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Macht: Unterschied zwischen den Versionen

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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
== BEZIEHUNG UND MACHTAUSÜBUNG ==
''Was ist Macht ihrem Wesen nach?''
''Wie kann ein menschenfreundlicher Umgang mit Macht gelernt werden?''
=== ''Macht als naturgegebene Veranlagung des Menschen'' ===
Beziehungen stehen im Zentrum jedes Menschenlebens. Sie bereichern das Leben und sind die Grundlage für beglückende Formen der Zusammenarbeit. Sie können aber auch das Gegenteil bewirken, können Lähmung verursachen, Verwirrung stiften oder Hass und Kälte ausstrahlen. Probleme und Konflikte im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen können das Leben der Betroffenen so sehr belasten, dass das zu Krankheit und Tod führen kann.
Dabei spielt die Macht, die wir übereinander haben, gegen- oder füreinander ausüben, eine zentrale Rolle. Entsprechend sind Macht- und Führungsfragen Dauerthemen im privaten und beruflichen Leben der meisten Menschen der Gegenwart.
Die Fähigkeit, etwas zu tun und damit in irgendeiner Form Macht auszuüben, ist eine naturgegebene Veranlagung des Menschen, wie auch die Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung, zum Mitempfinden, zur Gedankenbildung und zur Ideenentwicklung. Stärke, Schönheit und Weisheit nannte man diese menschlichen Grundveranlagungen in den alten Kulturen.[1] Wo immer der Mensch etwas unternimmt, verändert er die Welt und greift damit in Lebensbedingungen und Handlungsabläufe anderer Menschen ein. Er kann gar nicht handeln, ohne zu verändern, zu beeinflussen, d.h. ohne „Macht“ auszuüben. Die Frage ist nur, wie weisheitsvoll, schön bzw. konstruktiv seine Handlungen erlebt werden.
=== ''Schlüssel im Umgang mit Macht'' ===
Menschliche Beziehungen leben im Spannungsfeld von persönlichen Erwartungen und Ansprüchen und von sozialer Rücksichtnahme und der durch Leben und Arbeit geforderten Sachkompetenz. Der Umgang mit der Macht fordert demnach die Ausbildung von Fähigkeiten auf drei Gebieten:
* '''Selbsterkenntnis und Selbsterziehung''', d.h. Machtausübung über sich selbst in Form der Selbstbeherrschung.
* '''Soziale Rücksichtnahme''' im Umgang mit den Bedürfnissen und Intentionen der Mitmenschen.
* '''Berufliche Qualifikation''' im Hinblick auf eine sachbezogene Lebensaufgabe, Hingabe an die „Macht einer Aufgabe“, der man sich widmen möchte.
Jeder Mensch besitzt je nach Willensvermögen und Motivationen besondere Möglichkeiten zu handeln und damit auch Macht über Vorgänge, Situationen und andere Menschen auszuüben. Andererseits sind es gerade eben diese Vorgänge, Situationen und Menschen, die ihn zu Handlungen motivieren können.
Schon in der Antike wusste man, dass ein Herrscher nur regieren kann, wenn Menschen da sind, die sich beherrschen lassen. Dasselbe gilt für jede noch so kleine Handlung:
* Wären keine Gründe zu agieren gegeben, würde keine Handlung stattfinden.
* Und umgekehrt: Würden die Gründe vom Handelnden nicht wahrgenommen bzw. nicht für richtig befunden, würde es ebenfalls zu keiner Handlung kommen.
=== ''Die Macht des Einzelnen'' ===
Eben dieser Tatbestand macht den bewussten Umgang mit Macht so komplex und schwierig, aber auch so anregend im Hinblick auf Selbsterkenntnis und Weltverständnis. Die Gründe zur Machtausübung
* liegen zum einen in der Persönlichkeit, die sich zu einer Handlung entschließt.
* Zum anderen liegen sie in den Menschen, deren Verhalten oder deren Bedürfnisse Anlass für das eigene Handeln geben.
Von ihnen hängt ab, wie sie mit den Aktionen der Mächtigen umgehen, wie sie sich dazu stellen, was sie daraus für sich machen. Sie entscheiden letztendlich darüber, ob sie in einer Situation äußerer Abhängigkeit auch innerlich unfrei werden, sodass sie tatsächlich beherrscht werden. Denn selbst wenn an äußeren Machtverhältnissen und Verhaltensweisen von „Mächtigen“ nichts zu ändern ist, kann man doch an der Art und Weise etwas ändern, wie man als Einzelner diesen Verhältnissen innerlich begegnet.
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 1. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997''
----[1] Man denke in diesem Zusammenhang an die Leistungen der alten Griechen auf den Gebieten der Philosophie (Weisheit), der Plastik (Schönheit) und an die Wettkämpfe im Rahmen der Olympischen Spiele (Stärke).
== MACHTAUSÜBUNG IN DER BIOGRAPHIE ==
''Wie kann der Einzelne verantwortlich und konstruktiv mit der Macht, die er hat, umgehen?''
''Inwiefern kann uns das Leben Jesu dazu als Vorbild dienen?''
=== ''Macht und Ohnmacht in der Biographie'' ===
Wer die Berichte vom Leben Jesu in den Evangelien liest, begegnet hier einer Biographie, in der die Ideale der menschlichen Entwicklung so weit vorgelebt werden, dass man nur sagen kann: In diesem Menschensohn mit dem Gottesbewusstsein sind sie volle Wirklichkeit, sind sie Realität geworden. Umso bestürzender ist es, dass auch hier die Realität des Bösen am Anfang (als Kindermord zu Bethlehem) und am Ende (als Passion und Tod auf Golgatha) in nicht zu überbietender Menschenverachtung in Erscheinung tritt. Das Leben Jesu kann ein Vorbild sein für jede Biographie in Bezug auf das Streben nach Menschlichkeit und zugleich auch ein unendlicher Trost im Hinblick auf alles Leidvolle, von dem der Lebenslauf gezeichnet sein kann.
Man sieht, beides gehört zusammen, auch in der Biographie des Jesus Christus. Ihr kann man die wesentlichen Hilfen entnehmen für den Umgang mit Machtproblemen. Im Gespräch mit Pilatus wird das entscheidende Wort ausgesprochen: ''„Du hättest keine Macht über mich, wäre sie dir nicht von einem Höheren gegeben.“''[1] Ähnlich bekannt und bedeutsam ist der Ausspruch: ''„So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“''[2]
Auf unsere alltäglichen Konfliktsituationen übertragen, können uns diese Worte aufmerksam machen auf die Aufgabe der Macht im individuellen und sozialen Leben. Durch den häufigen Machtmissbrauch hat der Begriff „Macht“ keinen guten Klang. Macht ist jedoch das Edelste, was der Mensch zur Verfügung hat: die Fähigkeit, etwas zu tun und damit eine Aufgabe oder eine Situation zu beherrschen bzw. ein Arbeitsgebiet zu verwalten. Die Frage ist nur, ob das, was getan wird, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort ist, so dass es als gut und hilfreich erlebt wird, oder ob jemand seine Macht für Handlungen einsetzt, durch die andere zur Seite gedrängt oder geschädigt werden.
=== ''Macht als anvertrautes Gut begriffen'' ===
Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass einem die Macht, über die man aufgrund seiner Ausbildung und seiner sozialen sowie beruflichen Stellung verfügt, von der Schicksalsführung anvertraut wurde, um sie zum Segen der Mitwelt zu gebrauchen, nicht jedoch, um sie störend oder zum Schaden anderer einzusetzen. Wer Macht als berechtigten Anspruch erlebt, für wen die Freude zu herrschen Selbstzweck ist, missbraucht das ihm gegebene Gut.
Das ist auch der Fall, wenn ein Mensch Angst hat, seine Macht könnte schwinden, wenn andere fähige Menschen in seinem Umfeld auftauchen, und der diese nun mit den verschiedensten Mitteln daran hindert, tätig zu werden, um selber unbestritten an der Spitze zu bleiben. So wird oft mit aller Macht verhindert, dass rechtzeitig ein geeigneter Nachfolger für die eigene Position gefunden wird und dass andere, jüngere Kräfte in wichtige Aufgaben hineinwachsen können.
Es gibt keine Haltung, die besser vor Machtmissbrauch schützen könnte als die christliche, die die eigene Macht als von einem Höheren gegeben betrachtet und sie solange ausübt, wie die Verhältnisse oder die Aufgaben es erfordern – und stets bereit ist, sie weiterzugeben. In dieser Haltung lebt die Ehrfurcht vor dem Schicksal anderer und seiner geheimnisvollen Regie, die man oft erst nach Jahren in ihrer Sinnhaftigkeit durchschaut. Entscheidend ist nicht, ''wer'' eine Aufgabe besorgt, sondern dass sie so gut wie möglich bewältigt wird.
=== ''Aktionismus und versteckter Drang zu herrschen'' ===
Viele Menschen leiden an einem enormen Wahrnehmungsdefizit: Oft wird zu wenig beobachtet, was wirklich gebraucht wird. Viel Zeit und Kraft werden in unnötigen Aktionismus gesteckt. Zum anderen leiden wir gegenwärtig an einem gestörten Verhältnis zu Führungs- und Machtfragen nach dem Motto: Entweder alle oder keiner.
In den weltweiten Demokratiebestrebungen liegt nicht nur der Impuls verborgen, den Einzelnen aus überlebten zentralistischen Machtstrukturen zu befreien, sondern auch ein uneingestandener Drang, selbst zu herrschen. Der Trend zur Mitbestimmung bei allem und jedem verschleiert das und führt oft zu unhaltbaren sozialen Zuständen, weil mithilfe des Vetorechts jeder jeden in seiner Handlungsfreiheit einschränkt und blockiert. Zu den Forderungen unserer Zeit gehört es, transparente Arbeitsformen zu schaffen für individuell oder gemeinsam zu ergreifende Aufgabengebiete.
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997''
----[1] Neues Testament, ''Johannes 19, 11.''
[2] Neues Testament, ''Matthäus 22, 22.''
== „DIE LETZTE FREIHEIT DES MENSCHEN“ UND DIE MACHT-/OHNMACHT-FRAGE ==
''Worin besteht die letzte Freiheit des Menschen?''
''Wie kann man sich ihrer bewusst werden?''
=== ''Wie determiniert ist der Mensch?'' ===
Es gibt eine Fülle an Literatur zum Thema Konfliktmanagement und zu Führungsfragen. Es zeigt sich immer deutlicher, dass eine bewusste Schulung sehr viel bewirken kann. So möchte ich an dieser Stelle ''Stephen Coveys'' Buch ''„Die sieben Wege zur Effektivität“'''[1]''''' anführen. Einleitend erwähnt Covey drei Faktoren, durch die wir uns als Zeitgenossen in unserem Lebensgefühl bestimmt bzw. determiniert erleben:
* körperlich durch Vererbung,
* seelisch durch Eltern und Erzieher,
* geistig durch Schule und Studium.[2]
Das Gefühl, fremdbestimmt zu sein, hindert uns daran, den eigenen Willen frei zu ergreifen, weil wir an diese Freiheit gar nicht mehr glauben.[3] Covey betont, dass wir uns innerlich von dieser dreifachen Fremdbestimmung befreien müssen und darauf aufmerksam werden, dass wir als Menschen ''–'' auch wenn wir uns als noch so abhängig erleben von unserer körperlichen Konstitution und Einflüssen aus der Umwelt – immer einen Freiraum haben, einen „Spielraum“, indem wir auf unsere körperliche Konstitution und die Umwelteinflüsse so reagieren, wie wir es wollen.
=== ''Die eigenen Reaktionen bestimmen'' ===
''Wie reagiere ich z.B., wenn ein Kind brüllt, provoziert und mir die Zunge herausstreckt oder absichtlich mit Essen um sich wirft?''
Ich kann spontan reagieren und dem Kind das Essen wegnehmen oder es in ein Zimmer bringen, wo es sich beruhigen kann. Ich kann die Art meiner Reaktion aber auch sehr bewusst gestalten – ganz so, wie ich es in diesem Augenblick will. Möglicherweise hat das Kind schlechte Laune, weil ich es viel zu spät vom Spielplatz geholt habe und es total übermüdet ist. Also bleibe ich ruhig und tue alles, um es möglichst bald ins Bett zu bringen. Ich kann die Situation aber auch entschärfen, indem ich die Provokation übersehe, das Kind ablenke und ihm verstärkte Aufmerksamkeit schenke.
Auch in äußerst schwierigen Situationen im Leben kann ich mir klarmachen, dass ich trotz meiner Prägung durch meine körperliche Konstitution, meine Verhaltensmuster und Reaktionsmöglichkeiten in Bezug auf das Ereignis, mit dem ich jetzt konfrontiert bin, einen Entscheidungsspielraum habe: Ich ''muss'' nicht reagieren – ich kann. Ich kann mir die Situation anschauen. Meine Reaktion ist ein Prozess, den ich selber in Freiheit gestalten kann. Es steht mir frei, aktiv aus der Situation zu lernen, und ich bestimme selbst, wohin mich ein Ereignis führt. Diese Erfahrung ist nicht nur die Geburtsstunde eines gesunden Selbstbewusstseins. Sie ist auch die Geburtsstunde der Selbstverantwortung und inneren Freiheit. Der Mensch muss überhaupt nichts – er muss nicht einmal seinen Prägungen und Veranlagungen folgen. Er allein entscheidet, was er müssen, wollen und können möchte.
=== ''Viktor Frankl als Beispiel für Willensfreiheit'' ===
Covey nennt als Beispiel den in der Nazizeit im Konzentrationslager inhaftierten Professor für Neurologie und Psychiatrie ''Viktor Frankl'' (1905-1997), der von seiner Ausbildung her eigentlich ein Determinist, ein in der Freud‘schen Analyse geschulter Psychiater war.
Dann geschah das Wunder: Auf dem Gipfel der äußersten Unfreiheit entdeckte er seine innere Freiheit ''–'' im Körperlichen, Seelischen und Geistigen. Er begann sich dessen bewusst zu werden, was er später ''„die letzte Freiheit des Menschen“'' nannte: Diese Freiheit konnten ihm die Nazi-Schergen nicht wegnehmen, mochten sie seine Umgebung kontrollieren und mit seinem Körper machen, was sie wollten: Viktor Frankl blieb er selbst, seine Identität blieb erhalten. Er hatte ein Reich geistiger Freiheit und inneren Reichtums entdeckt, in das er sich aus der schrecklichen Umwelt zurückziehen konnte und beobachten, was mit ihm geschah. Und er fühlte sich frei zu entscheiden, wie er sich zu dem, was mit ihm geschah, stellen wollte: ob er zuließ, dass es ihn zerstörte oder ob es ihn in seiner Menschlichkeit weiterbrachte. So erlebte er einen Freiraum zwischen dem, was ihm widerfuhr, und seiner Reaktion darauf und entdeckte die Kraft, seine Reaktion selbst zu bestimmen: ob er ein typischer „KZler“ würde oder ein Mensch, der auch hier noch Mensch blieb und die Menschenwürde bewahrte.
=== ''Tröstliche Intensität durch Verinnerlichung'' ===
Bei sich und manchen Mithäftlingen beobachtete er eine verstärkte Tendenz zur Verinnerlichung, die, wann immer sich die Gelegenheit bot, zu intensiven Begegnungen mit Kunst und Natur führen konnte. So kam es vor, dass ein Mithäftling den neben ihm schuftenden Kameraden aufmerksam machte, dass die zwischen den Baumstämmen gerade untergehende Sonne hindurchleuchtete wie auf dem bekannten Aquarell von Dürer. Oder sie nahmen mit einer plötzlichen Ergriffenheit die vielgestaltigen und sich stets wandelnden Wolken wahr, die den Himmel belebten und in überirdische Farben tauchten. Aus solchen Eindrücken schöpften sie Kraft.
Die Intensität des Erlebens konnte sie die Umwelt und die ganze furchtbare Situation für heilige Momente vergessen machen. Frankl staunte selbst, wie die Gesichter der Kameraden vor Entzücken strahlten, als sie während der Bahnfahrt von Auschwitz in ein bayrisches Lager auf die Salzburger Berge hinausschauten, deren Gipfel gerade im Abendrot leuchteten. Menschen, die mit ihrem Leben praktisch abgeschlossen hatten, waren trotzdem – oder gerade deshalb? – hingerissen von dem jahrelang entbehrten Anblick der Schönheit der Natur, hinter der sie den Schöpfer ahnen konnten.
Inmitten all dieser Erfahrungen malte Frankl sich in Gedanken aus, wie er nach einer möglichen Befreiung aus dem Lager später seine Studenten unterrichten würde ''–'' ganz anders als er es vor dem Lageraufenthalt getan hatte. Er stellte sich vor, wie er diese Erfahrungen für seine künftigen Hörer fruchtbar machen würde. Denn ihm war klar geworden, dass man dem Menschen nicht gerecht würde, wenn man ihn nur als Produkt seiner Gene, des Milieus, aus dem er stammt, und seiner bisherigen Konditionierungen und Konventionen auffasst.
=== ''Trotzdem Ja zum Leben sagen'' ===
Er kehrte schließlich aus dieser Hölle zurück in seine Vaterstadt Wien. Und obwohl er seine Eltern, seinen Bruder, seine Frau verloren hatte, war er frei von jeglichem Impuls nach Rache und Vergeltung. Sein Buch ''„...trotzdem Ja zum Leben sagen“[4]'' ist ein erschütternder Bericht über diese jahrelange Zeit unmenschlicher Behandlung, die geprägt war von Hungerqualen, Kälte, harter Arbeit und Schikanen, von unbeschreiblicher Hoffnungslosigkeit, weil kein Ende dieser Zeit abzusehen war, wohl aber täglich der mögliche Tod vor Augen stand.
Das war mit Sicherheit eine der extremsten Situationen, um die Freiheit des Willens zu entdecken und die freie Willensausübung zu schulen. Zugleich ist uns damit eines der trostreichsten Beispiele geschenkt: Es macht deutlich, zu welch übergroßen Leistungen der Mensch fähig ist. Jeder erlebt im Laufe seines Lebens an irgendeiner Stelle Machtübergriffe, ohne sich wehren zu können. Wer bei sich die Möglichkeit entdeckt, zu bestimmen, inwieweit das Ereignis ihr/ihm schadet, hat den Schlüssel für den Umgang mit Macht in die eigene Hand genommen.
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 1. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997''
----[1] Stephen R. Covey, ''Die sieben Wege zur Effektivität''; im englischen Original klingt der Titel allerdings wesentlich inspirierender: ''The seven habits of highliy effective people.''
[2] A.a.O., S. 67ff.
[3] In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass es im 20. Jahrhundert zwei herausragende Autoren gibt, die dieses Missverständnis über den freien Willen als solches entlarvt und richtiggestellt haben. Erkenntnistheoretisch und philosophisch wurde es durch Rudolf Steiner dargestellt in seinem Buch ''Die Philosophie der Freiheit''; empirisch geschah es durch Viktor Frankl, der im Zustand größter Unfreiheit während der Gefangenschaft im Konzentrationslager seine innere Freiheit entdeckte und darauf dann seine spätere Psychotherapie vom Erringen der richtigen Einstellung zum Leben aufbaute.
Siehe auch Viktor Frankl, ''Zeit der Entscheidung,'' In: ders., ''Was nicht in meinen Büchern steht.'' Weinheim/Basel, 3. Aufl. 2009; 
[4] Viktor Frankl, ''„...trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“'', dtv, 21. Aufl. München 2002.
== MACHT UND FREIHEIT ==
''Inwiefern hängen Macht und Freiheit zusammen?''
''Wird uns Macht gegeben oder sind wir als Menschen per se mit Macht begabte Wesen?''
=== ''Fünf wesentliche Aspekte von Macht'' ===
Es gibt fünf Aspekte der Macht, die ich im Folgenden nennen möchte:
==== 1. Auch Ohnmacht ist Macht ====
Selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, so sind wir doch alle machtvolle Wesen, selbst wenn wir uns ohnmächtig fühlen und aus diesem Gefühl heraus NICHTS tun. Auch dann haben wir von unserer Macht Gebrauch gemacht und Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte ausgeübt. Jeder beeinflusst den anderen, wir alle haben Einfluss auf das Ganze.
==== 2. Willensäußerung als Machtausdruck ====
Jede Form von Willensäußerung ist zugleich ein Ausdruck unserer Macht. In welchem Kontext wir das erproben und einsetzen, hat mit dem Lebensalter und der Reife zu tun. In der sogenannten Trotzphase oder Autonomiephase erlebt das Kind erstmals seine Macht „nein“ zu sagen. Ohne diese Erfahrung könnte es auch nie bewusst und voll verantwortlich zu etwas oder jemandem „ja“ sagen.
==== 3. Beziehung als Raum der Machtausübung ====
Grundsätzlich gesehen, ist die Beziehung der Raum, in dem die Wirkung unserer Taten, Gefühle und Gedanken zum Tragen kommt. Hier zeigt sich, ob das, was wir in diesem Beziehungskontext denken, fühlen und tun negative oder positive Eigenschaften bei uns hervorruft, ob wir uns gefangen und ohnmächtig oder frei und verantwortlich fühlen.
''Würde das heißen, dass man jeden Konflikt auch einseitig bewältigen kann?''
Grundsätzlich gehören zwei zu einem Konflikt. Tritt der eine beiseite und kämpft nicht mehr mit, ist jeder Streit beendet. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Beziehung dadurch automatisch „gerettet“ ist. Bei jedem Machtkonflikt habe ich zwei Möglichkeiten:
* Ich kann mich ändern, unterziehe mich einer Schulung. Das macht immer Sinn. So gesehen kann ein Gewinn im Aushalten gewisser „unerträglicher“ Situationen liegen. Allein das ändert manchmal die Situation.
* Oder ich entscheide mich zu gehen, die Beziehungssituation zu verlassen. Als Rudolf Steiner einmal gefragt wurde, ob es Gründe gäbe, eine Ehe zu trennen, antwortete er sinngemäß: ''„JA, wenn dadurch ein Partner in seiner Entwicklung behindert wird“.'' Solch eine Entscheidung für oder gegen eine Beziehung verlangt Mut und Ehrlichkeit sich selbst und dem anderen gegenüber.
===== ''Wille und Konstitutionsebenen'' =====
Es kann eine Hilfe sein, Willensäußerungen auf den unterschiedlichen Konstitutionsebenen des Menschen anzuschauen:
* '''Physische Ebene:'''
Wille als Fakt geäußert, kann unmittelbar etwas bewegen.
* '''Ätherische Ebene:'''
Wille in der Zeit gesehen resultiert in den biografischen Ereignissen.
* '''Astralische Ebene:'''
Wille im Seelischen wirkt auf die Beziehungsgestaltung, die Art, wie wir aufeinander wirken und der Beziehung ihre besondere Qualität geben.
* '''Ich-Ebene:'''
Hier üben wir Macht aus Kraft unserer Ich-Persönlichkeit. Ob man sich als Täter oder als Opfer erlebt, entscheidet nicht die Tat, die man erleidet, sondern die Art, wie das Ich damit umgeht, welchen Standpunkt es einnimmt – den des Opfers oder den des Täters, der weiß, dass er IMMER Verantwortung trägt für sein Leben.
===== ''Eindrucksvolle Beispiele für die Macht ich-haften Willens'' =====
* '''Victor Frankl'''
Ein berühmtes Beispiel ist ''Victor Frankl'', der sich auch als Gefangener im KZ innerlich als Täter seines Lebens sah, insofern als er sich verantwortlich fühlte für seine Reaktionen. Die Opferrolle, das Negieren seiner Entscheidungsmacht, war gegen seine Würde – und so kam er als Eingeweihter aus der Gefangenschaft zurück. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse gab er in seinem Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“[1] weiter. Das Ich entscheidet, wie es mit seiner Macht umgeht.
* '''Iphigenie'''
Ein anderes Beispiel für die Macht des Willens aus dem Ich gibt uns Iphigenie,[2] als sie zum König, auf dessen Insel sie Zuflucht gefunden hatte und der sie mit ihrem Bruder Orest mit Schimpf und Schande davonjagen wollte, sinngemäß sagte: ''„So nicht, mein König. Ich schulde dir Dank bis ans Ende meiner Tage.“'' Daraufhin ringt sich der König dazu durch, ihnen Lebewohl zu wünschen. Dadurch verwandelte sich im Moment des Abschieds die ganze Beziehung in Richtung Frieden anstelle von Streit.[3]
Das ist ein wunderbares Beispiel für proaktives Handeln aus dem Ich heraus. Das ist IchKultur. Aus dieser Instanz, aus diesem Machtbewusstsein heraus können wir jeden Machtmissbrauch heilen, stoppen und verwandeln. Dadurch können wir sogar die Täter-Opfer-Rolle in unserem Bewusstsein umdrehen, wie wir es am Beispiel von Jesus vor Pilatus sehen können, als er sagte: ''„Du hättest keine Macht über mich, wäre sie Dir nicht von einem Höheren gegeben.“[4]''
==== 4. Macht Gottes - Macht des Schicksals ====
Beim Schicksalsaspekt geht es um die innere Grundausrichtung: Ob ich das, was mir begegnet, als von Gott oder den Schicksalsmächten „geschickt“ ansehe. Denn wenn ich das, was mir vom Schicksal geschickt wird, annehme als Herausforderung und Aufgabe, an der ich wachsen kann, werde ich genau in diesem Bereich meiner früheren Schwäche ''geschickt''. Dann habe ich gelernt aus den Schicksalsherausforderungen und habe Geschicklichkeit im Sinne von neuen Fähigkeiten entwickelt.
Manchmal bremst uns das Schicksal aus, manchmal müssen wir selber erst „auf die Nase fallen“. Denn hier geht es um Selbsterziehung: dass wir im Laufe unseres Lebens lernen, konstruktiv mit Machtkonflikten umzugehen. Unter diesem Blickwinkel wird das Leben zum großen Erzieher des Charakters. Dann werden wir zunehmend zu „pflegeleichten“ Menschen, die wissen, dass die Entscheidung, wie sie mit einer Situation umgehen, immer bei ihnen liegt.
==== 5. Macht im christlichen Wertekontext ====
Jeder, der das Christentum zu verstehen anfängt, begreift, dass die Schicksalssituation als Teil einer Gesamtevolution, die zur Freiheit tendiert, angesehen werden darf. In diesem großen Entwicklungsstrom können wir uns als tief geborgen empfinden, wie es der Theologe Dietrich Bonhoeffer[5] zur vor seiner Hinrichtung so schön ausdrückt:
''Von guten Mächten wunderbar geborgen''
''Erwarten wir getrost was kommen mag''
''Gott ist bei uns am Abend und am Morgen''
''Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.''
===== ''Machtmissbrauch als Kehrseite der Freiheit'' =====
Im Zentrum unserer Entwicklung steht die Freiheit – und das ist zugleich der Kern des Problems. Machtmissbrauch ist der Preis für die Freiheit. Freiheit bedeutet, dass man sich für das eine ''oder'' das andere entscheiden kann. Worum es im Grunde geht, drückte Jesus aus, als er sagte: ''„Vater, nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.“'' Göttlicher Wille nimmt sich vollkommen zurück und lässt den menschlichen Willen mit all seinen Abirrungen zu.
Auf der Ich-Ebene gibt es immer beide Möglichkeiten, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen:
* klein beizugeben und sich dem fremden Wollen zu unterstellen oder
* den Eigenwillen zu behaupten und dem anderen trotzdem seinen Willen zu lassen.
Das tiefste Macht- und Willensgeheimnis offenbart sich, wenn wir einerseits verstehen, dass es die Freiheit ist, die alle Wunden schlägt, die mit Machtmissbrauch zu tun haben, und dass andererseits die Liebe alle Wunden heilen kann. Rudolf Steiner sagte, dass Freiheit und Liebe zwei Seiten ein und derselben Sache seien. Machtmissbrauch ließe sich durch Verständnis heilen, dem Verzeihen und Vergeben folgt. Das ist Liebe in geistiger Form.
Das Machtthema ist das tiefste und wichtigste Thema der heutigen Zeit. Die Zukunft gehört denen, die bewussten Gebrauch von ihrem Willen machen.
''Vgl. Vortrag „Macht und Freiheit“ an der Waldorfschule Heidenheim 2011''
----[1] Victor E. Frankl, ''Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychiater erlebt das Konzentrationslager'', 7. Aufl. München 1995.
[2] Johann Wolfgang von Goethe, ''Iphigenie auf Tauris'' ist ein Bühnenstück von nach der Vorlage von Euripides’ Iphigenie bei den Taurern.
[3] Das Drama „Iphigenie auf Tauris“ handelt von der Priesterin Iphigenie, die auf der Insel Tauris lebt. Iphigenie wird auf der Insel verehrt und geliebt. Allerdings hat sie starkes Heimweh und möchte unbedingt zurück zu ihrer Familie. Eines Tages kommt ihr Bruder Orest auf die Insel. Als ans Licht kommt, wer Iphigenie wirklich ist, und dass Orest die Staute der Diana von der Insel stehlen will, nimmt die Handlung eine spannende Wendung. Iphigenie muss sich entscheiden, ob sie gemeinsam mit ihrem Bruder von Tauris flieht oder zurückbleibt. Schlussendlich schaffen es beide, die Insel gemeinsam zu verlassen und nach Hause zurückzukehren.
(<nowiki>https://studyflix.de/deutsch/iphigenie-auf-tauris-zusammenfassung-3858</nowiki>, ges. 03.08.2023).
[4] Neues Testament, ''Johannes'' 19, 11.
[5] Dietrich Bonhoeffer (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossenbürg) war ein lutherischer Theologe und profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche. Er war am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt. (<nowiki>https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Bonhoeffer</nowiki>, ges. am 03.08.2023).

Aktuelle Version vom 6. April 2025, 19:12 Uhr

Macht – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

BEZIEHUNG UND MACHTAUSÜBUNG

Was ist Macht ihrem Wesen nach?

Wie kann ein menschenfreundlicher Umgang mit Macht gelernt werden?

Macht als naturgegebene Veranlagung des Menschen

Beziehungen stehen im Zentrum jedes Menschenlebens. Sie bereichern das Leben und sind die Grundlage für beglückende Formen der Zusammenarbeit. Sie können aber auch das Gegenteil bewirken, können Lähmung verursachen, Verwirrung stiften oder Hass und Kälte ausstrahlen. Probleme und Konflikte im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen können das Leben der Betroffenen so sehr belasten, dass das zu Krankheit und Tod führen kann.

Dabei spielt die Macht, die wir übereinander haben, gegen- oder füreinander ausüben, eine zentrale Rolle. Entsprechend sind Macht- und Führungsfragen Dauerthemen im privaten und beruflichen Leben der meisten Menschen der Gegenwart.

Die Fähigkeit, etwas zu tun und damit in irgendeiner Form Macht auszuüben, ist eine naturgegebene Veranlagung des Menschen, wie auch die Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung, zum Mitempfinden, zur Gedankenbildung und zur Ideenentwicklung. Stärke, Schönheit und Weisheit nannte man diese menschlichen Grundveranlagungen in den alten Kulturen.[1] Wo immer der Mensch etwas unternimmt, verändert er die Welt und greift damit in Lebensbedingungen und Handlungsabläufe anderer Menschen ein. Er kann gar nicht handeln, ohne zu verändern, zu beeinflussen, d.h. ohne „Macht“ auszuüben. Die Frage ist nur, wie weisheitsvoll, schön bzw. konstruktiv seine Handlungen erlebt werden.

Schlüssel im Umgang mit Macht

Menschliche Beziehungen leben im Spannungsfeld von persönlichen Erwartungen und Ansprüchen und von sozialer Rücksichtnahme und der durch Leben und Arbeit geforderten Sachkompetenz. Der Umgang mit der Macht fordert demnach die Ausbildung von Fähigkeiten auf drei Gebieten:

  • Selbsterkenntnis und Selbsterziehung, d.h. Machtausübung über sich selbst in Form der Selbstbeherrschung.
  • Soziale Rücksichtnahme im Umgang mit den Bedürfnissen und Intentionen der Mitmenschen.
  • Berufliche Qualifikation im Hinblick auf eine sachbezogene Lebensaufgabe, Hingabe an die „Macht einer Aufgabe“, der man sich widmen möchte.

Jeder Mensch besitzt je nach Willensvermögen und Motivationen besondere Möglichkeiten zu handeln und damit auch Macht über Vorgänge, Situationen und andere Menschen auszuüben. Andererseits sind es gerade eben diese Vorgänge, Situationen und Menschen, die ihn zu Handlungen motivieren können.

Schon in der Antike wusste man, dass ein Herrscher nur regieren kann, wenn Menschen da sind, die sich beherrschen lassen. Dasselbe gilt für jede noch so kleine Handlung:

  • Wären keine Gründe zu agieren gegeben, würde keine Handlung stattfinden.
  • Und umgekehrt: Würden die Gründe vom Handelnden nicht wahrgenommen bzw. nicht für richtig befunden, würde es ebenfalls zu keiner Handlung kommen.

Die Macht des Einzelnen

Eben dieser Tatbestand macht den bewussten Umgang mit Macht so komplex und schwierig, aber auch so anregend im Hinblick auf Selbsterkenntnis und Weltverständnis. Die Gründe zur Machtausübung

  • liegen zum einen in der Persönlichkeit, die sich zu einer Handlung entschließt.
  • Zum anderen liegen sie in den Menschen, deren Verhalten oder deren Bedürfnisse Anlass für das eigene Handeln geben.

Von ihnen hängt ab, wie sie mit den Aktionen der Mächtigen umgehen, wie sie sich dazu stellen, was sie daraus für sich machen. Sie entscheiden letztendlich darüber, ob sie in einer Situation äußerer Abhängigkeit auch innerlich unfrei werden, sodass sie tatsächlich beherrscht werden. Denn selbst wenn an äußeren Machtverhältnissen und Verhaltensweisen von „Mächtigen“ nichts zu ändern ist, kann man doch an der Art und Weise etwas ändern, wie man als Einzelner diesen Verhältnissen innerlich begegnet.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 1. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997


[1] Man denke in diesem Zusammenhang an die Leistungen der alten Griechen auf den Gebieten der Philosophie (Weisheit), der Plastik (Schönheit) und an die Wettkämpfe im Rahmen der Olympischen Spiele (Stärke).

MACHTAUSÜBUNG IN DER BIOGRAPHIE

Wie kann der Einzelne verantwortlich und konstruktiv mit der Macht, die er hat, umgehen?

Inwiefern kann uns das Leben Jesu dazu als Vorbild dienen?

Macht und Ohnmacht in der Biographie

Wer die Berichte vom Leben Jesu in den Evangelien liest, begegnet hier einer Biographie, in der die Ideale der menschlichen Entwicklung so weit vorgelebt werden, dass man nur sagen kann: In diesem Menschensohn mit dem Gottesbewusstsein sind sie volle Wirklichkeit, sind sie Realität geworden. Umso bestürzender ist es, dass auch hier die Realität des Bösen am Anfang (als Kindermord zu Bethlehem) und am Ende (als Passion und Tod auf Golgatha) in nicht zu überbietender Menschenverachtung in Erscheinung tritt. Das Leben Jesu kann ein Vorbild sein für jede Biographie in Bezug auf das Streben nach Menschlichkeit und zugleich auch ein unendlicher Trost im Hinblick auf alles Leidvolle, von dem der Lebenslauf gezeichnet sein kann.

Man sieht, beides gehört zusammen, auch in der Biographie des Jesus Christus. Ihr kann man die wesentlichen Hilfen entnehmen für den Umgang mit Machtproblemen. Im Gespräch mit Pilatus wird das entscheidende Wort ausgesprochen: „Du hättest keine Macht über mich, wäre sie dir nicht von einem Höheren gegeben.“[1] Ähnlich bekannt und bedeutsam ist der Ausspruch: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“[2]

Auf unsere alltäglichen Konfliktsituationen übertragen, können uns diese Worte aufmerksam machen auf die Aufgabe der Macht im individuellen und sozialen Leben. Durch den häufigen Machtmissbrauch hat der Begriff „Macht“ keinen guten Klang. Macht ist jedoch das Edelste, was der Mensch zur Verfügung hat: die Fähigkeit, etwas zu tun und damit eine Aufgabe oder eine Situation zu beherrschen bzw. ein Arbeitsgebiet zu verwalten. Die Frage ist nur, ob das, was getan wird, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort ist, so dass es als gut und hilfreich erlebt wird, oder ob jemand seine Macht für Handlungen einsetzt, durch die andere zur Seite gedrängt oder geschädigt werden.

Macht als anvertrautes Gut begriffen

Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass einem die Macht, über die man aufgrund seiner Ausbildung und seiner sozialen sowie beruflichen Stellung verfügt, von der Schicksalsführung anvertraut wurde, um sie zum Segen der Mitwelt zu gebrauchen, nicht jedoch, um sie störend oder zum Schaden anderer einzusetzen. Wer Macht als berechtigten Anspruch erlebt, für wen die Freude zu herrschen Selbstzweck ist, missbraucht das ihm gegebene Gut.

Das ist auch der Fall, wenn ein Mensch Angst hat, seine Macht könnte schwinden, wenn andere fähige Menschen in seinem Umfeld auftauchen, und der diese nun mit den verschiedensten Mitteln daran hindert, tätig zu werden, um selber unbestritten an der Spitze zu bleiben. So wird oft mit aller Macht verhindert, dass rechtzeitig ein geeigneter Nachfolger für die eigene Position gefunden wird und dass andere, jüngere Kräfte in wichtige Aufgaben hineinwachsen können.

Es gibt keine Haltung, die besser vor Machtmissbrauch schützen könnte als die christliche, die die eigene Macht als von einem Höheren gegeben betrachtet und sie solange ausübt, wie die Verhältnisse oder die Aufgaben es erfordern – und stets bereit ist, sie weiterzugeben. In dieser Haltung lebt die Ehrfurcht vor dem Schicksal anderer und seiner geheimnisvollen Regie, die man oft erst nach Jahren in ihrer Sinnhaftigkeit durchschaut. Entscheidend ist nicht, wer eine Aufgabe besorgt, sondern dass sie so gut wie möglich bewältigt wird.

Aktionismus und versteckter Drang zu herrschen

Viele Menschen leiden an einem enormen Wahrnehmungsdefizit: Oft wird zu wenig beobachtet, was wirklich gebraucht wird. Viel Zeit und Kraft werden in unnötigen Aktionismus gesteckt. Zum anderen leiden wir gegenwärtig an einem gestörten Verhältnis zu Führungs- und Machtfragen nach dem Motto: Entweder alle oder keiner.

In den weltweiten Demokratiebestrebungen liegt nicht nur der Impuls verborgen, den Einzelnen aus überlebten zentralistischen Machtstrukturen zu befreien, sondern auch ein uneingestandener Drang, selbst zu herrschen. Der Trend zur Mitbestimmung bei allem und jedem verschleiert das und führt oft zu unhaltbaren sozialen Zuständen, weil mithilfe des Vetorechts jeder jeden in seiner Handlungsfreiheit einschränkt und blockiert. Zu den Forderungen unserer Zeit gehört es, transparente Arbeitsformen zu schaffen für individuell oder gemeinsam zu ergreifende Aufgabengebiete.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997


[1] Neues Testament, Johannes 19, 11.

[2] Neues Testament, Matthäus 22, 22.

„DIE LETZTE FREIHEIT DES MENSCHEN“ UND DIE MACHT-/OHNMACHT-FRAGE

Worin besteht die letzte Freiheit des Menschen?

Wie kann man sich ihrer bewusst werden?

Wie determiniert ist der Mensch?

Es gibt eine Fülle an Literatur zum Thema Konfliktmanagement und zu Führungsfragen. Es zeigt sich immer deutlicher, dass eine bewusste Schulung sehr viel bewirken kann. So möchte ich an dieser Stelle Stephen Coveys Buch „Die sieben Wege zur Effektivität“[1] anführen. Einleitend erwähnt Covey drei Faktoren, durch die wir uns als Zeitgenossen in unserem Lebensgefühl bestimmt bzw. determiniert erleben:

  • körperlich durch Vererbung,
  • seelisch durch Eltern und Erzieher,
  • geistig durch Schule und Studium.[2]

Das Gefühl, fremdbestimmt zu sein, hindert uns daran, den eigenen Willen frei zu ergreifen, weil wir an diese Freiheit gar nicht mehr glauben.[3] Covey betont, dass wir uns innerlich von dieser dreifachen Fremdbestimmung befreien müssen und darauf aufmerksam werden, dass wir als Menschen auch wenn wir uns als noch so abhängig erleben von unserer körperlichen Konstitution und Einflüssen aus der Umwelt – immer einen Freiraum haben, einen „Spielraum“, indem wir auf unsere körperliche Konstitution und die Umwelteinflüsse so reagieren, wie wir es wollen.

Die eigenen Reaktionen bestimmen

Wie reagiere ich z.B., wenn ein Kind brüllt, provoziert und mir die Zunge herausstreckt oder absichtlich mit Essen um sich wirft?

Ich kann spontan reagieren und dem Kind das Essen wegnehmen oder es in ein Zimmer bringen, wo es sich beruhigen kann. Ich kann die Art meiner Reaktion aber auch sehr bewusst gestalten – ganz so, wie ich es in diesem Augenblick will. Möglicherweise hat das Kind schlechte Laune, weil ich es viel zu spät vom Spielplatz geholt habe und es total übermüdet ist. Also bleibe ich ruhig und tue alles, um es möglichst bald ins Bett zu bringen. Ich kann die Situation aber auch entschärfen, indem ich die Provokation übersehe, das Kind ablenke und ihm verstärkte Aufmerksamkeit schenke.

Auch in äußerst schwierigen Situationen im Leben kann ich mir klarmachen, dass ich trotz meiner Prägung durch meine körperliche Konstitution, meine Verhaltensmuster und Reaktionsmöglichkeiten in Bezug auf das Ereignis, mit dem ich jetzt konfrontiert bin, einen Entscheidungsspielraum habe: Ich muss nicht reagieren – ich kann. Ich kann mir die Situation anschauen. Meine Reaktion ist ein Prozess, den ich selber in Freiheit gestalten kann. Es steht mir frei, aktiv aus der Situation zu lernen, und ich bestimme selbst, wohin mich ein Ereignis führt. Diese Erfahrung ist nicht nur die Geburtsstunde eines gesunden Selbstbewusstseins. Sie ist auch die Geburtsstunde der Selbstverantwortung und inneren Freiheit. Der Mensch muss überhaupt nichts – er muss nicht einmal seinen Prägungen und Veranlagungen folgen. Er allein entscheidet, was er müssen, wollen und können möchte.

Viktor Frankl als Beispiel für Willensfreiheit

Covey nennt als Beispiel den in der Nazizeit im Konzentrationslager inhaftierten Professor für Neurologie und Psychiatrie Viktor Frankl (1905-1997), der von seiner Ausbildung her eigentlich ein Determinist, ein in der Freud‘schen Analyse geschulter Psychiater war.

Dann geschah das Wunder: Auf dem Gipfel der äußersten Unfreiheit entdeckte er seine innere Freiheit im Körperlichen, Seelischen und Geistigen. Er begann sich dessen bewusst zu werden, was er später „die letzte Freiheit des Menschen“ nannte: Diese Freiheit konnten ihm die Nazi-Schergen nicht wegnehmen, mochten sie seine Umgebung kontrollieren und mit seinem Körper machen, was sie wollten: Viktor Frankl blieb er selbst, seine Identität blieb erhalten. Er hatte ein Reich geistiger Freiheit und inneren Reichtums entdeckt, in das er sich aus der schrecklichen Umwelt zurückziehen konnte und beobachten, was mit ihm geschah. Und er fühlte sich frei zu entscheiden, wie er sich zu dem, was mit ihm geschah, stellen wollte: ob er zuließ, dass es ihn zerstörte oder ob es ihn in seiner Menschlichkeit weiterbrachte. So erlebte er einen Freiraum zwischen dem, was ihm widerfuhr, und seiner Reaktion darauf und entdeckte die Kraft, seine Reaktion selbst zu bestimmen: ob er ein typischer „KZler“ würde oder ein Mensch, der auch hier noch Mensch blieb und die Menschenwürde bewahrte.

Tröstliche Intensität durch Verinnerlichung

Bei sich und manchen Mithäftlingen beobachtete er eine verstärkte Tendenz zur Verinnerlichung, die, wann immer sich die Gelegenheit bot, zu intensiven Begegnungen mit Kunst und Natur führen konnte. So kam es vor, dass ein Mithäftling den neben ihm schuftenden Kameraden aufmerksam machte, dass die zwischen den Baumstämmen gerade untergehende Sonne hindurchleuchtete wie auf dem bekannten Aquarell von Dürer. Oder sie nahmen mit einer plötzlichen Ergriffenheit die vielgestaltigen und sich stets wandelnden Wolken wahr, die den Himmel belebten und in überirdische Farben tauchten. Aus solchen Eindrücken schöpften sie Kraft.

Die Intensität des Erlebens konnte sie die Umwelt und die ganze furchtbare Situation für heilige Momente vergessen machen. Frankl staunte selbst, wie die Gesichter der Kameraden vor Entzücken strahlten, als sie während der Bahnfahrt von Auschwitz in ein bayrisches Lager auf die Salzburger Berge hinausschauten, deren Gipfel gerade im Abendrot leuchteten. Menschen, die mit ihrem Leben praktisch abgeschlossen hatten, waren trotzdem – oder gerade deshalb? – hingerissen von dem jahrelang entbehrten Anblick der Schönheit der Natur, hinter der sie den Schöpfer ahnen konnten.

Inmitten all dieser Erfahrungen malte Frankl sich in Gedanken aus, wie er nach einer möglichen Befreiung aus dem Lager später seine Studenten unterrichten würde ganz anders als er es vor dem Lageraufenthalt getan hatte. Er stellte sich vor, wie er diese Erfahrungen für seine künftigen Hörer fruchtbar machen würde. Denn ihm war klar geworden, dass man dem Menschen nicht gerecht würde, wenn man ihn nur als Produkt seiner Gene, des Milieus, aus dem er stammt, und seiner bisherigen Konditionierungen und Konventionen auffasst.

Trotzdem Ja zum Leben sagen

Er kehrte schließlich aus dieser Hölle zurück in seine Vaterstadt Wien. Und obwohl er seine Eltern, seinen Bruder, seine Frau verloren hatte, war er frei von jeglichem Impuls nach Rache und Vergeltung. Sein Buch „...trotzdem Ja zum Leben sagen“[4] ist ein erschütternder Bericht über diese jahrelange Zeit unmenschlicher Behandlung, die geprägt war von Hungerqualen, Kälte, harter Arbeit und Schikanen, von unbeschreiblicher Hoffnungslosigkeit, weil kein Ende dieser Zeit abzusehen war, wohl aber täglich der mögliche Tod vor Augen stand.

Das war mit Sicherheit eine der extremsten Situationen, um die Freiheit des Willens zu entdecken und die freie Willensausübung zu schulen. Zugleich ist uns damit eines der trostreichsten Beispiele geschenkt: Es macht deutlich, zu welch übergroßen Leistungen der Mensch fähig ist. Jeder erlebt im Laufe seines Lebens an irgendeiner Stelle Machtübergriffe, ohne sich wehren zu können. Wer bei sich die Möglichkeit entdeckt, zu bestimmen, inwieweit das Ereignis ihr/ihm schadet, hat den Schlüssel für den Umgang mit Macht in die eigene Hand genommen.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 1. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997


[1] Stephen R. Covey, Die sieben Wege zur Effektivität; im englischen Original klingt der Titel allerdings wesentlich inspirierender: The seven habits of highliy effective people.

[2] A.a.O., S. 67ff.

[3] In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass es im 20. Jahrhundert zwei herausragende Autoren gibt, die dieses Missverständnis über den freien Willen als solches entlarvt und richtiggestellt haben. Erkenntnistheoretisch und philosophisch wurde es durch Rudolf Steiner dargestellt in seinem Buch Die Philosophie der Freiheit; empirisch geschah es durch Viktor Frankl, der im Zustand größter Unfreiheit während der Gefangenschaft im Konzentrationslager seine innere Freiheit entdeckte und darauf dann seine spätere Psychotherapie vom Erringen der richtigen Einstellung zum Leben aufbaute.

Siehe auch Viktor Frankl, Zeit der Entscheidung, In: ders., Was nicht in meinen Büchern steht. Weinheim/Basel, 3. Aufl. 2009;

[4] Viktor Frankl, „...trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“, dtv, 21. Aufl. München 2002.

MACHT UND FREIHEIT

Inwiefern hängen Macht und Freiheit zusammen?

Wird uns Macht gegeben oder sind wir als Menschen per se mit Macht begabte Wesen?

Fünf wesentliche Aspekte von Macht

Es gibt fünf Aspekte der Macht, die ich im Folgenden nennen möchte:

1. Auch Ohnmacht ist Macht

Selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, so sind wir doch alle machtvolle Wesen, selbst wenn wir uns ohnmächtig fühlen und aus diesem Gefühl heraus NICHTS tun. Auch dann haben wir von unserer Macht Gebrauch gemacht und Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte ausgeübt. Jeder beeinflusst den anderen, wir alle haben Einfluss auf das Ganze.

2. Willensäußerung als Machtausdruck

Jede Form von Willensäußerung ist zugleich ein Ausdruck unserer Macht. In welchem Kontext wir das erproben und einsetzen, hat mit dem Lebensalter und der Reife zu tun. In der sogenannten Trotzphase oder Autonomiephase erlebt das Kind erstmals seine Macht „nein“ zu sagen. Ohne diese Erfahrung könnte es auch nie bewusst und voll verantwortlich zu etwas oder jemandem „ja“ sagen.

3. Beziehung als Raum der Machtausübung

Grundsätzlich gesehen, ist die Beziehung der Raum, in dem die Wirkung unserer Taten, Gefühle und Gedanken zum Tragen kommt. Hier zeigt sich, ob das, was wir in diesem Beziehungskontext denken, fühlen und tun negative oder positive Eigenschaften bei uns hervorruft, ob wir uns gefangen und ohnmächtig oder frei und verantwortlich fühlen.

Würde das heißen, dass man jeden Konflikt auch einseitig bewältigen kann?

Grundsätzlich gehören zwei zu einem Konflikt. Tritt der eine beiseite und kämpft nicht mehr mit, ist jeder Streit beendet. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Beziehung dadurch automatisch „gerettet“ ist. Bei jedem Machtkonflikt habe ich zwei Möglichkeiten:

  • Ich kann mich ändern, unterziehe mich einer Schulung. Das macht immer Sinn. So gesehen kann ein Gewinn im Aushalten gewisser „unerträglicher“ Situationen liegen. Allein das ändert manchmal die Situation.
  • Oder ich entscheide mich zu gehen, die Beziehungssituation zu verlassen. Als Rudolf Steiner einmal gefragt wurde, ob es Gründe gäbe, eine Ehe zu trennen, antwortete er sinngemäß: „JA, wenn dadurch ein Partner in seiner Entwicklung behindert wird“. Solch eine Entscheidung für oder gegen eine Beziehung verlangt Mut und Ehrlichkeit sich selbst und dem anderen gegenüber.
Wille und Konstitutionsebenen

Es kann eine Hilfe sein, Willensäußerungen auf den unterschiedlichen Konstitutionsebenen des Menschen anzuschauen:

  • Physische Ebene:

Wille als Fakt geäußert, kann unmittelbar etwas bewegen.

  • Ätherische Ebene:

Wille in der Zeit gesehen resultiert in den biografischen Ereignissen.

  • Astralische Ebene:

Wille im Seelischen wirkt auf die Beziehungsgestaltung, die Art, wie wir aufeinander wirken und der Beziehung ihre besondere Qualität geben.

  • Ich-Ebene:

Hier üben wir Macht aus Kraft unserer Ich-Persönlichkeit. Ob man sich als Täter oder als Opfer erlebt, entscheidet nicht die Tat, die man erleidet, sondern die Art, wie das Ich damit umgeht, welchen Standpunkt es einnimmt – den des Opfers oder den des Täters, der weiß, dass er IMMER Verantwortung trägt für sein Leben.

Eindrucksvolle Beispiele für die Macht ich-haften Willens
  • Victor Frankl

Ein berühmtes Beispiel ist Victor Frankl, der sich auch als Gefangener im KZ innerlich als Täter seines Lebens sah, insofern als er sich verantwortlich fühlte für seine Reaktionen. Die Opferrolle, das Negieren seiner Entscheidungsmacht, war gegen seine Würde – und so kam er als Eingeweihter aus der Gefangenschaft zurück. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse gab er in seinem Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“[1] weiter. Das Ich entscheidet, wie es mit seiner Macht umgeht.

  • Iphigenie

Ein anderes Beispiel für die Macht des Willens aus dem Ich gibt uns Iphigenie,[2] als sie zum König, auf dessen Insel sie Zuflucht gefunden hatte und der sie mit ihrem Bruder Orest mit Schimpf und Schande davonjagen wollte, sinngemäß sagte: „So nicht, mein König. Ich schulde dir Dank bis ans Ende meiner Tage.“ Daraufhin ringt sich der König dazu durch, ihnen Lebewohl zu wünschen. Dadurch verwandelte sich im Moment des Abschieds die ganze Beziehung in Richtung Frieden anstelle von Streit.[3]

Das ist ein wunderbares Beispiel für proaktives Handeln aus dem Ich heraus. Das ist IchKultur. Aus dieser Instanz, aus diesem Machtbewusstsein heraus können wir jeden Machtmissbrauch heilen, stoppen und verwandeln. Dadurch können wir sogar die Täter-Opfer-Rolle in unserem Bewusstsein umdrehen, wie wir es am Beispiel von Jesus vor Pilatus sehen können, als er sagte: „Du hättest keine Macht über mich, wäre sie Dir nicht von einem Höheren gegeben.“[4]

4. Macht Gottes - Macht des Schicksals

Beim Schicksalsaspekt geht es um die innere Grundausrichtung: Ob ich das, was mir begegnet, als von Gott oder den Schicksalsmächten „geschickt“ ansehe. Denn wenn ich das, was mir vom Schicksal geschickt wird, annehme als Herausforderung und Aufgabe, an der ich wachsen kann, werde ich genau in diesem Bereich meiner früheren Schwäche geschickt. Dann habe ich gelernt aus den Schicksalsherausforderungen und habe Geschicklichkeit im Sinne von neuen Fähigkeiten entwickelt.

Manchmal bremst uns das Schicksal aus, manchmal müssen wir selber erst „auf die Nase fallen“. Denn hier geht es um Selbsterziehung: dass wir im Laufe unseres Lebens lernen, konstruktiv mit Machtkonflikten umzugehen. Unter diesem Blickwinkel wird das Leben zum großen Erzieher des Charakters. Dann werden wir zunehmend zu „pflegeleichten“ Menschen, die wissen, dass die Entscheidung, wie sie mit einer Situation umgehen, immer bei ihnen liegt.

5. Macht im christlichen Wertekontext

Jeder, der das Christentum zu verstehen anfängt, begreift, dass die Schicksalssituation als Teil einer Gesamtevolution, die zur Freiheit tendiert, angesehen werden darf. In diesem großen Entwicklungsstrom können wir uns als tief geborgen empfinden, wie es der Theologe Dietrich Bonhoeffer[5] zur vor seiner Hinrichtung so schön ausdrückt:

Von guten Mächten wunderbar geborgen

Erwarten wir getrost was kommen mag

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Machtmissbrauch als Kehrseite der Freiheit

Im Zentrum unserer Entwicklung steht die Freiheit – und das ist zugleich der Kern des Problems. Machtmissbrauch ist der Preis für die Freiheit. Freiheit bedeutet, dass man sich für das eine oder das andere entscheiden kann. Worum es im Grunde geht, drückte Jesus aus, als er sagte: „Vater, nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.“ Göttlicher Wille nimmt sich vollkommen zurück und lässt den menschlichen Willen mit all seinen Abirrungen zu.

Auf der Ich-Ebene gibt es immer beide Möglichkeiten, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen:

  • klein beizugeben und sich dem fremden Wollen zu unterstellen oder
  • den Eigenwillen zu behaupten und dem anderen trotzdem seinen Willen zu lassen.

Das tiefste Macht- und Willensgeheimnis offenbart sich, wenn wir einerseits verstehen, dass es die Freiheit ist, die alle Wunden schlägt, die mit Machtmissbrauch zu tun haben, und dass andererseits die Liebe alle Wunden heilen kann. Rudolf Steiner sagte, dass Freiheit und Liebe zwei Seiten ein und derselben Sache seien. Machtmissbrauch ließe sich durch Verständnis heilen, dem Verzeihen und Vergeben folgt. Das ist Liebe in geistiger Form.

Das Machtthema ist das tiefste und wichtigste Thema der heutigen Zeit. Die Zukunft gehört denen, die bewussten Gebrauch von ihrem Willen machen.

Vgl. Vortrag „Macht und Freiheit“ an der Waldorfschule Heidenheim 2011


[1] Victor E. Frankl, Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychiater erlebt das Konzentrationslager, 7. Aufl. München 1995.

[2] Johann Wolfgang von Goethe, Iphigenie auf Tauris ist ein Bühnenstück von nach der Vorlage von Euripides’ Iphigenie bei den Taurern.

[3] Das Drama „Iphigenie auf Tauris“ handelt von der Priesterin Iphigenie, die auf der Insel Tauris lebt. Iphigenie wird auf der Insel verehrt und geliebt. Allerdings hat sie starkes Heimweh und möchte unbedingt zurück zu ihrer Familie. Eines Tages kommt ihr Bruder Orest auf die Insel. Als ans Licht kommt, wer Iphigenie wirklich ist, und dass Orest die Staute der Diana von der Insel stehlen will, nimmt die Handlung eine spannende Wendung. Iphigenie muss sich entscheiden, ob sie gemeinsam mit ihrem Bruder von Tauris flieht oder zurückbleibt. Schlussendlich schaffen es beide, die Insel gemeinsam zu verlassen und nach Hause zurückzukehren.

(https://studyflix.de/deutsch/iphigenie-auf-tauris-zusammenfassung-3858, ges. 03.08.2023).

[4] Neues Testament, Johannes 19, 11.

[5] Dietrich Bonhoeffer (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossenbürg) war ein lutherischer Theologe und profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche. Er war am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt. (https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Bonhoeffer, ges. am 03.08.2023).