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Kunst und Kunsttherapie: Unterschied zwischen den Versionen
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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | ||
== ANTHROPOSOPHISCHER KUNSTIMPULS UND KUNSTTHERAPIE == | |||
''Was liegt dem anthroposophischen Kunstimpuls zugrunde?'' | |||
''Welche therapeutischen Prinzipien kommen in der Kunsttherapie zum Tragen?'' | |||
=== ''Selbstdarstellung und geistige Gestaltungsprinzipien'' === | |||
Der Mensch kann seine menschliche Konstitution, die aller Kunst zugrunde liegt, auf zweifache Weise handhaben, das hat Leonardo da Vinci in seinem Buch für Maler[1] ganz wunderbar beschrieben: | |||
# Er könne sein So-Sein unbewusst in seinem künstlerischen Schaffen abbilden. | |||
# Er könne sein künstlerisches Schaffen aber auch bewusst an den geistigen Gestaltungsprinzipien, die der menschlichen Konstitution zugrunde liegen, ausrichten. | |||
Man müsse deshalb zwischen dem ungeübten Künstler und dem geschulten Künstler, unterscheiden, zwischen dem Laien und dem professionellen Künstler. Leonardo sagt: Der ungeübte Künstler würde nicht bemerken, dass er sich selbst darstellt in seinen Werken. Der geübte Künstler dagegen wisse um diesen Impuls und gebe ihm nicht nach. Er orientiere sich an den objektiven Gestaltungsmöglichkeiten, an den Formprinzipien, die er in der Welt und am eigenen Leib wiederfindet und drückt sie aus durch Farben, Formen, Laute und Worte, die seinem freien, innersten Willen entspringen. | |||
Jeder Mensch sei erst einmal ein Laienkünstler, dem es beim Schaffen und Genießen von Kunst um sich selbst geht. Ein dreijähriges Kind gestaltet seine Werke aus der klassischen, alterstypischen Projektionskraft ätherischer Gestaltungskompetenz heraus. Es bildet den Kopf, in dem gerade das Ich-Bewusstsein erwacht ist, äußerlich ab, d.h., es projiziert unbewusst seine altersentsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten aufs Papier und freut sich über das, was es geschaffen hat, weil es sich selbst darin erlebt. | |||
=== ''Orientierung am Gesunden'' === | |||
In der anthroposophischen Kunsttherapie lässt man Patienten nur am Anfang, in der Mitte und am Ende frei malen. Die frei gemalten Bilder dienen ausschließlich der Diagnostik. Denn wenn jemand in einer entspannten Atmosphäre ganz aus sich heraus malt und sich selbst dabei ausdrückt, dann erlaubt die Gestaltung seines Bildes Rückschlüsse auf seinen augenblicklichen Gesundheitszustand. Wenn Goethe sagt: „''Die Kunst ist eine Offenbarerin geheimer Naturgesetze''“, so weist er damit auf die Zusammenhänge des menschlichen Leibes mit den künstlerischen Tätigkeiten und deren Beziehungen zum Seelenleben hin: Hätten diese schöpferischen Kräfte nicht zuvor unseren Leib gestaltet, trügen wir sie nicht als kreatives Potential in unserer Seele, das unseren Selbstausdruck bestimmt. | |||
Die Therapie besteht nun darin – und das hat die Kunsttherapie mit der wirklichen Kunst gemeinsam – einen Weg in Richtung Gesundung zu suchen. Das geht über den reinen Selbstausdruck weit hinaus. Dieser künstlerische Prozess kann wiederum zwei Richtungen nehmen: | |||
* Entweder der Künstler gestaltet, indem er über Skizzen und Andeutungen auf das hin lauscht, was Form oder Farbe selber wollen, | |||
* oder er stellt seine Gestaltungskraft den großen spirituellen Wahrheiten der Welt zur Verfügung und macht sie sichtbar, sodass Menschen daran etwas erleben können, das sie schult, das sie zum Guten, zum Vollkommenen hinzieht, das sie heilt. | |||
=== ''Entwicklungsgesetze aufgreifen'' === | |||
Künstler, die sich darum bemühen, wirken mit ihrer Kunst heilsam und zukunftsorientiert, eine ferne heile Zukunft vorausahnend. Sie können es, weil ihre Werke den umfassenden Entwicklungsgesetzen der Menschheit folgen. Diese wiederum erschließen sich nur durch meditatives Üben und so bekommt die Kunst wieder direkt Anschluss an die Mysterienweisheit: Der meditativ Übende, der sich innig mit den großen Welten- und Menschheitszielen verbindet, wird zugleich auch zum künstlerisch Schaffenden. Indem er diesem zukunftsorientierten Impuls zu folgen versucht und sich in die großen Gestaltungszusammenhänge von Menschheit und Welt zu stellen bemüht, ringt er darum, über sich selbst und die Projektion seines eigenen Zustandes hinauszuwachsen, um noch ganz andere Inspirationsquellen für seine Kunst erschließen zu können. Das ist das Hauptanliegen des anthroposophischen Kunstimpulses: wahre Ur-Gestaltungsformen und entwicklungsorientierte Weltgesetze aufzugreifen, die die Menschheit in ihrer Entwicklung vorwärtsbringen. | |||
''Vgl. Vortrag „Wege zum Herzdenken durch meditatives und künstlerisches Üben“ Dornach, 2007'' | |||
----[1] Leonardo da Vinci, ''Das da Vinci Universum - Die Notizbücher des Leonardo'', (Hrsg.: Emma Dickens), Ullstein Verlag, Berlin 2006. | |||
== KUNST ALS WEG ZUR ERGREIFUNG DES ICH == | |||
''Wie hängen Kunst und menschliche Konstitution zusammen?'' | |||
''Welche Verbindung stellt die Anthroposophische Medizin als Heilkunst zur Kunst her?'' | |||
=== ''Der Anthroposophische Kunstimpuls'' === | |||
''Worin besteht der Anthroposophische Kunstimpuls?'' | |||
Ich möchte gerne mit einem Text von ''Marie Steiner[1]'' beginnen, den sie im Jahre 1928 schrieb, als sie den Zyklus „Kunst im Lichte der Mysterienweisheit“[2] herausgab: | |||
„''Ein Weg der lebensdurchpulsten, lebenserhärteten, aber auch besonnenen und durchsonnten Ergreifung des Ich ist die Kunst. Es ist einer der gesündesten und der aufschlußreichsten, einer der geradesten, der am spätesten von seiner Ursprungsstätte, dem Tempel der Mysterienweisheit, abgebogen ist.“'' | |||
Für sie war Kunst der Weg zur Ergreifung des Ich, der dem Ursprung alter Mysterienweisheit noch am nächsten ist, der aber auch am ehesten wieder den Anschluss an die neue Mysterienweisheit finden kann. Abstrakt formuliert ermöglicht dieser Weg die Vorbereitung der Naturreiche auf den Jupiter, ist also reine Zukunftssaat. Konkret gesprochen ist er praktizierte Menschenerkenntnis. | |||
=== ''Kunst und Heilkunst'' === | |||
Rudolf Steiner nennt die Anthroposophische Medizin eine Heilkunst. Denn das Bedeutendste, was die Anthroposophie der Medizin geben konnte und kann, ist der Kunstimpuls. Das zu erkennen genügt aber nicht. Vieles scheitert, weil man das Erkannte noch nicht beherrscht. Das gilt auch für die Heilkunst. Der Kunstimpuls ist veranlagt, jetzt müssen wir lernen, ihn umzusetzen. | |||
Alle Kunst ist eine Projektion der menschlichen Konstitution – das herausgefunden zu haben, ist Rudolf Steiners bahnbrechender künstlerischer Erneuerungsimpuls: | |||
* ''Ohne die physische Beschaffenheit der Knochen'' gäbe es keine sich ständig wandelnde originelle '''Architektur'''. | |||
* ''Ohne Lebenstätigkeit'', Wachstum, Ausstülpung, Einstülpung gäbe es keine '''Plastik'''. Der lebendige Körper hat diese Formen zuerst gebildet. | |||
* ''Ohne Gefühls- und Seelentätigkeit'' gäbe es keine '''Malerei'''. | |||
Darauf möchte ich im Folgenden genauer eingehen. | |||
=== ''Bildegesetze des Körpers und Kunstrichtungen'' === | |||
==== 1. Architektur ==== | |||
Die Baugesetze des physischen Leibes spiegeln sich in der Architektur: Die Architektur nimmt die Baugesetze des Kristallinen und gestaltet mithilfe diverser Baumaterialien Äußeres auf der Grundlage dieser inneren Gesetze. Und so hat auch das Goetheanum eine Außengestaltung und eine Innengestaltung. Alles beruht jedoch auf den Baugesetzen des physischen Leibes: Wir sehen hier im Goetheanum keine Form, die man der Veranlagung nach am menschlichen Körper nicht auch findet – die Säulen, das Dach und alle anderen Formen entsprechen den Rippen, den Schulterblättern, dem Kopf usw. Die so genannte organische Architektur entnimmt ihre Form den Knochen, den Bändern, den Muskelzügen, aber insbesondere den Knochen, wie man hier überall sehen kann. | |||
Das lässt sich anhand eines anatomischen Atlas nachprüfen: Die Formen unserer Knochen finden wir in Dreiecken und Quadern, aber auch in allen gebogenen Flächen wieder, wie z.B. die zweifach gekrümmte Fläche, für die unser Schlüsselbein der Archetyp ist. Das Rechteck und die Rundung des Gesichts, der Kubus und die Wölbung des Kopfes, das Oval des Rumpfes, der aufrechte Mensch als Vorbild für die geraden Säulen – das alles sind Projektionen der körperlichen Konstitution. | |||
==== 2. Plastisches Gestalten ==== | |||
Wahr ist außerdem, dass wir mit denselben Kräften künstlerisch tätig sind, die unseren Körper aufgebaut und geformt haben und mit denen wir geistig tätig sind. Beim plastischen Gestalten, beim Plastizieren werden diese Gesetzmäßigkeiten der Bildekräfte unseres ätherischen Organismus abgebildet. | |||
==== 3. Malerei ==== | |||
In der Malerei finden wird die Bildegesetze des Astralisch-Ätherischen wieder. Dreidimensionales wird auf die Fläche projiziert, in die Zweidimensionalität. Es erscheint auf der Fläche abgebildet. Der Schwerpunkt verlagert sich auf den Prozess. Es geht in der Malerei um Farbklänge, um Stimmungen, wobei die Farben dem seelischen Empfinden Ausdruck verleihen. Sie sind dem Seelischen unmittelbar zugänglich. Dabei zeigt sich die Regenbogenbefindlichkeit des Menschen: von dunkel bis hell, je nachdem, wie der Mensch gerade gestimmt ist. | |||
Leonardo Da Vinci schrieb ein Buch für Maler[3] und sagte dort sinngemäß: ''„Man kann den ungeübten Maler vom professionellen durch eine Sache unterscheiden: Der Ungeübte merkt nicht, dass er sich beim Malen immer selbst portraitiert. Der geübte Maler weiß, was er gestaltet und passt auf, dass er sich nicht selbst in seinen Bildern projiziert.“'' | |||
In der ersten Stunde einer Maltherapie lässt der anthroposophische Therapeut seine Patienten völlig frei malen. Selbstverständlich malen sie ihre Krankheit, projizieren diese aufs Papier. Nur wenn der Therapeut sich nicht ganz sicher ist, dürfen drei Bilder gemalt werden. Diese Erstlingsbilder sind diagnostische Bilder. | |||
Rudolf Steiner wollte nicht, dass die Lehrer an den Waldorfschulen ihre Schüler aus dem Bauch heraus frei malen lassen. Warum? Hin und wieder ist es sinnvoll, damit der Lehrer den aktuellen Zustand der Kinder sieht, aber ansonsten wollte Rudolf Steiner, dass die Kinder Aufgaben gestellt bekommen, damit sie an einer konkreten Aufgabe lernen, die eigenen, oft nicht ganz gesunden konstitutionellen Verhältnisse zu ordnen, zu strukturieren und zu klären und damit eine gesundende Rückwirkung auf das Zusammenspiel von Körper und Seele zu erzielen. | |||
Wir gestalten und beeinflussen über die Malerei unsere seelische Befindlichkeit. Um einen gesundenden Einfluss auf die Seele ausüben zu können, müssen wir lernen, unsere Beziehung zur Welt objektiv zu gestalten und darzustellen und uns nicht immer wieder nur aus unserem subjektiven Empfinden heraus selbst darzustellen. | |||
==== 4. Musik ==== | |||
Musik ist die Projektion der wundervollen Gesetze des Ich mit seinen Verlust- und Wiedergeburts-Erfahrungen, die musikalische Projektion des Ich im Astralischen. | |||
Deswegen kann es gar nicht anders sein, als dass Musik echte Initiationserfahrungen ermöglicht: Der Mensch erlebt durch die Musik sein Schicksal, die Abgründe, die Auf- und Abstiege und Turbulenzen seines Lebens, aber auch die Zerrissenheit und das Zersplittert-Sein seines Ich-Bewusstseins; durch die Musik kann man unmittelbar und in Reinform zum Ausdruck bringen, was das Ich vernichtet und was es erhebt. | |||
In der Musik – insbesondere beim Gesang lässt es sich fast mit Händen greifen – offenbart sich das Ich in seiner seelischen Befindlichkeit: So wie das Ich in der Seele lebt, so wie es sich in die Seele projiziert, so drückt es sich in der Musik aus. | |||
Deswegen lieben wir Musik. Wir kommen durch sie entweder ganz zu uns oder wir erhalten durch sie die Möglichkeit, von unserer niederen Befindlichkeit loszukommen, uns wegzuträumen, abzuheben, seelisch auszusteigen. Durch die Musik werden unserem Ich seelische Abgründe und der damit verbundene Läuterungs-, Klärungs- und Selbstfindungsbedarf deutlich bewusst. | |||
==== 5. Wortkunst ==== | |||
Durch das Wort ragt eine höhere Wirklichkeit in uns herein. Man öffnet sich der geistigen Welt. Denn mit Worten sind ganz reale Wesen und Realitäten verbunden. Die Dichtkunst, das gedichtete, weisheitsvoll gestaltete Wort ist eine Projektion aus der Geistselbst-Region, der geläuterten Astralität. Wir haben viele Möglichkeiten, die Heilkraft des Wortes therapeutisch zu nützen: | |||
* Im '''therapeutischen Gespräch''' | |||
* In Krankenmeditationen, die über heilende Worte wirken. | |||
* Ein weiteres therapeutisches Feld eröffnet sich in der '''Dichtung''', in der Arbeit mit dem Wort. | |||
* Der Sprachtherapeut kann aber auch direkt an der Gestaltung, der '''Artikulation''' der Sprache arbeiten. | |||
==== 6. Eurythmie ==== | |||
Eurythmie ist eine Projektion aus der Lebensgeist-Sphäre und vereint ''alle'' genannten Gesetzmäßigkeiten in sich: Durch Eurythmie wird der physische Leib von dem erstarkten Ätherleib zur Gänze ergriffen und wird zu einer sich im Raum konfigurierenden, bewegten Plastik, die ätherischen Gesetzmäßigkeiten folgt. Sie handhabt ganz bewusst die Lebensgesetze und bringt dadurch Körper, Seele und Geist in harmonische Übereinstimmung. Diese Bewegungskunst ist die beste Gesundheits- und Lebensvorsorge, die es gibt. | |||
Eurythmie integriert alle Künste: den architektonischen Aufbau, die plastische Gestaltung, Farben, Licht, Musik und Wort. Diese Kunstrichtung ist eine Projektion des alles umfassenden Menschengeistes, die vollbewusste Arbeit am eigenen Schicksal möglich macht. | |||
Rudolf Steiner spricht das zwar nicht so direkt aus, erläutert diese Zusammenhänge aber an einer Stelle, an der er über das Karma spricht. Dieser höchste Kunstimpuls ist eine Möglichkeit, die eigene Menschenwesenheit systematisch zu verwandeln. | |||
Wenn ich ausdauernd Eurythmie mache, bringe ich mein Denken, Fühlen und Wollen ganz bewusst in ein harmonisches Zusammenspiel. Ich ermögliche es geistig-seelischen Kräften, gesunden Formen, Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen, die ganz selbstlos sind und nicht meine Befindlichkeit widerspiegeln, sich in meinem Körper auszuwirken. Ich kann Bauchweh haben und trotzdem noch ein schönes B machen. | |||
Ich kann mich selbst überwinden durch den Prozess und durch die Form und kann etwas Höheres, Wahreres, Reineres in meinen Körper hineinbringen und durch den Körper hindurchgehen lassen. Dadurch wird mein geistig-seelisch-körperlicher Zusammenhang in sich stimmiger und gesünder. | |||
Manchmal werde ich aufgrund meines ungesunden Lebens, meines vielen Herumreisens, gefragt, wie ich diese Art zu leben aushalte. Wieso ich bei alledem nicht krank werde. Ohne garantieren zu können, dass ich nicht just morgen krank werde, kann ich auf diese Frage nur antworten: Ich verdanke meine Gesundheit der Eurythmie. Ich verdanke sie dem anthroposophischen Kunstimpuls, weil er mir hilft, wenn ich mich irgendwo verrannt habe oder eine Einseitigkeit entwickelt habe, wieder in mir selbst stimmig zu werden, mit mir selbst in Einklang zu kommen. | |||
==== 7. Schicksalskunst ==== | |||
''Christian Morgenstern'' prägte das wunderbare Wort, dass es darauf ankomme, „''sich selbst zum Kunstwerk zu machen“.'' | |||
Wenn wir uns an die geistig-meditative Schulung machen, müssen wir lernen, unsere unbewussten Projektionen, die uns veranlassen, Ansprüche an andere zu stellen anstatt an uns selbst, aufzudecken und „heimzuholen“. | |||
In der Medizin gibt es eine Reihe von Therapieverfahren, durch die man lernen kann, die eigenen Lebensprobleme nicht mehr nach außen zu projizieren: auf das Elternhaus, auf die schwierige Situation in der Schule, auf die Kollegen, auf die Situation am Arbeitsplatz usw. Wir Menschen sind alle sehr einfallsreich, wenn es ums Delegieren der Verantwortung für unsere eigenen Schicksalsprobleme an die Umwelt geht. Wenn wir unseren Blick dafür schulen, erkennen wir, dass wir mit dieser Haltung unser kostbarstes künstlerisches Selbstgestaltungsmaterial weggeben und die Arbeit an uns selbst anderen aufhalsen. | |||
Der anthroposophisch-meditative Schulungsweg als siebte Kunst schult uns darin, in kleinen Schritten unbewusste Projektionen der eigenen noch nicht geläuterten Menschenwesenheit Stück für Stück heimzuholen und Probleme an dem Platz zu bearbeiten, von dem sie ausgegangen sind. | |||
''Vgl. Vortrag auf der Jugendtagung „Mittendrin“, Dornach, Juli 2007'' | |||
----[1] Marie Steiner, auch Marie Steiner-von Sivers, geborene Marie von Sivers oder Sievers, Siebers (* 14. März 1867 in Włocławek; † 27. Dezember 1948 in Beatenberg, Schweiz), war eine deutsch-baltische Schauspielerin, Regisseurin, Theosophin und Anthroposophin. Als zweite Ehefrau Rudolf Steiners (Begründer der Anthroposophie) besaß sie die österreichische Staatsbürgerschaft. (ges. am 24.04.2024 auf <nowiki>https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Steiner</nowiki>) | |||
[2] Rudolf Steiner, ''Kunst im Lichte der Mysterienweisheit.'' Acht Vorträge, gehalten in Dornach vom 28. Dezember 1914 bis 4. Januar 1915 mit einem Geleitwort von Marie Steiner. GA 275. | |||
[3] Leonardo da Vinci, ''Das da Vinci Universum - Die Notizbücher des Leonardo,'' Hrsg. Emma Dickens, Berlin 2006. | |||
== ATMUNG UND GEFÜHLSLEBEN == | |||
''Wie hängt das Gefühlsleben mit dem physischen Leib zusammen?'' | |||
''Inwiefern entsprechen sich Gefühls- und Wachstumskräfte?'' | |||
=== ''Einfluss von Atmung und Kreislauf auf das Gefühlsleben'' === | |||
Blicken wir auf den Zusammenhang von Leib und Seele, so finden wir im Organismus zwei Organsysteme, die ein getreues Abbild der musikalisch-rhythmischen Qualität des Gefühlslebens sind: Atmung und Kreislauf. Herz und Lungen sind unentwegt von der Geburt bis zum Tod rhythmisch tätig. Die Atmung vermittelt durch Spannung und Entspannung, Betätigung und Ruhe unausgesetzt zwischen Welt und Selbst, das Herz zwischen Körperzentrum und Körperperipherie. Daher erstaunt es nicht, dass jede Sinnesempfindung und jedes Gefühl auf Atmung und Herzschlag einen unmittelbaren Einfluss haben. Eine aufregende Nachricht lässt uns tief Luft holen und das Herz schneller schlagen. Unter Anspannung wechseln flache, schnelle und tiefe Atemzüge auf unharmonische Weise einander ab. In der Aufregung kann das Herz bis zum Halse klopfen und ''vor Schreck'' stolpern, ja sogar fast „stehenbleiben“. Umgekehrt kann ruhiges, geführtes Atmen, z.B. beim Zahnarzt oder bei der Geburt, die Angst nehmen und die Schmerzen erträglicher machen. | |||
=== ''Gesunde Grundgestimmtheit veranlagen'' === | |||
Rudolf Steiner hat diese Tatsache nach 30jähriger Forschung erstmals 1917 in seinem Buch „Von Seelenrätseln“[1] beschrieben. Will man einem Kind eine gute Lebensgrundgestimmtheit mit auf den Weg geben, so müssen die heranreifenden rhythmische Systeme von Atmung und Kreislauf in gesunder Weise angeregt und unterstützt werden. Ein gesundes soziales Klima im Umkreis des Kindes, wie z.B. ein harmonisches Familienleben, bildet die wichtigste Voraussetzung. Folgt der Tageslauf einem gesunden Rhythmus, in dem Arbeit und Ruhe sich sinnvoll abwechseln, so kann beim Kind ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit entstehen. Es erlebt sich eingebettet in sinnvolle Zusammenhänge und wiederkehrende Ereignisse, auf die es sich verlassen und freuen kann, und mit denen es auch rechnet. Auf diese Weise entsteht eine stabile Grundlage, um späteren Stress-Situationen gewachsen zu sein. Denn auf der Basis einer harmonischen Grundgestimmtheit lassen sich extreme Lebenssituationen leichter aushalten und ausbalancieren. | |||
Gelingt es dem Lehrer, seine Schüler gefühlsmäßig zu erreichen und in jeder Unterrichtsstunde mit den Elementen von Spannung und Lösung zu arbeiten, Freudiges und Ernstes zum Erlebnis zu bringen, so wird sich das regulierend und stimulierend auf die Entwicklung von Atmung und Kreislauf auswirken. Nur bei wenigen Menschen werden heutzutage in Familie und Schule die Voraussetzungen für einen ausgeglichenen Gemütszustand geschaffen. Dann müssen die Betroffenen lebenslang in Form von Selbsterziehung selbst daran arbeiten. | |||
=== ''Gefühlserziehung durch Kunst'' === | |||
Die künstlerischen Therapien können dabei eine große Hilfe sein. Denn in der Kunst haben wir es mit denselben Gesetzmäßigkeiten zu tun, nach denen der Leib gebildet ist: | |||
* Die Gesetze des Lebendigen, des ''Wachsens, Gestaltens und Bildens'' finden wir '''in Plastik und Architektur''' wieder. | |||
* Die Gesetze, die dem ''Gefühlsleben'' zugrunde liegen, '''in Malerei und Musik''', | |||
* und die Gesetze des ''Willenslebens'' '''in der Sprache und der Eurythmie'''. | |||
Das Gefühlsleben hängt mit den ''differenzierenden Wachstumskräften'' zusammen: Die Differenzierung von Geweben und Organen während der Embryonalentwicklung beruht auf bestimmten Proportionen und Zahlenverhältnissen, die ihrerseits wieder musikalisch darstellbar sind.[2] Das Zusammenspiel von Herz- und Atemrhythmus bildet das Zentrum der musikalischen Konstitution des menschlichen Organismus. Das Erwachen und Erleben von Gefühlen ist an diese Organe genauso gebunden wie die Bildung und das Bewusstwerden von Gedanken an das Nervensystem. | |||
''Vgl. Kapitel „Wie sind Leib, Seele und Geist in Gesundheit und Krankheit verbunden?“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Von Seelenrätseln'', GA 21. | |||
[2] Vgl. Armin Huseman, ''Der musikalische Bau des Menschen'', Stuttgart 1989. | |||
== WILLE UND KÜNSTLERISCHES SCHAFFEN == | |||
''Welche spezifische Dynamik liegt dem menschlichen Willensleben zugrunde?'' | |||
''Welches Organsystem hängt direkt mit dem Willen zusammen?'' | |||
=== ''Wille ist Kraftentfaltung'' === | |||
Das Willensleben ist reine Kraftentfaltung, Intensität und Begierde. Hier haben wir es mit der Kraft der menschlichen Wesenheit zu tun, die sowohl Zerstörungstendenzen aufweist als auch die Grundlage von Kreativität und den Erwerb von Fähigkeiten bildet. Anders als bei der Vielfalt an Gedanken und dem Reichtum an Gefühlsstimmungen haben wir es hier mit schlichter Konzentriertheit zu tun: mit der Tatbereitschaft schlechthin. | |||
Fragt man nach dem Zusammenhang von Leibesleben und Willensleben, sieht man, dass vor allem das Verdauungssystem der Gesetzmäßigkeit des Willens unterworfen ist: Hier wird verbrannt und gearbeitet und der gesamte Körper mit der Kraft versorgt, die den aus den Nahrungsstoffen gewonnenen Substanzen innewohnen. | |||
=== ''Willensleben und Schwerkraft'' === | |||
Das Willensleben ist der Erde mit ihrer Schwerkraft innig verwandt, überwindet letztere aber beim Erwerb des aufrechten Ganges. | |||
* Es ist kein Zufall, dass die '''Organe des Bauchraumes und die Beine''' von der Erdenschwere beeinträchtigt werden können: Die Nieren können abwärts wandern, der Uterus kann sich senken, auch der Magen kann mehr oder weniger stark nach unten hängen. | |||
* '''Das Herz''' dagegen ist im Brustraum eingebettet zwischen rechtem und linkem Lungenlappen und wird durch die Atemtätigkeit rhythmisch immer wieder der Schwere enthoben. Außerdem herrscht im Brustraum der sogenannte Donders-Druck[1]. | |||
* '''Das Gehirn''' schwimmt im Gehirnwasser und ist dadurch in noch höherem Ausmaß dem Einfluss der Schwere entzogen. Das besondere Empfinden von Leichtigkeit im Zusammenhang mit dem Gedankenleben ist ein Ausdruck davon. | |||
=== ''Bildekräfte und schöpferisches Potential'' === | |||
Menschen, die sich willensschwach fühlen und nicht in der Lage sind auszuführen, was sie sich vorgenommen haben, können durch systematisches Üben von Eurythmie und Sprache ihren Willen stärken. Das hat sich in der Psychotherapie bei Antriebs- und Willensstörungen schon vielfach bewährt. Dabei werden hohe Anforderungen an den Therapeuten gestellt, weil bei Willensschwäche und Antriebsarmut starke Widerstände seitens der Patienten zu überwinden sind. | |||
Eurythmie und Sprache, aber auch Tanz- und Schauspielkunst, geben dem Menschen die Möglichkeit, seinen Willen künstlerisch zu gestalten. An der Sprachbildung orientierte Bewegungen wie die Eurythmie sind reine Offenbarungen des Menschlichen und arbeiten mit dem vollen Umfang menschlicher Bewegungsfähigkeit: Wird bewusst damit gearbeitet, erfährt der Wille eine Erweiterung und Vertiefung seiner menschlichen Wesensäußerungen. | |||
Wenn ''Goethe'' sagt: „''Die Kunst ist eine Offenbarerin geheimer Naturgesetze''“, so weist er damit auf die Zusammenhänge des menschlichen Leibes mit den künstlerischen Tätigkeiten und deren Beziehungen zum Seelenleben hin: Hätten diese schöpferischen Kräfte nicht zuvor unseren Leib gestaltet, trügen wir sie nicht als kreatives Potential in unserer Seele. | |||
Rudolf Steiner präzisiert das in seiner Darstellung des Zusammenhangs der menschlichen Wesensglieder mit den künstlerischen Bildeprozessen: | |||
* Die ''Gesetze der Architektur'' entsprechen denen '''des physischen Leibes'''; | |||
* die ''Gesetze der Plastik'' denen '''des Ätherleibes'''; | |||
* ''diejenigen der Malerei und Musik'' entsprechen '''dem Astralleib''' | |||
* und ''diejenigen der Sprache'' '''dem Ich'''. | |||
Der menschliche Körper wird von den Gesetzen und Kräften dieser Wesensglieder aufgebaut. Sie bilden aber auch die Grundlage des individuellen Seelenlebens sowie den Quellort künstlerischen Schaffens. | |||
''Vgl. Kapitel'' „''Wie sind Leib, Seele und Geist in Gesundheit und Krankheit verbunden?''“, ''Elternsprechstunde, Stuttgart 1993'' | |||
----''[1] www.imedo.de/medizinlexikon/donders-druck'' | |||
== FREUDE DURCH KÜNSTLERISCHE BETÄTIGUNG IM SCHULALTER == | |||
''Warum ist die Freude am künstlerischen Tun im Schulalter so wichtig?'' | |||
=== ''Freude wirkt positiv auf die rhythmischen Funktionen'' === | |||
So wie sich in der Vorschulzeit im Zuge der Leibbildung das Willensvermögen über die Sinnestätigkeit und die damit verbundene Freude an der Nachahmung veranlagt, so bilden sich bis zur Pubertät die rhythmischen Funktionen und das Gefühlsleben aus. Kreislauf und Atmung hängen innig mit unserem Gefühlsleben zusammen, was jeder weiß, der schon einmal verliebt oder aufgeregt oder ängstlich war: Denn in diesen Zuständen verändern sich sofort Pulsfrequenz und Atemtiefe. | |||
Künstlerische Übungen der verschiedensten Art – allen voran die Kindereurythmie, aber auch das Musizieren, Malen, Plastizieren – wirken über sich wiederholende Abläufe und den Motivationsschub der Gefühle anregend und stabilisierend auf die Seele des Kindes. | |||
=== ''Gesundheit durch gefühlsmäßige Verbindung zur Umwelt'' === | |||
Das Gefühlsleben als Zentrum des seelischen Erlebens kann sich nur dann gesund entwickeln, wenn es gelingt, eine gefühlsmäßige Verbindung zur Umwelt herzustellen, die freudig getönt ist. Rudolf Steiner sagt dazu: | |||
''„Warum wirkt denn ganz besonders das künstlerische Element auf die Willensbildung? Weil das ja im Üben erstens auf Wiederholung beruht, zweitens aber auch, weil dasjenige, was sich der Mensch künstlerisch aneignet, ihm immer wieder Freude macht. Das Künstlerische genießt man immer wieder, nicht nur das erste Mal. Es hat schon in sich die Anlage, den Menschen nicht nur einmal anzuregen, sondern ihn unmittelbar immer wieder zu erfreuen. Und daher haben wir das, was wir im Unterricht wollen, in der Tat zusammenhängend mit dem künstlerischen Elemente.“[1]'' | |||
Der Unterricht macht Freude, wenn er künstlerisch aufgebaut ist. Denn die Seele entwickelt sich auf gesunde Art und Weise, wenn sie sich in Beziehung erlebt und wenn diese Beziehung sich beglückend und freudig anfühlt. Nur dann hat sie den nötigen Überschuss an Kraft, um auch mit Schmerzen, Problemen und Verzicht fertig zu werden. Es ist die Freude, die uns die Kraft gibt, Schmerzen auszuhalten. Wenn Leid das Leben bestimmt, hält man es längerfristig nicht aus. | |||
In der künstlerischen Übung, die ja immer ein Schöner-Werden des Geübten nach sich zieht, können Kind und Erwachsener die grundlegend wertvolle Erfahrung machen, dass intensives, persönliches, seelisches Engagement mit Freude verbunden ist. | |||
''Vgl. Vortrag „Der therapeutisch-heilende Auftrag der Mutter“, Dornach 1992'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik'', GA 293. | |||
== PARADIGMEN DER KUNSTTHERAPIE == | |||
''Was macht den kunsttherapeutischen Prozess aus?'' | |||
''Was kann er bewirken und auf welche Weise?'' | |||
=== ''Gesunde Instinkte über neue Fertigkeiten veranlagen'' === | |||
Durch die Art, wie wir Aufgaben stellen, bringen wir einen geistig-seelischen Inhalt – wie z.B. Vorstellungen aus der Mythologie, ein Märchenbild oder etwas aus der eigenen Fantasie – mit dem Physischen des Patienten, aber auch der Fertigkeit, die die jeweilige Kunstrichtung erfordert, zusammen. Die Auseinandersetzung mit diesen Komponenten macht den therapeutischen Prozess aus. Jede Kunstrichtung ermöglicht das auf ihre Art. | |||
Für eine methodische Diagnostik muss der Kunsttherapeut wissen, dass ein Patient sich anfangs immer selbst darstellt. Eignet sich der Patient nun unterschiedliche Techniken an, also etwas ganz Objektives, Bewusstes, etwas, das nicht aus seinem Instinkt kommt, etwas, dem der Instinkt nur dient, hat er darüber die Möglichkeit, über sich hinauszuwachsen. So kann jede Maltechnik bzw. jede Kunstrichtung dem Patienten helfen, neue Fertigkeiten bzw. neue Organe zu erwerben und darüber wiederum neue Instinkte zu veranlagen. | |||
Kinderzeichnungen werden in der Regel alle aus dem kindlichen Instinkt heraus gemalt. Die Nass-in-nass-Malerei in der Waldorfschule ist eine Kultur des Malens, die nicht rein aus dem Instinkt kommt: Ein Blatt nass zu machen, es ganz sorgfältig glatt zu streifen, das sind keine selbstverständlichen Handlungen, die müssen gelernt werden. Man kann nicht einfach ein Blatt nehmen und drauflos malen, man muss es nach einer besonderen Technik vorbereiten. Durch den Erwerb dieser Fertigkeit bzw. die Einhaltung dieser Regeln entwickeln sich neue Organe – bis dahin, dass man dieses Ritual liebgewinnt. Das sind neue Instinkte, die methodisch durch den Lernprozess veranlagt wurden. | |||
=== ''Heilsame „egofreie“ Inhalte'' === | |||
Der geübte Künstler kann ganz genau unterscheiden, was er dem Instinkt, seiner ursprünglichen Begabung, verdankt und was der objektiv-instrumentellen Methode. Er kann jetzt noch einen Schritt weitergehen, indem er mithilfe der erworbenen Fertigkeiten und Instinkte versucht, etwas Objektives zu offenbaren und sich bemüht, Inhalte aus der Sinneswelt oder aus seiner geistigen Erfahrung abzubilden. Je weniger ein Künstler dabei sein Ego sich aussprechen lässt, sondern es in den Dienst eines Höheren, Objektiven, stellt, umso professioneller und heilsamer wirken seine Werke. | |||
Die heilsamste Kunst ist der Dienst am Göttlichen, wenn das Ego ganz draußen bleibt und die Madonna erscheint. Darum geht es in einem wunderschönen Gespräch zwischen Bernhard v. Orly und Albrecht Dürer: Dürer sagte, Raphael habe in seinen Madonnen den Himmel auf die Erde gebracht. Woraufhin ihm Bernhard v. Orly entgegnete: „Und Sie, mein lieber Dürer, geben die Erde durch Ihren Blick dem Himmel zurück.“ Das ist ganz reine, professionelle christliche Kunst. Solche Bilder nur anzuschauen, veranlagt gesunde Instinkte – und wirkt somit therapeutisch. | |||
Man kann über die Inhalte, die man wählt, den therapeutischen Prozess fördern oder die pathologische Veranlagung vertiefen – je nachdem, wie man damit umgeht. Viele Künstler befassen sich auf solch einseitige Weise mit ihrer Pathologie, dass es ihre Natur fast „zerreißt“. Hieronymus Bosch oder Salvador Dali, die auch ständig übersinnliche Erfahrungen hatten, stellten sie unter die Herrschaft des Ich, indem sie das Geschaute malten. Manche Künstler malen ihre Drogenerfahrungen und integrieren sie so durch das Gestalten des Erlebten. | |||
=== ''Der kunsttherapeutische Prozess in drei Schritten'' === | |||
Fehlen die gesunden Instinkte, kann der Therapeut manchmal sogar einen Hass auf bestimmte Farben, Techniken und Themen beobachten. Es braucht viel Know-how, Einfühlungsvermögen und Erfahrung, wie man in Bezug auf bestimmte Probleme und Traumata am besten vorgeht. Patienten sind grundsätzlich da abzuholen, wo sie stehen. D.h., wenn sie anfangs nur mit Schwarz malen wollen, dürfen sie das tun. Man sollte sie aber durch die Art der Aufgabenstellung neugierig machen auf anderes. Sie können mit diesem Schwarz z.B. versuchen etwas Objektives abzubilden, bis sich das Selbst in seiner Einseitigkeit ein wenig daran „geläutert“ hat und die Lust nach einer anderen Farbe auftaucht. Da muss man ganz individuell vorgehen. | |||
Das alles dient nur als Beispiel, darf nicht als Rezept genommen werden! Alles soll beispielhaft auf Prozesse und Schritte hinweisen, die jeder von uns kennt, die wir nur nicht genügend reflektieren: Immer, wenn wir malen, egal in welchem Alter und in welchem Ausbildungsgrad, tun wir drei Dinge: | |||
# Wir erlernen neue Techniken und verwerfen andere oder wir probieren nur aus, und erwachen dabei langsam zu Bewusstsein. | |||
# Als zweites wirkt immer ein „Etwas“ anregend auf unser Malvermögen: Man sieht etwas und hat Lust, es zu malen oder man blendet die ganze Sinneswelt aus und möchte nur malen, was aus der Fantasie kommt. Das ist aber auch „etwas“ – man möchte immer „etwas“ gestalten. | |||
# Dieses „Etwas“ kann man auch denken, man kann es reflektieren – es ist ein potentiell außerkörperlich-geistiger Inhalt. | |||
Die entscheidende Frage ist nun, ob es gelingt die ersten beiden Komponenten beim Patienten oder bei sich selbst im Sinne der Selbstheilung im Drüber-Nachdenken bewusst zusammenzuführen und damit therapeutisch wertvoll zu machen. | |||
''Vgl. Ausführungen aus Seminargruppe 5 an der Kunsttherapietagung 2010 in Dornach'' | |||
== TASTSINNPFLEGE IN DER KUNSTTHERAPIE == | |||
''Wie kann der Tastsinn mithilfe von Kunsttherapie gepflegt werden?'' | |||
''Welche Aspekte sind dabei besonders zu beachten?'' | |||
=== ''Existenzvertrauen erwerben durch Pflege des Tastsinns'' === | |||
Zur Tastsinnpflege gehört bereits der erste Eindruck: dass die ganze Einrichtung und die Art, wie der Therapeut mit seinen künstlerischen Mitteln umgeht, von Sorgfalt und Ehrfurcht getragen ist. Denn auch all das wird ertastet. Und immer, wenn wir das Außen abtasten, ist auch das Ich zugegen und erlebt, wie der eigene Leib der Umwelt begegnet; wie Göttliches im Menschen, dem Göttlichen in der Welt begegnet. Daraus erwächst Existenzvertrauen, das wir Menschen brauchen, um gesund durchs Leben zu gehen. Es ist ein Geschenk des Tastsinns. Gestörtes Vertrauen, ein gestörter Glauben in sich und die Welt, weist dagegen auf einen gestörten Tastsinn hin, da können wir ganz sicher sein. Ziel jeder Therapie ist es, mit künstlerischen Mitteln Tastsinnerfahrungen zu ermöglichen, die positiv in das Seelische einstrahlen und Urvertrauen, Vertrauen in die Gott-Durchdrungenheit der Substanz, entstehen lassen. | |||
In seltenen Fällen sind auch die physischen Tastsinn-Organe geschädigt. Aber letztlich ist es nicht das, was als Diagnostik für eine Therapie relevant ist, sondern die Frage, ob und inwieweit der Prozess einer gesunden Einstrahlung der Sinneserfahrung über die Empfindung und das Gefühl bis ins bewusste Existenzerleben als Existenzvertrauen gestört ist. Im Folgenden möchte ich beispielhaft auf die Anorexia nervosa und auf Angststörungen eingehen. | |||
==== '''·''' Tastsinnpflege bei Anorexia nervosa ==== | |||
In der Schulmedizin gibt es eine neue Therapie für die Anorexia nervosa, die Pubertätsmagersucht. Die Betroffenen müssen drei Mal täglich für eine Stunde einen maßgeschneiderten, ganz eng sitzenden Kunststoffanzug aus Neopren-Material tragen, um sich verstärkt zu spüren. Denn man hat festgestellt, dass bei anorektischen Patienten eine gravierende Störung der Körperwahrnehmung vorliegt. Das Ergebnis einer gesunden Tasterfahrung, dass der Leib Vertrauen in die Welt hat, ist bei ihnen seelisch nicht veranlagt worden. Deshalb lohnt es sich, die fehlende Tastsinnerfahrung mit den unterschiedlichsten Mittel therapeutisch „nachzureichen“ und den Betroffen zu helfen das fehlende Vertrauen doch noch zu entwickeln. In dieser Hinsicht ist es enorm wirkungsvoll, auch rhythmische Massage und Öl-Bäder einzubeziehen, wie es gerade bei der Anorexia nervosa in der Anthroposophischen Medizin praktiziert wird. | |||
Auch in der Kunsttherapie muss ständig an und mit der Grenze gearbeitet werden: Man kann Grenzen malen, plastizieren und wieder auflösen, sie erleben, damit umgehen, daran gestalten – also den Tastsinn ansprechen über den Umgang mit Grenzen von unterschiedlichen Weichheits- und Härtequalitäten, wie man es mit den künstlerischen Mitteln auf dem jeweiligen Feld eben kann. Daran sollen und werden Empfindungen und Gefühle entstehen, auch für die Grenze und den Unterschied zwischen unten und oben, Schwere und Leichte, innen und außen. Dadurch kann sich mit der Zeit ein neues gesundes Körpererleben, Vertrauen in den eigenen Körper, Selbstvertrauen und Weltvertrauen bilden. | |||
==== '''·''' Tastsinnpflege bei Angststörungen ==== | |||
Auch bei Angststörungen liegt immer ein gestörter Tastsinn vor. Vertrauensverlust und Existenzunsicherheit gehen immer einher mit Angst. Deshalb ist es hilfreich für die Diagnose zu schauen, wie ängstlich und angsterfüllt ein Mensch ist. Auch hinter der Magersucht verbirgt sich oft unbewusste Angst. | |||
Will man den Betreffenden helfen ihre Angst zu verlieren, muss man auch mit ihnen bewusst so an den Grenzen arbeiten, dass sie innerhalb davon zu einer neuen Sicherheit finden: Dazu gehört ein neues, von Vertrauen getragenes Erleben ihrer selbst in den eigenen Körpergrenzen, aber auch das Leben innerhalb von sicheren Grenzen im Sozialen, vor allem zu Hause. Die verschiedenen Entängstigungstechniken setzen einerseits beim Bewusstsein an, arbeiten aber auch über die Empfindung und das Gefühl: Ich schaffe mir meinen eigenen Raum. | |||
Es gibt wunderbare Dokumente, wie es selbst im Gefängnis gelingen kann, sich diesen Ruhe- und Sicherheitsraum zu schaffen. ''Dietrich Bonhoeffer''[1] schrieb drei Monate vor seiner Hinrichtung im letzten Brief an seine Verlobte das berühmte Lied: ''„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ '' | |||
Das ist tiefer Ausdruck eines gesunden Tastsinns: Durchdrungen zu sein mit Gott-Gefühl, sagt Rudolf Steiner, sei das Ergebnis einer gesunden Tasterfahrung. Warum? Weil das Ich als geistiges Wesen erlebt: Dies hier ist mein Leib, das dort ist die Welt, ich bin meinem Wesen nach unabhängig davon. Und wenn mir das materielle Zuhause genommen wird, bin ich trotzdem geborgen in dieser Welt, der alles angehört. Es ist eine wunderbare Übung, sich allen Dingen mit diesem Empfinden gegenüberzustellen. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Tastsinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
----[1] Dietrich Bonhoeffer (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossenbürg) war ein lutherischer Theologe, profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche und am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt. Quelle: <nowiki>https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Bonhoeffer</nowiki>, ges. am 12.10.2016. | |||
== LEBENSSINNPFLEGE IN DER KUNSTTHERAPIE == | |||
''Wie kann der Lebenssinn mithilfe von Kunsttherapie gepflegt werden?'' | |||
''Welche Aspekte sind dabei besonders zu beachten?'' | |||
=== ''Harmoniesucht macht aggressiv'' === | |||
Der Lebenssinn lässt uns Harmonie und Wohlbehagen empfinden. Manchmal nennen wir Menschen harmoniesüchtig. Warum? Sehnsucht nach Harmonie zu haben ist etwas sehr Gesundes, man darf davon aber nicht abhängig werden. Denn harmoniesüchtige Menschen haben eine riesengroße Schattenseite: Sie reagieren sehr aggressiv, wenn es unharmonisch zugeht: ''„Jetzt streitet doch nicht immer!“'' Man kann am Aggressivitäts-Level den Grad der Harmoniesucht erkennen. Das kann einem mehr oder weniger bewusst sein. Streitlust ist etwas ganz anderes. Hier reagiert man mit Aggressivität, weil man es nicht erträgt, dass die Beziehungen und sozialen Verhältnisse nicht so harmonisch sind, wie man es selber haben möchte. Auch das ist ein Ausdruck von Unfreiheit dem Lebenssinn gegenüber. | |||
Unlust, Aggression und Langeweile sind wichtige diagnostische Merkmale für einen gestörten Lebenssinn und zugleich Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Ganzheit, Schönheit und Harmonie – die „das Tal der Gegensätze und des Hässlichen“ erst noch durchqueren müssen. Das ist ein Prozess. Die Betroffenen müssen lernen Harmonie als etwas zu erleben und zu pflegen, was den anderen nicht zwingt, sondern beglückt; und sie müssen üben, mit der eigenen Aggressivität so umzugehen, dass sie zur Harmonie-Befähigung führt. Aggressivität, Langeweile, Öde – all diese missgestimmten Gefühle, die uns das Leben verderben, die uns ärgerlich und verbittert machen – können zu etwas Wunderbarem führen, wenn wir sie als Ruf nach Harmonie auffassen. | |||
=== ''Diagnose als Wegweiser'' === | |||
Der Therapeut muss früher oder später in Zusammenarbeit mit dem Patienten oder Klienten oder Kind herausfinden, was der Betreffende sucht. Eine Diagnose stellt immer einen Blick auf Zusammenhänge dar, die man durchschaut aufgrund von Symptomen, die ein Bild der Störung ergeben. Als Nächstes stellt sich die Frage, wie daraus ein Weg zur Gesundung wird. Deswegen fragen Ärzte ihre Patienten auch oft – selbst wenn sie manchmal schon wissen bzw. ahnen, was bei dem Betroffenen vorliegt: ''„Warum kommen Sie zu mir? Was wünschen Sie sich von mir?“'' Den Antworten kann man entnehmen, was der andere sucht. Und man kann ihn beim Wort nehmen: ''„Wenn sie das wollen, kann ich ihnen helfen!“'' Jetzt kann man über den Weg dahin sprechen – der dem Patienten möglicherweise nicht gefallen wird, der aber zum Ziel führt. Auf diese Weise hat man ihn im Boot und muss versuchen mit Optimismus und Humor an den selbst gestellten Aufgaben „dran“ zu bleiben... | |||
In diesem Sinne sollten wir versuchen den Betroffenen klarzumachen, dass sie ihre Aggression, ihre Langeweile, ihre wie auch immer geartete missliche Stimmung als Anlass nehmen können, etwas zu tun: aufzuwachen für das eigene Potential, anstatt sich mit Drogen „zuzudröhnen“ oder sich und anderen das Leben zu vermiesen. | |||
=== ''Aggression in Kreativität verwandeln'' === | |||
In der Kunsttherapie können wir mit ihnen gemeinsam versuchen, bewusst mit den Aggressionen umzugehen, indem wir sie ermutigen, ein Bild zu malen, etwas zu gestalten, das so vollkommen ist, so schön, so sehr ihrem Wunsch nach Harmonie entspricht, dass sie keine Lust mehr haben, aggressiv zu reagieren. Ein Werk zu schaffen, das befriedet. Denn Aggression kann als wunderbares Aktivitäts-Potential gesehen werden, das nach konstruktiver Gestaltung drängt, aber noch nicht weiß, wie man das macht. | |||
Das lässt sich auch Kindern wunderbar vermitteln. Wenn man sagt: ''„Du bist ein ganz toller Kerl, du hast Superkräfte, weißt nur noch nicht so genau, wie man sie so einsetzt, dass alle sich darüber freuen können. Im Moment freuen nur wir uns daran und andere ärgern sich noch darüber. Jetzt üben wir, sie so einzusetzen, dass auch die anderen sehen, was in dir steckt und sich darüber freuen!“'' | |||
''Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
== BEWEGUNGSSINNPFLEGE IN DER KUNSTTHERAPIE == | |||
''Wie kann der Bewegungssinn mithilfe von Kunsttherapie gepflegt werden?'' | |||
''Welche Aspekte sind dabei besonders zu beachten?'' | |||
=== ''Bewegung ermöglicht Freiheitserleben'' === | |||
Das schönste und mit das wichtigste menschliche Gefühl verdanken wir dem Bewegungssinn: das Freiheitsgefühl. Warum rasen Leute so gerne mit ihren Autos? Wegen dem Freiheitsgefühl, das sich bei schneller Fortbewegung wie auch beim Fliegen einstellt. | |||
Auch in der Anatomie sprechen wir von Freiheitsgraden. Unser Schultergelenk ist das Gelenk mit den meisten Freiheitsgraden – sieben an der Zahl! Damit haben wir aber auch die meisten Probleme – vielleicht als Sinnbild dafür, dass wir mit Freiheit so schlecht umgehen können... | |||
Einen gestörten Bewegungssinn erkennt man | |||
* '''körperlich''' an der fehlenden Sicherheit und Freude beim Bewegen an sich, | |||
* und '''seelisch''' an „Verklemmungen“, Hemmungen, Gefühlen der Unfreiheit, Anpassungsschwierigkeiten, Zwängen usw. | |||
An alle Störungen des Bewegungssinnes muss man mit Bewegungstherapien drangehen und ''nicht'' mit Psychotherapie. Die Betroffenen brauchen Bewegung, Bewegung, Bewegung. Und auch wenn man in der Kunsttherapie mit Musik oder Malen arbeitet und kein Bewegungstherapeut ist, kann man trotzdem das Element der Bewegung verstärkt hinzunehmen, indem man z.B. beim Malen und Zeichnen ein großes Format nimmt, das den Patienten veranlasst, beim Malen große Bewegungen zu machen. Oder indem man vor dem Plastizieren das Thema wie in der Luft plastiziert und so die Empfindung für die freie Bewegung zu wecken versucht. | |||
=== ''Diagnostik im Lichte des Gesunden'' === | |||
Das Schöne an dieser Art der Sinnesdiagnostik ist, dass man das Gesunde kennt und im Licht des Gesunden das Kranke ganz fein beobachten kann. Der Therapeut weiß, dass Heilung über | |||
* die Sinneserfahrung, | |||
* das Spüren der Empfindung, | |||
* das Spüren des sich daran anschließenden Gefühls | |||
* und zuletzt das Gespräch über das auf diesem Wege erkannte Gefühl | |||
erfolgt. Dieser Prozess ermöglicht es dem Betroffenen zu verstehen, Schlüsse aus dem Erlebten zu ziehen, sich der Sache erlebend gegenüberzustellen. So kann man jedem Menschen einen Ausweg aus seiner jeweiligen Sinnesstörung zeigen. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Bewegungssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
== PFLEGE DES GLEICHGEWICHTSSINNES IN DER KUNSTTHERAPIE == | |||
''Wie kann der Gleichgewichtssinn mithilfe von Kunsttherapie gepflegt werden?'' | |||
''Welche Aspekte sind dabei besonders zu beachten?'' | |||
=== ''Um fehlende Ruhe ringen'' === | |||
Wenn der Gleichgewichtssinn gestört ist, hat das im Seelischen zur Folge, dass keine innere Ruhe hergestellt werden kann: Die Betroffenen sind erfüllt und getrieben von seelischer Unruhe, Hast, innerer Zerrissenheit. Man durfte als Kind nicht genug Gleichgewichtserfahrungen sammeln, durfte nicht die Gnade erleben: ''„Ich kann mich ins Gleichgewicht bringen.“'' Man kann deshalb auch nicht empfinden: ''„Ich ruhe in mir selbst.“'' | |||
In der Kunsttherapie kann man nun an solchen Ruhemomenten arbeiten, an diesem Zu-sich-Kommen, Ins-Gleichgewicht-Kommen aus diversen Unruhezuständen heraus. Entscheidend ist auch hier, dass der Betroffene nicht nur die Erfahrung macht, zur Ruhe zu kommen, sondern dass der therapeutische Prozess weitergeht, indem er die Empfindung zu halten versucht, solange es geht, und ihr nachlauscht bis ins Fühlen. Durch das Beschreiben des Empfundenen wird das Erlebte nach und nach zu einem bewussten Erfahrungsschatz. | |||
=== ''Beruhigende Botschaften der unteren Sinne'' === | |||
Denn jeder noch so „sinnesgestörte“ Mensch hat ja diese unteren Sinne. Er ist nur nicht mehr in der Lage, die selbstlose Botschaft dieser Sinne zu empfangen: | |||
* dass unser ''Geistesmensch'' über den '''Lebenssinn''' sagt: ''Du bist ein harmonisches, im Kosmos gerechtfertigtes Wesen;'' | |||
* dass unser ''Lebensgeist'' uns über den '''Bewegungssinn''' sagt: ''Du bist ein freies Wesen;'' | |||
* und dass unser ''Geistselbst'' uns über den '''Gleichgewichtssinn''' sagt: ''Du ruhst in dir selbst, du bist ein in dir gegründetes Wesen.'' | |||
Von der Veranlagung her haben wir alle dieses Potential und können es im therapeutischen Prozess ein Stück weit bewusst machen und verwirklichen. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
== ASPEKTE ZUM WERK ALBERT STEFFENS[1] == | |||
''Welche künstlerischen und zugleich heilenden Aspekte zeigen sich im Werk Albert Steffens als Entwicklungsimpulse?'' | |||
=== ''Fünf zentrale Impulse der Anthroposophie'' === | |||
''Sigismund von Gleich''[2] fand in seinem Buch ''„Die Inspirationsquellen der Anthroposophie“''[3] wunderbare Begriffe für die fünf zentralen Impulse der Anthroposophie: den Karma-Impuls, den Gralsimpuls, den Sophia-Impuls, den Michaelsimpuls und den Christus-Impuls. Er untermauerte sie durch Äußerungen Rudolf Steiners und führte aus, inwiefern diese fünf Impulse das Wesen von Rudolf Steiners Werk ausmachen: das Hereinrufen des umfassenden, reinen, vollmenschlichen Wesenspotentials in die Erden- und Weltenentwicklung. | |||
Wenn man ''Albert Steffens'' umfangreiches Werk im Hinblick auf die genannten Impulse durchgeht und auf seine zentralen Themen und Motive achtet, findet man sie dort wieder: | |||
* Man erkennt, wie sehr der '''Karma-Impuls''' sein Anliegen ist: Der Mensch wird als Selbstgestalter seines Schicksals gesehen. Damit befassen sich seine Schicksalsdramen, in denen einzelne Persönlichkeiten – wie ''Woodrow Wilson'' und seine Frau oder ''Alexander der Große'' z.B. in ''„Alexanders Wandlung“[4]'' oder ''Mani'' in ''„Die Manichäer“[5]'' – im Mittelpunkt stehen. So zeigt er das Wirken der Karma-Mächte. | |||
* Man merkt aber auch seine Nähe zum Gral, '''zum Gralsimpuls''', der das Symbol für die Zusammenarbeit zwischen den Lebenden und den Verstorbenen ist. | |||
* Der '''Sophia-Impuls''' drückt sich vor allem in seiner Malerei, in der unendlich liebevollen und weisheitsvollen Gestaltung seiner Bilder aus. | |||
* In vielen seiner Gedichte und Prosawerke zeigt sich der '''Michaelsimpuls''' – er wird auch ganz direkt angesprochen. | |||
* Und immer geht es um die Suche nach dem Christus und nach Möglichkeiten, wie seine Wesenheit wirksam werden kann. Steffen versucht diesem '''Christusimpuls''' in seinen Werken durch Worte und Geschehnisse Ausdruck zu verleihen. | |||
=== ''Heilende Impulse aus dem Wort'' === | |||
Albert Steffen war nicht nur ein inniger Schüler der Anthroposophie und Rudolf Steiners, sondern ist auch selbst schöpferisch geworden aus den fünf zentralen Inspirationsquellen der Anthroposophie heraus. | |||
Als Dichter hatte er einen ganz besonderen Bezug zum Mysterium des Wortes. Auch durch seine persönliche Biografie, durch eigenes Leid bis in seine Familie hinein, ist er mit den Mysterien von Krankheit und Heilung konfrontiert worden. Es war sein innerster Impuls, über den möglichst behutsamen und bewussten Umgang mit dem Wort zu heilen, das Wort, ob nun künstlerisch-dramatisch, dichterisch oder als Prosa gestaltet, so zu verwenden, dass bei dem, der sich damit beschäftigt und es auf sich wirken lässt, Heilendes in Gang gebracht wird. | |||
''Vgl. Vortrag „Das Therapeutische in der Dichtung von Albert Steffen“ anlässlich der Steffen-Ausstellung am Goetheanum, Neujahr 2010'' | |||
----[1] Albert Steffen (* 10. Dezember 1884 in Wynau; † 13. Juli 1963 in Dornach) war ein Schweizer Schriftsteller und Anthroposoph. Nach dem Tode Rudolf Steiners war Steffen ab 1925 dessen Nachfolger als Vorsitzender der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (wikipedia). | |||
[2] Sigismund von Gleich, Pseudonym "Hans Heinrich Frei" (*Ludwigsburg/ Württ. 29. Sept. 1896 † 1. Nov. 1953 Zeist/ Prov. Utrecht) war ein früher Anthroposoph und einer der Mitbegründer der Christengemeinschaft (AnthroWiki). | |||
[3] Sigismund v. Gleich, ''Die Inspirationsquellen der Anthroposophie,'' Stuttgart 1981. | |||
[4] ''Alexanders Wandlung'', Drama von Albert Steffen, Dornach 1953. | |||
[5] Albert Steffen, ''Der Auszug aus Ägypten; Die Manichäer'', Berlin 1916. | |||
== DIE GLASFENSTER DES GOETHEANUM == | |||
''Was ist das Besondere an den Glasfenster-Motiven des Goetheanum?'' | |||
''Inwiefern können die dort abgebildeten Motive zu Übungen inspirieren?'' | |||
=== ''Übungen anhand der Glasfenster des Goetheanum'' === | |||
Es gibt ein kleines Buch von ''Georg Hartmann[1]'' für Eltern und Pädagogen, das künstlerische Inhalte im Zusammenhang mit den Motiven der Glasfenster des Goetheanum[2] so vermittelt, dass sie wie Bilder, wie Kunstwerke wirken, die in der Seele erstehen und die einen begleiten, sodass man sich an ihnen immer wieder denkend und fühlend orientieren, aufrichten und erfrischen kann. | |||
Die dort angeführten Übungen sind wie ein kleiner Schulungsweg und haben die seelische Gesundheit im späteren Leben zum Thema. Wenn Sie sich drei bis fünf Minuten, ja selbst nur eine Minute lang, am Abend die Abbildung eines Glasfensters anschauen, schlafen Sie völlig anders ein als bisher und wachen gestärkter auf. | |||
Das hilft vor allem, die Seelenfähigkeiten auszubilden und zu pflegen – was ja ''das'' Grundmotiv für alles pädagogische Tun im 2. Jahrsiebt ist, wenn sich das rhythmische System ausbildet. | |||
==== '''·''' Richtiger Umgang mit Idealen ==== | |||
''Die beiden Hälften des roten Fensters'' bilden z.B. den richtigen Umgang mit Idealen ab: D.h. wenn man die Sonne des Ideals verliert und in den Abgrund der Orientierungslosigkeit schaut, erheben sich bedrohliche Gewalten, die einem Furcht und Schrecken einflößen. Wenn man dagegen eine klare geistige Orientierung hat, ausgedrückt durch die Sonne, empfindet man in den Idealen die Gottesboten bzw. Engelwesen, die sich die Hände reichen und den Abgrund überbrücken. | |||
==== '''·''' Grundimpulse der menschlichen Entwicklung meditieren ==== | |||
Sie finden ''im roten und violetten Fenster'' die Grundimpulse der menschlichen Entwicklung ausgedrückt – die Empfängnis und den ganzen Lebenslauf. Schauen Sie sich das einmal ganz bewusst an. Denn in den künstlerischen Motiven der Glasfenster ist die gesamte Anthroposophie zusammengefasst. | |||
=== ''Kraftquell für Pädagogen'' === | |||
Kern der Übungen ist, dass man abends mit einem Gedanken-Motiv, das man sich selbst ausgesucht und gebildet hat, einschläft. Am Tag erweist sich dies dann als „unsichtbarer Begleiter“ und hilft, die Sinnhaftigkeit des pädagogischen Berufes immer deutlicher zu empfinden. | |||
Es empfiehlt sich, gerade zu Zeiten, in denen man seine Arbeit als besonders fordernd erlebt, mit diesen Inhalten umzugehen. Auch wenn es nicht gelingt, im Alltag entlastende Umstände herbeizuführen, so kann die Beschäftigung mit diesen Motiven dennoch zu einer echten Kraftquelle werden: Mit einem geringen Zeitaufwand kann man sich direkt mit diesen helfenden Qualitäten verbinden, kann diese Bilder auf sich wirken lassen und wird bemerken, wie die Gefühle sich daran beleben und erstarken. | |||
Durch den künstlerischen Umgang mit diesen Motiven, indem man sie fühlend mitnimmt durch den Tag, wird man fähig, insbesondere Kindern im 2. Jahrsiebt aus dieser Quelle heraus die richtigen Antworten auf ihre Fragen zu geben. | |||
''Vgl. Vortrag „Der therapeutisch-heilende Auftrag der Mutter“, Dornach 1992'' | |||
----[1] Georg Hartmann, ''Goetheanum Glasfenster'', Dornach 1971. | |||
[2] Das Goetheanum ist ein Gebäude in Dornach, rund zehn Kilometer südlich von Basel. Es dient als Sitz und Tagungsort der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, vor allem aber als Festspielhaus und Theaterbau. Benannt wurde es nach Johann Wolfgang von Goethe (wikipedia). | |||
== ALLTAG ALS KÜNSTLERISCHE HERAUSFORDERUNG == | |||
''Wie kann man Alltagsroutine künstlerisch in einen lebendigen Prozess verwandeln?'' | |||
=== ''Routine als Herausforderung'' === | |||
Routine allein wird dem Alltag nicht gerecht. Routine ist oft ein Ausdruck von etwas Krankhaftem. Routine ist nur dann gut, wenn sie eine stützende, strukturierende Rolle spielt, sodass man in dieser Zeit an etwas denken kann, das Freude macht – dann ist sie gerechtfertigt. | |||
Zu einem Problem wird Routine, wenn die Seele sich an sie anpasst und das Seelenleben grau und regelmäßig wird und der Geist „auf Urlaub“ geht in der Zeit und man auf ihn und seine Möglichkeiten vergisst. Da kann es helfen, sich den Alltag unter dem künstlerischen Aspekt anzuschauen und sich zu fragen, wie der Ablauf von morgens bis abends zu einer künstlerischen Herausforderung werden könnte. Man kann sich bei den Dingen, die man zu tun hat, überlegen, wie sie noch ein bisschen kreativer, identifizierter und mit etwas mehr Freude gestaltet werden könnten. Dadurch entwickelt sich eine Lebenshaltung, die einen selbst und andere stärkt. | |||
Wenn man sich aber durch den Alltag so in die Enge getrieben fühlt, dass man zu solchen Überlegungen gar nicht mehr in der Lage ist, sollte man den Mut aufbringen, sich eine Auszeit zu nehmen, um darüber nachzudenken, durch welche Wendung man dem Leben eine neue Richtung geben könnte. | |||
=== ''Künstlerisches Tun als Entwicklungshilfe'' === | |||
Im künstlerischen Bereich kann man an sich arbeiten und Stress haben, man kann das künstlerische Tun aber trotz der eigenen Unzulänglichkeit und dem Wissen, es könnte alles noch besser und schöner sein, als der Mühe wert erleben. Typisch für die hohen Ansprüche an sich selbst in der Kunst ist die Opernsängerin, die wegen eines nicht ganz passenden Tones in einer Arie zerknirscht in ihrer Garderobe sitzt, obwohl das Publikum Blumen warf. Als Künstler will man immer höher hinaus – und entwickelt sich dabei. | |||
Beim künstlerischen Tun, beim Üben, halten sich Schmerz und Freude die Waage, wenn der Übende spürt, dass er auf einem Weg ist, der Sinn macht, weil er seine Fähigkeiten bei dem, was er tut, immer weiterentwickelt. Wenn Sie noch keine künstlerische Tätigkeit ausüben, sollten Sie deshalb eine aufgreifen – Musikmachen, Malen, Plastizieren, Tanzen – Sie sollten irgendetwas zu üben beginnen, was Sie noch nicht beherrschen, was Sie erst erlernen müssen. | |||
Ich selbst setzte das in einer Lebenssituation um, in der ich das Gefühl hatte, für nichts mehr Zeit zu haben, zu gar nichts mehr zu kommen: Ich wollte immer gerne Klavierspielen lernen, hatte bisher aber nie die Möglichkeit dazu gehabt. In dieser Situation kaufte ich mir ein Buch zum Selbststudium und begann jeden Tag fünf Minuten zu üben. Und Sie glauben nicht, wie weit Sie in einem Jahr kommen können! Das färbte auf meinen Alltag ab und verwandelte ihn in einen genauso spannenden Prozess wie das Klavierspiel. | |||
=== ''Alltag als Schulungsfeld in Lebenskunst'' === | |||
Durch Lebenskunst im Alltag können Sie Ihre Tage besser und entspannter handhaben lernen. | |||
Als Kinderärztin, die jahrelang viele Kinder und Familien betreute, wurde ich einmal von einer Hausfrau und Mutter gefragt, ob ich ihr nicht einen Rat geben könnte in Bezug auf die leidige Hausarbeit, die für sie zu einer tödlichen Routine geworden wäre. Sie hätte nicht das Geld, diese Arbeiten an jemand anderen abzugeben und müsste sie deshalb selbst erledigen, würde aber viel lieber etwas anderes machen. | |||
Ich riet ihr, sich zu überlegen, welche spezifisch menschlichen Qualitäten und Charaktereigenschaften sie sich erwerben würde, wenn sie sich vornähme, drei Jahre lang so gut und liebevoll, wie sie könnte, diese ungeliebte Arbeit zu erledigen. Dabei sollte sie sich damit so stark wie nur möglich identifizieren. Nach drei Jahren sollte sie sich die Situation neu anschauen und herausfinden, ob und wieweit sie diese Qualitäten entwickelt hätte. | |||
Wenn Sie eine solche Anregung aufgreifen, wird es Ihnen wahrscheinlich gehen wie dieser Frau: Sie werden viel weniger Zeit brauchen für dieselbe Arbeit. Sie werden sich in einen fröhlicheren Menschen verwandeln, weil sie wissen, warum Sie tun, was Sie tun. Sie werden sich nach der Arbeit nicht erschöpft fühlen, sondern gekräftigt. Ihr ganzes Leben wird eine andere Qualität bekommen, weil das, was Sie denken und das, was Sie tun, plötzlich übereinstimmen. | |||
=== ''Gespalten-Sein überwinden'' === | |||
Der größte Krafträuber ist unser Gespalten-Sein, wenn wir das eine denken und das andere tun. Oft gehen die Gefühle nochmals in eine andere Richtung und wünschen etwas anderes, etwas Drittes. Dann sind wir als Person wie auseinandergerissen. | |||
Der Ausweg liegt in dem Bemühen „die losen Enden“ wieder zusammenzubringen, indem wir den Entschluss fassen, das, was wir tun, wirklich identifiziert zu tun. Wir können uns bei dieser Übung immer wieder folgende Fragen stellen: | |||
''Beherrsche ich meine Stimmungen?'' | |||
''Kann ich mich selbst „stimmen“?'' | |||
''Kann ich bestimmen, wie ich auf andere zugehe, wie ich durch den Tag gehe?'' | |||
''Agiere ich oder reagiere ich in meinem Gefühl?'' | |||
Man kann sich dadurch selbst ganz neu als „Unternehmer“ im eigenen Seelenleben entdecken. | |||
''Vgl. Vortrag „Gesundheit und Lebensfreude im Alltag“ vom 25.11.2007'' |
Aktuelle Version vom 4. April 2025, 15:17 Uhr
Kunst und Kunsttherapie – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
ANTHROPOSOPHISCHER KUNSTIMPULS UND KUNSTTHERAPIE
Was liegt dem anthroposophischen Kunstimpuls zugrunde?
Welche therapeutischen Prinzipien kommen in der Kunsttherapie zum Tragen?
Selbstdarstellung und geistige Gestaltungsprinzipien
Der Mensch kann seine menschliche Konstitution, die aller Kunst zugrunde liegt, auf zweifache Weise handhaben, das hat Leonardo da Vinci in seinem Buch für Maler[1] ganz wunderbar beschrieben:
- Er könne sein So-Sein unbewusst in seinem künstlerischen Schaffen abbilden.
- Er könne sein künstlerisches Schaffen aber auch bewusst an den geistigen Gestaltungsprinzipien, die der menschlichen Konstitution zugrunde liegen, ausrichten.
Man müsse deshalb zwischen dem ungeübten Künstler und dem geschulten Künstler, unterscheiden, zwischen dem Laien und dem professionellen Künstler. Leonardo sagt: Der ungeübte Künstler würde nicht bemerken, dass er sich selbst darstellt in seinen Werken. Der geübte Künstler dagegen wisse um diesen Impuls und gebe ihm nicht nach. Er orientiere sich an den objektiven Gestaltungsmöglichkeiten, an den Formprinzipien, die er in der Welt und am eigenen Leib wiederfindet und drückt sie aus durch Farben, Formen, Laute und Worte, die seinem freien, innersten Willen entspringen.
Jeder Mensch sei erst einmal ein Laienkünstler, dem es beim Schaffen und Genießen von Kunst um sich selbst geht. Ein dreijähriges Kind gestaltet seine Werke aus der klassischen, alterstypischen Projektionskraft ätherischer Gestaltungskompetenz heraus. Es bildet den Kopf, in dem gerade das Ich-Bewusstsein erwacht ist, äußerlich ab, d.h., es projiziert unbewusst seine altersentsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten aufs Papier und freut sich über das, was es geschaffen hat, weil es sich selbst darin erlebt.
Orientierung am Gesunden
In der anthroposophischen Kunsttherapie lässt man Patienten nur am Anfang, in der Mitte und am Ende frei malen. Die frei gemalten Bilder dienen ausschließlich der Diagnostik. Denn wenn jemand in einer entspannten Atmosphäre ganz aus sich heraus malt und sich selbst dabei ausdrückt, dann erlaubt die Gestaltung seines Bildes Rückschlüsse auf seinen augenblicklichen Gesundheitszustand. Wenn Goethe sagt: „Die Kunst ist eine Offenbarerin geheimer Naturgesetze“, so weist er damit auf die Zusammenhänge des menschlichen Leibes mit den künstlerischen Tätigkeiten und deren Beziehungen zum Seelenleben hin: Hätten diese schöpferischen Kräfte nicht zuvor unseren Leib gestaltet, trügen wir sie nicht als kreatives Potential in unserer Seele, das unseren Selbstausdruck bestimmt.
Die Therapie besteht nun darin – und das hat die Kunsttherapie mit der wirklichen Kunst gemeinsam – einen Weg in Richtung Gesundung zu suchen. Das geht über den reinen Selbstausdruck weit hinaus. Dieser künstlerische Prozess kann wiederum zwei Richtungen nehmen:
- Entweder der Künstler gestaltet, indem er über Skizzen und Andeutungen auf das hin lauscht, was Form oder Farbe selber wollen,
- oder er stellt seine Gestaltungskraft den großen spirituellen Wahrheiten der Welt zur Verfügung und macht sie sichtbar, sodass Menschen daran etwas erleben können, das sie schult, das sie zum Guten, zum Vollkommenen hinzieht, das sie heilt.
Entwicklungsgesetze aufgreifen
Künstler, die sich darum bemühen, wirken mit ihrer Kunst heilsam und zukunftsorientiert, eine ferne heile Zukunft vorausahnend. Sie können es, weil ihre Werke den umfassenden Entwicklungsgesetzen der Menschheit folgen. Diese wiederum erschließen sich nur durch meditatives Üben und so bekommt die Kunst wieder direkt Anschluss an die Mysterienweisheit: Der meditativ Übende, der sich innig mit den großen Welten- und Menschheitszielen verbindet, wird zugleich auch zum künstlerisch Schaffenden. Indem er diesem zukunftsorientierten Impuls zu folgen versucht und sich in die großen Gestaltungszusammenhänge von Menschheit und Welt zu stellen bemüht, ringt er darum, über sich selbst und die Projektion seines eigenen Zustandes hinauszuwachsen, um noch ganz andere Inspirationsquellen für seine Kunst erschließen zu können. Das ist das Hauptanliegen des anthroposophischen Kunstimpulses: wahre Ur-Gestaltungsformen und entwicklungsorientierte Weltgesetze aufzugreifen, die die Menschheit in ihrer Entwicklung vorwärtsbringen.
Vgl. Vortrag „Wege zum Herzdenken durch meditatives und künstlerisches Üben“ Dornach, 2007
[1] Leonardo da Vinci, Das da Vinci Universum - Die Notizbücher des Leonardo, (Hrsg.: Emma Dickens), Ullstein Verlag, Berlin 2006.
KUNST ALS WEG ZUR ERGREIFUNG DES ICH
Wie hängen Kunst und menschliche Konstitution zusammen?
Welche Verbindung stellt die Anthroposophische Medizin als Heilkunst zur Kunst her?
Der Anthroposophische Kunstimpuls
Worin besteht der Anthroposophische Kunstimpuls?
Ich möchte gerne mit einem Text von Marie Steiner[1] beginnen, den sie im Jahre 1928 schrieb, als sie den Zyklus „Kunst im Lichte der Mysterienweisheit“[2] herausgab:
„Ein Weg der lebensdurchpulsten, lebenserhärteten, aber auch besonnenen und durchsonnten Ergreifung des Ich ist die Kunst. Es ist einer der gesündesten und der aufschlußreichsten, einer der geradesten, der am spätesten von seiner Ursprungsstätte, dem Tempel der Mysterienweisheit, abgebogen ist.“
Für sie war Kunst der Weg zur Ergreifung des Ich, der dem Ursprung alter Mysterienweisheit noch am nächsten ist, der aber auch am ehesten wieder den Anschluss an die neue Mysterienweisheit finden kann. Abstrakt formuliert ermöglicht dieser Weg die Vorbereitung der Naturreiche auf den Jupiter, ist also reine Zukunftssaat. Konkret gesprochen ist er praktizierte Menschenerkenntnis.
Kunst und Heilkunst
Rudolf Steiner nennt die Anthroposophische Medizin eine Heilkunst. Denn das Bedeutendste, was die Anthroposophie der Medizin geben konnte und kann, ist der Kunstimpuls. Das zu erkennen genügt aber nicht. Vieles scheitert, weil man das Erkannte noch nicht beherrscht. Das gilt auch für die Heilkunst. Der Kunstimpuls ist veranlagt, jetzt müssen wir lernen, ihn umzusetzen.
Alle Kunst ist eine Projektion der menschlichen Konstitution – das herausgefunden zu haben, ist Rudolf Steiners bahnbrechender künstlerischer Erneuerungsimpuls:
- Ohne die physische Beschaffenheit der Knochen gäbe es keine sich ständig wandelnde originelle Architektur.
- Ohne Lebenstätigkeit, Wachstum, Ausstülpung, Einstülpung gäbe es keine Plastik. Der lebendige Körper hat diese Formen zuerst gebildet.
- Ohne Gefühls- und Seelentätigkeit gäbe es keine Malerei.
Darauf möchte ich im Folgenden genauer eingehen.
Bildegesetze des Körpers und Kunstrichtungen
1. Architektur
Die Baugesetze des physischen Leibes spiegeln sich in der Architektur: Die Architektur nimmt die Baugesetze des Kristallinen und gestaltet mithilfe diverser Baumaterialien Äußeres auf der Grundlage dieser inneren Gesetze. Und so hat auch das Goetheanum eine Außengestaltung und eine Innengestaltung. Alles beruht jedoch auf den Baugesetzen des physischen Leibes: Wir sehen hier im Goetheanum keine Form, die man der Veranlagung nach am menschlichen Körper nicht auch findet – die Säulen, das Dach und alle anderen Formen entsprechen den Rippen, den Schulterblättern, dem Kopf usw. Die so genannte organische Architektur entnimmt ihre Form den Knochen, den Bändern, den Muskelzügen, aber insbesondere den Knochen, wie man hier überall sehen kann.
Das lässt sich anhand eines anatomischen Atlas nachprüfen: Die Formen unserer Knochen finden wir in Dreiecken und Quadern, aber auch in allen gebogenen Flächen wieder, wie z.B. die zweifach gekrümmte Fläche, für die unser Schlüsselbein der Archetyp ist. Das Rechteck und die Rundung des Gesichts, der Kubus und die Wölbung des Kopfes, das Oval des Rumpfes, der aufrechte Mensch als Vorbild für die geraden Säulen – das alles sind Projektionen der körperlichen Konstitution.
2. Plastisches Gestalten
Wahr ist außerdem, dass wir mit denselben Kräften künstlerisch tätig sind, die unseren Körper aufgebaut und geformt haben und mit denen wir geistig tätig sind. Beim plastischen Gestalten, beim Plastizieren werden diese Gesetzmäßigkeiten der Bildekräfte unseres ätherischen Organismus abgebildet.
3. Malerei
In der Malerei finden wird die Bildegesetze des Astralisch-Ätherischen wieder. Dreidimensionales wird auf die Fläche projiziert, in die Zweidimensionalität. Es erscheint auf der Fläche abgebildet. Der Schwerpunkt verlagert sich auf den Prozess. Es geht in der Malerei um Farbklänge, um Stimmungen, wobei die Farben dem seelischen Empfinden Ausdruck verleihen. Sie sind dem Seelischen unmittelbar zugänglich. Dabei zeigt sich die Regenbogenbefindlichkeit des Menschen: von dunkel bis hell, je nachdem, wie der Mensch gerade gestimmt ist.
Leonardo Da Vinci schrieb ein Buch für Maler[3] und sagte dort sinngemäß: „Man kann den ungeübten Maler vom professionellen durch eine Sache unterscheiden: Der Ungeübte merkt nicht, dass er sich beim Malen immer selbst portraitiert. Der geübte Maler weiß, was er gestaltet und passt auf, dass er sich nicht selbst in seinen Bildern projiziert.“
In der ersten Stunde einer Maltherapie lässt der anthroposophische Therapeut seine Patienten völlig frei malen. Selbstverständlich malen sie ihre Krankheit, projizieren diese aufs Papier. Nur wenn der Therapeut sich nicht ganz sicher ist, dürfen drei Bilder gemalt werden. Diese Erstlingsbilder sind diagnostische Bilder.
Rudolf Steiner wollte nicht, dass die Lehrer an den Waldorfschulen ihre Schüler aus dem Bauch heraus frei malen lassen. Warum? Hin und wieder ist es sinnvoll, damit der Lehrer den aktuellen Zustand der Kinder sieht, aber ansonsten wollte Rudolf Steiner, dass die Kinder Aufgaben gestellt bekommen, damit sie an einer konkreten Aufgabe lernen, die eigenen, oft nicht ganz gesunden konstitutionellen Verhältnisse zu ordnen, zu strukturieren und zu klären und damit eine gesundende Rückwirkung auf das Zusammenspiel von Körper und Seele zu erzielen.
Wir gestalten und beeinflussen über die Malerei unsere seelische Befindlichkeit. Um einen gesundenden Einfluss auf die Seele ausüben zu können, müssen wir lernen, unsere Beziehung zur Welt objektiv zu gestalten und darzustellen und uns nicht immer wieder nur aus unserem subjektiven Empfinden heraus selbst darzustellen.
4. Musik
Musik ist die Projektion der wundervollen Gesetze des Ich mit seinen Verlust- und Wiedergeburts-Erfahrungen, die musikalische Projektion des Ich im Astralischen.
Deswegen kann es gar nicht anders sein, als dass Musik echte Initiationserfahrungen ermöglicht: Der Mensch erlebt durch die Musik sein Schicksal, die Abgründe, die Auf- und Abstiege und Turbulenzen seines Lebens, aber auch die Zerrissenheit und das Zersplittert-Sein seines Ich-Bewusstseins; durch die Musik kann man unmittelbar und in Reinform zum Ausdruck bringen, was das Ich vernichtet und was es erhebt.
In der Musik – insbesondere beim Gesang lässt es sich fast mit Händen greifen – offenbart sich das Ich in seiner seelischen Befindlichkeit: So wie das Ich in der Seele lebt, so wie es sich in die Seele projiziert, so drückt es sich in der Musik aus.
Deswegen lieben wir Musik. Wir kommen durch sie entweder ganz zu uns oder wir erhalten durch sie die Möglichkeit, von unserer niederen Befindlichkeit loszukommen, uns wegzuträumen, abzuheben, seelisch auszusteigen. Durch die Musik werden unserem Ich seelische Abgründe und der damit verbundene Läuterungs-, Klärungs- und Selbstfindungsbedarf deutlich bewusst.
5. Wortkunst
Durch das Wort ragt eine höhere Wirklichkeit in uns herein. Man öffnet sich der geistigen Welt. Denn mit Worten sind ganz reale Wesen und Realitäten verbunden. Die Dichtkunst, das gedichtete, weisheitsvoll gestaltete Wort ist eine Projektion aus der Geistselbst-Region, der geläuterten Astralität. Wir haben viele Möglichkeiten, die Heilkraft des Wortes therapeutisch zu nützen:
- Im therapeutischen Gespräch
- In Krankenmeditationen, die über heilende Worte wirken.
- Ein weiteres therapeutisches Feld eröffnet sich in der Dichtung, in der Arbeit mit dem Wort.
- Der Sprachtherapeut kann aber auch direkt an der Gestaltung, der Artikulation der Sprache arbeiten.
6. Eurythmie
Eurythmie ist eine Projektion aus der Lebensgeist-Sphäre und vereint alle genannten Gesetzmäßigkeiten in sich: Durch Eurythmie wird der physische Leib von dem erstarkten Ätherleib zur Gänze ergriffen und wird zu einer sich im Raum konfigurierenden, bewegten Plastik, die ätherischen Gesetzmäßigkeiten folgt. Sie handhabt ganz bewusst die Lebensgesetze und bringt dadurch Körper, Seele und Geist in harmonische Übereinstimmung. Diese Bewegungskunst ist die beste Gesundheits- und Lebensvorsorge, die es gibt.
Eurythmie integriert alle Künste: den architektonischen Aufbau, die plastische Gestaltung, Farben, Licht, Musik und Wort. Diese Kunstrichtung ist eine Projektion des alles umfassenden Menschengeistes, die vollbewusste Arbeit am eigenen Schicksal möglich macht.
Rudolf Steiner spricht das zwar nicht so direkt aus, erläutert diese Zusammenhänge aber an einer Stelle, an der er über das Karma spricht. Dieser höchste Kunstimpuls ist eine Möglichkeit, die eigene Menschenwesenheit systematisch zu verwandeln.
Wenn ich ausdauernd Eurythmie mache, bringe ich mein Denken, Fühlen und Wollen ganz bewusst in ein harmonisches Zusammenspiel. Ich ermögliche es geistig-seelischen Kräften, gesunden Formen, Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen, die ganz selbstlos sind und nicht meine Befindlichkeit widerspiegeln, sich in meinem Körper auszuwirken. Ich kann Bauchweh haben und trotzdem noch ein schönes B machen.
Ich kann mich selbst überwinden durch den Prozess und durch die Form und kann etwas Höheres, Wahreres, Reineres in meinen Körper hineinbringen und durch den Körper hindurchgehen lassen. Dadurch wird mein geistig-seelisch-körperlicher Zusammenhang in sich stimmiger und gesünder.
Manchmal werde ich aufgrund meines ungesunden Lebens, meines vielen Herumreisens, gefragt, wie ich diese Art zu leben aushalte. Wieso ich bei alledem nicht krank werde. Ohne garantieren zu können, dass ich nicht just morgen krank werde, kann ich auf diese Frage nur antworten: Ich verdanke meine Gesundheit der Eurythmie. Ich verdanke sie dem anthroposophischen Kunstimpuls, weil er mir hilft, wenn ich mich irgendwo verrannt habe oder eine Einseitigkeit entwickelt habe, wieder in mir selbst stimmig zu werden, mit mir selbst in Einklang zu kommen.
7. Schicksalskunst
Christian Morgenstern prägte das wunderbare Wort, dass es darauf ankomme, „sich selbst zum Kunstwerk zu machen“.
Wenn wir uns an die geistig-meditative Schulung machen, müssen wir lernen, unsere unbewussten Projektionen, die uns veranlassen, Ansprüche an andere zu stellen anstatt an uns selbst, aufzudecken und „heimzuholen“.
In der Medizin gibt es eine Reihe von Therapieverfahren, durch die man lernen kann, die eigenen Lebensprobleme nicht mehr nach außen zu projizieren: auf das Elternhaus, auf die schwierige Situation in der Schule, auf die Kollegen, auf die Situation am Arbeitsplatz usw. Wir Menschen sind alle sehr einfallsreich, wenn es ums Delegieren der Verantwortung für unsere eigenen Schicksalsprobleme an die Umwelt geht. Wenn wir unseren Blick dafür schulen, erkennen wir, dass wir mit dieser Haltung unser kostbarstes künstlerisches Selbstgestaltungsmaterial weggeben und die Arbeit an uns selbst anderen aufhalsen.
Der anthroposophisch-meditative Schulungsweg als siebte Kunst schult uns darin, in kleinen Schritten unbewusste Projektionen der eigenen noch nicht geläuterten Menschenwesenheit Stück für Stück heimzuholen und Probleme an dem Platz zu bearbeiten, von dem sie ausgegangen sind.
Vgl. Vortrag auf der Jugendtagung „Mittendrin“, Dornach, Juli 2007
[1] Marie Steiner, auch Marie Steiner-von Sivers, geborene Marie von Sivers oder Sievers, Siebers (* 14. März 1867 in Włocławek; † 27. Dezember 1948 in Beatenberg, Schweiz), war eine deutsch-baltische Schauspielerin, Regisseurin, Theosophin und Anthroposophin. Als zweite Ehefrau Rudolf Steiners (Begründer der Anthroposophie) besaß sie die österreichische Staatsbürgerschaft. (ges. am 24.04.2024 auf https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Steiner)
[2] Rudolf Steiner, Kunst im Lichte der Mysterienweisheit. Acht Vorträge, gehalten in Dornach vom 28. Dezember 1914 bis 4. Januar 1915 mit einem Geleitwort von Marie Steiner. GA 275.
[3] Leonardo da Vinci, Das da Vinci Universum - Die Notizbücher des Leonardo, Hrsg. Emma Dickens, Berlin 2006.
ATMUNG UND GEFÜHLSLEBEN
Wie hängt das Gefühlsleben mit dem physischen Leib zusammen?
Inwiefern entsprechen sich Gefühls- und Wachstumskräfte?
Einfluss von Atmung und Kreislauf auf das Gefühlsleben
Blicken wir auf den Zusammenhang von Leib und Seele, so finden wir im Organismus zwei Organsysteme, die ein getreues Abbild der musikalisch-rhythmischen Qualität des Gefühlslebens sind: Atmung und Kreislauf. Herz und Lungen sind unentwegt von der Geburt bis zum Tod rhythmisch tätig. Die Atmung vermittelt durch Spannung und Entspannung, Betätigung und Ruhe unausgesetzt zwischen Welt und Selbst, das Herz zwischen Körperzentrum und Körperperipherie. Daher erstaunt es nicht, dass jede Sinnesempfindung und jedes Gefühl auf Atmung und Herzschlag einen unmittelbaren Einfluss haben. Eine aufregende Nachricht lässt uns tief Luft holen und das Herz schneller schlagen. Unter Anspannung wechseln flache, schnelle und tiefe Atemzüge auf unharmonische Weise einander ab. In der Aufregung kann das Herz bis zum Halse klopfen und vor Schreck stolpern, ja sogar fast „stehenbleiben“. Umgekehrt kann ruhiges, geführtes Atmen, z.B. beim Zahnarzt oder bei der Geburt, die Angst nehmen und die Schmerzen erträglicher machen.
Gesunde Grundgestimmtheit veranlagen
Rudolf Steiner hat diese Tatsache nach 30jähriger Forschung erstmals 1917 in seinem Buch „Von Seelenrätseln“[1] beschrieben. Will man einem Kind eine gute Lebensgrundgestimmtheit mit auf den Weg geben, so müssen die heranreifenden rhythmische Systeme von Atmung und Kreislauf in gesunder Weise angeregt und unterstützt werden. Ein gesundes soziales Klima im Umkreis des Kindes, wie z.B. ein harmonisches Familienleben, bildet die wichtigste Voraussetzung. Folgt der Tageslauf einem gesunden Rhythmus, in dem Arbeit und Ruhe sich sinnvoll abwechseln, so kann beim Kind ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit entstehen. Es erlebt sich eingebettet in sinnvolle Zusammenhänge und wiederkehrende Ereignisse, auf die es sich verlassen und freuen kann, und mit denen es auch rechnet. Auf diese Weise entsteht eine stabile Grundlage, um späteren Stress-Situationen gewachsen zu sein. Denn auf der Basis einer harmonischen Grundgestimmtheit lassen sich extreme Lebenssituationen leichter aushalten und ausbalancieren.
Gelingt es dem Lehrer, seine Schüler gefühlsmäßig zu erreichen und in jeder Unterrichtsstunde mit den Elementen von Spannung und Lösung zu arbeiten, Freudiges und Ernstes zum Erlebnis zu bringen, so wird sich das regulierend und stimulierend auf die Entwicklung von Atmung und Kreislauf auswirken. Nur bei wenigen Menschen werden heutzutage in Familie und Schule die Voraussetzungen für einen ausgeglichenen Gemütszustand geschaffen. Dann müssen die Betroffenen lebenslang in Form von Selbsterziehung selbst daran arbeiten.
Gefühlserziehung durch Kunst
Die künstlerischen Therapien können dabei eine große Hilfe sein. Denn in der Kunst haben wir es mit denselben Gesetzmäßigkeiten zu tun, nach denen der Leib gebildet ist:
- Die Gesetze des Lebendigen, des Wachsens, Gestaltens und Bildens finden wir in Plastik und Architektur wieder.
- Die Gesetze, die dem Gefühlsleben zugrunde liegen, in Malerei und Musik,
- und die Gesetze des Willenslebens in der Sprache und der Eurythmie.
Das Gefühlsleben hängt mit den differenzierenden Wachstumskräften zusammen: Die Differenzierung von Geweben und Organen während der Embryonalentwicklung beruht auf bestimmten Proportionen und Zahlenverhältnissen, die ihrerseits wieder musikalisch darstellbar sind.[2] Das Zusammenspiel von Herz- und Atemrhythmus bildet das Zentrum der musikalischen Konstitution des menschlichen Organismus. Das Erwachen und Erleben von Gefühlen ist an diese Organe genauso gebunden wie die Bildung und das Bewusstwerden von Gedanken an das Nervensystem.
Vgl. Kapitel „Wie sind Leib, Seele und Geist in Gesundheit und Krankheit verbunden?“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
[1] Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln, GA 21.
[2] Vgl. Armin Huseman, Der musikalische Bau des Menschen, Stuttgart 1989.
WILLE UND KÜNSTLERISCHES SCHAFFEN
Welche spezifische Dynamik liegt dem menschlichen Willensleben zugrunde?
Welches Organsystem hängt direkt mit dem Willen zusammen?
Wille ist Kraftentfaltung
Das Willensleben ist reine Kraftentfaltung, Intensität und Begierde. Hier haben wir es mit der Kraft der menschlichen Wesenheit zu tun, die sowohl Zerstörungstendenzen aufweist als auch die Grundlage von Kreativität und den Erwerb von Fähigkeiten bildet. Anders als bei der Vielfalt an Gedanken und dem Reichtum an Gefühlsstimmungen haben wir es hier mit schlichter Konzentriertheit zu tun: mit der Tatbereitschaft schlechthin.
Fragt man nach dem Zusammenhang von Leibesleben und Willensleben, sieht man, dass vor allem das Verdauungssystem der Gesetzmäßigkeit des Willens unterworfen ist: Hier wird verbrannt und gearbeitet und der gesamte Körper mit der Kraft versorgt, die den aus den Nahrungsstoffen gewonnenen Substanzen innewohnen.
Willensleben und Schwerkraft
Das Willensleben ist der Erde mit ihrer Schwerkraft innig verwandt, überwindet letztere aber beim Erwerb des aufrechten Ganges.
- Es ist kein Zufall, dass die Organe des Bauchraumes und die Beine von der Erdenschwere beeinträchtigt werden können: Die Nieren können abwärts wandern, der Uterus kann sich senken, auch der Magen kann mehr oder weniger stark nach unten hängen.
- Das Herz dagegen ist im Brustraum eingebettet zwischen rechtem und linkem Lungenlappen und wird durch die Atemtätigkeit rhythmisch immer wieder der Schwere enthoben. Außerdem herrscht im Brustraum der sogenannte Donders-Druck[1].
- Das Gehirn schwimmt im Gehirnwasser und ist dadurch in noch höherem Ausmaß dem Einfluss der Schwere entzogen. Das besondere Empfinden von Leichtigkeit im Zusammenhang mit dem Gedankenleben ist ein Ausdruck davon.
Bildekräfte und schöpferisches Potential
Menschen, die sich willensschwach fühlen und nicht in der Lage sind auszuführen, was sie sich vorgenommen haben, können durch systematisches Üben von Eurythmie und Sprache ihren Willen stärken. Das hat sich in der Psychotherapie bei Antriebs- und Willensstörungen schon vielfach bewährt. Dabei werden hohe Anforderungen an den Therapeuten gestellt, weil bei Willensschwäche und Antriebsarmut starke Widerstände seitens der Patienten zu überwinden sind.
Eurythmie und Sprache, aber auch Tanz- und Schauspielkunst, geben dem Menschen die Möglichkeit, seinen Willen künstlerisch zu gestalten. An der Sprachbildung orientierte Bewegungen wie die Eurythmie sind reine Offenbarungen des Menschlichen und arbeiten mit dem vollen Umfang menschlicher Bewegungsfähigkeit: Wird bewusst damit gearbeitet, erfährt der Wille eine Erweiterung und Vertiefung seiner menschlichen Wesensäußerungen.
Wenn Goethe sagt: „Die Kunst ist eine Offenbarerin geheimer Naturgesetze“, so weist er damit auf die Zusammenhänge des menschlichen Leibes mit den künstlerischen Tätigkeiten und deren Beziehungen zum Seelenleben hin: Hätten diese schöpferischen Kräfte nicht zuvor unseren Leib gestaltet, trügen wir sie nicht als kreatives Potential in unserer Seele.
Rudolf Steiner präzisiert das in seiner Darstellung des Zusammenhangs der menschlichen Wesensglieder mit den künstlerischen Bildeprozessen:
- Die Gesetze der Architektur entsprechen denen des physischen Leibes;
- die Gesetze der Plastik denen des Ätherleibes;
- diejenigen der Malerei und Musik entsprechen dem Astralleib
- und diejenigen der Sprache dem Ich.
Der menschliche Körper wird von den Gesetzen und Kräften dieser Wesensglieder aufgebaut. Sie bilden aber auch die Grundlage des individuellen Seelenlebens sowie den Quellort künstlerischen Schaffens.
Vgl. Kapitel „Wie sind Leib, Seele und Geist in Gesundheit und Krankheit verbunden?“, Elternsprechstunde, Stuttgart 1993
[1] www.imedo.de/medizinlexikon/donders-druck
FREUDE DURCH KÜNSTLERISCHE BETÄTIGUNG IM SCHULALTER
Warum ist die Freude am künstlerischen Tun im Schulalter so wichtig?
Freude wirkt positiv auf die rhythmischen Funktionen
So wie sich in der Vorschulzeit im Zuge der Leibbildung das Willensvermögen über die Sinnestätigkeit und die damit verbundene Freude an der Nachahmung veranlagt, so bilden sich bis zur Pubertät die rhythmischen Funktionen und das Gefühlsleben aus. Kreislauf und Atmung hängen innig mit unserem Gefühlsleben zusammen, was jeder weiß, der schon einmal verliebt oder aufgeregt oder ängstlich war: Denn in diesen Zuständen verändern sich sofort Pulsfrequenz und Atemtiefe.
Künstlerische Übungen der verschiedensten Art – allen voran die Kindereurythmie, aber auch das Musizieren, Malen, Plastizieren – wirken über sich wiederholende Abläufe und den Motivationsschub der Gefühle anregend und stabilisierend auf die Seele des Kindes.
Gesundheit durch gefühlsmäßige Verbindung zur Umwelt
Das Gefühlsleben als Zentrum des seelischen Erlebens kann sich nur dann gesund entwickeln, wenn es gelingt, eine gefühlsmäßige Verbindung zur Umwelt herzustellen, die freudig getönt ist. Rudolf Steiner sagt dazu:
„Warum wirkt denn ganz besonders das künstlerische Element auf die Willensbildung? Weil das ja im Üben erstens auf Wiederholung beruht, zweitens aber auch, weil dasjenige, was sich der Mensch künstlerisch aneignet, ihm immer wieder Freude macht. Das Künstlerische genießt man immer wieder, nicht nur das erste Mal. Es hat schon in sich die Anlage, den Menschen nicht nur einmal anzuregen, sondern ihn unmittelbar immer wieder zu erfreuen. Und daher haben wir das, was wir im Unterricht wollen, in der Tat zusammenhängend mit dem künstlerischen Elemente.“[1]
Der Unterricht macht Freude, wenn er künstlerisch aufgebaut ist. Denn die Seele entwickelt sich auf gesunde Art und Weise, wenn sie sich in Beziehung erlebt und wenn diese Beziehung sich beglückend und freudig anfühlt. Nur dann hat sie den nötigen Überschuss an Kraft, um auch mit Schmerzen, Problemen und Verzicht fertig zu werden. Es ist die Freude, die uns die Kraft gibt, Schmerzen auszuhalten. Wenn Leid das Leben bestimmt, hält man es längerfristig nicht aus.
In der künstlerischen Übung, die ja immer ein Schöner-Werden des Geübten nach sich zieht, können Kind und Erwachsener die grundlegend wertvolle Erfahrung machen, dass intensives, persönliches, seelisches Engagement mit Freude verbunden ist.
Vgl. Vortrag „Der therapeutisch-heilende Auftrag der Mutter“, Dornach 1992
[1] Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293.
PARADIGMEN DER KUNSTTHERAPIE
Was macht den kunsttherapeutischen Prozess aus?
Was kann er bewirken und auf welche Weise?
Gesunde Instinkte über neue Fertigkeiten veranlagen
Durch die Art, wie wir Aufgaben stellen, bringen wir einen geistig-seelischen Inhalt – wie z.B. Vorstellungen aus der Mythologie, ein Märchenbild oder etwas aus der eigenen Fantasie – mit dem Physischen des Patienten, aber auch der Fertigkeit, die die jeweilige Kunstrichtung erfordert, zusammen. Die Auseinandersetzung mit diesen Komponenten macht den therapeutischen Prozess aus. Jede Kunstrichtung ermöglicht das auf ihre Art.
Für eine methodische Diagnostik muss der Kunsttherapeut wissen, dass ein Patient sich anfangs immer selbst darstellt. Eignet sich der Patient nun unterschiedliche Techniken an, also etwas ganz Objektives, Bewusstes, etwas, das nicht aus seinem Instinkt kommt, etwas, dem der Instinkt nur dient, hat er darüber die Möglichkeit, über sich hinauszuwachsen. So kann jede Maltechnik bzw. jede Kunstrichtung dem Patienten helfen, neue Fertigkeiten bzw. neue Organe zu erwerben und darüber wiederum neue Instinkte zu veranlagen.
Kinderzeichnungen werden in der Regel alle aus dem kindlichen Instinkt heraus gemalt. Die Nass-in-nass-Malerei in der Waldorfschule ist eine Kultur des Malens, die nicht rein aus dem Instinkt kommt: Ein Blatt nass zu machen, es ganz sorgfältig glatt zu streifen, das sind keine selbstverständlichen Handlungen, die müssen gelernt werden. Man kann nicht einfach ein Blatt nehmen und drauflos malen, man muss es nach einer besonderen Technik vorbereiten. Durch den Erwerb dieser Fertigkeit bzw. die Einhaltung dieser Regeln entwickeln sich neue Organe – bis dahin, dass man dieses Ritual liebgewinnt. Das sind neue Instinkte, die methodisch durch den Lernprozess veranlagt wurden.
Heilsame „egofreie“ Inhalte
Der geübte Künstler kann ganz genau unterscheiden, was er dem Instinkt, seiner ursprünglichen Begabung, verdankt und was der objektiv-instrumentellen Methode. Er kann jetzt noch einen Schritt weitergehen, indem er mithilfe der erworbenen Fertigkeiten und Instinkte versucht, etwas Objektives zu offenbaren und sich bemüht, Inhalte aus der Sinneswelt oder aus seiner geistigen Erfahrung abzubilden. Je weniger ein Künstler dabei sein Ego sich aussprechen lässt, sondern es in den Dienst eines Höheren, Objektiven, stellt, umso professioneller und heilsamer wirken seine Werke.
Die heilsamste Kunst ist der Dienst am Göttlichen, wenn das Ego ganz draußen bleibt und die Madonna erscheint. Darum geht es in einem wunderschönen Gespräch zwischen Bernhard v. Orly und Albrecht Dürer: Dürer sagte, Raphael habe in seinen Madonnen den Himmel auf die Erde gebracht. Woraufhin ihm Bernhard v. Orly entgegnete: „Und Sie, mein lieber Dürer, geben die Erde durch Ihren Blick dem Himmel zurück.“ Das ist ganz reine, professionelle christliche Kunst. Solche Bilder nur anzuschauen, veranlagt gesunde Instinkte – und wirkt somit therapeutisch.
Man kann über die Inhalte, die man wählt, den therapeutischen Prozess fördern oder die pathologische Veranlagung vertiefen – je nachdem, wie man damit umgeht. Viele Künstler befassen sich auf solch einseitige Weise mit ihrer Pathologie, dass es ihre Natur fast „zerreißt“. Hieronymus Bosch oder Salvador Dali, die auch ständig übersinnliche Erfahrungen hatten, stellten sie unter die Herrschaft des Ich, indem sie das Geschaute malten. Manche Künstler malen ihre Drogenerfahrungen und integrieren sie so durch das Gestalten des Erlebten.
Der kunsttherapeutische Prozess in drei Schritten
Fehlen die gesunden Instinkte, kann der Therapeut manchmal sogar einen Hass auf bestimmte Farben, Techniken und Themen beobachten. Es braucht viel Know-how, Einfühlungsvermögen und Erfahrung, wie man in Bezug auf bestimmte Probleme und Traumata am besten vorgeht. Patienten sind grundsätzlich da abzuholen, wo sie stehen. D.h., wenn sie anfangs nur mit Schwarz malen wollen, dürfen sie das tun. Man sollte sie aber durch die Art der Aufgabenstellung neugierig machen auf anderes. Sie können mit diesem Schwarz z.B. versuchen etwas Objektives abzubilden, bis sich das Selbst in seiner Einseitigkeit ein wenig daran „geläutert“ hat und die Lust nach einer anderen Farbe auftaucht. Da muss man ganz individuell vorgehen.
Das alles dient nur als Beispiel, darf nicht als Rezept genommen werden! Alles soll beispielhaft auf Prozesse und Schritte hinweisen, die jeder von uns kennt, die wir nur nicht genügend reflektieren: Immer, wenn wir malen, egal in welchem Alter und in welchem Ausbildungsgrad, tun wir drei Dinge:
- Wir erlernen neue Techniken und verwerfen andere oder wir probieren nur aus, und erwachen dabei langsam zu Bewusstsein.
- Als zweites wirkt immer ein „Etwas“ anregend auf unser Malvermögen: Man sieht etwas und hat Lust, es zu malen oder man blendet die ganze Sinneswelt aus und möchte nur malen, was aus der Fantasie kommt. Das ist aber auch „etwas“ – man möchte immer „etwas“ gestalten.
- Dieses „Etwas“ kann man auch denken, man kann es reflektieren – es ist ein potentiell außerkörperlich-geistiger Inhalt.
Die entscheidende Frage ist nun, ob es gelingt die ersten beiden Komponenten beim Patienten oder bei sich selbst im Sinne der Selbstheilung im Drüber-Nachdenken bewusst zusammenzuführen und damit therapeutisch wertvoll zu machen.
Vgl. Ausführungen aus Seminargruppe 5 an der Kunsttherapietagung 2010 in Dornach
TASTSINNPFLEGE IN DER KUNSTTHERAPIE
Wie kann der Tastsinn mithilfe von Kunsttherapie gepflegt werden?
Welche Aspekte sind dabei besonders zu beachten?
Existenzvertrauen erwerben durch Pflege des Tastsinns
Zur Tastsinnpflege gehört bereits der erste Eindruck: dass die ganze Einrichtung und die Art, wie der Therapeut mit seinen künstlerischen Mitteln umgeht, von Sorgfalt und Ehrfurcht getragen ist. Denn auch all das wird ertastet. Und immer, wenn wir das Außen abtasten, ist auch das Ich zugegen und erlebt, wie der eigene Leib der Umwelt begegnet; wie Göttliches im Menschen, dem Göttlichen in der Welt begegnet. Daraus erwächst Existenzvertrauen, das wir Menschen brauchen, um gesund durchs Leben zu gehen. Es ist ein Geschenk des Tastsinns. Gestörtes Vertrauen, ein gestörter Glauben in sich und die Welt, weist dagegen auf einen gestörten Tastsinn hin, da können wir ganz sicher sein. Ziel jeder Therapie ist es, mit künstlerischen Mitteln Tastsinnerfahrungen zu ermöglichen, die positiv in das Seelische einstrahlen und Urvertrauen, Vertrauen in die Gott-Durchdrungenheit der Substanz, entstehen lassen.
In seltenen Fällen sind auch die physischen Tastsinn-Organe geschädigt. Aber letztlich ist es nicht das, was als Diagnostik für eine Therapie relevant ist, sondern die Frage, ob und inwieweit der Prozess einer gesunden Einstrahlung der Sinneserfahrung über die Empfindung und das Gefühl bis ins bewusste Existenzerleben als Existenzvertrauen gestört ist. Im Folgenden möchte ich beispielhaft auf die Anorexia nervosa und auf Angststörungen eingehen.
· Tastsinnpflege bei Anorexia nervosa
In der Schulmedizin gibt es eine neue Therapie für die Anorexia nervosa, die Pubertätsmagersucht. Die Betroffenen müssen drei Mal täglich für eine Stunde einen maßgeschneiderten, ganz eng sitzenden Kunststoffanzug aus Neopren-Material tragen, um sich verstärkt zu spüren. Denn man hat festgestellt, dass bei anorektischen Patienten eine gravierende Störung der Körperwahrnehmung vorliegt. Das Ergebnis einer gesunden Tasterfahrung, dass der Leib Vertrauen in die Welt hat, ist bei ihnen seelisch nicht veranlagt worden. Deshalb lohnt es sich, die fehlende Tastsinnerfahrung mit den unterschiedlichsten Mittel therapeutisch „nachzureichen“ und den Betroffen zu helfen das fehlende Vertrauen doch noch zu entwickeln. In dieser Hinsicht ist es enorm wirkungsvoll, auch rhythmische Massage und Öl-Bäder einzubeziehen, wie es gerade bei der Anorexia nervosa in der Anthroposophischen Medizin praktiziert wird.
Auch in der Kunsttherapie muss ständig an und mit der Grenze gearbeitet werden: Man kann Grenzen malen, plastizieren und wieder auflösen, sie erleben, damit umgehen, daran gestalten – also den Tastsinn ansprechen über den Umgang mit Grenzen von unterschiedlichen Weichheits- und Härtequalitäten, wie man es mit den künstlerischen Mitteln auf dem jeweiligen Feld eben kann. Daran sollen und werden Empfindungen und Gefühle entstehen, auch für die Grenze und den Unterschied zwischen unten und oben, Schwere und Leichte, innen und außen. Dadurch kann sich mit der Zeit ein neues gesundes Körpererleben, Vertrauen in den eigenen Körper, Selbstvertrauen und Weltvertrauen bilden.
· Tastsinnpflege bei Angststörungen
Auch bei Angststörungen liegt immer ein gestörter Tastsinn vor. Vertrauensverlust und Existenzunsicherheit gehen immer einher mit Angst. Deshalb ist es hilfreich für die Diagnose zu schauen, wie ängstlich und angsterfüllt ein Mensch ist. Auch hinter der Magersucht verbirgt sich oft unbewusste Angst.
Will man den Betreffenden helfen ihre Angst zu verlieren, muss man auch mit ihnen bewusst so an den Grenzen arbeiten, dass sie innerhalb davon zu einer neuen Sicherheit finden: Dazu gehört ein neues, von Vertrauen getragenes Erleben ihrer selbst in den eigenen Körpergrenzen, aber auch das Leben innerhalb von sicheren Grenzen im Sozialen, vor allem zu Hause. Die verschiedenen Entängstigungstechniken setzen einerseits beim Bewusstsein an, arbeiten aber auch über die Empfindung und das Gefühl: Ich schaffe mir meinen eigenen Raum.
Es gibt wunderbare Dokumente, wie es selbst im Gefängnis gelingen kann, sich diesen Ruhe- und Sicherheitsraum zu schaffen. Dietrich Bonhoeffer[1] schrieb drei Monate vor seiner Hinrichtung im letzten Brief an seine Verlobte das berühmte Lied: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Das ist tiefer Ausdruck eines gesunden Tastsinns: Durchdrungen zu sein mit Gott-Gefühl, sagt Rudolf Steiner, sei das Ergebnis einer gesunden Tasterfahrung. Warum? Weil das Ich als geistiges Wesen erlebt: Dies hier ist mein Leib, das dort ist die Welt, ich bin meinem Wesen nach unabhängig davon. Und wenn mir das materielle Zuhause genommen wird, bin ich trotzdem geborgen in dieser Welt, der alles angehört. Es ist eine wunderbare Übung, sich allen Dingen mit diesem Empfinden gegenüberzustellen.
Vgl. Vortrag „Der Tastsinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
[1] Dietrich Bonhoeffer (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossenbürg) war ein lutherischer Theologe, profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche und am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Bonhoeffer, ges. am 12.10.2016.
LEBENSSINNPFLEGE IN DER KUNSTTHERAPIE
Wie kann der Lebenssinn mithilfe von Kunsttherapie gepflegt werden?
Welche Aspekte sind dabei besonders zu beachten?
Harmoniesucht macht aggressiv
Der Lebenssinn lässt uns Harmonie und Wohlbehagen empfinden. Manchmal nennen wir Menschen harmoniesüchtig. Warum? Sehnsucht nach Harmonie zu haben ist etwas sehr Gesundes, man darf davon aber nicht abhängig werden. Denn harmoniesüchtige Menschen haben eine riesengroße Schattenseite: Sie reagieren sehr aggressiv, wenn es unharmonisch zugeht: „Jetzt streitet doch nicht immer!“ Man kann am Aggressivitäts-Level den Grad der Harmoniesucht erkennen. Das kann einem mehr oder weniger bewusst sein. Streitlust ist etwas ganz anderes. Hier reagiert man mit Aggressivität, weil man es nicht erträgt, dass die Beziehungen und sozialen Verhältnisse nicht so harmonisch sind, wie man es selber haben möchte. Auch das ist ein Ausdruck von Unfreiheit dem Lebenssinn gegenüber.
Unlust, Aggression und Langeweile sind wichtige diagnostische Merkmale für einen gestörten Lebenssinn und zugleich Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Ganzheit, Schönheit und Harmonie – die „das Tal der Gegensätze und des Hässlichen“ erst noch durchqueren müssen. Das ist ein Prozess. Die Betroffenen müssen lernen Harmonie als etwas zu erleben und zu pflegen, was den anderen nicht zwingt, sondern beglückt; und sie müssen üben, mit der eigenen Aggressivität so umzugehen, dass sie zur Harmonie-Befähigung führt. Aggressivität, Langeweile, Öde – all diese missgestimmten Gefühle, die uns das Leben verderben, die uns ärgerlich und verbittert machen – können zu etwas Wunderbarem führen, wenn wir sie als Ruf nach Harmonie auffassen.
Diagnose als Wegweiser
Der Therapeut muss früher oder später in Zusammenarbeit mit dem Patienten oder Klienten oder Kind herausfinden, was der Betreffende sucht. Eine Diagnose stellt immer einen Blick auf Zusammenhänge dar, die man durchschaut aufgrund von Symptomen, die ein Bild der Störung ergeben. Als Nächstes stellt sich die Frage, wie daraus ein Weg zur Gesundung wird. Deswegen fragen Ärzte ihre Patienten auch oft – selbst wenn sie manchmal schon wissen bzw. ahnen, was bei dem Betroffenen vorliegt: „Warum kommen Sie zu mir? Was wünschen Sie sich von mir?“ Den Antworten kann man entnehmen, was der andere sucht. Und man kann ihn beim Wort nehmen: „Wenn sie das wollen, kann ich ihnen helfen!“ Jetzt kann man über den Weg dahin sprechen – der dem Patienten möglicherweise nicht gefallen wird, der aber zum Ziel führt. Auf diese Weise hat man ihn im Boot und muss versuchen mit Optimismus und Humor an den selbst gestellten Aufgaben „dran“ zu bleiben...
In diesem Sinne sollten wir versuchen den Betroffenen klarzumachen, dass sie ihre Aggression, ihre Langeweile, ihre wie auch immer geartete missliche Stimmung als Anlass nehmen können, etwas zu tun: aufzuwachen für das eigene Potential, anstatt sich mit Drogen „zuzudröhnen“ oder sich und anderen das Leben zu vermiesen.
Aggression in Kreativität verwandeln
In der Kunsttherapie können wir mit ihnen gemeinsam versuchen, bewusst mit den Aggressionen umzugehen, indem wir sie ermutigen, ein Bild zu malen, etwas zu gestalten, das so vollkommen ist, so schön, so sehr ihrem Wunsch nach Harmonie entspricht, dass sie keine Lust mehr haben, aggressiv zu reagieren. Ein Werk zu schaffen, das befriedet. Denn Aggression kann als wunderbares Aktivitäts-Potential gesehen werden, das nach konstruktiver Gestaltung drängt, aber noch nicht weiß, wie man das macht.
Das lässt sich auch Kindern wunderbar vermitteln. Wenn man sagt: „Du bist ein ganz toller Kerl, du hast Superkräfte, weißt nur noch nicht so genau, wie man sie so einsetzt, dass alle sich darüber freuen können. Im Moment freuen nur wir uns daran und andere ärgern sich noch darüber. Jetzt üben wir, sie so einzusetzen, dass auch die anderen sehen, was in dir steckt und sich darüber freuen!“
Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
BEWEGUNGSSINNPFLEGE IN DER KUNSTTHERAPIE
Wie kann der Bewegungssinn mithilfe von Kunsttherapie gepflegt werden?
Welche Aspekte sind dabei besonders zu beachten?
Bewegung ermöglicht Freiheitserleben
Das schönste und mit das wichtigste menschliche Gefühl verdanken wir dem Bewegungssinn: das Freiheitsgefühl. Warum rasen Leute so gerne mit ihren Autos? Wegen dem Freiheitsgefühl, das sich bei schneller Fortbewegung wie auch beim Fliegen einstellt.
Auch in der Anatomie sprechen wir von Freiheitsgraden. Unser Schultergelenk ist das Gelenk mit den meisten Freiheitsgraden – sieben an der Zahl! Damit haben wir aber auch die meisten Probleme – vielleicht als Sinnbild dafür, dass wir mit Freiheit so schlecht umgehen können...
Einen gestörten Bewegungssinn erkennt man
- körperlich an der fehlenden Sicherheit und Freude beim Bewegen an sich,
- und seelisch an „Verklemmungen“, Hemmungen, Gefühlen der Unfreiheit, Anpassungsschwierigkeiten, Zwängen usw.
An alle Störungen des Bewegungssinnes muss man mit Bewegungstherapien drangehen und nicht mit Psychotherapie. Die Betroffenen brauchen Bewegung, Bewegung, Bewegung. Und auch wenn man in der Kunsttherapie mit Musik oder Malen arbeitet und kein Bewegungstherapeut ist, kann man trotzdem das Element der Bewegung verstärkt hinzunehmen, indem man z.B. beim Malen und Zeichnen ein großes Format nimmt, das den Patienten veranlasst, beim Malen große Bewegungen zu machen. Oder indem man vor dem Plastizieren das Thema wie in der Luft plastiziert und so die Empfindung für die freie Bewegung zu wecken versucht.
Diagnostik im Lichte des Gesunden
Das Schöne an dieser Art der Sinnesdiagnostik ist, dass man das Gesunde kennt und im Licht des Gesunden das Kranke ganz fein beobachten kann. Der Therapeut weiß, dass Heilung über
- die Sinneserfahrung,
- das Spüren der Empfindung,
- das Spüren des sich daran anschließenden Gefühls
- und zuletzt das Gespräch über das auf diesem Wege erkannte Gefühl
erfolgt. Dieser Prozess ermöglicht es dem Betroffenen zu verstehen, Schlüsse aus dem Erlebten zu ziehen, sich der Sache erlebend gegenüberzustellen. So kann man jedem Menschen einen Ausweg aus seiner jeweiligen Sinnesstörung zeigen.
Vgl. Vortrag „Der Bewegungssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
PFLEGE DES GLEICHGEWICHTSSINNES IN DER KUNSTTHERAPIE
Wie kann der Gleichgewichtssinn mithilfe von Kunsttherapie gepflegt werden?
Welche Aspekte sind dabei besonders zu beachten?
Um fehlende Ruhe ringen
Wenn der Gleichgewichtssinn gestört ist, hat das im Seelischen zur Folge, dass keine innere Ruhe hergestellt werden kann: Die Betroffenen sind erfüllt und getrieben von seelischer Unruhe, Hast, innerer Zerrissenheit. Man durfte als Kind nicht genug Gleichgewichtserfahrungen sammeln, durfte nicht die Gnade erleben: „Ich kann mich ins Gleichgewicht bringen.“ Man kann deshalb auch nicht empfinden: „Ich ruhe in mir selbst.“
In der Kunsttherapie kann man nun an solchen Ruhemomenten arbeiten, an diesem Zu-sich-Kommen, Ins-Gleichgewicht-Kommen aus diversen Unruhezuständen heraus. Entscheidend ist auch hier, dass der Betroffene nicht nur die Erfahrung macht, zur Ruhe zu kommen, sondern dass der therapeutische Prozess weitergeht, indem er die Empfindung zu halten versucht, solange es geht, und ihr nachlauscht bis ins Fühlen. Durch das Beschreiben des Empfundenen wird das Erlebte nach und nach zu einem bewussten Erfahrungsschatz.
Beruhigende Botschaften der unteren Sinne
Denn jeder noch so „sinnesgestörte“ Mensch hat ja diese unteren Sinne. Er ist nur nicht mehr in der Lage, die selbstlose Botschaft dieser Sinne zu empfangen:
- dass unser Geistesmensch über den Lebenssinn sagt: Du bist ein harmonisches, im Kosmos gerechtfertigtes Wesen;
- dass unser Lebensgeist uns über den Bewegungssinn sagt: Du bist ein freies Wesen;
- und dass unser Geistselbst uns über den Gleichgewichtssinn sagt: Du ruhst in dir selbst, du bist ein in dir gegründetes Wesen.
Von der Veranlagung her haben wir alle dieses Potential und können es im therapeutischen Prozess ein Stück weit bewusst machen und verwirklichen.
Vgl. Vortrag „Der Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
ASPEKTE ZUM WERK ALBERT STEFFENS[1]
Welche künstlerischen und zugleich heilenden Aspekte zeigen sich im Werk Albert Steffens als Entwicklungsimpulse?
Fünf zentrale Impulse der Anthroposophie
Sigismund von Gleich[2] fand in seinem Buch „Die Inspirationsquellen der Anthroposophie“[3] wunderbare Begriffe für die fünf zentralen Impulse der Anthroposophie: den Karma-Impuls, den Gralsimpuls, den Sophia-Impuls, den Michaelsimpuls und den Christus-Impuls. Er untermauerte sie durch Äußerungen Rudolf Steiners und führte aus, inwiefern diese fünf Impulse das Wesen von Rudolf Steiners Werk ausmachen: das Hereinrufen des umfassenden, reinen, vollmenschlichen Wesenspotentials in die Erden- und Weltenentwicklung.
Wenn man Albert Steffens umfangreiches Werk im Hinblick auf die genannten Impulse durchgeht und auf seine zentralen Themen und Motive achtet, findet man sie dort wieder:
- Man erkennt, wie sehr der Karma-Impuls sein Anliegen ist: Der Mensch wird als Selbstgestalter seines Schicksals gesehen. Damit befassen sich seine Schicksalsdramen, in denen einzelne Persönlichkeiten – wie Woodrow Wilson und seine Frau oder Alexander der Große z.B. in „Alexanders Wandlung“[4] oder Mani in „Die Manichäer“[5] – im Mittelpunkt stehen. So zeigt er das Wirken der Karma-Mächte.
- Man merkt aber auch seine Nähe zum Gral, zum Gralsimpuls, der das Symbol für die Zusammenarbeit zwischen den Lebenden und den Verstorbenen ist.
- Der Sophia-Impuls drückt sich vor allem in seiner Malerei, in der unendlich liebevollen und weisheitsvollen Gestaltung seiner Bilder aus.
- In vielen seiner Gedichte und Prosawerke zeigt sich der Michaelsimpuls – er wird auch ganz direkt angesprochen.
- Und immer geht es um die Suche nach dem Christus und nach Möglichkeiten, wie seine Wesenheit wirksam werden kann. Steffen versucht diesem Christusimpuls in seinen Werken durch Worte und Geschehnisse Ausdruck zu verleihen.
Heilende Impulse aus dem Wort
Albert Steffen war nicht nur ein inniger Schüler der Anthroposophie und Rudolf Steiners, sondern ist auch selbst schöpferisch geworden aus den fünf zentralen Inspirationsquellen der Anthroposophie heraus.
Als Dichter hatte er einen ganz besonderen Bezug zum Mysterium des Wortes. Auch durch seine persönliche Biografie, durch eigenes Leid bis in seine Familie hinein, ist er mit den Mysterien von Krankheit und Heilung konfrontiert worden. Es war sein innerster Impuls, über den möglichst behutsamen und bewussten Umgang mit dem Wort zu heilen, das Wort, ob nun künstlerisch-dramatisch, dichterisch oder als Prosa gestaltet, so zu verwenden, dass bei dem, der sich damit beschäftigt und es auf sich wirken lässt, Heilendes in Gang gebracht wird.
Vgl. Vortrag „Das Therapeutische in der Dichtung von Albert Steffen“ anlässlich der Steffen-Ausstellung am Goetheanum, Neujahr 2010
[1] Albert Steffen (* 10. Dezember 1884 in Wynau; † 13. Juli 1963 in Dornach) war ein Schweizer Schriftsteller und Anthroposoph. Nach dem Tode Rudolf Steiners war Steffen ab 1925 dessen Nachfolger als Vorsitzender der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (wikipedia).
[2] Sigismund von Gleich, Pseudonym "Hans Heinrich Frei" (*Ludwigsburg/ Württ. 29. Sept. 1896 † 1. Nov. 1953 Zeist/ Prov. Utrecht) war ein früher Anthroposoph und einer der Mitbegründer der Christengemeinschaft (AnthroWiki).
[3] Sigismund v. Gleich, Die Inspirationsquellen der Anthroposophie, Stuttgart 1981.
[4] Alexanders Wandlung, Drama von Albert Steffen, Dornach 1953.
[5] Albert Steffen, Der Auszug aus Ägypten; Die Manichäer, Berlin 1916.
DIE GLASFENSTER DES GOETHEANUM
Was ist das Besondere an den Glasfenster-Motiven des Goetheanum?
Inwiefern können die dort abgebildeten Motive zu Übungen inspirieren?
Übungen anhand der Glasfenster des Goetheanum
Es gibt ein kleines Buch von Georg Hartmann[1] für Eltern und Pädagogen, das künstlerische Inhalte im Zusammenhang mit den Motiven der Glasfenster des Goetheanum[2] so vermittelt, dass sie wie Bilder, wie Kunstwerke wirken, die in der Seele erstehen und die einen begleiten, sodass man sich an ihnen immer wieder denkend und fühlend orientieren, aufrichten und erfrischen kann.
Die dort angeführten Übungen sind wie ein kleiner Schulungsweg und haben die seelische Gesundheit im späteren Leben zum Thema. Wenn Sie sich drei bis fünf Minuten, ja selbst nur eine Minute lang, am Abend die Abbildung eines Glasfensters anschauen, schlafen Sie völlig anders ein als bisher und wachen gestärkter auf.
Das hilft vor allem, die Seelenfähigkeiten auszubilden und zu pflegen – was ja das Grundmotiv für alles pädagogische Tun im 2. Jahrsiebt ist, wenn sich das rhythmische System ausbildet.
· Richtiger Umgang mit Idealen
Die beiden Hälften des roten Fensters bilden z.B. den richtigen Umgang mit Idealen ab: D.h. wenn man die Sonne des Ideals verliert und in den Abgrund der Orientierungslosigkeit schaut, erheben sich bedrohliche Gewalten, die einem Furcht und Schrecken einflößen. Wenn man dagegen eine klare geistige Orientierung hat, ausgedrückt durch die Sonne, empfindet man in den Idealen die Gottesboten bzw. Engelwesen, die sich die Hände reichen und den Abgrund überbrücken.
· Grundimpulse der menschlichen Entwicklung meditieren
Sie finden im roten und violetten Fenster die Grundimpulse der menschlichen Entwicklung ausgedrückt – die Empfängnis und den ganzen Lebenslauf. Schauen Sie sich das einmal ganz bewusst an. Denn in den künstlerischen Motiven der Glasfenster ist die gesamte Anthroposophie zusammengefasst.
Kraftquell für Pädagogen
Kern der Übungen ist, dass man abends mit einem Gedanken-Motiv, das man sich selbst ausgesucht und gebildet hat, einschläft. Am Tag erweist sich dies dann als „unsichtbarer Begleiter“ und hilft, die Sinnhaftigkeit des pädagogischen Berufes immer deutlicher zu empfinden.
Es empfiehlt sich, gerade zu Zeiten, in denen man seine Arbeit als besonders fordernd erlebt, mit diesen Inhalten umzugehen. Auch wenn es nicht gelingt, im Alltag entlastende Umstände herbeizuführen, so kann die Beschäftigung mit diesen Motiven dennoch zu einer echten Kraftquelle werden: Mit einem geringen Zeitaufwand kann man sich direkt mit diesen helfenden Qualitäten verbinden, kann diese Bilder auf sich wirken lassen und wird bemerken, wie die Gefühle sich daran beleben und erstarken.
Durch den künstlerischen Umgang mit diesen Motiven, indem man sie fühlend mitnimmt durch den Tag, wird man fähig, insbesondere Kindern im 2. Jahrsiebt aus dieser Quelle heraus die richtigen Antworten auf ihre Fragen zu geben.
Vgl. Vortrag „Der therapeutisch-heilende Auftrag der Mutter“, Dornach 1992
[1] Georg Hartmann, Goetheanum Glasfenster, Dornach 1971.
[2] Das Goetheanum ist ein Gebäude in Dornach, rund zehn Kilometer südlich von Basel. Es dient als Sitz und Tagungsort der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, vor allem aber als Festspielhaus und Theaterbau. Benannt wurde es nach Johann Wolfgang von Goethe (wikipedia).
ALLTAG ALS KÜNSTLERISCHE HERAUSFORDERUNG
Wie kann man Alltagsroutine künstlerisch in einen lebendigen Prozess verwandeln?
Routine als Herausforderung
Routine allein wird dem Alltag nicht gerecht. Routine ist oft ein Ausdruck von etwas Krankhaftem. Routine ist nur dann gut, wenn sie eine stützende, strukturierende Rolle spielt, sodass man in dieser Zeit an etwas denken kann, das Freude macht – dann ist sie gerechtfertigt.
Zu einem Problem wird Routine, wenn die Seele sich an sie anpasst und das Seelenleben grau und regelmäßig wird und der Geist „auf Urlaub“ geht in der Zeit und man auf ihn und seine Möglichkeiten vergisst. Da kann es helfen, sich den Alltag unter dem künstlerischen Aspekt anzuschauen und sich zu fragen, wie der Ablauf von morgens bis abends zu einer künstlerischen Herausforderung werden könnte. Man kann sich bei den Dingen, die man zu tun hat, überlegen, wie sie noch ein bisschen kreativer, identifizierter und mit etwas mehr Freude gestaltet werden könnten. Dadurch entwickelt sich eine Lebenshaltung, die einen selbst und andere stärkt.
Wenn man sich aber durch den Alltag so in die Enge getrieben fühlt, dass man zu solchen Überlegungen gar nicht mehr in der Lage ist, sollte man den Mut aufbringen, sich eine Auszeit zu nehmen, um darüber nachzudenken, durch welche Wendung man dem Leben eine neue Richtung geben könnte.
Künstlerisches Tun als Entwicklungshilfe
Im künstlerischen Bereich kann man an sich arbeiten und Stress haben, man kann das künstlerische Tun aber trotz der eigenen Unzulänglichkeit und dem Wissen, es könnte alles noch besser und schöner sein, als der Mühe wert erleben. Typisch für die hohen Ansprüche an sich selbst in der Kunst ist die Opernsängerin, die wegen eines nicht ganz passenden Tones in einer Arie zerknirscht in ihrer Garderobe sitzt, obwohl das Publikum Blumen warf. Als Künstler will man immer höher hinaus – und entwickelt sich dabei.
Beim künstlerischen Tun, beim Üben, halten sich Schmerz und Freude die Waage, wenn der Übende spürt, dass er auf einem Weg ist, der Sinn macht, weil er seine Fähigkeiten bei dem, was er tut, immer weiterentwickelt. Wenn Sie noch keine künstlerische Tätigkeit ausüben, sollten Sie deshalb eine aufgreifen – Musikmachen, Malen, Plastizieren, Tanzen – Sie sollten irgendetwas zu üben beginnen, was Sie noch nicht beherrschen, was Sie erst erlernen müssen.
Ich selbst setzte das in einer Lebenssituation um, in der ich das Gefühl hatte, für nichts mehr Zeit zu haben, zu gar nichts mehr zu kommen: Ich wollte immer gerne Klavierspielen lernen, hatte bisher aber nie die Möglichkeit dazu gehabt. In dieser Situation kaufte ich mir ein Buch zum Selbststudium und begann jeden Tag fünf Minuten zu üben. Und Sie glauben nicht, wie weit Sie in einem Jahr kommen können! Das färbte auf meinen Alltag ab und verwandelte ihn in einen genauso spannenden Prozess wie das Klavierspiel.
Alltag als Schulungsfeld in Lebenskunst
Durch Lebenskunst im Alltag können Sie Ihre Tage besser und entspannter handhaben lernen.
Als Kinderärztin, die jahrelang viele Kinder und Familien betreute, wurde ich einmal von einer Hausfrau und Mutter gefragt, ob ich ihr nicht einen Rat geben könnte in Bezug auf die leidige Hausarbeit, die für sie zu einer tödlichen Routine geworden wäre. Sie hätte nicht das Geld, diese Arbeiten an jemand anderen abzugeben und müsste sie deshalb selbst erledigen, würde aber viel lieber etwas anderes machen.
Ich riet ihr, sich zu überlegen, welche spezifisch menschlichen Qualitäten und Charaktereigenschaften sie sich erwerben würde, wenn sie sich vornähme, drei Jahre lang so gut und liebevoll, wie sie könnte, diese ungeliebte Arbeit zu erledigen. Dabei sollte sie sich damit so stark wie nur möglich identifizieren. Nach drei Jahren sollte sie sich die Situation neu anschauen und herausfinden, ob und wieweit sie diese Qualitäten entwickelt hätte.
Wenn Sie eine solche Anregung aufgreifen, wird es Ihnen wahrscheinlich gehen wie dieser Frau: Sie werden viel weniger Zeit brauchen für dieselbe Arbeit. Sie werden sich in einen fröhlicheren Menschen verwandeln, weil sie wissen, warum Sie tun, was Sie tun. Sie werden sich nach der Arbeit nicht erschöpft fühlen, sondern gekräftigt. Ihr ganzes Leben wird eine andere Qualität bekommen, weil das, was Sie denken und das, was Sie tun, plötzlich übereinstimmen.
Gespalten-Sein überwinden
Der größte Krafträuber ist unser Gespalten-Sein, wenn wir das eine denken und das andere tun. Oft gehen die Gefühle nochmals in eine andere Richtung und wünschen etwas anderes, etwas Drittes. Dann sind wir als Person wie auseinandergerissen.
Der Ausweg liegt in dem Bemühen „die losen Enden“ wieder zusammenzubringen, indem wir den Entschluss fassen, das, was wir tun, wirklich identifiziert zu tun. Wir können uns bei dieser Übung immer wieder folgende Fragen stellen:
Beherrsche ich meine Stimmungen?
Kann ich mich selbst „stimmen“?
Kann ich bestimmen, wie ich auf andere zugehe, wie ich durch den Tag gehe?
Agiere ich oder reagiere ich in meinem Gefühl?
Man kann sich dadurch selbst ganz neu als „Unternehmer“ im eigenen Seelenleben entdecken.
Vgl. Vortrag „Gesundheit und Lebensfreude im Alltag“ vom 25.11.2007