ­übt.

Vom Kind lernen

In dieser Hinsicht kann der Erwachsene vom Kind lernen. Die freudige Lernbereitschaft kleiner Kinder kann uns darauf aufmerksam machen, in welchem Ausmaß Unzufriedenheit, Unlust und Destruktivität davon herrühren, dass wir un­sere Lernbereitschaft durch zu kritische Selbst- und Weltbetrach­tung lähmen und stören. Sich das bewusst zu machen, kann für jede Mutter eine große Hilfe sein. Sie kann sich täglich beim Beobachten ihres Kindes sagen: Das Vertrauen, mit dem du auf mich zugehst, deine Bereit­schaft, mich und meine Umwelt als sinnvoll und nachahmenswürdig anzunehmen, deine Daseinsfreude – all das will ich dir wieder­geben, indem ich an meinem Vertrauen in die Welt und in mich selber arbeite, indem ich mir Ziele für meine Entwicklung setze und lerne, ein zufriedener und daseinsfroher Mensch zu werden. Eine Mutter, die das anstrebt, kann ihrem Kind geben, was es braucht: geistige Geborgenheit durch Zuversicht und Vertrauen, seelische Geborgenheit durch Liebe und leibliche Ge­borgenheit durch Wärme, Sicherheit und Stabilität.

Der Erwerb dieser Qualitäten ist nicht primär davon abhängig, ob man haupt- oder nebenberuflich Mutter ist und ob ein Vater in der Familie lebt oder nicht. Diese Eigenschaften kann jeder Mensch sich erarbeiten und sie dann anderen Menschen, insbesondere Kindern, schenken.

Vgl. Kapitel „Die alleinerziehende Mutter“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart

DER BLICK EINES DREI MONATE ALTEN KINDES

Was drückt der Blick eines dreimonatigen Kindes aus?

Alles durchdringender Blick

Aus der Entwicklungspsychologie, aber auch aus eigener Erfahrung ist gut bekannt, dass ein Säugling im dritten Monat Menschen und Dinge mit seinem Blick zu fixieren beginnt. Erst von diesem Zeitpunkt an kann er Gegenstände wirklich wahrnehmen. Die vollständige Ausreifung des Sehvermögens bis hin zur Wahrnehmung aller Farbschattierungen dauert jedoch sechs bis acht Jahre; der physiologische Sehvorgang reift von Tag zu Tag weiter aus.

Ein ganz besonderer Einschlag erfolgt jedoch im dritten Monat. Von diesem Zeitpunkt an nimmt das Kind uns immer direkter und konkreter wahr und sucht mit den Augen die Beziehung zu uns, mit einem Blick, der uns ganz zu durchdringen scheint; ein Säugling wendet seinen Blick auch nicht ab – wir können in Ruhe und unverwandt in seine offenen, klaren Augen schauen. Aus ihnen spricht eine geistige Liebeskraft, die objektiv, vertrauensvoll und trotzdem ganz persönlich ist. Nur Liebende schenken einander einen vergleichbar langen Blick.

Sehen ist ätherisches Tasten

Unsere Blicke können „ätherisch“ tasten; wir merken das in Momenten, wenn wir den Blick eines Menschen auf uns fühlen – im Guten wie im Schlechten, denn dieses Tasten kann auch von unsauberen Gefühlen begleitet sein. Wie sehr kann ein guter, von reinen Gefühlen begleiteter Blick dagegen aufmuntern, heilen, trösten und Licht bringen! Der Ätherleib, d.h. die Summe aller, das Leben unterhaltenden Gesetzmäßigkeiten – kann sich aus dem Auge relativ frei, gelenkt durch die Blickintention, bewegen.

Sehen ist ein ätherisches Abtasten, Formen-Abgreifen, und Nachbilden. Die Augenmuskeln helfen dem Auge, sich beim Sehen immer mitzubewegen; es ist im Grunde wie eine „ätherische Kamera”, mit der wir alle Sinneseindrücke abtasten, aufnehmen und dem Gedankenleben als Vorstellungen einprägen. Da wir mit dem aus der körperlichen Lebenstätigkeit heraus entlassenen Ätherleib auch denken, können wir uns das, was wir sehen, auch sogleich innerlich vorstellen, wenn wir die Augen schließen und uns daran erinnern.

Aufforderung zu ehrlicher Beziehung

Dieser Blick des Säuglings kann uns ein Bild dafür sein, wie wichtig eine reine, ehrliche Beziehung ist. Denn das Kind, das uns mit einem ernsten, vertrauenden Blick anschaut, prüft uns und fragt:

Stehst du zu mir?

Gibst du mir, was ich brauche?

Kann ich dir wirklich vertrauen?

Gehst du ein Stück Wegs mit mir?

All das leuchtet vor unserem inneren Auge auf, wenn wir dem ernsten, fragenden, vertrauensvollen Blick des Säuglings begegnen. Wir erkennen unsere Aufgabe, wieder so beziehungsfähig zu werden, wie wir es selbst einmal als kleines Kind waren – und diesen Blick nicht zu enttäuschen.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 3. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft

GELINGENDE KINDHEIT DURCH SCHICKSALSVERTRAUEN

Wie kann Schicksalsvertrauen auch in schwierigen Zeiten und Lebenssituationen veranlagt werden?

Welche Rolle spielt dabei die Bindung an die Mutter bzw. an eine andere Bezugsperson?

Hospitalismus-Forschung und Bindung

Von den Möglichkeiten her ging es Kindern noch nie so gut wie heute. Wir haben Schulen selbst für Gehörlose, wir haben Schulen für Blinde und für Menschen mit allen Arten von geistiger und körperlicher Behinderung. Wir wissen heute sehr viel über die kindliche Entwicklung. Was Hirnforschung, Vererbungsforschung und Verhaltensforschung in den letzten fünfzig Jahren zutage gefördert haben, ergibt Erkenntnisse, die – in die Tat umgesetzt, Kindern zu einem aussichtsreichen Start in das Leben verhelfen können.

Allein die Hospitalismus-Forschung – allen voran René Spitz – hat viele wertvolle Erkenntnisse erbracht. Sie hat die Anschauung über das Aufwachsen in den ersten drei Lebensjahren revolutioniert und Grund gelegt für alle weiteren Studien zur frühen Kindheit.[1] Die Kernaussage ist, dass Kinder nicht gedeihen, wenn ihnen eine sichere menschliche Bindung fehlt.

Dieser Mangel führt insbesondere in den ersten drei Lebensjahren nicht nur zu schweren seelischen, sondern auch zu tiefgreifenden körperlichen Störungen. Beim Fehlen einer konstanten Bezugsperson kommt es innerhalb von zwei bis drei Monaten z.B. bei Säuglingen im ersten Lebensjahr zum Entwicklungsstillstand. Es folgt eine Zeit ängstlichen Anklammerns an die wechselnden Betreuungspersonen. Schließlich weicht das weinerliche Verhalten einer zunehmenden Teilnahmslosigkeit. Lethargie, Wimmern, Kopfschaukeln, Schlaflosigkeit und Anfälligkeit für Infektionen treten auf. Diese Störungen können so gravierend werden, dass sie sogar zum Tode führen.

Erziehungsauftrag und Schicksal

Gerade diese Hospitalismus- und Deprivationssymptome zeigen deutlich, dass sich die leibliche Entwicklung des Menschen nicht nur aufgrund von Vererbung und guter Ernährung vollzieht, sondern in Abhängigkeit von der seelisch-geistigen Zuwendung zur Persönlichkeit des heranwachsenden Kindes. Wird diese nicht angenommen, bejaht und angesprochen, so kann sie nicht „ankommen“, sich nicht richtig „verkörpern“.

Diese Zuwendung zum Kind, die ihm das Gefühl angenommen zu sein gibt, kann dadurch noch eine Vertiefung erfahren, dass leibliche oder Adoptiveltern sich die Dimensionen ihres Erziehungsauftrages bewusst machen und die Frage nach der geistigen Wirklichkeit des Schicksals stellen:

Warum hat mir das Schicksal gerade dieses Kind zur Obhut gegeben?

Hat es sich vielleicht schon lange im Vorgeburtlichen diese Begegnung gewünscht?

Was können wir einander bedeuten?

Was erwartet es von mir für seinen Start ins Leben?

Wenn man davon ausgeht, dass jede Beziehung Teil einer umfassenden Schicksals-konstellation ist, die ihre Wurzeln in früheren Erdenleben hat und die in der Gegenwart erneuert und weiterentwickelt werden will, gibt jeder Tag von Neuem die Möglichkeit, das Schicksal bewusst zu gestalten und die Zukunft gut vorzubereiten.[2] Die Art der Beziehung, ihre Verbindlichkeit im Hier und Jetzt, ihr Gegründet-Sein in einem umfassenden Schicksalsvertrauen, das es zu erringen und zu pflegen gilt, bestimmt die Qualität der Erziehung entscheidend mit.[3]

Kindheit in der Nachkriegszeit

Ich bin Jahrgang 1946, wuchs in der Nachkriegszeit auf, in einem Szenario von zerbombten Häusern – ganze Straßenzeilen in Stuttgart waren nach dem Krieg plattgemacht worden – ein zerbombter Luftschutzbunker befand sich ganz in der Nähe. Wir spielten in Ruinen und sahen die ersten Huflattiche kommen. Alles war durchsetzt von Bildern der Zerstörung, das Fernsehen war noch nicht erfunden, man las aber Zeitung, hörte Radio und sah und hörte viel vom Krieg. Ich hatte als Kind den Eindruck: Diese Welt ist gefährlich, in dieser Welt geht viel kaputt, in dieser Welt gibt es unglaubliche Katastrophen, da werden Millionen von Juden umgebracht. Davon hatten wir natürlich auch gehört. Das war für mich als Kind nur ganz schwer einzuordnen.

Meine Mutter war Diplomchemikerin und hatte sechs Geburten. Für mich als Nachkriegskind war die Tatsache, dass meine Mutter darauf verzichtet hatte, ihren Beruf auszuüben und sich ganz der Kindererziehung zur Verfügung stellte, extrem wichtig. Sie half mir inmitten der geschilderten Verhältnisse Vertrauen ins Leben zu entwickeln, indem sie mir mit ihrer Haltung und durch viele Gespräche half, all das Beunruhigende einzuordnen, damit sinnstiftend umzugehen. Ich weiß aus dieser Erfahrung, was es bedeutet, dieses hohe Ausmaß an Vertrauen und Nähe zu erleben durch die Bindung an den Menschen, der mich geboren hat, in dem ich wachsen durfte, und von dem ich alles, was ich brauchte, bekam.

Weiterführende Fragen zum Tag

Schicksalsvertrauen ist eine Frage der Haltung – und auch der Übung. Es kann bereits mit dem kleinen Kind geübt werden, bevor es in die Nacht entlassen wird. Man setzt sich an das Bettchen und fragt:

Wie war denn heute unser Tag?

Man kann mit dem Abend beginnen und die Geschehnisse bis zum Morgen rückwärts ins Gedächtnis rufen, man kann aber auch mit dem Morgen beginnen, das spielt zunächst keine Rolle. Man kann sich auch fragen:

Was war heute das Schönste am Tag?

Was hat uns heute den meisten Kummer gemacht?

Man lässt es nochmals an sich vorüberziehen, und das, was schwer zu verkraften war, versucht man für sich selbst aufzuarbeiten, indem man fragt:

Was kann ich daraus lernen?

Wozu war es vielleicht auch gut?

Im Märchen ist oft der Dummling derjenige, dem am Schluss das Glück lacht, weil er etwas, das ihm unterwegs begegnet war, mitnimmt mit dem Gedanken: Wer weiß, wozu das gut ist! So kann man auch mit dem umgehen, was der Tag gebracht hat und was man vielleicht furchtbar findet oder dumm oder ungerecht. Man sollte dann versuchen zu fragen:

Warum geschah es mir?

Was hat es mit mir zu tun?

Welche Botschaft hat das Ereignis für mich?

Was will es mich lehren?

Wer weiß, wozu es gut war?

In Weisheit verwandelte Erfahrung

Das Leben zeigt uns oft, dass etwas, was in einem bestimmten Lebensalter Stress verursachte, fünf, zehn oder fünfzehn Jahre später sich in Weisheit verwandelt hat, aufgrund derer man anderen Menschen beistehen kann oder die einen das Leben viel ruhiger betrachten lässt.

Die Ereignisse im täglichen Leben bleiben nicht so, wie sie im ersten Moment erscheinen. Das zeigt sich, wenn man ein bisschen offen ist und versucht, sie vor dem Hintergrund des Entwicklungsgedankens aus der Distanz zu betrachten. Das wird in vielen Fällen nicht sofort gelingen, kann aber dennoch ein hilfreicher Gedanke sein.

Was oft im späteren Leben über eine Therapie erarbeitet werden muss, z.B. dass Menschen lernen müssen, miteinander in Kontakt zu treten, miteinander zu reden, einander ernst zu nehmen und auszuhalten, wird hier selbstverständlich veranlagt und kann zu einer Gewohnheit werden, die einem später hilft, mit dem Lebenspartner Gespräche zu führen, sodass nichts Wesentliches liegen bleibt, sich nichts aufstaut oder unverarbeitet „rumort“.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003


[1] René Spitz, Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr, 10. Aufl. Stuttgart 1992; und: Die Entstehung der ersten Objektbeziehungen, 5. veränd. Aufl. Stuttgart 1992.

[2] Vgl. Michaela Glöckler, Begabung und Behinderung. Hinweise für Erziehung und Schicksalsfragen, Praxis Anthroposophie, 2. Aufl. Stuttgart 1999.

[3] Siehe Michaela Glöckler, Wolfgang Goebel, Kindersprechstunde. Ein medizinisch-pädagogischer Ratgeber, 13. Aufl. Stuttgart 1998.

ALARMIERENDE ZAHLEN

Was besagen Studien zum Gesundheitszustand von Kindern aller Altersgruppen?

Studien zum Gesundheitszustand von Kindern

Vor ein paar Jahren wurde in Köln an 1750 Jugendlichen eine umfangreiche Studie zu ihrem Gesundheitszustand sowie ihren persönlichen und psychischen Problemen gemacht. Die meisten der Elf- bis Achtzehnjährigen bekannten, dass sie unter Ängsten, Depressionen oder Zwängen litten. Ihre Eltern hatten lediglich Schulprobleme und Beziehungsprobleme oder trotziges und unkonzentriertes Verhalten bemerkt…

Schon ein Fünftel aller Kindergartenkinder zwischen drei und sechs Jahren zeigt Verhaltensauffälligkeiten wie Aggression, Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen oder Ängstlichkeit. Und so geht es weiter – eine alarmierende Zahl folgt der anderen. Erneut müssen wir uns die beklemmende Frage stellen:

Wie lange schauen wir noch zu, ohne energisch auf allen kulturellen und politischen Ebenen für eine Änderung der schulischen Betreuung einzutreten und eine Weiterbildung für Eltern aus Steuergeldern zur Pflicht zu machen?

Auch hier ist das Geheimnis der kleinen Schritte anzuwenden, um dann – wenn das Problembewusstsein im Großen da ist – wirklich etwas bewegen zu können.

Was der Therapeut tun kann

Als Arzt oder Therapeut kann man nicht einfach in das häusliche Umfeld von Kindern oder in Schulen „einbrechen“ und „für Ordnung sorgen“. Man kann eigentlich nur an Stellen, an denen man Kindern in der Schule oder in der Therapie begegnet, fragen:

Was kann ich für die Entwicklung dieses Kindes tun?

Wie muss eine Kind-Therapeut-Beziehung aufgebaut werden, damit sie ein Kind resilient macht, damit die innere Widerstandskraft, die Glaubenskraft, die Liebe zum Menschsein, die Zuversicht, die Hoffnung auf Zukunft gestärkt wird?

Was kann ich tun unter dem Eindruck all der Schäden, all der Schwierigkeiten, der Jugendkriminalität, der Gewalttätigkeit, der Drogensucht – alles Probleme, die bereits ab dem neunten Lebensjahr auftreten?

Bereits Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stellte ich im Rückblick auf zehn Jahre schulärztliche Tätigkeit fest, dass Verhaltensauffälligkeiten, Skelett-Deformationen, aber auch Schwächezustände und psychosomatische Beschwerden bei den Kindern, die ich jedes Jahr untersucht und beobachtet hatte, in diesen zehn Jahren um etwa ein Viertel zugenommen hatten. Und ich nehme an, dass sich diese Entwicklung in den letzten Jahrzehnten eher noch beschleunigt hat. Von daher verwundern mich die Ergebnisse der Kölner Studie auch nicht.

Schicksalslandschaft aktiv mitgestalten

Was aber kann geschehen, nicht nur für die eigenen Kinder, sondern allgemein zum Wohle der Kinder heute?

Wir müssen das Schicksal von Kindern aktiv mitgestalten, indem sie in uns gleichsam Anwälte und Lobbyisten finden und wir mit größerer Sensibilität Beziehungen mit ihnen – wo auch immer sie sich ergeben – pflegen.

Man kann nicht wissen, ob sich hinter einer Provokation, Aggression oder einer sonstigen Verhaltensauffälligkeit nicht eine Depression oder tiefe Lebensangst verbirgt. Wie schnell sind wir geneigt, ein Kind abzulehnen, weil es uns stört und aufsässig oder schwierig wirkt! Dabei sind gerade solche Kinder oft sehr verletzlich und empfindsam, und auffällig zu werden ist für sie die einzige Möglichkeit, um Hilfe zu rufen. Wir sind alle dazu aufgerufen, diesen Kindern mit Verständnis zu begegnen und ihnen durch uns Schicksalshilfe zukommen zu lassen.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003

RESILIENZ TROTZ RISIKO

Wie erwirbt ein Mensch Resilienz?

Gesunde Persönlichkeitsentwicklung

Im französischen und englischen Sprachraum bürgerte sich in der Salutogenese der Begriff Resilienz (engl. resilience = Spannkraft, Elastizität) ein. Gemeint ist damit eine stabile und gesunde Persönlichkeits- und Verhaltensentwicklung, trotz ungünstiger kindlicher Erfahrungen und Belastungen.

Langfristige Beobachtungen von Kindern, die schon früh in Armut und chaotischen Familienverhältnissen leben mussten, zeigen, dass der Lebensweg der meisten von ihnen auch entsprechend chaotisch verlief. Einige kamen jedoch erstaunlicherweise ausgesprochen gut über die Runden. Diese Kinder waren trotz ihrer schwierigen Familienverhältnisse „intelligent und selbständig [...] im sozialen Umgang fröhlich, zugewandt und gelöst und bei der Meisterung praktischer Lebensprobleme sachlich, nüchtern und einfallsreich.“[1]

Offensichtlich standen diesen Kindern, die als „verletzlich, aber unbesiegbar“ bezeichnet wurden, bereits frühzeitig innere Ressourcen zur Verfügung. Zugleich hatten sie jedoch auch das Glück, Zugang zu äußeren Ressourcen zu erhalten: Sie hatten Freunde, die prägend waren für ihr Leben, fanden Materialien, entdeckten Landschaften und soziale Freiräume, über die sie ihre Talente spielerisch entfalten konnten.

„Mir fielen bei der Beschreibung dieser Kinder Pippi Langstrumpf und Huckleberry Finn ein“, so Ursula Brucks im Handbuch der Salutogenese. „Die beiden Literaturgestalten Pippi Langstrumpf und Huckleberry Finn verkörpern beispielhaft diejenigen Anteile unseres Fühlens und Handelns, die zum Verständnis von Kreativität und Gesundheit wichtig, jedoch in der medizinischen Wissenschaft bislang weitgehend ausgeklammert sind [...] Unser Wissensverständnis schließt [...] das Spontane, Kreative, Unplanbare und Unbeherrschbare aus. Dies ist von Nachteil für die Medizin wie für jede angewandte Wissenschaft.“[2]

Was Kinder stärkt

„Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz“[3] ist der Titel einer weiteren Publikation, in der ebenfalls zahlreiche Studien zur Lebensqualität von Kindern vorgestellt werden, aus denen abgelesen werden kann, wodurch Gesundheit entsteht und für ein ganzes Leben veranlagt wird. Auch sie sagen aus, dass Kinder trotz zahlreicher Risikofaktoren, denen sie ausgesetzt waren, dennoch über Widerstandskräfte verfügen können.

Mit Risikofaktoren sind Umstände wie Alkoholismus in der Familie, sexueller Missbrauch, Gewalt, Vernachlässigung, Kälte, schlechte Ernährung, unhygienische Verhältnisse, aber auch charakterliche Eigenschaften von Erziehenden wie Verlogenheit und Respektlosigkeit gemeint. Das sind alles krankmachende Faktoren.

Können Kinder überhaupt Widerstandskraft gegen ihr Milieu entwickeln?

Auch in Bezug darauf finden sich in dem genannten Buch die erstaunlichsten Untersuchungsergebnisse. So wurde in Hawai über vierzig Jahre eine Langzeitstudie gemacht, bei der die Ärmsten der Armen untersucht wurden, also die, die jeder für Opfer hielt, aus denen nur wieder neue Täter werden können.

Umso erstaunter war man, dass sich weit mehr von ihnen als erwartet zu ganz normalen, gesunden Erwachsenen entwickelten, die voll im Berufsleben standen – die Hälfte davon, ohne jemals auffällig oder kriminell geworden zu sein! Die andere Hälfte war vorübergehend verhaltensauffällig oder in der Jugend kriminell und konnte diese Schwächen jedoch mit den Jahren überwinden. Aufgrund der zahlreichen vorliegenden Daten konnte man systematisch untersuchen, woran es lag, dass diese Kinder vor allem auch seelisch widerstandsfähig waren. Es stellte sich heraus, dass die „menschliche Beziehung“ ein ausschlaggebender Faktor war, die in ihrer salutogenetischen Bedeutung stärker wirkte als Vererbung und Milieu.

Merkmale einer guten Beziehung

Dass Vererbung und Milieu den Charakter weitestgehend beeinflussen, ist ja seit Aristoteles bekannt und immer wieder neu diskutiert und bewertet worden. Aber dass es etwas gibt, das stärker ist als Vererbung und Milieu – eine gute menschliche Beziehung –wurde erst durch die Verhaltensforschung der letzten dreißig Jahre deutlich und wird jetzt durch die Resilienzforschung belegt.

Eine gute Beziehung zeichnet sich durch drei entscheidende Wesensmerkmale aus:

  • Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit,
  • Liebe,
  • Respekt vor der Autonomie und Eigenwürde des anderen - auch wenn er im Kleinkindstadium oder im Zustand großer Hilfsbedürftigkeit ist.

Erlebt ein Kind solch eine gute Beziehung – und sei es nur zu einem einzigen Menschen bzw. nur in einer bestimmten Zeit seiner Kindheit – kann es sich trotz allem seelisch gesund entwickeln, selbst wenn die Lebensbedingungen sonst sehr ungünstig sind, es abends geprügelt wird und es auch tagsüber nicht gut betreut wird. Wenn ein Kind zu einem Menschen eine tiefe innere Beziehung hat, braucht seine seelische Gesundheit nicht in Frage gestellt zu werden. Im Gegenteil, ein solches Kind kann sogar besonders sensibel und mitleidsfähig werden.

Das Buch „Plus fort que la haine“, das in Frankreich großes Aufsehen erregte, ist dafür ein eindrückliches Beispiel.[4] „Stärker als der Hass“ schildert die Erfahrung von Liebe und Mitmenschlichkeit, die ein extrem traumatisiertes und vernachlässigtes Kind im Alter von drei Jahren während dreier kostbarer Monate in einer Pflegefamilie erfuhr. Diese Erfahrung prägte es für das ganze weitere Leben und ermöglichte die Identifikation mit dem Guten und einem liebevollen Menschsein.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003


[1] Ursula Brucks, Salutogenese – der nächstmögliche Schritt in der Entwicklung medizinischen Denkens?, in: W. Schüffel et al. (Hrsg.), Handbuch der Salutogenese. Konzept und Praxis, Wiesbaden 1998, zit. bei Schiffer, a.a.O.

[2] U. Brucks, zit. bei Schiffer, a.a.O.

[3] Günther Opp, Michael Fingerle, Andreas Freitag (Hrsg.), Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz, München 1999.

[4] T. Guenard, Plus fort que la haine, Presse de la renaissance, Paris 1999.

DIE BEDEUTUNG DES KINDLICHEN SPIELS AM BEISPIEL VON „FLOW“

Welche Bedeutung hat das kindliche Spiel für die Entwicklung?

Im Flow sein

Der amerikanisch-ungarische Psychologe und Philosoph Mihaly Csikszentmihaly[1] fühlte sich durch die psychologische Literatur zur Selbstverwirklichung und die von Maslow so genannten „Peak Experiences“[2] sehr animiert. Maslow lieferte detaillierte Beschreibungen subjektiver Gefühlszustände, wie sie ihm in Interviews mit Künstlern, aber auch Bergsteigern und Chirurgen und schließlich einfachen Bauern und Handwerkern, während ihres Tuns berichtet worden waren.

Csikszentmihaly prägte einen Begriff, den man inhaltlich dem gesunderhaltenden Kohärenzgefühl gleichsetzen könnte. Es ist der Begriff des „Flow“.[3] Damit ist die Erlebnisqualität des Fließens, des Im-Fluss-Seins, gemeint: Wenn wir „im Flow“ sind, befinden sich Fühlen, Denken und Wollen in völliger Übereinstimmung miteinander. Wir erleben uns in eine fließende Erfahrung eingebettet, wobei wir unser Tun mühelos meistern und Umwelt und wir selbst, Stimulus und Reaktion eins sind. Auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehen zeitlos fließend ineinander über. Wir sind vollkommen glücklich, wobei das Beglückt-Sein durch das eigene Tun hervorgerufen wird. Wer in dieser Art Freude am Tun erlebt, dessen Selbstvertrauen wird ebenso gestärkt, er ist zufrieden und fühlt sich solidarisch mit anderen.

Dem Flow-Erlebnis auf der Spur

Wie kommt es nun zu diesem Flow-Erlebnis?

Wodurch zeichnet es sich aus?

Csikszentmihaly stellte nun die Frage, ob nicht jedermann unter geeigneten Bedingungen zu solchen Erlebnissen kommen könnte. Dann ließen sich auch „langweilige“ Alltagsaufgaben in erfreuliche und sinnvolle Aktivitäten umwandeln. Er interviewte Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen, die intensive Sinneserfahrungen bei spielerischen wie auch ernsthaften Aktivitäten gemacht hatten, und kam zu dem Schluss…

„…, dass jede Aktivität innerlich lohnend sein kann, vorausgesetzt, sie ist passend strukturiert und unsere Fähigkeiten sind ihren Herausforderungen angepasst. Unter diesen optimalen Bedingungen haben wir auch an der Arbeit Freude und sogar an Gefahren und Stress.“[4]

Die Möglichkeit, dass das Tun als solches befriedigend sein kann, wies ihm den Weg zu einer potentiellen Kraftquelle der Menschheit, die die Jagd nach Geld, Status, Macht und Prestige, die landläufig als Glück bringend missverstanden wird, ersetzen könnte. Csikszentmihaly versuchte bei seinen Untersuchungen genau zu verstehen, wie Menschen sich fühlen, wenn sie sich im Flow-Zustand befinden: Körper und Seele sind bis an die Grenzen angespannt bei dem freiwilligen Bemühen, etwas Schwieriges, für sie Wichtiges zu erreichen – und das dann auch zu schaffen. Jedem Menschen böten sich unzählige Gelegenheiten, über sich selbst hinauszuwachsen. Man müsse nur darauf aufmerksam werden und sich dann entsprechende Herausforderungen suchen.

Im Spiel ganz Mensch sein

Im Rahmen seiner Forschungen befasste sich Csikszentmihaly intensiv mit dem Spiel: „Wenn der Mensch spielt, ist er im Vollbesitz seiner Freiheit und Würde. Wenn wir herausfinden könnten, was das Spielen zu einer derart befreienden und belohnenden Aktivität macht, kämen wir in die Lage, dieses Wissen auch außerhalb des spielerischen Rahmens anzuwenden.“[5]Als bildhaftes Beispiel schilderte er, wie sich ein Kind fühlt, wenn es „mit zitternden Fingern die letzten Klötze auf einen Turm legt, der höher als jeder andere ist, den es bislang gebaut hat“.

Was für den Jugendlichen und Erwachsenen Entspannung, Ausgleich von Stress oder fröhlicher Zeitvertreib ist, ist für das Kind Fähigkeitsbildung an Leib und Seele mit Hilfe geeigneter, die altersentsprechende Entwicklung fördernder Materialien:

  • Spielend ist das Kind ganz bei der Sache und gleichzeitig ganz bei sich. Selbstvergessen erlebt es sich eins mit seinem Tun.
  • Spiel ist für das Kind Arbeit, Beschäftigung, sinnerfülltes Leben – alles, nur nicht „Spiel“.
  • Es gewinnt über das vertiefte Tun essentielle Erkenntnisse über sich und die Gesetze der Welt.
  • Das eigene Vorstellungsvermögen, die kreative Phantasie, wird beim Spielen aktiviert.
  • Die Eigenaktivität bestärkt Kinder in ihrer Autonomie.
  • Das Kind bildet dabei neue Fähigkeiten aus – und wächst buchstäblich über sich selbst hinaus.

Wer so spielen durfte, wird im Erwachsenenalter auf höherem Bewusstseinsniveau darauf zurückgreifen und sich selbst zu immer neuen Lebenshöhepunkten führen können. Denn das Flow-Erlebnis ist Ausdruck des menschlichen Spieltriebs, der uns allen innewohnt. Schon Friedrich Schiller sagte etwas zutiefst Wahres:

„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“[6]

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003


[1] Mihály Csíkszentmihályi (*29. September 1934 in Rijeka) ist emeritierter Professor für Psychologie an der University of Chicago und Autor. Er wurde als Sohn des ungarischen Konsuls im heutigen Rijeka, das damals zu Italien gehörte, geboren. 1975 beschrieb er das Flow-Erleben und gilt seither als der herausragendste Wissenschaftler auf diesem Gebiet.

[2] Abraham Maslow, Motivation und Persönlichkeit, Hamburg 1981.

[3] Mihaly Gsikszentmihaly, „Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen, 6. Aufl. Stuttgart 1996, und Flow. Das Geheimnis des Glücks, 5. Aufl. Stuttgart 1995.

Siehe dazu: Roswitha v. dem Borne, Einfach fallen lassen. Der Rausch nach Grenzerfahrungen, Stuttgart 2001.

[4] Mihaly Gsikszentmihaly, a.a.O.

[5] Mihaly Gsikszentmihaly, a.a.O.

[6] Friedrich Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, Prosa Schriften, Stuttgart 1956.

DAS KIND ERKENNEN, VERSTEHEN, UNTERSTÜTZEN

Wie können Pädagogen die ihnen anvertrauten Kinder besser verstehen und unterstützen?

Das kindliche Verhalten verstehen

Aus der Psychologie ist bekannt, dass eine gesunde seelische Entwicklung einhergeht mit einem gewissen Maß an Selbstvertrauen und der Fähigkeit zur Wertschätzung. Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern, Lehrer und Therapeuten das Kind erkennen und seine Verhaltensweisen verstehen lernen – auch oder gerade, wenn es auffälliges Verhalten zeigt: Wenn ein Kind aggressiv und unstet ist und alles kaputt macht, was es in die Finger bekommt, wenn es nichts wertschätzen kann, sind Eltern oft ganz verzweifelt, weil sie Angst haben, es nicht mit „normalen“ Reaktionen zu tun zu haben. In diesem Fall ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie zu erkennen versuchen, welche Begabungen sich hinter dem problematischen Verhalten verbergen:

Zeigt ein Kind nicht unbändiges Interesse an der Umgebung, wenn es alles anfasst?

Will es den Gegenstand vielleicht nur „untersuchen“ und gar nicht kaputt machen?

Unruhige, ständig herumsausende Kinder haben auch eine enorme Bewegungsbegabung und wenn sie auf wildfremde Leute zuzugehen – was einem Angst und Bange machen oder als Distanzlosigkeit erscheinen könnte – zeigen sie im Grunde rückhaltloses Vertrauen.

Interesse und Fragehaltung vertiefen

Belegt man die Verhaltensweisen nicht von vornherein mit einem negativen Urteil, sondern stellt einfach fest, dass dieses Kind über diese spezielle Konstitution verfügt und lernen möchte, die damit verbundenen Eigenschaften handhaben zu lernen, entwickelt man eine positive Erwartungshaltung ihm gegenüber. Dann kann man sich als Eltern, Lehrer und Therapeuten fragen, wie man ihm helfen kann, damit es seine Möglichkeiten und Anlagen in den Griff bekommt.

Es gilt also, die wahrnehmbaren Eigenschaften und Verhaltenselemente sachlich anzuschauen und sich ein Bild davon zu machen, was aus dem Kind werden kann, wenn es gelernt hat, mit sich und seinen Möglichkeiten umzugehen. Auch kann es sehr hilfreich sein, sich die Frage zu stellen:

Wie war dein früheres Erdenleben, dass du jetzt mit diesen Anlagen und Aufgabenstellungen zu uns gekommen bist?

Durch dieses fragende Interesse wird die Verständnisbereit­schaft dem Kind gegenüber vertieft.

Vertrauensvorschub

Ist es nicht im Grunde ein großer Vertrauensvorschub, dass sich gerade die „schwierigen“, einseitig begabten Kinder zu uns wagen in der Hoffnung, dass wir ihnen helfen und sie verstehen werden?

Diese Hoffnung, diese Aufforderung ist nonverbal einfach durch die Tatsache gegeben, dass dieses Kind nicht bei den Nachbarsleuten zur Welt kam, sondern bei eben diesen Eltern oder dass es auf uns als Betreuer, Erzieher, Therapeuten gestoßen ist. Dieses nonverbale tiefe Vertrauen des Kindes – Du bist der Mensch, auf den ich setze, mit dir habe ich etwas zu tun und deswegen bin ich zu dir gekommen – kann man sich als Erwachsener immer wieder vor Augen führen und daraus Kraft und Motivation schöpfen.

Damit sind wir wieder in dem Bereich, wo man sein Denken und Fühlen miteinbeziehen muss, um die tieferen Schichten der menschlichen Existenz wahrnehmen zu können, um zu erkennen, was wahr ist. Die Wahrheit muss man fühlen – und einsehen. Nur mit dieser Haltung kommt man der Beantwortung der Frage näher:

Warum hat mir mein Schicksal ein Kind gegeben, das zu lieben mir solche Mühe macht?

Als Erwachsene, die dieses Kind umgeben, sind wir aufgerufen etwas zu tun, nicht nur etwas von ihm zu erwarten oder zu fordern. Wir müssen es fragen:

Woher kommst du?

Was willst du hier?

Was willst Du erreichen?

Was kann ich für Dich tun?

Du kannst, was du willst

Nichts stärkt das Selbstvertrauen eines Kindes mehr, als zu erleben, dass es etwas kann. Das gilt für alle Kinder. Zu diesem Erleben des eigenen Könnens gehört aber auch, dass der Erwachsene das Erreichte wahrnimmt, es bestätigt, sich darüber freut. Leistungen, für die sich das Kind angestrengt hat, dürfen nicht übersehen werden, eine Arbeit, die das Kind verrichtet hat, sollte anerkennend begutachtet werden usw. Sonst kommt es zu schweren Kränkungen, die zu späterem Fehlverhalten führen können.

Wer in der Kindheit Demütigung und Vernachlässigung erfahren hat und diese Erfahrungen im Laufe der Entwicklung nicht für sich verarbeiten und zurechtrücken konnte, neigt im späteren Leben dazu, sich unbewusst-instinktiv für das Unrecht, das ihm angetan wurde, zu rächen: So jemand genießt es dann, über andere Macht auszuüben und über Unmündige zu herrschen. Er wird nicht selten auch zum Täter, der Gewalt anwendet und sein Verhältnis zum Kind missbraucht.

Aber auch unsachgemäße, übertriebene Beurteilungen stellen eine Gefahr dar. Das Kind weiß selbst recht genau, ob ihm etwas geglückt ist oder nicht. Und so ist es enttäuscht, wenn der Erwachsene alles, was es ihm zeigt, mit einem stereotypen oder überschwänglichen – „Das hast du aber schön gemacht!“ – belohnt. Das Lobenswerte zu loben und das Verbesserungswürdige ehrlich beim Namen zu nennen und nächste kleine Schritte für das weitere Tun und Lernen aufzuzeigen, unterstützt das Kind in seiner Entwicklung. Mehr erwartet es nicht. Wenn es in dem Bewusstsein lebt, dass es alles, was es ernsthaft erreichen möchte, auch erreichen kann, und der Erwachsene es dabei unterstützt – so stellt sich ein elementares Freiheitsempfinden ein, das zu weiterer Arbeit motiviert.

Absage an Perfektion

Eltern oder auch Lehrer, die sich vor dem Kind stets als die Menschen geben, die alles richtig machen und die dem Kind ständig sagen, was es alles nicht kann und wie es dies und jenes besser zu machen hat, erzeugen nicht nur Unlust beim Kind, sondern auch das Verlangen, eines Tages als Erwachsene auch anderen sagen zu können, wo es langgeht.

Mensch-Werden bedeutet jedoch, Entwicklung ernst zu nehmen, lebenslang weiter zu lernen und offen bleiben für immer neue Entwicklungsschritte und Veränderungen – vor allem aber, sich selbst zu sagen, wo es langgehen soll. Das bedeutet eine Absage an die Illusion der Perfektion.

Daher ist es von unschätzbarem Wert, wenn Kinder an ihren Eltern und Erziehern erleben, dass auch diese selbst noch auf dem Weg sind, dass sie Fehler machen und zugeben und bereit sind, aus ihnen zu lernen. Das schafft ein Klima brüderlicher, partnerschaftlicher Verbundenheit und hilft auch, Phantasie zu entwickeln für den nächstmöglichen, wenn auch noch so kleinen Entwicklungsschritt bei sich selbst und beim Kind.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003

HERAUSFORDERN STATT VERWÖHNEN

Welche Herausforderungen braucht ein Kind?

Wie erkennt man, ob es über- bzw. unterfordert ist?

Was kann man bei Überforderung und Unterforderung tun?

Passende Herausforderungen finden

Da Kinder auf Überforderung und Unterforderung oft mit den gleichen Symptomen reagieren, ist es nicht immer leicht, Resignation, Lustlosigkeit, Provokation und Aufbegehren richtig zuzuordnen:[1]

  • Begabte Kinder werden auffällig, weil sie sich langweilen.
  • Kinder mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen beginnen zu provozieren, weil sie nicht mitkommen bzw. nicht mitmachen können.

Alle Kinder brauchen Herausforderungen, die ihrem Lebensalter und Entwicklungsstand gemäß sind.[2] Durch die damit verbundenen Erfolgserlebnisse wird ihr Selbstbewusstsein gestärkt – was Mut und Kraft für neue Aktivitäten bringt.

Die Werbebranche suggeriert uns dagegen, wie erstrebenswert ein Leben ohne Probleme wäre. Das wird unterstrichen durch vieles, was die Medien täglich verbreiten. Eltern sind deshalb schnell geneigt, ihrem Kind alles abzunehmen.[3] Außerdem möchte man, dass das Kind „es guthat“.

Fatales Verwöhnen

Man hat ständig die Trinkflasche bereit, hilft den Kleinen beim Aufräumen, spendiert noch ein Eis. Im Supermarkt, wo die entsprechenden Verlockungen in Augenhöhe der Kinder angeboten werden, bekommen sie oft das Gewünschte, damit die Quengelei aufhört. Später hilft man ihnen bei den Hausaufgaben, fährt sie überall hin und nimmt ihnen jeden Handgriff ab, sobald sie ein bisschen stöhnen. Für ihren Einsatz erhalten die Eltern meist keinen Dank, sondern sind mit immer weiteren Forderungen ihrer „leidenden“ Kinder konfrontiert, die so zu notorisch Hilfsbedürftigen werden.

  • Wer ständig Hilfe braucht und geschont wird, fühlt sich schwach – und ist es auch.
  • Wem man dagegen etwas abverlangt und zutraut, der wird dadurch tüchtig und selbstbewusst.

Dabei sind es oft unsere eigenen Ängste, die uns daran hindern, unseren Kindern das nötige Zutrauen entgegenzubringen. Allzu gerne nehmen wir ihnen Tätigkeiten ab, die ihre Selbständigkeit fördern könnten. Dann fordern sie manchmal selbst auf „störende“, provozierende Art und Weise ein, was sie brauchen: Sie sind von Lärm, Schmutz und Chaos fasziniert, wollen Neues entdecken und ausprobieren, ihre Kräfte messen. Sie suchen die Herausforderung!

Stärkende Begleitung

Mitgefühl kann Eltern helfen, ihre Sprösslinge so zu begleiten, dass sie dadurch stark werden. Falsches Mitleid wird die situationsgerechte Begleitung behindern, indem Kindern die notwendige Orientierung und Herausforderung versagt wird und sie dadurch schwach bleiben.

Unser Vorbild ist immer noch das wirkungsvollste Erziehungsmittel. Was wir ganz selbstverständlich tun, ohne reden oder große Erklärungen, können unsere Kinder ungestört aufnehmen und nachahmen, was ja ihrem Naturell entspricht. Auch helfen sie gern, wenn man sie lässt. Es lohnt sich, selbst wenn es mehr Zeit kostet oder die ersten Male noch nicht so recht gelingt. Kinder fühlen sich wichtig und ernst genommen, wenn sie in der Küche mithelfen dürfen oder den Auftrag bekommen, den Müll hinauszutragen oder etwas zu holen, was nötig ist.  

Zum „Fördern durch Fordern“ gehört auch, Grenzen zu setzen. Wer Grenzen setzt und Grenzen vertritt, kann Halt und Schutz geben – was ja Aufgabe der Eltern ist. Zu viel Freiraum bürdet Kindern eine Verantwortung auf, der sie nicht gewachsen sind. Indem wir sie zu sehr schonen und verwöhnen, nehmen wir ihnen die Chance, verzichten und warten zu üben.

Verstehen, was das Kind sagen will

Es ließe sich viel Unheil vermeiden, wenn Eltern und Lehrer die Provokationen und Frechheiten der Kinder nicht persönlich nähmen, sondern als Versuch verstehen könnten, etwas zu sagen, was sie nicht anders ausdrücken können. Jede erfahrene Mutter weiß, dass Quengelei, Heulen und Lustlosigkeit oft nur Ausdruck sind für Übermüdung oder Hunger. Ebenso sind viele der „schlechten Eigenschaften“ oder Frechheiten von Kindern eine Form, etwas auszudrücken, wofür dem Kind noch die Worte bzw. Gedanken fehlen. Eltern und Lehrern sollten gemeinsam überlegen, wie hier Abhilfe geschaffen werden kann: Z.B. könnte in der Schule ein besonders begabtes Kind neben einem weniger begabten und dadurch überforderten Kind sitzen, um ihm helfen zu können. Dadurch lernt es, einem anderen beizubringen, was es selbst schon kann – eine große Aufgabe, die seinen Ehrgeiz in eine menschliche soziale Richtung lenken kann.

Schwachbegabte neigen leicht dazu, sich als schwach, als dauernde Versager zu fühlen, die nichts richtig mitkommen. Wenn nun zu Hause oder in der Schule noch entsprechende Bemerkungen seitens der Eltern oder Erzieher fallen, werden sie bestärkt in dem Bewusstsein, dass sie nicht dem entsprechen, was man von ihnen erwartet.

Kinder nur an Höchstleitungen oder Versagen zu messen, ist Gift für die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins, das sich nur entfalten kann, wenn sie, unabhängig davon, was sie können oder nicht, erleben, dass sie als Menschen ernst genommen und bejaht werden, so wie sie sind, und die notwendige Unterstützung erfahren für einen nächsten Schritt: Es tut jedem Kind gut, wenn Eltern, Lehrern und Erziehern ihren Fokus darauf richten, dass es die Möglichkeit bekommt, etwas zu lernen, was es noch nicht kann. Kinder sind meist sehr dankbar, wenn man ihnen den Erwerb neuer Fähigkeiten zutraut. Aufmerksamkeit für ihr Tun und Anerkennung, wenn etwas gelingt, sind Kraftquellen, die Kindern über Widerstände und Hindernisse hinweghelfen.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003


[1] Michaela Glöckler, Begabung und Behinderung, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004.

[2] Karin Lantzsch, Optimale Hindernisse auf dem Weg zum Erwachsenwerden, in: Ursula Schulz (Hrsg.), Kindsein heute. Alptraum oder Traum, Waiblingen 2000.

[3] Siehe hierzu auch Mathias Wais, Suchtprävention beginnt im Kindesalter. Erziehung als Begleitung zur Selbständigkeit, Stuttgart 2002.

ERZÄHLEN UND VORLESEN ALS RESSOURCE

Warum sind Erzählen und Vorlesen so wichtig als Ressource für das Kind?

Was beim Zuhören geschieht

Neben Spiel und Gespräch sind Vorlesen und Erzählen von Märchen entscheidende Ressourcen, die ihre salutogenetische Bedeutung auf unterschiedliche Weise im Lauf des Lebens zeigen. Dabei geht es nicht nur um den differenzierten Wortschatz, die bilderreiche Sprache und die Inhalte, die stets Entwicklungs- und Lebenswahrheiten in knapper Folge zusammenge­fasst darstellen, sondern vor allem um das, was sich zwischen dem, der spricht, und dem, der zuhört, abspielt.

Beim Zuhören öffnet sich das Kind und ist, wenn mit Anteilnahme am Geschehen erzählt wird, „ganz Ohr“. Dabei übt es Aufmerksamkeit, Interesse und Konzentration aufzubringen. Im Wiedererzählen und Hören derselben Geschichte – was Kinder unter fünf Jahren ganz besonders lieben! – übt es auch, etwas zu vertiefen und damit zu leben.

Dieser Prozess der Anteilnahme an gemeinsam Erlebtem fördert zudem in schönster Weise die Beziehung selbst. Dabei ist auch das Gespräch über das eine oder andere Erlebnis im Märchen entscheidend, weil damit die Möglichkeit gegeben ist, an Alltagserlebnisse anzuknüpfen.

Sprache „aus der Konserve“

All dies leistet der „permanente“ Erzähler[1] in Form von Radio, CD und Fernsehen nicht; auch konnte bisher kein sprachfördernder Effekt eindeutig nachgewiesen werden. Denn das Erlernen von Sprache braucht den lebendigen Sprecher. Nicht nur das Kennen von Worten, sondern der verständnisvolle Umgang damit macht Sprache zu dem Kommunikationsmittel. Alarmierend sind die Artikel in Fachzeitschriften über den Sprachverfall bei Kindern, das Verstummen, ganz zu schweigen von der ständig steigenden Zahl an Sprachstörungen.[2]

Die „permanenten“ Erzähler bieten dem Zuhörer im Grunde nicht einmal eine Pause für eigene Gedanken. Im Gegenteil, alles Gebotene läuft mit einer kaum nachvollziehbaren Geschwindigkeit ab. Vor allem aber können die „permanenten“ Erzähler selbst nicht zuhören! Aber nur die wirklich dialogische Beziehung erweist sich auf Dauer als gesundheitsförderliche Ressource im Unterschied zur bloßen Ablenkung, Beschäftigung oder Betäubung eigener Gedanken und Motivationen.

Wechsel zwischen Erzählen und Zuhören

Zum Dialog gehören sowohl der Wechsel zwischen Erzählen und Zuhören wie auch das gemeinsame Nachsinnen. Das Kind vertieft sich ganz in das Erzählte, das in inneren Bildern in ihm aufsteigt, es reagiert mit Staunen, Freude oder atemloser Spannung und sagt vielleicht am Schluss: Noch einmal! Oder es räkelt sich glücklich und zufrieden in seinem Bettchen oder in der Kuschelecke des Sofas. Dann ist auch die Situation gegeben ein Gespräch anzufangen:

War das alles so gut, wie es gewesen ist?

Hat hier Einer Unrecht getan, ein Anderer vielleicht gerade noch einmal Glück gehabt, weil er die Wahrheit sagte?

Wenn man einen Tag so beendet, die Geschehnisse noch einmal an sich vorüberziehen lässt oder das eine oder andere Problem aus unterschiedlichen Perspektiven anschaut und vielleicht noch ein Lied singt, beinhaltet dieses Abendritual Musik, Sprache, lebhafte Gefühle, menschliche Begegnung, Beziehungspflege – im Grunde alles, was das Leben schön macht.

Zudem ist der Erwerb einer guten Ausdrucks- und Sprachfähigkeit das beste Mittel zur Vorbeugung aggressiver Neigungen oder Handlungen. Denn solange Menschen noch miteinander reden können, weil sie gelernt haben, zuzuhören und den anderen nicht „an die Wand zu reden“, wird keiner von beiden handgreiflich werden.

Der Zwischenraum zwischen Menschen wird durch Sprache gestaltbar, wenn man erkennt, dass der Abgrund zwischen Mensch und Mensch eine Brücke hat, die Bewegung in beiderlei Richtung zulässt.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003


[1] Eckhard Schiffer, Wie Gesundheit entsteht, a.a.O.

[2] Rainer Patzlaff, Sprachzerfall und Aggression. Geistige Hintergründe der Gewalt und des Nationalismus, Stuttgart 1994.

ERNÄHRUNG DES KINDES

Welche Art der Ernährung empfiehlt sich für das kleine Kind?

Welche Rolle spielen Qualität und Art der Zubereitung für den kindlichen Organismus?

Was geschieht beim Verdauen seelisch-geistig?

Abwechslungsreiche und aktivierende Kost verabreichen

Zu empfehlen ist in der Kleinkinderzeit eine lacto-vegetabile Kost, im übrigen Kindesalter eine den individuellen Bedürfnissen angepasste, abwechslungsreiche Kost, die aber nicht zu eiweißreich sein sollte.[1]

Der Zusatz von Vitaminen und Spurenelementen sollte nur vorgenommen werden, wo wirklich Mangel herrscht bzw. der Organismus nicht in der Lage ist, sich die für ihn notwendigen Vitamine und Mineralien selbst aus der Nahrung herauszuholen und aufzubauen. Aktivierung anstelle von Entlastung und Schonung ist das Grundprinzip der gesunden Ernährung.

Angesichts der Devitalisierung des modernen Menschen, die sich in der Neigung zu Ermüdung und Erschöpfung sowie in einer zunehmenden Immunschwäche und Allergiebereitschaft zeigt, wird heute die Frage nach dem Wie von Anbau, Lagerung und Zubereitung der Lebensmittel immer dringender.

Was beim Verdauen geschieht

Gesund gewachsene und schonend zubereitete Nahrungsmittel zu verdauen und in körpereigene Substanzen umzuwandeln, erfordert vom Organismus allerdings mehr Anstrengung, als das verdauen weniger vitaler bzw. lang gekochter oder konservierter Lebensmittel. Denn insbesondere in Kindheit und Jugend kommt der Nahrungsqualität grundlegende Bedeutung für die körperliche und seelische Entwicklung zu.

Denn bei der Verdauung geht es nicht nur um die stoffliche Zusammensetzung der Nahrungsmittel und deren Abbau und Umwandlung in körpereigene Substanz. Es geht auch um die Auseinandersetzung mit der Vitalität der Pflanze, ihrem eigenen Lebens- bzw. Gesundheitszustand und dem der Tiere, die wir essen. Auch Pflanzen sind Lebewesen, Tiere sind sogar bewusstseinstragende Lebewesen.

Je frischer und vitaler die Nahrung ist, umso mehr findet auch eine Auseinandersetzung mit den noch in den Substanzen nachwirkenden Lebens- und Seelenkräften der Wesen statt, deren Körperlichkeit wir essen. An der Überwindung dieser Kräfte erstarken die menschlichen Lebenskräfte (Ätherleib) und Seelenkräfte (Astralleib).

Den Organismus anregen durch unterschiedliche Angebote

Um den Organismus in seiner Verarbeitungsmöglichkeit allseitig anzuregen, ist es wichtig, die Nahrungsmittel dementsprechend zu kombinieren, auch hier nicht nur ihrer unterschiedlichen Inhaltsstoffe wegen, sondern der qualitativen Unterschiedlichkeit wegen, die dadurch zustande kommt, dass Organe von Pflanzen und Tieren spezifisch gewachsen sind. In Japan wirkt heute noch die in einem alten spirituellen Naturverständnis wurzelnde Auffassung fort, dass eine vollständige Mahlzeit aus Nahrungsmitteln zusammengestellt sein muss, die aus dem Gebirge, von der Ebene und aus dem Meer stammen.

In Europa haben wir die Tradition, Nahrungsmittel verschiedener Pflanzenorgane zu kombinieren: Wurzel, Stängel, Blatt, Blüte und Frucht. In jedem dieser Pflanzenteile findet während Wachstum und Entwicklung eine besondere Wechselwirkung mit den Kräften der Umgebung statt. Erde, Wasser, Luft, Licht und Wärme wirken nicht nur im Zusammenhang mit den jeweiligen geographischen Bedingungen, sondern auch spezifisch, je nachdem, wo sich die Pflanzenorgane entwickeln, die wir essen:

  • in der Erde als Wurzeln,
  • über der Erde als Blätter und Stängel,
  • in Wasser, Luft und Licht als Blüte und Frucht mit besonderer Beziehung zu Licht und Wärme.

Es erscheint vielleicht mühsam, Gesichtspunkte dieser Art in Ernährungsfragen mit einzubeziehen. Doch durch den Kauf von vollwertigen Bio-Nahrungsmitteln, werden Arten des Anbaus und der Tierhaltung gefördert, die der Gesundheit des Menschen und zugleich des Bodens dienen. Das Ergebnis ist ein nachhaltiger Beitrag zur Gesundung von Mensch und Natur.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003


[1] Siehe hierzu auch Michaela Glöckler, Wolfgang Goebel, „Kindersprechstunde“, a.a.O.;

sowie Petra Kühne, „Ernährungssprechstunde. Grundlagen einer gesunden Lebensführung“, Stuttgart 1993.

KINDHEIT IM WANDEL DER ZEITEN

Wie hat sich Kindheit im Laufe der Zeiten gewandelt?

Neue Herausforderungen

Wenn wir davon sprechen, was das Kindsein heute mit sich bringt, gehen wir gleichzeitig davon aus, dass es im Hinblick auf die Kindheit auch ein Gestern gibt und ein Morgen geben wird. Jedem Erwachsenen, der sich an seine Kindheit erinnert, wird sofort deutlich werden, wie anders es früher im Vergleich zu heute war. Jede neue Erfindung, vor allem im Bereich der Technik, bringt neue Herausforderungen mit sich und verlangt eine Anpassung und Änderung der menschlichen Gewohnheiten.

Vor etwas über 150 Jahren, als die ersten Eisenbahnen mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h fuhren, erhoben Ärzte besorgte Einwände und meinten, die Geschwindigkeit der Züge würde bei Reisenden wie Zuschauern zu Gehirnerkrankungen führen. Tunnel gaben zu ärztlichen Warnungen vor einem gefährlichen Luftwechsel Anlass. Schilderungen aus dieser Zeit belegen, dass die Sinne größte Schwierigkeiten hatten, den Raum bei dieser Geschwindigkeit richtig zu erfassen. Dennoch sind diese Befürchtungen nicht eingetreten. Und heute erleben Kinder und Jugendliche auf den Rummelplätzen in den Achterbahnen – wenn auch nur für Sekunden – Geschwindigkeiten und Körperbelastungen wie bei dem Start einer Rakete – und halten es aus.[1]

Überschreitung der Grenze des Menschenmöglichen

Ein anderes Beispiel ist das Bergsteigen. Was vor hundert Jahren noch als „Grenze des Menschenmöglichen“ gegolten hatte und nur von Einzelgängern bewältigt wurde, wird heute bereits von Anfängern geklettert. Zu jeder Zeit entsprachen die erbrachten Leistungen jeweils auch der Grenze des Menschenmöglichen. Dass einzelne Bergkletterer eines Tages ohne jegliche Hilfsmittel äußerst schwierige Felswände erklettern, wie sie dies heute tun, hätte vor zehn Jahren sicher noch als ein Ding der Unmöglichkeit gegolten.[2]

Bedenkt man die rasante Entwicklung auf allen Gebieten, die sich allein im 20. Jahrhundert vollzog, und wie die Menschen damit fertig wurden, liegt es nahe zu denken, dass Kinder, die heute zur Welt kommen, auch für die gegenwärtigen Herausforderungen gerüstet sind. „Er sah, dass sein Kind ihm in vielem voraus war. Und er war der Zeit, der Gegenwart dafür dankbar“, so Peter Handke in seiner „Kindergeschichte“.[3] Kinder bringen neue Fähigkeiten mit, um mit den Gegebenheiten, in die sie hineingeboren werden und die noch auf sie zukommen, fertigzuwerden. Sie sind für sie Anlass, einen weiterführenden Entwicklungs­schritt zu meistern.

Inneren Auftrag erfüllen helfen

Außerdem müssen wir bedenken, dass jede Generation von Kindern aus dem früheren Erdenleben, aus dem Vorgeburtlichen, ganz bestimmte Impulse mitbringt in Bezug auf das, was sie hier auf der Erde tun wollen. Sie kommen mit einem Vorhaben, einem inneren Auftrag, den sie sich selbst gegeben haben. Sie wünsche sich, dass dieser Auftrag ernstgenommen wird. Deswegen gibt es ja auch nichts Schlimmeres für Jugendliche, als zu erfahren, dass sie keine Arbeitsstellen finden, weil sie dadurch erleben, dass sie gar nicht gebraucht werden.

Oft reagieren sie mit einer mehr oder weniger bewussten Stimmung von Verzweiflung, Sinnlosigkeit oder auch Wut gegenüber diesen Verhältnissen. Das äußert sich als Lustlosigkeit, Depression, Angst, zeigt sich aber auch in aggressiven, provokativen oder kriminellen Verhaltensweisen.

In vielen Publikationen werden Kinder von heute als hochbegabt, spirituell begabt, als „Indigo“- oder „Sternen“-Kinder, bezeichnet.[4] Was bei der Lektüre dankbar stimmt, ist die Tatsache, dass die Bücher eine Signalwirkung haben: Schaut euch die neue Generation an, nehmt wahr, was sie mitbringt, nehmt sie ernst! Problematisch sind solche Bücher, wenn sie zu neuen Klassifizierungen führen und damit wieder nicht erreicht wird, was Steiner schon 1919 forderte, nämlich dass man dem Verhalten jedes Kindes individuell ablesen sollte, wie man mit ihm umzugehen hat. Das gelingt nur, wenn wir Kindern mit einer inneren Fragehaltung begegnen:

Was bringst du mit als Botschaft aus der geistigen Welt?

Was hast du vor?

Welche Temperamentsmischung kennzeichnet dich?

Sind deine Hände, dein Kopf so geformt, dass du ihre Funktionen gut aufeinander abstimmen kannst, oder weiß der Kopf nicht, was die Hände tun und umgekehrt?

Jedes Kind hat eigene Impulse mitgebracht und sucht nach Möglichkeiten, sich darüber klarzuwerden, wofür es angetreten ist. Keines will typisiert, rubriziert und diagnostiziert werden.

Wunderkinder bei Goethe und Schiller

Kinder mit besonderen Schwierigkeiten und erstaunlichen Fähigkeiten gibt es nicht erst heute. Auch spirituelle Begabungen waren schon in jeder Generation des 20. Jahrhunderts zu finden.[5] Schon Goethe und Schiller bewegten solche Gedanken.

- Goethes Blick auf Kinder

Goethe schreibt in „Dichtung und Wahrheit“:[6]

„Wir können die kleinen Geschöpfe, die vor uns herumwandeln, nicht anders als mit Vergnügen, ja mit Bewunderung ansehen: denn meist versprechen sie mehr, als sie halten, und es scheint, als wenn die Natur unter anderen schelmischen Streichen, die sie uns spielt, auch hier sich ganz besonders vorgesetzt, uns zum Besten zu haben. Die ersten Organe, die sie Kindern mit auf die Welt gibt, sind dem nächsten unmittelbaren Zustand des Geschöpfes gemäß; es bedient sich derselben Kunst auf die geschickteste Weise zu den nächsten Zwecken. Das Kind an und für sich betrachtet mit seinesgleichen und in Beziehungen, die seinen Kräften angemessen sind, scheint so verständig, so vernünftig, dass nichts drübergeht, und zugleich so bequem, so heiter und gewandt, dass man keine weitere Bildung für dasselbe wünschen möchte.

Wüchsen die Kinder fort, wie sie sich andeuten, wir hätten lauter Genies.

Aber Wachstum ist nicht bloß Entwicklung; die verschiedenen organischen Systeme, die einen Menschen ausmachen, entspringen auseinander, folgen einander, verdrängen einander, ja zehren einander auf, so dass von manchen Fähigkeiten, von manchen Kraftäußerungen nach einer gewissen Zeit kaum eine Spur mehr zu finden ist. Wenn auch die menschlichen Anlagen im Ganzen eine entschiedene Richtung haben, so wird es doch dem größten und erfahrensten Kenner schwer sein, sie mit Zuverlässigkeit voraus zu verkünden; doch kann man hintendrein wohl bemerken, was auf ein Künftiges hingedeutet hat.“

Dass Kinder dem Himmelreich nahestehen, war ein Topos durch die Jahrhunderte.

- Schillers Blick auf Kinder

Schiller sieht nicht erfüllte, aufgegebene Ideale auf rührende Weise in Kindern verkörpert:[7]

„Nicht weil wir von der Höhe unserer Kraft und Vollkommenheit auf das Kind herabsehen, sondern weil wir aus der Beschränktheit unseres Zustands, welche von der Bestimmung, die wir einmal erlangt haben, unzertrennlich ist, zu der grenzenlosen Bestimmbarkeit in dem Kinde und zu seiner Unschuld hinaufsehen, geraten wir in Rührung. In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns ist die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegenteil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft, seiner Integrität, was uns rührt. Dem Menschen von Verstand wird ein Kind ein heiliger Gegenstand sein.“

Aufgrund der Resilienzforschung wissen wir heute, in welch hohem Maß die Auffassung Goethes zutrifft. Begegnen wir Kindern mit der heiligen Freude an ihrem So-Sein, mit dem Willen, ihnen bei ihrer Entwicklung und Selbstfindung beizustehen, so lernen sie, von ihren Begabungen den besten Gebrauch zu machen. Gelingt das nicht, verkümmern oder verkehren sich ihre Anlagen und ursprünglich gute Kräfte, wie Intelligenz, Sensibilität, Impulsivität und Willensstärke, und treten einseitig, egozentrisch verzerrt oder destruktiv auf.

Die Haltung entscheidet

Kinder zu begleiten heißt heute, wirklich zu schauen, was jemand aus seiner Vergangenheit ganz individuell in dieses Heute hereinbringt.

Was können wir tun, damit aus diesem Heute ein befriedigendes Morgen wird?

Ob wir nun von „Humanistischer oder Positiver Psychologie“[8] oder von „Waldorfpädagogik“[9] und „Wesensgliederdiagnostik“ sprechen, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist die innere Haltung, die hinter den jeweiligen Begriffen und Konzepten steht und die unser Handeln prägt:

  • ob man das Kind wirklich ernst nimmt in allem, was es ausmacht;
  • ob man ihm tatsächlich in seiner Entwicklung helfen will;
  • ob man bei allem seine Zukunft im Bewusstsein hat.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003


[1] Roswitha v. dem Borne, Einfach fallen lassen. Der Rausch nach Grenzerfahrungen, Stuttgart 2001.

[2] Roswitha v. dem Borne, a.a.O.

[3] Peter Handke, Kindergeschichte, Frankfurt/M. 1971.

[4] Lee Caroll & Jan Tober, Die Indigo-Kinder. Eltern aufgepasst... Die Kinder von morgen sind da!, Burgrain 2000;

Georg Kühlewind, Sternkinder. Kinder, die uns besondere Aufgaben stellen, 2. Aufl. Stuttgart 2001.

[5] Siehe hierzu Dietrich Bauer, Max Hoffmeister, Hartmut Görg, Gespräche mit Ungeborenen. Kinder kündigen sich an, 4. Aufl. Stuttgart 1994, und Wunderkinder. Schicksal und Chancen Hochbegabter, Frankfurt 1991. In letzterem sind Beispiele bis ins 17., 18. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Nicht nur Mozart, auch Haydn, Schubert, Schumann waren Wunderkinder. Weiterhin wird von hochbegabten Mathematiker-Kindern berichtet, von anderen, die mit wenigen Monaten sprachen und vieles mehr. Manche sind früh gestorben, aus anderen sind große Meister geworden, bei anderen wiederum ist die Genialität der Kinderzeit versiegt.

[6] Goethes Werke, Bd. VIII, Stuttgart 1962.

[7] Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, Prosaschriften, Stuttgart 1956.

[8] Bei der Humanistischen Psychologie handelt es sich um eine psychologische Schule. Ihrem Anspruch nach trägt sie mit dazu bei, dass sich gesunde, sich selbst verwirklichende und schöpferische Persönlichkeiten entfalten können.<br>

Positive Psychologie ist die Selbstbezeichnung eines vom US-amerikanischen Psychologen Martin Seligman begründeten Forschungsprogramms. Dabei werden normativ positive Gegenstände der Psychologie wie Glück, Optimismus, Geborgenheit, Vertrauen, Verzeihen und Solidarität behandelt, welche laut Seligman in der anfänglich konflikt- und störungsorientierten Psychologie wenig beachtet wurden. Inzwischen benennt der Begriff eine Strömung (möglicherweise eine Schule) innerhalb der Psychologie; sie wird auch als „neues Paradigma“ bezeichnet. (Wikipedia).

[9] Die Waldorfpädagogik ist eine von Rudolf Steiner (1861–1925) begründete Pädagogik auf der Grundlage der ebenfalls von ihm entwickelten Menschenkunde Anthroposophie. Sie wird der Reformpädagogik zugerechnet. (wikipedia).

MENSCHHEITSGESCHICHTE UND KINDSEIN

Was bedeutet Kindsein im Rahmen der Stammesgeschichte?

Wie greifen die Entwicklungen von Allgemein-Menschlichem und Individuellem ineinander?

Wie kann der Erwachsene die Entwicklung des Kindes fördern?

Primäre Entwicklung von Allgemein-Menschlichem

Menschen haben nicht nur ihre persönliche Biographie, sie prägen mit ihrem So-Sein, ihren Anlagen und Möglichkeiten auch die zukünftige Menschheitsentwicklung. In den ersten drei Jahren der Entwicklung des Kindes steht das Allgemein-Menschliche sogar im Vordergrund:

  • Im ersten Jahr wird der aufrechte Gang erworben,
  • im zweiten die Muttersprache erlernt
  • und im dritten Jahr tritt mit dem Ich-Sagen das eigenständige Denken erstmals auf.

Diese Entwicklung vollzieht sich bei allen Völkern und in allen Kulturen auf ähnliche Weise. Erst ab dem 3. Lebensjahr gewinnt die Anpassung an die jeweiligen lokalen und nationalen Gegebenheiten an Bedeutung.

Kindheit als Wiederholung der Stammesgeschichte

Kindsein bedeutet in gewisser Weise auch, die Stammesgeschichte zu wiederholen, die von den Stufen eines magischen, mythologisch-bildhaften Bewusstseins und archaischen Gedächtnisformen bis hin zum Gegenstandsbewusstsein und dem abstrakten Gedächtnis der Gegenwartsmenschen reicht. Wer Kinder beobachtet, sieht, dass sie diese Entwicklungsstufen durchlaufen.

Man denke z.B. an das Bewusstsein der Indianer, die den „Großen Geist“ in der Natur und in ihren magischen Handlungen erlebten.

Kleine Kinder erleben noch das elementar Spirituelle in Bach, Fels, Baum und Stein. Deshalb haben sie auch Angst, über eine dunkle, dämmrige Wiese zu gehen – einfach, weil sie noch viel mehr als die meisten Erwachsenen sehen, z.B. auch Elementarwesen.

Sie befinden sich in einem anderen Bewusstseinszustand und denken noch nicht abstrakt, denn dazu ist das Gehirn noch nicht reif. Sie sehen ihre Gedanken noch wesenhaft, anstatt sie abstrakt zu reflektieren – auch wenn sie für diese Wahrnehmungen keine Worte haben, weil sie diese von den Erwachsenen, deren Bewusstsein meist auf das Gegenständliche reduziert ist, nicht lernen konnten. Eines Tages vergessen sie diese Wahrnehmungen – und dann ist der Zauber der Kindheit vorbei...

Eigenaktivität als optimale Rundum-Förderung

So durchlebt jedes Kind frühere, auch religiös-magische Entwicklungsstadien und kommt allmählich im Hier und Heute an – das eine Kind früher, ein anderes später. Gerade Kinder, die schnell ins Hier und Heute hereinstreben und eine Umwelt haben, die das fördert, brauchen eine Erziehung, die ihnen die Reifung ihrer Gesamtpersönlichkeit aus dem Gang der Menschheitsentwicklung heraus ermöglicht, indem sie z.B. Märchen und Singspiele, Rituale und sinnvolle Gewohnheiten erleben dürfen.

Betrachtet man die kindliche Entwicklung unter diesem Aspekt, leuchtet ein, dass insbesondere in den ersten neun Lebensjahren, in denen die Gehirnentwicklung – und damit die Ausreifung komplexer Strukturen – im Vordergrund steht, adäquate Anregungen nötig sind. Jede Form von Eigenaktivität – körperlich wie auch in der Phantasie – fördert diesen Reifungsprozess am intensivsten. Alles, was an Sprach-, Beziehungs- und Gefühlskultur gepflegt wird, entwickelt die sogenannte emotionale Intelligenz, ohne die sich auch die abstrakten Intelligenz- und Gedächtnisformen nicht voll entfalten können.

Aufrichtung in Denken und Haltung

Die so notwendige Eigenständigkeit im Denken und Beurteilen wird gefördert, indem man Kindern nicht nur Informationen gibt und quasi tolle Filme vor ihrem inneren Auge ablaufen lässt, sondern ihnen gute Fragen stellt, an denen sie selbst den Erkenntniserwerb üben können.

Um die Gehirnreifung und die Entwicklung im Allgemeinen voranzubringen, muss ein Kind alle seine Sinne schulen, bis es sich auch feinmotorisch betätigen kann und eine gute gesamtmotorische Koordination aufweist. Was man oft nicht bedenkt ist, dass Körperhaltung und Bewegungsspiel bzw. das Gangbild nicht nur von der körperlichen Übung, sondern insbesondere vom Denken abhängen: Ein aufrechter Gang ist oft einem klaren, beweglichen, gut strukturierten Denken geschuldet. Denn letztlich ist es das Denken selbst, das den Menschen aufrichtet und zu sich selber bringt. Ich persönlich habe lange gebraucht, bis ich diesen Zusammenhang bemerkt habe.

Physisch richtet sich der Mensch schon im ersten Lebensjahr auf. Wenn man jedoch keine gedankengetragene Aufrichtigkeit entwickelt und sich nicht eigenständig auf Wahrheitssuche begibt, wird man sich innerlich kaum aufrechten können – und dann verkümmert auch die Körperhaltung. Die Art, wie jemand geht, sich auf andere zu- und von ihnen wegbewegt, spiegelt seine Art zu denken wider.

Was Interesse vermag

Besonders eindrücklich konnte ich das erkennen, als ich im Rahmen meiner schulärztlichen Tätigkeit beobachtete, wie Jugendliche im 10. Schuljahr alle Viere von sich strecken, wenn sie sitzen, wie sie lustlos rumrutschen und den Lehrer gelangweilt anblinzeln, wenn sie der Stoff nicht interessiert.

Sobald sie aber etwas zu interessieren beginnt und sie anfangen, selbst zu denken, werden die Beine angezogen, der Oberkörper strafft sich, richtet sich auf, und der Blick wird frei und zielgerichtet bzw. – beim Denken selbst – wie nach innen gewandt. Mancher Schüler, dem im Unterricht „ein Licht aufgegangen“ war und der dadurch ein Erfolgserlebnis hatte, geht nachher ganz anders über den Schulhof: aufrecht, motiviert, gestrafft, mit starkem Rückgrat.

Selbst denken zu lernen, selbständig zu werden im Denken, ist demnach die wesentlichste Quelle geistiger, seelischer und körperlicher Gesundheit.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003

KINDHEIT IN GEFAHR

Welche Faktoren gefährden die Kindheit als solche?

Was macht die Kindheit zu solch einem bedeutsamen Entwicklungszeitraum?

Kindheit als Möglichkeit, zu sich selbst zu finden

Neil Postman, der Autor von „Das Verschwinden der Kindheit“,[1] zog Anfang der Achtziger Jahre eine Art Bilanz der Kultur Amerikas. Er stellte fest, dass es das Phänomen Kindheit erst seit dem 16. Jahrhundert gibt und zu seiner Zeit noch gar nicht global anerkannt wurde. Nur in Amerika und Europa begriff man Kindheit erstmals in der Geschichte als bedeutsame Phase der Individualisierung: Kindheit gibt den Kindern als Entwicklungsraum die Möglichkeit, sich selbst zu finden und zwingt sie nicht von vornherein,

  • sich an die Gegebenheiten der Familie anzupassen,
  • zu den Eltern „Sie“ zu sagen,
  • Angst zu haben vor den Erwachsenen, den Eltern, dem Lehrer, dem Pfarrer,
  • sich mehr oder weniger wie ein Hund abrichten zu lassen, stramm zu stehen
  • und so mehr oder weniger ein Gruppen- und Obrigkeitsbewusstsein zu entwickeln.

Heutzutage gibt es zum Glück immer mehr Menschen, die sagen: „Wenn ich Kinder habe, will ich es anders machen! Ich möchte, dass sie sie selbst sein dürfen!“ Dass das etwas wirklich Neues ist, das mit der Neuzeit zusammenhängt, darauf macht Neil Postman aufmerksam.

Neue gesellschaftliche Konditionierungen

Gleichzeitig ist Neil Postman aber sehr besorgt, dass die neuen Kulturgewohnheiten – vor allem die Sexualisierung der Gesellschaft über Werbung, Filme und eigenes Beispiel – sich derart auf die Kinder auswirken, dass sie wieder zu kleinen Erwachsenen gemacht und in ganz bestimmte Konditionierungen gezwungen werden. Er zieht am Ende seines Buches eine Art Bilanz, die ich zitieren möchte:

„Dennoch, es gibt Eltern, die sich darauf eingelassen haben, dieser Entwicklung, den Anweisungen der heutigen Kultur zu trotzen. Diese Eltern verhelfen ihren Kindern nicht nur zu einer Kindheit. Sie schaffen zugleich auch eine Art von intellektueller Elite. Auf kurze Sicht nämlich werden Kinder, die in solchen Verhältnissen aufwachsen, größere Chancen im Geschäftsleben, in den freien Berufen, und sogar in den Medien haben. Und was lässt sich über die längerfristige Entwicklung sagen? Wohl nur dieses: Eltern, die sich dem Zeitgeist widersetzen, tragen zur Entstehung eines ‚Klostereffektes‘ bei, denn sie helfen mit, die Tradition der Humanität wachzuhalten. Es ist nicht vorstellbar, dass unsere Kultur vergisst, dass sie Kinder braucht. Aber, dass diese Kinder eine Kindheit brauchen, das hat unsere Kultur schon halbwegs vergessen. Jene, die sich weigern zu vergessen, leisten einen kostbaren Dienst.“

Anstelle von Eltern kann man auch Erzieher und Erziehrinnen sagen. Es ist wunderbar, dass immer mehr Männer, nicht nur Frauen, sich entschließen, den Erzieherberuf zu ergreifen.

Daten aus der Forschung

„Kinder heute sind aggressiv oder scheu, scheinen überfordert oder traurig, immer öfter stellen Ärzte psychische Auffälligkeiten fest, jeder 5. der jungen Patienten ist betroffen. Die meisten bleiben unbehandelt – doch Vorbeugung wäre möglich.“

Die WHO hat 2015 Zahlen zur posttraumatischen Belastungsstörung veröffentlicht: Weltweit, in allen Kulturen, kommt es zu 10% an traumatischen Ereignissen. Auf die Gesamtbevölkerung umgelegt, handelt es sich dabei um:

  • 22% Gewalt
  • 17% Unfälle
  • 16% Krieg

Was mich sehr gefreut hat – es gibt jetzt eine Präventionsprogramm zur Behandlung von Bindungsstörungen Namens SAFE (= sichere Ausbildung für Eltern). Im letzten Teil dieser Betrachtung wird uns die Frage beschäftigen, was sich an unseren Ausbildungen ändern bzw. intensivieren muss und wie wir Präventionsprogramme gerade auch für Eltern anbieten können.

Weitere Zahlen der WHO belegen: Eines von 5 weiblichen, eines von 13 männlichen Kindern hat sexuelle Gewalt erlitten. Das wird auch immer mehr zum Thema.

Pädagogen als nüchterne Vorbilder gefragt

In den USA wurde in einigen Bundesstaaten Marihuana legalisiert. Anlässlich meiner letzten Reise in den Staaten wurde ich daraufhin gefragt, ob es ginge, dass ein Lehrer Marihuana raucht. Ich konnte darauf nur antworten, dass das nicht ginge. Im Vertrag muss das als Grund für eine fristlose Kündigung gelten.

Als ich Mitte der Neunziger Jahre an der nordischen Kindergartentagung teilnahm, war es völlig normal, dass am bunten Abend Sekt getrunken wurde. Ich saß mit wenigen Leuten an dem Tisch, wo es Sprudel und Saft gab. Da sagte dann eine Kindergärtnerin zu mir: „Das ist bei uns im Norden so!“ Worauf ich sagte: „O.k., aber gut ist das nicht!“ Nicht alles, was üblich ist und für normal gehalten wird, ist gut. Warum? Die Tatsache, dass man als Pädagoge und Vorbild ständig freiwillig seine Leber schädigt, ist das eigentliche Problem, nicht der Alkohol selbst.

In der Medizin weiß man mittlerweile: Wenn Leitung oder Mitarbeiter einer Entzugsklinik selbst trinken – und sei es nur ihr Gläschen Wein –, ist die Rückfallquote signifikant höher als in Einrichtungen, wo die Angestellten ganz bewusst darauf verzichten. Durch solche Statistiken kommt ins Bild, dass unsere Handlungen eine Wirkung haben: Es ist nicht egal, was wir denken, fühlen und tun! Je kleiner Kinder sind, desto mehr bekommen sie alles mit, weil sie noch viel intuitiver mit uns verbunden sind.

Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015


[1] Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Fischer Verlag.

ANGRIFFE AUF DIE KINDHEIT AUF FÜNF EBENEN

Auf welchen Ebenen ist die Kindheit in der Gegenwart gefährdet?

Wie äußern sich diese Gefährdungen?

Fünf Gefährdungsebenen

Ich habe versucht, Kindheit unter dem Aspekt der Gefährdung seitens der heutigen Kultur anzuschauen und habe fünf gefährdende Aspekte gefunden.

1. Physischer Aspekt – Schrott vom „Markt Kindheit“

Kindheit ist zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren geworden. Alles, was über die Vermarktung an das Kind herankommt, geht über die Sinne und prägt sich dem physischen Leib ein. In der Computerbranche gibt es bereits Angebote ab dem 3. Lebensmonat. Ich las in den USA einen Artikel, in dem beschrieben wird, wie die Medienbranche erneut versucht, einen Vorstoß zu machen und Menschen vom Wert des PCs für die frühe Pädagogik zu überzeugen. Und das trotz aller gegenteiliger Forschungsergebnisse! Es handelt sich um einen richtigen Kampf.

Das Kind ist umgeben von „Schrott“, egal ob Spielzeug oder Gebrauchsartikel: Heute im Flugzeug sah ich ein Baby ohne Mützchen, aber mit einem hässlichen Maskottchen – das sich als Täschchen für den Schnuller entpuppte. Dieses goldige Kind musste ständig dieses Fratzending sehen… hatte es immer bei sich. Das Schlimmste war aber, dass der Kleine in dem kalten Zugwind des Flugzeugs schrie: warum? Weil der Kopf kalt war und niemand es bemerkte. Die Unwissenheit vieler Eltern in Bezug auf die prägende Wirkung des Physischen für ihr Kind ist erschütternd.

2. Ätherischer Aspekt – verplante Kindheit

Das gilt auch für das Ätherische. Alles, was über die Strukturierung der Zeit an das Kind herankommt, prägt sich dem Ätherleib und der Gewohnheitsbildung ein. Auf einer Fahrt von Basel nach Paris bin ich kürzlich diesem zweiten Aspekt begegnet: Die Mutter hatte eine Mappe voller kleiner Bilder dabei. Sie war offensichtlich bemüht, keine Stunde für die Intelligenzentwicklung ungenützt zu lassen, weil sie wohl wusste, dass in den ersten drei Jahren eine ganz Flut an Verknüpfungen von Nervenendigungen stattfindet. Der Vater saß unbeteiligt mit seinem Bier und der Zeitung am Fenster und die Mutter zeigte auf einzelne Bildchen und benannte sie – das Kind sollte die Begriffe nachsprechen und tat es auch. Das ging solange, bis der Kleine, der etwa 2 Jahre alt war, erschöpft über dem Buch einschlief. Dann hat sie ihn hingelegt – und sobald er wieder aufwachte, ging es genauso weiter. Das war Wesen und Inhalt der Mutter-Kind-Beziehung: Intelligenzförderung.

Ganz anders die seltenen Zugfahrten mit unserem Vater – am Fenster zu sitzen und rauszuschauen und Sachen zu entdecken! Wir durften auch den Zug erforschen, loslaufen und andere Leute anschauen, wobei uns vorher eingeschärft wurde, wie wir uns zu benehmen hätten – das war spannend! Oder wir saßen im Abteil und sangen und dann gab es etwas zu essen. Das waren richtige Ereignisse, das war gelebte Kindheit. Heute überwiegt das Phänomen der verplanten Kindheit. Die Eltern meinen es gut, sie tun das Beste für ihr Kind und wissen nicht, was sie tun! Denn in den Elternausbildungen wird nicht gelehrt, was das Kind wirklich braucht. Rudolf Steiner wollte, dass kein Waldorfschüler die Schule verlässt, ohne über die ersten drei Jahre und die wichtigsten Erziehungsprinzipien Bescheid zu wissen – das verstehe ich immer besser. Das ist Aufklärungsunterricht!

3. Seelischer Aspekt – mangelnde Beziehungsqualität

In Bezug auf diesen Aspekt müssen wir wissen: Wie wir uns den Kindern gegenüber benehmen, prägt sich dem Astralleib ein. Deswegen ist es so wichtig, die Ergebnisse der Bindungsforschung aus den letzten 40 Jahren dankbar entgegenzunehmen. Es ist wunderbar, was man heute alles weiß! Aber in der Alltagswirklichkeit geschieht das Gegenteil von Bindungsaufbau und Beziehungspflege: Menschen finden immer weniger Zeit für ihre Beziehungen. Kinder erleben sehr selten das Vorbild guter, gesundheitsfördernder menschlicher Beziehungen.

Merkmale gesunder Beziehungen

Salutogenetisch wertvolle menschliche Beziehungen sind beseelt von drei Qualitäten:

· Interesse füreinander – Verstehbarkeit

Man will den anderen verstehen. Eine Beziehung, in der die Partner sich gegenseitig verstehen wollen, ist meist eine gute Beziehung. Das zeigt sich daran, dass beide immer Fragen an den anderen haben. Und je sicherer man sich fühlt, umso mehr zeigt man dem anderen, wie man wirklich ist. Dann stellt sich heraus, dass man anders ist als der andere…

Eine Frau erzählte mir, sie hätte ihren Ehemann am Abend vor der Hochzeit total schockiert, weil sie sagte: „Ich möchte, dass Du eines weißt: Ich heirate Dich nicht, um Dir zu gefallen und Dich glücklich zu machen! Überlege Dir das gut!“ Und dann verbrachten sie die Nacht vor der Hochzeit jeder bei sich zuhause in getrennten Betten. Am Hochzeitstag wäre er auf sie zugekommen und hätte ihr die Hand gegeben und sagte: „Ich habe es begriffen!“.

Was ist daran so wichtig? Man macht sich dadurch gegenseitig glücklich, dass man dem anderen erlaubt so zu sein, wie er ist. Dass man Freude daran hat zu entdecken, mit wem man eigentlich verheiratet ist. Das Gegenteil geschieht, wenn man von der Erwartung ausgeht, der andere müsste so sein, wie man selbst. Frauen meinen ja sogar, sie könnten ihre Männer erziehen! Solange man sich noch verstehen will, findet Austausch statt, ist die Beziehung – zumindest mental – intakt.

· Gemeinsames Anliegen – Sinnhaftigkeit

Das Zusammenleben muss Sinn machen. Wodurch wird das Ganze sinnhaft? Nicht dadurch, dass man sich gegenseitig glücklich macht, sondern indem man sich gemeinsam auf eine sinnvolle Aufgabenstellung hin orientiert, dass man etwas Drittes, ein gemeinsames Anliegen, hat, das einen verbindet. Man macht damit die Umwelt glücklich und hat selbst auch etwas davon. Wenn eine Beziehung ihren Sinn verloren hat, sollte man sie besser beenden. Oder schauen, wie man damit umgehen kann, dass sie wieder Sinn macht. Dieses Ringen zu spüren, ist für Kinder unendlich wertvoll, hilfreich und wichtig als Orientierung.

· Respekt vor der Freiheit des anderen – Handhabbarkeit

Hier geht es um den Respekt im Umgang miteinander, dass der andere sich frei fühlt, sich entfalten kann. In Bezug auf Kinder geht es darum, dass man ihnen den Raum so absteckt, dass sie sich darin ganz frei betätigen können.

Diese Art von Beziehungskultur – ich möchte sogar das Wort „Willkommenskultur“ verwenden – heißt das Kind willkommen und signalisiert ihm: Ich möchte Dich verstehen!

4. Ich-Aspekt – Orientierungslosigkeit

Nun zu dem gefährdeten Ich-Aspekt. Unsere Identität, die wir unserer Ich-Organisation verdanken, ist heute ebenfalls gefährdet: Viele Erwachsene stehen orientierungslos vor ihren Kindern, weil sie selber nicht wissen, wer sie sind und was das Ganze soll. Diese Orientierungslosigkeit ist erschreckend und trägt zum Anwachsen einer Kultur der Abhängigkeit bei. Denn wenn man nicht gelernt hat, Selbstständigkeit zu entwickeln, von sich selbst abzuhängen, hält man das Leben gar nicht aus, ohne von etwas anderem abhängig zu sein. Der Mensch ist auf Identifikation mit etwas hin veranlagt. Und er entwickelt nur dann ein gesundes Verhältnis zur Welt, wenn er sich mit sich selbst so identifizieren kann, dass er nicht von der Mitwelt abhängig ist, dass er sich auch nicht von ihr isoliert, sondern in einem atmenden, Bewusstsein stiftendes Verhältnis zu ihr pflegt. Das Thema Identität ist heute absolut vorrangig: Wie lebt man als Erwachsener eine gesunde Identitätssuche und -bildung vor?

5. Aspekt des leibfreien Denkens-Fühlens-Wollens – materialistische Ausrichtung

Wir denken ja mit unseren sich vom Leib emanzipierenden ätherischen Kräften, wir fühlen mit den sich wieder aus dem Leib emanzipierenden astralischen Kräften, und wir wollen (handeln) mit den aus den sich im Laufe der Entwicklung emanzipierenden Ich-Kräften. Wie wir mit dem geistig-seelischen Potential des Denkens, Fühlens und Wollens umgehen, ist eine Frage der Kultur: ob sie materialistisch, rational, von der Ökonomie oder Machtinstinkten bestimmt ist, ob sie Abhängigkeit fördert oder ob sie spirituell in den verschiedensten Nuancen ist. Das sind große Fragen, auch im Hinblick auf die heutigen Ausbildungen.

Die Kindheit ist am stärksten gefährdet durch eine materialistische Gesinnung, durch Orientierungs­losig­keit, durch fehlende Beziehungsqualität, durch „Verplantheit“ und Vermarktung.

Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015

WOVOR UND WIE MAN KINDER SCHÜTZEN KANN

Woher kommen die Wachstums- bzw. die Lebenskräfte des Kindes?

Wie hängen Mutter und Kind kräftemäßig zusammen?

Wovor müssen wir unsere Kinder schützen und inwiefern sind sie geschützt?

Geistige Quelle der Lebenskräfte

So unterschiedlich die Erlebnis­se von Müttern in der Schwangerschaft auch sein mögen, eines haben sie gemeinsam: Sie nehmen ihr Kind sehr früh als autonomes Wesen wahr, das von sich aus wächst und sich entwickelt.

Woher die Wachstumskräfte des Kindes stammen, beschreibt Rudolf Steiner aufgrund seiner geistigen Forschung folgendermaßen: Jeder Mensch erarbeitet im Nachtodlichen unter göttli­cher Führung in Verbindung mit den hierarchischen geistigen We­sen die geistige Konzeption des Körpers für sein nächstes Erdenleben. Dazu gehören auch die Wachstumskräfte. Diese geistige Konzeption ist ein weis­heitsvoller Kosmos aus Gesetzmäßigkeiten, die bei der Be­fruchtung mit der Substantialität der Erde in Berührung kommen. Die Mutter stellt dem Geistkeim des Kindes Substanz zur Verfügung, aus der heraus es im Zuge der Schwangerschaft seinen Leib entwickelt. Sie dient gleich­sam als großzügiger Stofflieferant, der alles herbeischafft, was das Kind für seine Entwicklung braucht.

Die Mutter-Kind-Beziehung ist sehr intimer Art und stellt eine besondere Form des Gebens und Nehmens dar. Vor allem die Gedanken- und Wachstumskräfte stehen in einer sehr individuellen gegenseitigen Wechselwir­kung. So ist es verständlich, dass Mütter sich bisweilen geschwächt fühlen und ein andermal einen Kräftezuwachs erleben.

Schutz durch Bindung an die Eltern

Im Zusammenleben mit anderen Menschen stärken und schwächen wir uns ständig gegenseitig, ob wir dies merken oder nicht. Das ist bei Geschwistern nicht anders. Man muss nur darauf sehen, dass bestimmte Grenzen gewahrt werden. Kleine Kinder haben einen erstaunlichen Schutz und hören bei­spielsweise bestimmte Dinge gar nicht, die sie nicht verstehen. Es ist außerdem interessant zu beobachten, dass das, was ältere Geschwister oder andere Menschen zu den kleineren Kindern sagen, längst nicht so tief geht und so wirksam ist, wie das, was die Eltern sagen. Daher brauchen wir auch keine so große Angst zu haben, dass sie von schlechten Einflüssen anderer Kinder besonders tiefgehend geschädigt wür­den. Denn dasjenige, was zu Hause gilt, entscheidet letztlich dar­über, woran sich das Kind orientiert. Die anderen Einflüsse bleiben dem gegenüber mehr an der Oberfläche.

Kinder ahmen die Menschen am intensivsten nach, die sie am meisten lieben, und das sind in der Regel die Eltern und nach ihnen auch die Geschwister. Das ist gleichsam eine Art körperlicher Idealismus – das heißt, Hingabe an das Vor­bild, dem man nachstreben möchte.

Wenn hingegen ein anderer Mensch von den Kindern etwas fordert, so kann man manchmal von ihnen hören: „Du bist hier nicht der Bestimmer!“. Oder: „Du bist nicht meine Mutter, du hast mir nichts zu sagen!“. Kinder haben eben ein gutes Unterscheidungsvermögen, von wem sie etwas an­nehmen wollen und von wem nicht. Das setzt sich weitgehend durch, und darauf sollte man vertrauen und nicht in übertriebener Weise versu­chen, seine Kinder vor allen möglichen Einflüssen seitens anderer Kinder und Erwachsener zu schützen.

Nötiger Schutz vor Medien

Allerdings sollte streng darauf gesehen werden, dass alles, womit die Kinder zu Hause umgehen, ihrer altersentsprechenden Ent­wicklung Rechnung trägt. Das gilt insbesondere für Spielsa­chen, zu denen heute auch Medien gehören. Und hier gilt auch für die älteren Geschwister, dass sie bei­spielsweise mit technischen Spielsachen, die sich für die jungen Ge­schwister nicht eignen, nur spielen sollten, wenn die Kleinen nicht zugegen sind. Denn wenn man Kinder an technische Apparaturen heranlässt, sind sie davon fasziniert, aber schlicht überfordert, wie zum Beispiel von Fernsehen und Handy. Davor können sich Kinder nicht schützen.

Eventuell ist es dann auch sinnvoll, solche Spiele und Tätigkeiten bei Klassenkameraden zu machen, die keine kleineren Geschwister haben, und nicht zu Hause. Vieles lässt sich über individuelle Einzellösungen auf verschiedenste Weise so regeln, dass alle zufrieden sind.

Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart

MEDIENMÜNDIGKEIT UND TECHNIK

Wie wirkt sich die Entwicklung von Technik auf die Entwicklung des Menschen aus?

Was zeichnet einen pädagogisch sinnvollen Umgang mit Technik aus?

Wann ist ein Kind medienmündig?

Schrittweise Technisierung

Technik und die Multimedia-Kultur prägen zunehmend das Leben der Erwachsenen und damit auch der Kinder. Das hat tiefgreifende Folgen, die sich in der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten 200 Jahre spiegeln. Ein entwicklungsfreundlicher Umgang mit dieser elektronischen Welt hat zur Bedingung, dass die Folgen der Technisierung für die Entwicklung des Menschen in ihrer Tragweite erkannt werden.

1. Maschinelle Produktion

Beginnend mit der industriellen Revolution in England in der Mitte des 18. Jahrhunderts kam die Umstellung von der Handarbeit auf die maschinelle Produktion in großem Stil. Grundlage hierfür war die Entwicklung der Dampfmaschine, gefolgt von Generationen von Verbrennungsmotoren.

2. Großtechnische Nutzung der Elektrizität

Die Elektrifizierung des Lebens bewirkte enorme gesellschaftliche Umwälzungen. Es ist kaum vorstellbar, in welch kurzem Zeitraum sich die Nutzung der Elektrizität global ausbreitete und Neuerungen ermöglichte wie:

  • die Elektrifizierung der Haushalte
  • kleinere und handlichere Maschinen
  • eine Fülle an neuen Messinstrumenten.
  • Heinrich Goebel erfand 1854 die Glühbirne, Thomas Edison weiter optimierte sie 1879 und machte sie dadurch wirtschaftlich erfolgreich.
  • In denselben Zeitraum fällt die Erfindung des Kinematografen (Filmaufnahmeapparat) sowie des Kohlekörnermikrofons.

3. Entwicklung von Informationstechnologie

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte dann die dritte große technische Revolution ein. Maschinen wurden entwickelt, die Intelligenzarbeit übernehmen können: die Informations- und Computersysteme.

4. Umfassende Digitalisierung

Aktuell ist die zunehmende Digitalisierung des gesamten Lebens in ihren Auswirkungen zu beobachten.

Tiefgreifende Folgen für die Menschheit

Diese technischen Entwicklungen haben den „menschlichen Willen“ und seine Arbeitskraft auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene nicht nur entlastet, sondern machten ihn schrittweise überflüssig – was dazu führte, dass durch diese dreifache technische Revolution große Schübe von Massenarbeitslosigkeit mit sich gebracht hatte.

Damit einher gingen und gehen neben der Verarmung geradezu epidemische Erscheinungen von Sinnlosigkeitserleben, Resignation und Depression. Millionen von Menschen erleben sich nicht mehr als sinnvoll tätig in das gesellschaftliche Leben integriert.

Problematisch im Zusammenhang mit der technischen Entwicklung ist die fehlende Sinnbestimmung des eigenen Wollens, und das Überflüssig-werden vieler eigener Fähigkeiten. Denn Arbeit bedeutet immer auch Entwicklung von Fähigkeiten und ein damit verbundenes Sinnerlebnis. Es lähmt das schöpferische Vermögen, wenn man von den Maschinen alles und von sich selbst nicht viel zu erwarten hat. Auch erzieht es zu Anspruchshaltung und Undankbarkeit, wenn man selbst keinen Maßstab gewonnen hat für dasjenige, was einem durch die maschinellen Leistungen an eigener Arbeit erspart wird.

Goldene Regel für den Umgang mit Technik

Daraus ergibt sich für den Umgang mit Technik in der Erziehung eine goldene Regel:

Erst so weit wie möglich die Arbeit selber machen und erleben, bevor sie an die Maschine abgegeben wird.

So wie auch im Laufe der Geschichte die Übernahme menschlicher Arbeit durch Maschinen erst sukzessive erfolgt ist, so ist es auch für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen notwendig, dass sie die verschiedenen Bereiche menschlicher Arbeit und Befähigung selbst kennen und entwickeln lernen, ehe sie sich diese durch die entsprechenden Maschinen abnehmen lassen. So ist es wichtig, Kindern vorzuleben, dass es nicht selbstverständlich ist, dass jederzeit warmes Wasser aus der Leitung kommt und Licht sowie Energie in beliebiger Menge per Knopfdruck verfügbar sind.

In der Schule sollte der Taschenrechner bzw. Rechencomputer erst dann eingeführt werden, wenn die Fähigkeiten im Bereich der Grundrechenarten und insbesondere des Kopfrechnens bis zu einem gewissen Grad entwickelt sind. Der Computer sollte nicht benützt werden und zum ständigen Begleiter der Schüler geworden sein, bevor sie die Arbeiten kennen und schätzen gelernt hat, die er übernimmt, und bevor sie wissen, wie er überhaupt funktioniert.

Natur und Kunst als Ausgleich

Wie gut für ein Kind, wenn es Urlaubserfahrungen auf einem abgelegenen Bauernhof machen darf: beim Camping bzw. Urlaub in zivilisationsferner Umgebung, wo die Wäsche noch von Hand gewaschen werden muss, Wasser über dem Feuer oder mit Hilfe eines Gaskochers erwärmt wird, so dass man den Segen technischer Errungenschaften wirklich schätzen lernt.

Es ist sehr hilfreich, wenn Kinder singen, malen, gestalten, tanzen und Theater spielen lernen, bevor sie durch die Welt der Bilder, Farben und Töne infolge der optischen und akustischen Medien mit Eindrücken überschüttet werden und das eigene schöpferische Vermögen lahm gelegt zu werden droht.

Mit Energie und Technik muss so umgegangen werden, dass die Kinder lernen können, dass die Ressourcen nicht unbegrenzt sind und der Einsatz technischer Möglichkeiten nur da geschehen sollte, wo er tatsächlich gebraucht wird und sinnvoll ist.

Natur und Mensch nicht mit Maschinen verwechseln

Darüber hinaus ist es wichtig, dass Natur, Mensch und das soziale Umfeld nicht mit Maschinen verwechselt werden: Zur Technik gehören Perfektion und Optimierung. Defekte werden repariert, unbrauchbar gewordene oder alte Modelle verschrottet. Wird das so an der Technik geschulte Verhalten auf Mensch und Natur übertragen, treten Probleme auf.

Diese werden noch dadurch verschärft, dass Kinder und Erwachsene sich im Umgang mit „ihrem Computer“ oder „ihrem Handy“ über viele Stunden des Tages sehr persönlich beschäftigen. Was Menschen in der Begegnung miteinander oft vermissen – volle Aufmerksamkeit, Interesse für die Reaktionen, Fragen, Nöte und Sorgen des anderen –, wird mit einer bestürzenden Selbstverständlichkeit Computern entgegengebracht. Je mehr seelischer Umgang dieser Art mit den Maschinen gepflegt wird, die so reagieren, wie man es erwartet, oder die, nachdem man einige Korrekturen vorgenommen hat, den Erwartungen entsprechen, desto stärker wird dadurch ein Verhalten eingeübt, welches anderen Menschen gegenüber und insbesondere der Natur gegenüber versagt.

Denn Mensch und Natur reagieren nicht im vorgelegten Schema, sondern aus ihren eigenen Lebens- und Entwicklungsbedingungen heraus. Das seelisch so enge Zusammenleben mit den Möglichkeiten der Technik fördert unbewusst ein distanziertes Verhalten zur Umwelt, so dass es nicht verwunderlich ist, wenn es im Umgang mit anderen Menschen und auf der so genannten Beziehungsebene immer weniger „klappt“ bzw. „funktioniert“.

Menschliches Zusammenleben erfordert die Fähigkeit, auch Fehler und Fehlverhalten anzunehmen, selbst wenn diese nicht „rasch behebbar“ sind, sondern man mit ihnen erst einmal leben lernen muss. Offen zu sein für Lernprozesse, für Neues, Unerwartetes – das ist es, worauf es ankommt.

Vgl. Kapitel „Kind und Technik“, aus der „Kindersprechstunde“, M. Glöckler und W. Göbel, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2005

VON DER GLOBALEN MISSION DER KINDERKRIPPE

Was kann man als die Mission von Krippen sehen?

Vielfalt kultureller Bedingungen

Kinder werden weltweit in eine Vielfalt kultureller Bedingungen hineingeboren: Die mitteleuropäische Situation ist ja eine völlig andere als die in Südamerika oder in den östlichen Ländern. Die Traditionen und die Geschichte eines Landes, bewirken, dass die Beziehung der Eltern zum Kind, aber auch die Stellung des Kindes innerhalb der Familie, eine jeweils andere ist. Es kommt nun darauf an, dass wir für das Empfangen und Pflegen kleiner Kinder gemeinsam einen internationalen Weg zu finden versuchen. Denn Säuglinge sind internationale Wesen, sie sind noch ganz offen für kulturelle und gesellschaftliche Prägungen.

Wenn man ein Baby aus Japan hierherholt, wird es in Kürze schwyzerdütsch sprechen und sich ganz an die hiesigen Verhältnisse anpassen. Und wenn man umgekehrt einen kleinen Schweizer aus dem Emmental nach Tokio bringt, wird er japanisch sprechen. Das ist gar nicht anders möglich. Die heutigen Hirnforscher sagen, das Gehirn des Säuglings wäre plastisch und prägbar. Das trifft aber auf den ganzen Leib des Säuglings bzw. Kleinkindes zu. Eine menschheitlich-kulturelle Veränderung, die Entwicklung von mehr Menschlichkeit, können wir nur erreichen, indem wir uns international solidarisie­ren und darauf hinwirken, dass von Japan bis in die USA die Kinder dieselben Chancen für eine Entwicklung zur Freiheit und Selbstbestimmung bekommen.

Was Kinderkrippen für Chancen bieten

Kinderkrippen bieten hier eine einmalige Chance – ich sage das ganz bewusst – denn die Eltern bringen ihre Kinder dort aus freiem Willen hin, entlassen sie sozusagen aus der engen Kultur- und Familienbindung hinein in einen Freiraum der Erziehung. So können wir von der Basis her an der Veränderung der Menschheit mitwirken.

Jeder von uns hat seine eigenen Sorgen: fehlendes Geld, schlechte Bezahlung, nicht ausreichende Räum­lichkeiten, schwierige, frustrierte Eltern, Kollegen, die krank sind oder mit denen man nicht gut zusammenarbeiten kann. Vielleicht können wir über diese regionalen Probleme hinausschauen und uns fragen, wie wir selbst anfangen können, ein globales Netzwerk einer wirklich internationalen Erziehung zur Menschlichkeit aufzubauen. Je schneller wir uns im Dienste der Kinder verbrüdern, desto besser ist es für unsere Kinder. Vor Gott und vor dem kleinen Kind mit seiner unendlichen Entwicklungsbereitschaft und Entwicklungsfreude sind wir alle gleich. Wir Erwachsenen, die wir in Bezug auf Entwicklung oft schon ein wenig resigniert haben, können von den Kindern diesbezüglich sehr viel lernen. In einem Klima, in dem kindliche Entwicklungsfreude leben kann, werden uns die besten Einfälle kommen.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 1. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft

INKARNATIONSIMPULSE VON KINDERN ERKENNEN

Wie lassen sich die unterschiedlichen Impulse beschreiben, aus denen heraus der Mensch sich inkarniert?

Welches Grundthema liegt den jeweiligen Inkarnationsimpulsen zugrunde?   

Charakteristika der fünf wesentlichen Inkarnationsimpulse

Ich finde es immens wichtig zu wissen, dass Kinder aus ganz unterschiedlichen spirituellen Richtungen stammen. Sigismund von Gleich, ein Schüler Rudolf Steiners, verfasste vor Jahren einen kleinen Essay über die fünf Inspirationsquellen der Anthroposophie, der leider vergriffen ist. Diese fünf Inspirationsquellen können uns helfen, zu beobachten und zu verstehen, aus welcher weisheitsvollen Welteninspiration ein Kind kommt.

Es gibt interessanterweise fünf wesentliche Impulse. Das hängt mit dem fünfgliedrigen Charakter des Menschen als Pentagramm zusammen: mit seinen vier Wesensgliedern und dem fünften Prinzip.

1. Der Karmaimpuls

Der physische Aspekt hat seine Entsprechung im Karmaimpuls: Viele Kinder kommen auf die Erde, um Karma zu ordnen, ihr Schicksal zu verstehen, um mit ihrer Biografie zurechtzukommen. Rudolf Steiner sagt, der Lehrer müsse die Kinder, die es betrifft, dabei unterstützen und ihnen so helfen, ihr Karma auszugleichen.

2. Der Gralsimpuls

Der ätherische Aspekt hat seine Entsprechung im Gralsimpuls, der Suche nach dem Heiligen Gral, nach dem Camino, dem inneren Weg: Kinder, die diesem Impuls folgen, können schon beim ersten Hören des Wortes „Gral“ ganz sensibel darauf reagieren. Sie tragen eine tiefe Sehnsucht nach ihrem Weg in sich. Denn sie sind auf die Erde gekommen, um ihren eigenen Weg und damit sich selbst zu finden.

3. Der Sophia-Impuls

Der astrale Aspekt hat seine Entsprechung im Sophia-Impuls: Dem folgt heute jedes fünfte Kind: Dazu gehören diejenigen, die traumatisiert sind, denen Gewalt angetan wurde, die vernachlässigt und beschämt wurden, die sich schmutzig und schuldig fühlen. Weisheit wird durch Schmerz und Vernichtungserlebnisse erworben, durch die Verwandlung, die sich auf dem Weg durch den Abgrund vollzieht. Zerstörung ist die Voraussetzung dafür, dass ganz bewusst etwas Neues entstehen kann.

Ein Schwert solle durch das Herz der Maria gehen, heißt es im Evangelium. Und Goethe hat in seinem Gretchen-Gebet im Faust diesem Sophia-Impuls ein Denkmal gesetzt: „Neige, Du schmerzensreiche Maria, Dein Antlitz gnädig meiner Not. Das Schwert im Herzen, mit tausend Schmerzen blickst auf zu Deines Sohnes Tod.“[1]

4. Der Michaelimpuls

Der Ich-Aspekt hat seine Entsprechung im Michaelimpuls: Der Drachen muss besiegt werden! Das Ich muss sich individualisieren und das kann es nur, wenn es den Mut hat, alles, was nicht ich-haft ist an sich und an anderen, nicht abzulehnen und schrecklich zu finden, sondern als nötigen Widerstand zu nehmen, an dem man die eigene Ich-Kraft stählt. Goethe sagt, die schwerste Lebensprobe wäre, das Niedere in sich selbst zu überwinden.

Die Anthroposophie folgt dem Michaelimpuls. Es gibt Kinder, die verlieben sich in das erste Michaelbild, das sie sehen, wollen die Postkarte haben und sie bei sich zuhause aufstellen. Diese Kinder gehen getröstet ins Leben, wenn sie michaelische Kultur in ihrem Umfeld erleben dürfen.

5. Der Christusimpuls

Unser Denken, Fühlen und Wollen ist dazu aufgerufen, dem Christusimpuls zu folgen, diesem „guten Geist der Menschheit“. Denn solange wir Menschen noch in Gruppen zerfallen und der einzelne nicht lernt, sich als Angehöriger der ganzen Menschheit zu fühlen, ist weder die Individualisierung richtig verstanden worden, noch der Sinn des Menschseins, der sich erst enthüllt, wenn man Anschluss an den Geist der Menschheit, den Christus, gefunden hat.

Mögen diese fünf Inspirationsquellen der Anthroposophie uns stärken, verbinden, Zukunft stiften und immer wieder zu guten Taten inspirieren.

Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015


[1] Johann Wolfgang von Goethe, Faust: Eine Tragödie, Kapitel 21.

DIE WELT, AUS DER DIE KINDER KOMMEN

Wie lässt sich die Welt der geistigen Hierarchien, aus der die Kinder kommen, beschreiben?

Was verdanken wir Menschen diesen Geistwesen?

Welche Bedeutung haben sie für die Kinder?

Notwendiges Geist-Erinnern

Wenn man Kinder erziehen will – je kleiner, desto mehr – ist die Rückbesinnung und das aktive Sich-Verbinden mit der geistigen Welt, aus der sie kommen, eine Notwendigkeit. Im Grundsteinspruch der Anthroposophischen Gesellschaft[1] spricht Rudolf Steiner von „Geist-Erinnern“.

Kinder haben noch einen unmittelbaren Bezug zu ihrem himmlischen Ursprung, in den sie ein starkes Vertrauen setzen, ein Vertrauen das sie über die Schwelle mitbringen. Sie „wissen“ noch, wie diese Hierarchien den Körper aufgebaut und die Wesensglieder geformt haben, die sich im Laufe der Entwicklung befreien und zum individuellen Seelenleben werden.

Was wir mit den Naturreichen gemeinsam haben

Der frühmittelalterliche Mönch Scottus Erigena hatte im Umgang mit seinen Studenten bereits einen sehr modernen dialogischen Lehrstil. Er stellte ihnen Fragen, auf die sie im Rahmen von Debatten Antworten finden sollten, z.B.:

  • Was hat der Mensch mit dem Mineralreich gemeinsam? – den physischen Leib.
  • Was hat der Mensch mit dem Pflanzenreich gemeinsam? – das Leben.
  • Was hat der Mensch mit dem Tierreich gemeinsam? – die Seele.
  • Was hat der Mensch mit den Engeln gemeinsam? – das Denken.
  • Welche Entwicklungserrungenschaft hat der Mensch nur für sich? – das selbständige Urteil.

Das Wort Ur-teil beinhaltet das Bewusstsein, dass der Mensch ein Teil vom Ursprung ist, dass alles, was in der Schöpfung wie zerlegt und auseinandergenommen ist – alle Objekte, alle Handwerke, die verschiedenen Menschen und … und … und… – als Anregung dienen soll, es zu beur-teilen (nicht verurteilen!) und dadurch zu verstehen. Zu urteilen bedeutet im höchsten Sinne, einen Zusammenhang zum Ganzen herzustellen, etwas im Gesamtzusammenhang in seinem Wert und seiner Würde zu sehen. Das erstreckt sich auch auf das Menschenwesen selbst. Denn erst wenn der Mensch sich als Teil der ganzen Schöpfung erkennt, gewinnt er seine Würde zurück und gibt der Schöpfung damit seinen Dank und Segen zurück. Das ist etwas, das nur der Mensch leisten kann: Das Teil durch bewusstes Urteilen mit seinem Ursprung zu verbinden.

Was wir den geistigen Hierarchien verdanken

Rudolf Steiner setzt das ja dann fort:

· Gemeinsamkeit von Mensch und Erzengel das Gefühlsleben

Was hat der Mensch mit den Erzengeln gemeinsam?

Es gibt zweierlei Arten von Gefühlen, je nachdem, mit welchen Bereichen in uns sie verbunden sind:

  • Es gibt die aus dem Körper stammenden Gefühle, die wir mit den dämonischen, gefallenen Erzengeln teilen. Diese Gefühle kommen aus dem Instinkt, der von der Vergangenheit geprägt ist, und haben mit den Blutsbanden zu tun. Sie motivieren faschistische, nationalistische, familiengruppen-egoistische Gruppierungen.
  • Die mit dem Denken verbundene Gefühle folgen den christlichen Ur-Idealen – Wahrheit, Freiheit und Liebe – von denen viele der neuen Gemeinschaften motiviert sind, die mit den entsprechenden Erzengeln verbunden sind. Hier schließen sich selbstständige Menschen über persönliche Differenzen hinweg zu zukunftsweisenden Zielen zusammen. Ideale sind Botschaften von Gott, die uns von den Engeln überbracht werden und die uns mit IHM verbinden – Angelos heißt ja Bote.

Jesus sagt: „Ich bin die Wahrheit – und die Wahrheit wird euch frei machen.“[2] Er sagt an keiner Stelle: Ich bin die Freiheit. Denn die muss jeder Mensch selbst erringen. Er sagt jedoch: „Ich bin unter euch, wenn ihr euch liebt.“ Das sind Botschaften, die uns über die Engel zukommen und die den Menschen kräftigend durch sein ganzes Leben tragen können, wenn er sich damit verbindet. Solch eine Engelbotschaft gibt Kraft, die Tragekraft guter Gedanken. Wenn sich nun eine Menschengemeinschaft für solche Gedanken begeistert und sich damit verbindet, kann ein Erzengel diese Gemeinschaften stärken und viele soziale „Unebenheiten begradigen“ und so alles wie in eine andere Sphäre erheben.

· Gemeinsamkeit von Mensch und Archai das Wollen

Was hat der Mensch mit den Zeitgeistern, den Archai, gemeinsam?

Wenn aus solchen Idealen und Gefühlen auch gute Taten werden, erweisen wir der Zeit, in der wir leben, einen guten Dienst. Dann rufen wir den richtigen Zeitgeist oder Archai herbei und fördern kulturellen Fortschritt.

Das ist, worum Neil Postman so gerungen hat: Er wendete sich an die Eltern und sagte: Widersetzt euch zum Schutze eurer Kinder! Entwickelt guten Willen! Stählt euren Willen am Widerstand.[3] Das ist echte Zeitgenossenschaft, ist für eine lebenswerte Zukunft der Menschheit engagierte Zeitgeistigkeit.

· Gemeinsamkeit von Mensch und Exusiai (Elohim) das Identitätsbewusstsein

Was hat der Mensch mit den Geistern der Form, den Exusiai, gemeinsam?

Die Elohim, die Geister der Form, haben uns das Ich verliehen, die Ich-Organisation. Sie bliesen uns aber auch den Odem, den Atem, die Atemkraft ein. Wir erleben beim Atmen: Der Lebensodem geht hinaus und kehrt wieder zurück. Das ist die archetypische Grundlage für das Erleben von Identität: Was von mir hinausgeht und zurückkommt, bin beides ich – ich bin ich.

Christus dagegen erfüllt das Gefäß der Ich-Organisation mit dem wahren Ich, unserem höheren Selbst. Dass wir die Ich-Organisation dafür haben, verdanken wir den Geistern der Form. Sie haben unsere Identität als Potenz, als Möglichkeit, geformt. Doch jeder Mensch muss diese Identität selbst bestimmen, muss für sich individuell die Frage beantworten: Wer bin ich? Eine gute Kindheit, die das Kind zu einem individuellen Menschen heranreifen lässt, hilft, den Weg dafür zu bereiten.

· Gemeinsamkeit von Mensch und Dynamis die Bewegungskompetenz

Was hat der Mensch mit den Geistern der Bewegung, den Dynamis, gemeinsam?

Die Geister der Bewegung, die Dynamis, haben uns auf physischer Ebene den Kreislauf geschenkt. Der Bewegung des Kreislaufs entspricht seelisch die Flexibilität. Dazu gehört, dass wir unsere Seele, unser Denken, Fühlen und Wollen, unsere Fähigkeiten, die wir erworben haben, flexibel handhaben und instrumentalisieren können.

Das bedeutet auch, einerseits fähig zu sein, das Kind dahingehend zu beobachten, was es braucht, und andererseits flexibel genug zu sein, ihm Selbstlernen zu ermöglichen. Rudolf Steiner sagt sinngemäß, alle Erziehung sei, richtig verstanden, Selbsterziehung. Der Erzieher könne nur die möglichst adäquate Umgebung gestalten, damit das Kind sich daran so selbst erzieht, wie es sich nach seinem innersten Schicksal erziehen kann und muss.[4] Wir können Angebote machen für die Selbsttätigkeit des Kindes, aber wir können ihm nichts beibringen! Wir können es nur anregen zur Selbsttätigkeit.

Diese Haltung, sich selbst so beweglich, so „flüssig“, zu machen wie die Dynamis, dass man mit den eigenen Fähigkeiten spielen kann, erwirbt ein Kind, indem der Erzieher ihm genauso begegnet: So lernt es, sich daran zu orientieren und lernt selbst zu definieren, was und wie er oder sie es braucht.

· Gemeinsamkeit von Mensch und Kyriotites die Verwandlungskraft

Was hat der Mensch mit den Geistern der Weisheit, den Kyriotetes, gemeinsam?

Den Geistern der Weisheit verdanken wir im Physischen den Stoffwechsel. Ihm entspricht seelisch die Verwandlungskraft. Wenn wir etwas selbst erlebt und erfahren haben, verwandelt sich das Wissen in uns zu Weisheit – das ist eine Art Transsubstantiation, eine Verwandlung im wahrsten Sinne des Wortes.

· Gemeinsamkeit von Mensch und Throne die Sehnsucht nach Menschlichkeit

Was hat der Mensch mit den Geistern des Willens, den Thronen, gemeinsam?

Den Thronen, den „Geistern des Willens“, verdanken wir den Willen, immer mehr Mensch zu werden, uns immer mehr zu „humanisieren“. Dem entspringen die Lernbegierde, der Lerntrieb, und der Entwicklungswille des Menschen.

· Gemeinsamkeit von Mensch und Cherubim das Gewissen

Was hat der Mensch mit den Geistern der Harmonie, den Cherubim, gemeinsam?

Mit dieser Gabe der Cherubim ist unser Bestreben gemeint, immer für den gerechten Ausgleich zu sorgen, indem wir auf die Gewissensstimme als auf die Ausgleich schaffende Instanz in uns zu hören und sie von dem automatisch reagierenden „guten“ und „schlechten“ Gewissen unterscheiden zu lernen. Denn das feine „cherubinische Gewissen“ meldet sich nicht von selbst, es drängt sich nicht auf, sondern will befragt werden: Was braucht die Situation? Was brauche ich, um es besser zu machen? Was braucht dieses Kind? Unser schlechtes und unser gutes Gewissen dagegen drängen sich uns geradezu auf. Dabei habe ich eine geschlechterspezifische Eigenart entdeckt:

  • Frauen haben spontan immer ein schlechtes Gewissen.
  • Männer dagegen haben spontan immer ein gutes Gewissen.

Um das auszugleichen, sollte der Mann lernen, sein Gewissen mehr zu hinterfragen und die Frau sollte sich angewöhnen, alles lockerer zu nehmen. Wir müssen mit beiden Polen umgehen und dadurch sensibel werden für die aus der Mitte kommende Gewissensstimme, die nur spricht, wenn wir sie befragen. Sie wird inspiriert von den Cherubim als den Geistern der Harmonie.

· Gemeinsamkeit von Mensch und Seraphim die Liebe (zum Schicksalsweg)

Was hat der Mensch mit den Geistern der Liebe, den Seraphim, gemeinsam?

Den Seraphim verdanken wir das Urvertrauen in die Schöpfung als in einen Kosmos, der mit Liebe durchdrungen ist. Von ihnen kommt uns aber auch das vertrauensvolle Wissen um unser persönliches Schicksal zu. Beides lässt uns aus allem, was uns zustößt, lernen und versetzt uns in die Lage, das Beste daraus zu machen, ohne zu verzagen. Diese Geister der Liebe als höchste Hierarchie stehen unmittelbar vor dem Angesicht Gottes.

Fazit:

All diese Engeltugenden helfen uns aufzublicken zu der Welt, aus der die Kinder kommen. Wenn wir Erwachsene uns durch diese „Schlüsselqualitäten“ menschlicher Kultur mit den Hierarchien der himmlischen Welten in Verbindung halten, dann erinnern sich die Kinder an die Welt, aus der sie kommen, und fühlen sich geistig zuhause bei uns.

Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015


[1] Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a, Dornach 1987.

[2] Neues Testament, Johannes 8, 32.

[3] Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Fischer Verlag.

[4] Rudolf Steiner, Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis. GA 306, Dornach 1923, S. 131.