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Partnerschaft und Ehe: Unterschied zwischen den Versionen
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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | ||
== ÜBER EHE, PARTNERSCHAFT UND FREIHEIT == | |||
''Wie weiß man, ob der Freund, mit dem man zusammen ist, die Person ist, mit der man sein ganzes Leben verbringen wird?'' | |||
Das Schöne ist, dass man es nicht weiß. Die einzige wichtige Frage ist, ob man es WILL. Wenn man es will, kann man es auch. | |||
=== ''Versprechen der Lebensgemeinsamkeit'' === | |||
Das Geniale am Sakrament der Christengemeinschaft ist die Formulierung des Traurituals: Man verspricht einander die ''Lebensgemeinsamkeit''. Man verspricht nicht, dass man nie mehr mit einem anderen zusammen sein will, dass man dies und jenes nicht tun würde. Vielmehr verspricht man dem anderen Menschen, ihm treu zu sein durch das ganze Leben hindurch und mit ihm gemeinsam zu leben. Man heiratet auch den Schicksalsumkreis des Freundes. Wenn das Interesse am andern nicht nachlässt, kann man auch Zeiten als bereichernd erleben, in denen andere Freundschaften dazwischenkommen. Man erzählt sich gegenseitig davon, man spricht darüber, weil es die Ehe, die Lebensgemeinsamkeit, nicht tangiert. Und selbst wenn es sie tangiert, bleibt es im menschlichen Bereich, solange man darüber spricht und sich austauscht darüber, was man empfindet. Dann ist es möglich, einander selbst zu solchen Zeiten zu verstehen und zu begleiten. Auf diese Weise kann man auch Möglichkeiten finden, damit zurechtzukommen. | |||
Darin äußert sich der zukunftsweisende Wunsch nach Freiheit. Der Individualismus und der Freiheitsdrang regen sich im Menschen, weil sie seine Zukunft sind. Wir brauchen neue Formen von Ehe und Gemeinsamkeit, in denen der Respekt vor dem Individuum erhalten bleibt. Man muss doch sein eigenes Leben weiterleben können, auch wenn man verheiratet ist. Wer weiß denn, wen man noch treffen wird, welche Erfahrungen noch auf einen zukommen! Andererseits ist es etwas unheimlich Schönes, mit einem Menschen zusammen alt zu werden. Das ist wirklich eine besondere Erfahrung. | |||
=== ''Persönliche Erfahrung'' === | |||
Ich bin jetzt 34 Jahre mit meinem Mann zusammen.[1] Er ist 12 Jahre älter als ich, ist quasi schon ein alter Mann. Wir merken aber, die Ehe wird immer schöner durch das reifer und weiser Werden und die Fähigkeit, die Dinge anders zu sehen. Man kann über vieles ganz anders sprechen, wenn man älter wird. Diese Qualitäten können nicht erlebt werden, wenn man aus Angst vor einer Bindung nur Lebensabschnittepisoden und -partnerschaften lebt. Diese Partnerschaften sind viel besser als nichts, doch die vorhin beschriebene Lebensgemeinsamkeit ist ein Schulungsweg, auf dem man unglaublich viel lernt. Viel mehr, als wenn man sich nur den geeigneten Partner für den letzten Entwicklungsstand aussucht. | |||
Für mich besteht das Ideal der Ehe darin – und das versuchen mein Mann und ich zu leben – dass man beides kombiniert: dass jeder machen kann, was er will, und dass man trotzdem zusammenlebt. Freiheit und Liebe sollten im Gleichgewicht sein, es sollte nicht eines gegen das andere ausgespielt oder auf Kosten des anderen gelebt werden. So braucht man keine Angst zu haben vor dem Heiraten. Die Ehe als Gefängnis aufzufassen, ist furchtbar. Viele junge Leute wollen aus diesem Grund heute nicht mehr heiraten. | |||
* Viele sagen heute: ''„Ich will frei bleiben, also heirate ich nicht.“'' | |||
* Das andere Extrem wäre zu sagen: ''„Ich liebe meinen Partner und deshalb ist er jetzt mein Besitz.“'' Sich gegenseitig die Freiheit einzuschränken und sich ständig Vorwürfe zu machen, ist ein totaler Albtraum. | |||
=== ''Freiheit und Liebe kombinieren'' === | |||
Dabei geht es darum, Freiheit und Liebe zu kombinieren – und genau das wird im Trauritual der Christengemeinschaft formuliert. Kinder erinnern sich ja auch gerne ein Leben lang an ihre Kindheit, sie behalten ihren Namen und bleiben ihren Eltern ein Leben lang verbunden, auch wenn sie eines Tages von zuhause weggehen und die eigene Freiheit genießen. | |||
''Warum sollte man dem eigenen Partner nicht auch diese Freiheit in Liebe zugestehen?'' | |||
Das ist in der Ehe auch möglich – wenn man zusammenbleibt. Es bedeutet einen großen Kraftzuwachs, wenn man sich im täglichen Leben hilft und beisteht und sich über diese Basis hinaus auch echt für das Schicksal des anderen interessiert. Dann versteht man, warum der Partner welche Freunde hat, warum vieles bei ihm so ist, wie es ist, und warum er manche Sachen nicht mag und nicht macht, die man selbst mag und macht. | |||
Mann und Frau sind so unterschiedlich. Wenn man zusammenlebt, merkt man erst, wie einseitig man ist. Das zu erkennen ist ganz wichtig für die eigene Entwicklung. Wenn man mit Freunden zusammen ist, ist man viel weniger individuell und „einzeln“, als wenn man mit jemandem zusammenlebt, der bis in die Ausgestaltung des Körpers wirklich anders ist. | |||
''Vgl. Gespräch mit jungen Menschen'', ''IPMT in Santiago di Chile 2010'' | |||
----[1] Das war 2010, inzwischen ist Georg Glöckler gestorben. | |||
== EHE ALS GEMEINSCHAFT ZWEIER INDIVIDUALITÄTEN == | |||
''Wie können sich zwei Individuen so verbinden, dass sie eine Gemeinschaft bilden und doch ihre Eigenständigkeit nicht verlieren?'' | |||
''Welche Herausforderungen und Aufgaben bringt das mit sich?'' | |||
=== ''Die Falle der Projektion'' === | |||
Eine Vielzahl von Eheproblemen hängt damit zusammen, dass man bei der Suche nach sich selbst und nach dem Sinn der eigenen Existenz das Gesuchte in den Partner projiziert und nun meint, im anderen das eigene Selbst gefunden zu haben. Auch wenn wir an der Begegnung mit unserem Partner zur immer genaueren Erkenntnis des eigenen Wesens gelangen, so bleibt uns doch ein Rätsel, wer der andere wirklich ist. Davon können wir uns nur immer wieder aufs Neue ein Bild zu machen versuchen. | |||
Hat man die Suche nach sich selbst mit der Suche nach einem Partner verwechselt, so muss man oft auf schmerzliche Weise lernen, dass der andere doch ganz anders ist und ein anderes Schicksal hat als man selbst – auch oder gerade, wenn zunächst durch das Zusammenkommen zweier Polaritäten ein grenzenloses Harmoniegefühl entstanden war und man sich ganz einig und eins fühlte, weil sich zwei unterschiedliche Seelen- und Körperarten wunderbar ergänzten. Zwischen den unterschiedlichen Polen von Mann und Frau besteht eine naturgegebene seelische und körperliche Anziehung. | |||
=== ''Streben nach Weiterentwicklung als Konfliktpotential'' === | |||
In beiden Partnern aber lebt ein ganz individuelles Menschen-Ich, das sich aus der Harmonie heraus eines Tages wieder stärker zu regen beginnt und nach Weiterentwicklung verlangt. Das Geistig-Individuelle, das in Seele und Körper lebt und unablässig wirkt, weil es reiner Geist ist, beginnt nach einer Zeit zu großer Harmonie mit dem Partner zu revoltieren: Es war im Erleben der Gemeinsamkeiten vorübergehend wie untergetaucht. Manchmal fragen Menschen sich nach einer solchen Phase: ''Wo war ich bloß die ganze Zeit?'' | |||
Mit einem Mal ist der Abstand wieder da und die Einsamkeit des Ich wird wieder erlebbar. Die Suche nach „sich selbst“ wird dem Menschen nicht abgenommen dadurch, dass er einen Lebensgefährten gefunden hat. | |||
In dieser Art Krisensituation haben es die Frauen noch immer wesentlich schwerer als die Männer, denen man die Notwendigkeit zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung eher zugesteht. Das Ich der Frau wird gerne mit ihren körperlichen und seelischen geschlechtsgebundenen Eigenschaften gleichgesetzt. Es ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten, dass jeder im anderen den geistigen Wesenskern als einmalig, allgemein-menschlich und unverwechselbar anerkennt. | |||
=== ''Interesse für den anderen und Kontinuität'' === | |||
Andererseits ist es schier unmöglich, in Eheschwierigkeiten zu geraten, wenn jeder innerlich sicher seinen Weg geht und sich für das Ergehen des anderen brennend interessiert, wenn man sich miteinander über die Suche nach dem eigenen Weg unterhalten kann und man die Abgründe und Einsamkeit, mit denen beide immer wieder zu kämpfen haben, als notwendige Marksteine der inneren Entwicklung akzeptieren kann. Viele Konflikte hängen gerade damit zusammen, dass über all das nicht offen gesprochen werden kann und jeder vom anderen meint, dass dieser ihn „nicht versteht“, vielleicht sogar „nie verstanden hat“, dass das harmonische Zueinanderfinden nur eine schöne Illusion war. | |||
Fasst man die Ehe als Gemeinschaft zweier Individualitäten auf, die sich gegenseitig in ihrer Entwicklung fördern wollen, so wird sie zu einem fruchtbaren Übungsfeld, das nur in der Kontinuität als solches zu erfahren ist. Denn eine Eigenschaft des Ich ist die Kontinuität. Unser geistiger Kern, unsere Ich-Identität, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie nicht schwankt wie unser Seelenleben. Gefühle können sehr unterschiedlich sein, je nachdem, was wir erleben. | |||
=== ''Dauerhafte Verbindung von Ich zu Ich'' === | |||
Aber alles, was wir dauerhaft in unserem Seelenleben pflegen – bleibende Neigungen, Ideale, bestimmte Entschlüsse, die wir durchtragen – wird Teil unseres Ich, unserer ewigen Persönlichkeit. Allem, womit wir uns im Ich verbinden, verleihen wir Dauer. Das heißt aber auch, dass wir es nicht mehr verlassen. | |||
Eine Ehe ist im Grunde erst dann eine Ehe, wenn sie von Ich zu Ich aus Interesse am Wesen des anderen geschlossen wird. Eine solche Beziehung ist von Dauer, weil sie geistig wesenhaft ist. Ehen, die zerbrechen können, sind nicht von Ich zu Ich geschlossen worden. Da haben andere Motive vorgeherrscht. Wenn man vom Ich aus in Beziehung zu jemandem tritt, wird man frei von der naturgegebenen körperlichen und seelischen Anziehung. Man fragt dann nicht mehr danach, was man selbst vom anderen braucht, sondern bemüht sich aus Interesse für das Ich des anderen herauszufinden, was der andere von mir braucht. | |||
''Vgl.'' ''Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987'' | |||
== SPIELARTEN DER LIEBE IN DER PARTNERSCHAFT == | |||
''Auf welchen Ebenen kann Liebe gelebt werden in Partnerschaften?'' | |||
=== ''Liebe und Wesensschichten'' === | |||
Wir können uns als Liebende in allen Schichten unseres Wesens erleben und bewegen, im Physischen, im Ätherischen, im Seelischen und im Ich. Entsprechend gibt es unterschiedliche Spielarten der Liebe. | |||
==== '''·''' Sexuelle und erotische Liebe ==== | |||
Die an den physischen Leib gebundene Liebe, die Sexualität, und die an die Lebensorganisation, den Ätherleib, gebundene Erotik, sind eng gekoppelt an die jeweiligen Bedürfnisse der Partner. Sie sind naturgemäß geprägt von einer starken Selbstbezogenheit. | |||
==== '''·''' Seelisch geprägte Liebe ==== | |||
Die seelisch geprägte Liebe, die im Seelischen, im Astralleib, wurzelt, wird im Griechischen Philia genannt. Bei dieser Liebe ist ebenfalls ein starker Selbstbezug vorherrschend: Beide Partner leben seelisch stark voneinander und füreinander. Ihr Schenken ist jedoch stets auch mit der Erwartung zu empfangen verbunden. Wird diese Erwartung enttäuscht oder glaubt man sich vom anderen nicht mehr so innig und ausschließlich geliebt, so kann diese Liebe in Hass oder Eifersucht umschlagen. Sie lebt vom ständigen Geben und Nehmen, mal gibt mehr der eine, mal mehr der andere. Es ist die Liebe, die Freundschaften bestimmt, die ihr Auf und Ab haben, durch Krisen gehen, die zerbrechen können, aber auch einmalig und wunderschön sind und einen ganz elementaren Bestandteil unseres Menschenlebens darstellen. | |||
==== '''·''' Ich-hafte Liebe ==== | |||
Wenn man nicht mehr danach fragt, was man selbst vom anderen braucht, sondern wenn man sich bemüht aus Interesse für das Ich des anderen herauszufinden, was der andere von einem braucht, tritt man in einen Bereich der Liebe ein, den man „christliche Liebe“ nennt, weil sie schenkend ist. | |||
Im 1. Korintherbrief des Paulus, dem Hohelied der Liebe, werden die Eigenschaften der Liebe beschrieben: | |||
''„Sie ist langmütig und freundlich, sie kennt keinen Neid, keine Prahlerei, ist immer wahr und echt, verletzt nicht, treibt die Selbstsucht aus, trägt Böses nicht nach, sie erträgt alles, hofft auf alles, ist unsäglich geduldig und vertrauensvoll.“[1]'' | |||
Wir sehen, hier werden Qualitäten des Ich beschrieben. Da das Ich aber auch in Seele und Leib tätig ist, haben wir natürlich auch hier mit den mit Leib und Seele zusammenhängenden Formen von Liebesäußerungen zu tun. Die Erfahrungen der Liebe sind umso beseligender, je mehr sie im Ich empfangen und von ihm gegeben werden und damit in der Freiheit der beiden Persönlichkeiten begründet sind. | |||
''Vgl.'' ''Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987'' | |||
----[1] Neues Testament, ''1. Korinther'' 13, 4-7. | |||
== FREUNDSCHAFTEN DES PARTNERS MITTRAGEN == | |||
''Wie kann man konstruktiv damit umgehen, wenn der Partner eine enge Beziehung zu einem anderen Menschen eingeht?'' | |||
''Welche Gesichtspunkte können hilfreich sein für das Verständnis und die Bewältigung einer solchen Situation?'' | |||
=== ''Ehe als Verbindung zweier Lebenskreise'' === | |||
Bei der Hochzeit begegnen sich Verwandte und Freunde der beiden Partner: Einander im Grunde wildfremde Menschen bieten sich bei klingenden Gläsern das Du an – d.h. die Ehe wirkt sich als ein im Sozialen verbindendes Ereignis auf den Alltag zweier Menschenkreise aus. Damit ist noch eine weitere Herausforderung verbunden: Ein Prozess ist in Gang gekommen, der seine Fortsetzung findet und an dem die Ehe eines Tages auch wieder zerbrechen kann. | |||
Denn der menschliche Umkreis der Partner, ihr jeweiliges Schicksalsfeld und ihre Beziehungen sind ja mit der Eheschließung nicht in einen Ruhezustand eingetreten, sondern wachsen weiter. Und so fordert das Ernstnehmen des anderen auch ein echtes Interesse für die Beziehungen, die der andere hat oder neu eingeht. Gelingt es nicht, die Menschen, die ihm wichtig sind, so in das eigene Seelenleben mit aufzunehmen, wie man es bei der Hochzeit mit den Verwandten und Freunden des Partners versucht hat, so kann die Intensität neuer Freundschaften auf die Ehe sprengend wirken, statt sie zu bereichern. Wäre mit dem Entschluss zur Lebensgemeinsamkeit der Ehe gleichzeitig der Entschluss verbunden, das Schicksal des anderen mit den ihm verbundenen Menschen ebenfalls zu heiraten, so könnten viele menschlich zunächst kompliziert erscheinende Konstellationen in gesunde, alle Beteiligten fördernde Bahnen kommen. Dann können Eifersucht und Gleichgültigkeit viel leichter im Keim erstickt und überwunden werden. | |||
=== ''Über sich und den anderen lernen wollen'' === | |||
Auch hier erweist sich der Wunsch, das Beste aus diesen Konstellationen zu machen, über sie zu sprechen und aus ihnen etwas über sich und den anderen zu lernen, als segensreich. Liebe schenken und Liebe genießen fallen im Leben zeitlich nicht immer zusammen. Wenn wir das erfahren, erkennen wir auch, wie schwer es ist, diese schenkende, ich-getragene geistige Liebe aufzubringen, wenn man bisher den selbstbezogenen Liebesgenuss als Zentrum der Gemeinsamkeit empfunden hatte. Eifersuchtsgefühle, Verzweiflung, Leere und Sehnsucht nach dem Verlorenen wecken den Betroffenen auf für die Einseitigkeit und Geistferne, von der seine Liebe zum Ehepartner bisher geprägt war. | |||
Wenn man sich dagegen brennend dafür interessiert, warum gerade dieser neu hinzugekommene Mensch dem anderen so viel bedeutet, haben Empfindungen des Enttäuscht-Seins keinen Platz. Eine derartige Lebenshaltung mag dem einen oder anderen von Ihnen wirklichkeitsfremd erscheinen. Sie wird jedoch jedem sofort einleuchten, der das Eheleben als einen Weg ansieht, den anderen in seiner Entwicklung zu fördern und sich selbst mit der geistigen Welt und den die Menschheit leitenden Lebensidealen in Beziehung zu setzen. | |||
So möge die Liebe zur heranwachsenden Generation, die noch härteren Zeiten entgegengeht als die unsrige, dazu beitragen, dass wir immer wieder die nötige Bereitschaft und Begeisterung dafür aufbringen, unsere sozialen Beziehungen gerade im häuslich-alltäglichen Bereich in menschenwürdige Bahnen zu lenken. | |||
''Vgl.'' ''Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987'' | |||
== MANN UND FRAU – UNTERSCHIEDE IM KÖRPERLICHEN BEREICH == | |||
''Inwiefern haben die Unterschiede zwischen Mann und Frau im körperlichen Bereich mir ihrem unterschiedlichen Denken und Fühlen zu tun?'' | |||
''Wie lassen sich die Unterschiede von Körper, Seele und Geist von Mann und Frau entwicklungsphysiologisch erklären?'' | |||
=== ''Enger Zusammenhang zwischen körperlicher Konstitution und Seelenleben'' === | |||
In körperlicher Hinsicht sind Mann und Frau elementar verschieden. In seelisch-geistiger Hinsicht gibt es ebenfalls signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern. So besitzt das Denken des Mannes eine deutlich andere Arbeitsdynamik und einen anderen Duktus als dasjenige der Frau. Eine Frau kann sich durch Übung manches von der typisch männlichen Denkart aneignen, so wie es umgekehrt auch für den Mann möglich ist, die weibliche Denkart bis zu einem gewissen Grad zu erlernen. Dennoch gibt es typische Unterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Seelenleben, weil die seelische Entwicklung eng mit der körperlichen Konstitution zusammenhängt und dort die Verschiedenheit evident ist. | |||
{| class="wikitable" | |||
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|FRAU | |||
|MANN | |||
|- | |||
|Muskulatur | |||
|weniger | |||
|mehr | |||
|- | |||
|Fettansatz | |||
|mehr | |||
|weniger | |||
|- | |||
|Körpergröße | |||
|weniger | |||
|mehr | |||
|- | |||
|Verknöcherung des Kehlkopfes | |||
|keine | |||
|liegt vor | |||
|- | |||
|Körpergewicht | |||
|weniger | |||
|mehr | |||
|- | |||
|Geschlechtsorgane | |||
|auf Empfangen und Reifen-Lassen hin orientiert | |||
|auf Geben und Entwicklung-Anstoßen hin orientiert | |||
|- | |||
|Brust | |||
|auf Geben hin orientiert, wandel- und verletzbar | |||
|auf Zurückhalten hin orientiert, stabil | |||
|} | |||
=== ''Entwicklungsphysiologische Besonderheiten'' === | |||
Bis zur siebten Woche der Embryonalentwicklung sind der weibliche und der männliche Körper äußerlich völlig gleich gebildet, beide sind männlich-weiblich veranlagt. Erst in der sechsten bis achten Woche „obliteriert“ die jeweils entgegengesetzte Geschlechtsanlage, d.h. sie bildet sich zurück: Jetzt kommen die Geschlechtschromosomen im männlichen und weiblichen Organismus so zur Wirksamkeit, dass das jeweils andere Geschlecht sich wieder zurückbilden muss und nur kleine Rudimente vom anderen Geschlecht im eigenen Organismus zurückbleiben. Diese Rudimente (Reste) der Organanlagen des anderen Geschlechts erinnern zeitlebens daran, dass der Mensch eigentlich androgyn bzw. männlich-weiblich veranlagt ist. Die potentielle Möglichkeit, das andere Geschlecht zu entwickeln, bleibt sogar so effizient erhalten, dass sie zeitlebens z.B. durch Hormongaben aktiviert werden kann. Wird eine Frau bei bestimmten Formen der Krebserkrankung mit männlichen Sexualhormonen behandelt, entwickelt sie eine tiefere Stimme und der Kehlkopf kann verknöchern, wenn die Dosierung nicht niedrig genug gehalten wird. Sie kann dann auch normalen Bartwuchs entwickeln, wohingegen die Brustentwicklung zurückgeht – die männlichen sekundären Geschlechtsmerkmale dominieren mehr und mehr. Dasselbe ist auch bei einem Mann zu beobachten, wenn er eine Östrogentherapie erhält. Er feminisiert, d.h. das Muskelgewebe nimmt zugunsten eines typisch weiblichen Fettansatzes ab. | |||
Interessant ist nun, dass zu der Zeit in der Embryonalentwicklung (7. Woche), in der das jeweils andere Geschlecht sich zurückbildet, gleichzeitig die Großhirnbläschen aussprossen, die die Grundlage für das spätere Denkorgan bilden. Die Großhirnentwicklung vollzieht sich also parallel zur Rückbildung des entgegengesetzten Geschlechtes! Das Gehirn weist schon bald nach der Geburt kaum weitere zelluläre Neubildung auf. Die Nervenzellen können nicht nachwachsen und sind noch dazu sehr empfindlich gegenüber Sauerstoffmangel. Sie können leicht absterben oder degenerieren – ganz im Gegensatz zu den Fortpflanzungsorganen, die ständig neue Zellen bilden und diese zur Reife bringen; hier findet eine intensive zelluläre Aktivität statt. Betrachtet man diesen Tatbestand nun im Zusammenhang mit der Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedankenkräfte, muss man sich fragen, was mit den zurückgestauten Fortpflanzungskräften des jeweils anderen Geschlechtes geschieht, die physisch nicht zur Ausreifung der Organe verwendet werden. | |||
=== ''Interessante Arbeitshypothese'' === | |||
Die Arbeitshypothese, dass die volle Lebenstätigkeit des jeweils anderen Geschlechts, das im eigenen männlichen bzw. weiblichen Körper nicht zur Ausprägung kommt, als leibfrei aktive Gedankenkompetenz zur Verfügung steht, macht durchaus Sinn: Beobachtet man daraufhin das eigene Denken und das des Partners oder Freundes anderen Geschlechts, so entdeckt man, wie der andere funktionell dieselbe Dynamik in seinem Denken hat, die man selber körperlich auf sexueller Ebene auslebt. | |||
''Wie sonst wäre es verständlich, dass Frauen so viel lieber Shoppingtouren machen als Männer, sich durch die Sinne anregen lassen, was sie kaufen wollen, ungerne Einkaufszettel schreiben und die Spontaneität weit mehr lieben als der Mann?'' | |||
''Oder warum alle großen Philosophien von Männern entwickelt wurden?'' | |||
Nur dank ihrer im Denken wirksamen weiblich-genitalen Funktionsdynamik sind Letztere in der Lage, ein System in Ruhe reifen zu lassen und gedanklich mehr nach innen orientiert zu sein. Das Interessante an einer solchen Betrachtung ist, dass alles, was einen oft als „typisch anderes“ am anderen stört, der Funktionsdynamik des eigenen Geschlechts entspricht – in Form von gedanklicher Tätigkeit. | |||
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997'' | |||
== METAMORPHOSE DER WACHSTUMSKRÄFTE IM HINBLICK AUF MANN UND FRAU == | |||
''Was sagt der Zusammenhang von Denken und Wachstumskraft über den Unterschied von Mann und Frau aus?'' | |||
''Wie zeigen sich die Unterschiede bereits in der Embryonalentwicklung?'' | |||
=== ''Unterschiedlicher Leib-Seele-Zusammenhang'' === | |||
Dem Leib-Seele-Zusammenhang verdanken wir u.a. die Fähigkeit, unser Seelenleben und unsere Art zu denken und zu empfinden lebenslang immer weiter zu entwickeln. Wir sind in der Lage, durch die Art unseres Denkens zerstörend oder aufbauend auf unseren Leib zurückzuwirken und ihn über längere Zeiträume in seinen Funktionen zu beeinflussen. | |||
Dieser Leib-Seele-Zusammenhang, der sich bei Mann und Frau unterschiedlich gestaltet, hilft uns, die Verschiedenheit von Mann und Frau in körperlicher und seelischer Beziehung zu verstehen. Alle psychologischen Studien und Abhandlungen darüber können kein wirkliches Verständnis bewirken, wenn man diese Zusammenhänge nicht gleichzeitig berücksichtigt. Im Folgenden gehe ich näher darauf ein, wie sich die Unterschiede im Physischen bereits in der Embryonalzeit herausbilden und welche Auswirklungen das auf die anderen Wesensebenen hat. | |||
=== ''Entwicklung der Fortpflanzungsorgane beim Embryo'' === | |||
Jeder Mensch hat 22 Chromosomenpaare (Autosomen) und dann noch zwei spezielle, die sein Geschlecht bestimmen. Nun könnte man annehmen, dass sich gleich von Anfang der Embryonalentwicklung an zeigt, ob der Embryo ein Junge oder ein Mädchen wird. Die Natur macht es jedoch seltsam umständlich: Beim 3-4 Wochen alten Embryo können Sie die folgenden Entwicklungsstadien beobachten: | |||
* Die sogenannten Urkeimzellen beginnen in die Region der zu bildenden Fortpflanzungsorgane einzuwandern und die Entwicklung der Keimdrüsen zu induzieren (zu veranlassen): Bei beiden Geschlechtern bilden sich ''genau dieselben'' Gewebestränge als doppelgeschlechtliche Anlage aus. Bis zum Ende des zweiten Lebensmonats behält die Keimdrüsenanlage das gleiche Aussehen. | |||
* Dann erst beginnt die sichtbare Differenzierung in ein männliches und ein weibliches Geschlecht. Dabei bildet sich die bereits angelegte Keimdrüse des entgegengesetzten Geschlechtes wieder zurück: Beim Mädchen bleiben von den sogenannten Wolf‘schen Gängen und bei den Jungen von den Müller‘schen Gängen nur kleine Rudimente im Umkreis der Fortpflanzungsorgane zurück. | |||
Jeder Mensch trägt diese Rudimente vom entgegengesetzten Geschlecht in sich – gleichsam als organische Erinnerungen an die Embryonalzeit. | |||
=== ''Mögliche Entwicklung beider Organanlagen ''' ''''' === | |||
''Warum verbringt der Embryo die ersten zwei Monate damit, alles doppelt anzulegen und es dann wieder rückgängig zu machen?'' | |||
Wir müssen diese naiv klingende Frage stellen, um dem Verständnis näher zu kommen. Denn zwei Monate von neun sind eine ganz schöne lange Zeit! | |||
Eines kann man unmittelbar an dem Vorhandensein der Rudimente ablesen: In jedem Menschen steckt die Potenz, beide Organanlagen, die männliche und die weibliche zu bilden: D.h. mit hohen Dosen von Testosteron lässt sich daher auch zeitlebens bei der Frau das Auftreten der männlichen sekundären Geschlechtsmerkmale provozieren und das Umgekehrte mit Östrogenen beim Mann: Sein Bartwuchs geht dann zurück, die Brust fängt an zu wachsen und es bildet sich der typisch weibliche Fettansatz. Die Frau dagegen bekommt eine tiefere Stimme, ihre Skelett-Muskulatur wird stärker, es tritt der männliche Behaarungstyp auf, die Brust schwindet und der Bartwuchs beginnt. Normalerweise regelt der genetisch festgelegte Stoffwechsel, dass der Mensch sich körperlich nicht „doppelt“ verausgabt und zum Zwitter wird. | |||
Ein niederes Tier, z.B. der Bandwurm, der zeitlebens zweigeschlechtlich ist, sich also selbst befruchten kann, verbraucht den größten Teil seiner Energie bei diesem Selbstbefruchtungsvorgang und hat ein winzig kleines Nervensystem. | |||
=== ''Metamorphose der gegengeschlechtlichen Fortpflanzungskräfte'' === | |||
In diesem Zusammenhang ist es interessant zu sehen, dass beim Menschen und den höheren Säugetieren während der Embryonalentwicklung genau parallel zum „Verzicht“ auf die Ausbildung des entgegengesetzten Geschlechtes die Großhirnbläschen aussprossen: Die Ausbildung der Großhirnhemisphäre und die Differenzierung der Keimdrüsen fallen also in denselben Zeitraum der Embroynalentwicklung. Was im 1. Buch Mose mit dem Sündenfall als Bild geschildert wird – dass die Geschlechtertrennung zusammenfällt mit der Bewusstseinsentwicklung – zeigt sich hier als biologische Tatsache. | |||
Rudolf Steiners geisteswissenschaftliche Forschung besagt, dass wir den Impuls zur Gehirnentwicklung dem Verzicht auf die Reproduktionskraft des anderen Geschlechtes verdanken: Wenn sich beim Embryo z.B. körperlich eine weibliche Anlage ausbildet, also auf die Wachstumskraft der männlichen Anlage verzichtet wurde, dann machen die nicht benutzten männlichen Fortpflanzungskräfte eine Metamorphose durch und werden zu Gedankenkräften, die beim Aufbau des Großhirns mitwirken. Das wollen wir als Arbeitshypothese nehmen und auf dieser Grundlage die Unterschiede von Mann und Frau in leiblicher und seelischer Hinsicht beleuchten: | |||
* Der Mann ist in der Regel etwas schwerer, hat stärkere Muskeln, eine tiefere Stimme, ein etwas schwereres Gehirn. Das männliche Fortpflanzungshormon Testosteron mit seiner anabolen, den Eiweißaufbau stimulierenden Wirkung spielt hierbei eine wesentliche Rolle. | |||
* Frauen sind dagegen leichter gebaut, werden als das „schwache Geschlecht“ bezeichnet, und haben im Durchschnitt (im Einzelnen stimmt das natürlich nicht, das ist selbstverständlich) etwas weniger körperliche Kraft, sind ein bisschen weicher, ein bisschen zarter und nicht so „ganz da“ wie die Männer. | |||
''Vgl.'' ''Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987'' | |||
== MÄNNLICHES UND WEIBLICHES DENKEN == | |||
''Gibt es typisch weibliches und typisch männliches Denken?'' | |||
''Was sind die Unterschiede und worauf lassen sie sich zurückführen?'' | |||
=== ''Denken mit den nicht aktiven Reproduktionskräften des anderen Geschlechts'' === | |||
Rudolf Steiner erkannte, dass der Mensch mit den geistig gebliebenen, sich nicht physisch betätigenden Reproduktionskräften geistig produktiv und reproduktiv wird. Diese Reproduktionskräfte dienen von vornherein dem Denken. Ohne das Gesetz von der Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedankenkräfte zu kennen, kann man den klassischen Unterschied im Seelenleben und Denken von Mann und Frau zwar detailliert beschreiben, nicht aber wirklich verstehen. | |||
Denn die Grunddynamik im Denken der Frau rührt von den körperlich nicht aktiven männlichen Reproduktionskräften her – und umgekehrt.[1] | |||
Man halte sich vor Augen, was die männlichen Fortpflanzungsorgane tun: Die Samenzellen werden im Hoden zur Reife gebracht, werden dann ausgestoßen und es werden wieder neue gebildet. Es ist eine große Produktivität vorhanden, die jedoch nicht regelmäßig erfolgt, sondern den äußeren Umständen angepasst ist, d.h. diese Arbeitsleistung ist umweltbezogen. Das ist bei den Fortpflanzungsorganen der Frau nicht der Fall: Unabhängig von den äußeren Umständen entwickelt sich einmal im Monat ein Ei zur vollen Reife heran, während sich die Uterusschleimhaut auf die Einnistung des Eies vorbereitet. | |||
* So stehen dem Mann für sein Denken die körperlich nicht benützten Kräfte der weiblichen Fortpflanzungsorgane zur Verfügung. | |||
* Umgekehrt verfügt die Frau geistig über die schöpferische Potenz des Mannes, die dieser physisch verwirklicht hat. | |||
Auf diesem Tatbestand beruhen die klassischen Unterschiede im Denken von Mann und Frau, die in ihrer spezifischen Eigenart – von individuellen Ausprägungen und Lernmöglichkeiten selbstverständlich abgesehen – etwas beleuchtet werden sollen. | |||
=== ''Auswirkungen auf das Miteinander'' === | |||
Ein Beispiel: Sie kommt vom Einkaufen und er wundert sich, dass sie Dinge mitbringt, die nicht verabredet waren. Auch schreibt sie nie Einkaufszettel, da sie ja „in etwa“ weiß, was sie besorgen will. Sie hat Freude daran, den Einkauf spontan, umweltoffen und von außen angeregt zu tätigen. Sie hingegen wundert sich, dass er in der Regel exakt nur das besorgt, was er sich vorgenommen hat oder was auf dem Zettel stand, den er sich zu ihrer geheimen Belustigung immer wieder schreibt, um auch nichts zu vergessen. | |||
Ein ähnliches Verhalten liegt auch bei Urlaubsplanungen vor oder bei Problemen, die besprochen werden müssen. So kann es vorkommen, dass die Partner ein bestimmtes Problem im Prinzip zu Ende besprochen und für sich gelöst haben. Er ist dankbar, dass das jetzt ein für alle Mal besprochen und klar ist. Plötzlich kommt sie, vielleicht angeregt von irgendeinem Ereignis, mit einer ganz neuen Idee und möchte das Ganze doch noch einmal von vorne durchsprechen. Er kann das nicht verstehen, weil für ihn die Sache erledigt war, und sie meint, dass neue Gesichtspunkte dazugekommen sind, die sie beim Gespräch neulich noch nicht bedacht hat. | |||
Auch wenn er sich darauf einlässt und wirklich nochmals von vorne beginnt, kann er nie sicher sein, für wie lange das Gesprächsergebnis gültig ist. Oder: Er kommt nach Hause, hat einen anstrengenden Tag hinter sich und freut sich, dass er einen ruhigen Abend genießen kann, während sie darauf erpicht ist, jetzt etwas zu unternehmen. Auch hier prallen unterschiedliche Seelenarten aufeinander, und die Frage ist nicht, wer sich mit seinen Bedürfnissen durchsetzt, sondern ob man die elementare Verschiedenheit und Bedürftigkeit der jeweils andersgeschlechtlichen Konstitution versteht und sie in die eigene Vorgehensweise einbeziehen bzw. sie berücksichtigen kann. Oft hilft auch schon, wenn der andere sich ehrlich wahrgenommen und verstanden fühlt – auch wenn es momentan nicht zu einer Einigung kommt. | |||
=== ''Die Andersartigkeit lieben lernen'' === | |||
Männer können lernen, sich vorzustellen, dass das, worauf sie im physischen Bereich oft stolz sind – ihre männliche Potenz – genau das ist, was sie an dem „typisch weiblichen Denken“ und dem dadurch geprägten Verhalten manchmal ärgert, manchmal auch erfreut: Spontaneität, Offenheit, das Anregende und die Fähigkeit, sich von allem Möglichen gefangen nehmen zu lassen. Die Frau kann diese enorme seelische Energie auch bündeln und auf bestimmten Punkten beharren, auf die sie – „bohrend“ – immer wieder zurückkommt. Oder etwas muss auf der Stelle geschehen oder besprochen werden. Dieses Nicht-locker-Lassen, bis man das Ziel erreicht hat, ist eine seelische, typisch männliche Kraft, die der Frau konstitutionell gegeben ist. Daher fällt es ihr auch schwerer, schwierige Dinge erst einmal auf sich beruhen oder Urteile reifen zu lassen. Die Fähigkeiten, die sie körperlich besitzt, fehlen ihr bis zu einem gewissen Grad geistig und müssen von ihr bewusst erlernt werden. | |||
Männer haben dagegen ebenfalls geistig zur Verfügung, was ihnen körperlich fehlt: Empfänglichkeit für Anregungen, die Fähigkeit sich abzuschließen, etwas reifen zu lassen, zu warten und bei der Sache bleiben zu können. Damit haben sich gedanklich aber auch die Tendenz zu Enge und Sturheit, können und wollen nicht so ohne weiteres auf Fremdes und Andersartiges eingehen. Für den Mann ist es leichter im Gedanklichen treu zu sein als für die Frau, die dafür im Körperlichen eher treu sein kann. | |||
Das partnerschaftliche Zusammenleben von Mann und Frau wird vor allem dann fruchtbar und schön, wenn beide die Andersartigkeit des Partners nicht nur bejahen und einbeziehen, sondern auch lieben lernen. Dann wird der Mann sich nicht abweisend verhalten, sondern sich geistig anregen lassen und das von ihr Kommende ernst nehmen, es weiterführen und helfen, es zur Reife zu bringen. Umgekehrt wird es der Frau dann leichter fallen, seine ruhigeren und ordnenden Fähigkeiten zu respektieren und sie auf ihre Art für sich selbst zu erwerben. | |||
=== ''Bereicherung durch einander ergänzende Qualitäten'' === | |||
Das Sprühende, Anregende, aber auch Unstetere in der Gedankenführung kann eine wunderbare Ergänzung sein zu der Fähigkeit des Mannes, Gedanken ruhig und konsequent ausreifen zu lassen. Deswegen ist es für jedes Gespräch, bei dem um echte Erkenntnis gerungen wird, eine Bereicherung, wenn sich Männer und Frauen daran beteiligen. | |||
Auch wenn im Lauf des Lebens bedingt durch Lernprozesse die individuelle Komponente des Seelenlebens die gattungsmäßige Bedingtheit immer mehr überlagert und verwandelt, bleibt doch eine gewisse Grundfärbung zeitlebens bestehen. Überspitzt könnte man zusammenfassen: | |||
* Das weibliche Seelenleben ist generell umweltoffener, wahrnehmender, farbiger, phantasievoller und beweglicher. Die seelische Reaktion des Mannes ist verlässlicher, vorhersehbarer, konstanter und zentrierter. | |||
* SIE hat die Einfälle – ER das Durchhaltevermögen. | |||
* Und da man sucht, was einem fehlt, findet man oft bei IHR die Sehnsucht, sich aufgehoben, gehalten, gestützt zu fühlen – was ihrer körperlichen Veranlagung ihrer Fortpflanzungsorgane entspricht. Umgekehrt hat ER die Neigung und den Wunsch, aus dem Gewohnten auszubrechen und sich neu anregen zu lassen – wie es seinen Fortpflanzungsorganen entspricht. | |||
Die Erfahrung zeigt, dass keiner von beiden das im anderen findet, was er selber ist. Jedoch kann das Bewusstsein für die persönlichen Eigenheiten gerade am Erleben der Andersartigkeiten des anderen erwachen. | |||
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997'' | |||
----[1] Diese Zusammenhänge sind ausführlich wiedergegeben in: Glöckler, M., ''Die männliche und weibliche Konstitution.'' Stuttgart, 3. Aufl. 1992. | |||
== MÄNNLICHES UND WEIBLICHES FÜHLEN UND WOLLEN == | |||
''Worin wurzeln entwicklungsphysiologisch die Unterschiede zwischen Mann und Frau?'' | |||
=== ''Typische Unterschiede im Gefühlsbereich'' === | |||
Auch im Gefühlsbereich finden wir typische Unterschiede zwischen Mann und Frau. Besonders charakteristisch ist, dass das Gefühlsleben der Frau ein einheitlicheres Gepräge hat als das des Mannes, weil es stärker an das Gedankenleben angeschlossen ist, wohingegen es beim Mann mehr an den Willen und die Tätigkeit der Sinnesorgane gebunden bleibt: | |||
* So ist die Frau seelisch abhängiger von dem, was sie gerade denkt. Probleme können bei ihr viel schneller zu seelischen Verstimmungen führen als beim Mann, wenn es ihr nicht gelingt, die Sache gedanklich zu ordnen. Das Gefühlsleben der Frau spiegelt die Einheitlichkeit, die Ordnung, den Zusammenhang und die Überschau, die das Gedankenleben braucht. Unklares wird nicht geschätzt. | |||
* Im Gegensatz dazu hat das Gefühlsleben des Mannes aufgrund seiner unmittelbareren Anbindung an das Sinnliche verschiedene Bezirke, die er voneinander abgrenzen kann. Daher fällt es ihm auch leichter, gefühlsmäßig „ein Auge zuzudrücken“ oder etwas „wegzustecken“ und vom übrigen Seelenleben zu isolieren. | |||
Unter diesem Gesichtspunkt leuchtete mir ein, was ein Kollege zu mir sagte: ''„Wie gut, dass die Seele (das Gefühlsleben) des Mannes ‚Taschen‘ hat. Darin kann man bestimmte Dinge verschwinden und auf sich beruhen lassen, bis sie sich beruhigen. Frauen müssen sich das dagegen mühsam erarbeiten.“'' | |||
Das Seelenleben der Frauen gleicht ihren Handtaschen, in denen „alles“ „drin“ ist – allerdings nicht einzeln untergliedert, sodass es manchmal dauert, bis der Autoschlüssel gefunden wird. Im weiblichen Seelenleben hängt alles stärker miteinander zusammen und voneinander ab. Daher können Frauen auch auf eigentlich harmlose Dinge mit intensivem seelischem Engagement reagieren. Sie wirken viel emotionaler, als sie eigentlich sind. Dagegen bewahren sie – wenn es wirklich gefährlich wird oder um etwas geht –, plötzlich in bewundernswerter Weise die Ruhe, weil sie das Wesentliche im Auge haben und so alles „Unebene“ vernachlässigen können. Allein das zu wissen und im Umgang miteinander zu berücksichtigen, trägt viel zu einer harmonischen Partnerschaft bei. | |||
=== ''Unterschiede im Willensbereich'' === | |||
Im Willensbereich sind ebenfalls gewisse Unterschiede zu erleben. Motivation hat zwei Standbeine: | |||
* '''Begeisterung''' und Sympathie für eine Sache (Gefühl) | |||
* '''Einsicht''' (Denken). | |||
Das Willensvermögen der Frau ist stark vom Fühlen geprägt. Die Motivation, dieses oder jenes zu wollen, ist bei ihr weitestgehend Gefühlssache. Der Mann lässt sich lieber vom Denken leiten. Er verlässt sich nicht gern auf sein Gefühlsleben, das er mehr körperlich-persönlich empfindet; er muss etwas einsehen können, damit er motiviert ist. | |||
Die Frau hingegen muss nicht alles einsehen, wenn oder gar bevor sie etwas tut. Ihr Gefühlsleben ist durch die stärkere Verbindung mit dem Gedankenleben umfassender und objektiver. So kann sie sich für Dinge begeistern, die ihr gefühlsmäßig klar sind, auch wenn noch nicht alle Faktoren, die zur Sache gehören, bewusst bedacht und verstanden sind. Sie vertraut ihrem Gefühl, da sie den starken Anschluss an das Gedankenleben empfindet und so auch die Weisheit des Gefühlslebens erlebt, die oft über das rational Überlegte hinausreicht. Sie kann sagen: ''„Ja, wenn du warten willst, bis du alles verstanden hast, bleiben wichtige Dinge ungetan! Man muss doch jetzt und hier handeln! Siehst du das denn nicht ein ...“'' | |||
Das Einsehen allein reicht dem Mann nicht aus, er möchte auch verstehen, während die Frau aus einer unmittelbaren Gefühlsreaktion heraus schon handeln kann – und oft auch durch das Leben und die Tatsachen Recht bekommt. | |||
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997'' | |||
== GEMEINSAMKEITEN VON MANN UND FRAU AUF GEISTIGER EBENE == | |||
''Was sind die Gemeinsamkeiten von Mann und Frau auf geistiger Ebene?'' | |||
=== ''Partnerschaft und Ehe'' === | |||
Die Tatsache, dass gegenwärtig mehr von Partnerschaft als von Ehe gesprochen wird, macht deutlich, dass das Individuelle in der Beziehung stärker betont wird. In dem Begriff „Ehe“ wird das Individuelle in das Gemeinsame aufgenommen, während das Wort „Partnerschaft“ von vornherein klarstellt, dass es sich hier um zwei Menschen handelt, die nicht nur zusammen auskommen, sondern auch ihre Individualität in der Gemeinsamkeit aufrechterhalten möchten. Insofern trifft „Partnerschaft“ auch viel eher auf die Form der heutigen Beziehung zwischen den Geschlechtern zu als die Bezeichnung „Ehe“. Das, was früher der Ehe den Namen gegeben hat '''–''' die eheliche Verbindung der Geschlechter '''–''', wird heute gerade nicht mehr unbedingt und schon gar nicht ausschließlich als das Wesentliche und Tragende in der Beziehung angesehen. Andere Werte stehen im Vordergrund. Man wünscht sich von einer Partnerschaft: | |||
* '''Verständnis''' füreinander, | |||
* '''Akzeptanz''' der eigenen Freiheit, | |||
* '''Ehrlichkeit''' im Umgang | |||
* und '''Zuverlässigkeit''' bei Absprachen. | |||
Im Vordergrund steht die Suche nach gegenseitigem Verstehen, nach seelischer und geistiger Gemeinsamkeit, Geborgenheit und der Unterstützung und Hilfe auf einer bestimmten Wegstrecke. | |||
=== ''Gemeinsamkeit trotz Verschiedenheit suchen'' === | |||
Es gehört zu den Daseinsrätseln, dass zwei Menschen, die physisch und seelisch so unterschiedlich veranlagt sind, überhaupt Gemeinsamkeit erleben können, dass es eine Ebene des Begegnens gibt, die sich unabhängig von Alter und Geschlecht nur auf das rein Menschliche bezieht. Wenn jedoch dieses Allgemein-Menschliche die individuell-persönliche Verbindung und das, was man voneinander kennt und weiß, nicht genügend durchzieht und trägt, kann die Unterschiedlichkeit der seelischen und körperlichen Konstitution, wie sie zwischen männlich und weiblich, aber auch zwischen Jugend und Alter vorliegt, entscheidend dazu beitragen, die Beziehung zu stören. Sämtliche Schwierigkeiten, die zu Konflikten führen, erwachsen aus der Verschiedenheit der Beteiligten. | |||
Dieses Allgemeinmenschliche, das Mann und Frau immer verbinden kann, betrifft die Ich-Natur, die allen Menschen gemeinsam ist[1]. Ob Mann, Frau oder Kind '''–''' alle sagen zu sich selber „ich“. Wenn Eltern und Erzieher das Ich des Kindes vom ersten Lebenstag an ernst nehmen, geschieht das aus einer Einstellung zum Kind, die für seine ganze weitere Entwicklung eine entscheidende Hilfe und Stütze sein wird. Wenn es gelingt, bei allem zu empfinden – ''„Hier ist ein Mensch zu mir gekommen, der von mir erwartet, dass ich ihm helfe, möglichst gut und kräftig zu sich selbst und zu seiner Lebensaufgabe zu finden“'' –, ist die Grundlage für ein starkes Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit geschaffen. Der im Kind schon anwesende spätere Erwachsene, der sich noch genauso wenig kennt, wie ich ihn kenne, wartet Monat für Monat und Jahr für Jahr darauf, mehr von sich zu erfahren und genauer zu wissen, warum er sich in diesen Lebenszusammenhang begeben hat. Dieses Kind ist nicht mein Besitz, dieses Kind ist Teil meines Lebens und will mit meiner Hilfe lernen, seine Weiterentwicklung in die Hand zu nehmen. | |||
Wenn eine solche Einstellung vorherrscht, ist der Lebensraum in Elternhaus und Schule von einer Haltung geprägt, die trotz klarer Hilfestellung und, wo nötig, auch Führung doch immer einen Freiraum schafft, der es dem Kind erlaubt, möglichst viele Erfahrungen „selbst“ zu machen. | |||
=== ''Die Ich-Natur, ein zweischneidiges Schwert'' === | |||
In der Partnerschaft führt eine solche Einstellung dazu, dass sich beide mit dem Trennenden und auch mit dem Verbindenden, das mit diesem „Selbst“, mit dieser Ich-Natur, verbunden ist, auseinandersetzen. Denn das Ich ist im wahrsten Sinne des Wortes ein zweischneidiges Schwert. In der Apokalypse des Johannes wird von Christus gesagt, dass aus seinem Munde ein zweischneidiges Schwert hervorgeht. Es gibt kein treffenderes Bild, um die Doppelnatur des Ich zu charakterisieren. Liegt es doch im Wesen des Ich begründet, | |||
* dass einerseits jeder einzelne Mensch zu sich selbst „ich“ sagt, | |||
* und dass andererseits alle anderen Menschen das auch tun, so dass es sich um den allgemeinmenschlichsten Begriff handelt. | |||
Im Ich liegt nicht nur die Möglichkeit, sich vollständig abzuschließen, auf sich selbst zu besinnen und sich zu isolieren '''–''' und das auch zu brauchen, um zu sich kommen zu können '''–,''' in ihm ist auch die Fähigkeit veranlagt, sich nicht nur Freunden und Bekannten, sondern letztlich der ganzen Menschheit angehörig und verbunden zu fühlen. Um das eine wie auch das andere zu können, bedarf das Ich geeigneter Arbeitsinstrumente '''–''' diese stehen ihm in den Seelenfähigkeiten von Denken, Fühlen und Wollen zur Verfügung. | |||
==== 1. Gedankliche Auseinandersetzung mit der Zweischneidigkeit ==== | |||
Wir können das Denken für zweierlei benützen: | |||
· uns über uns selbst klar zu werden und uns von unserer Umwelt zu distanzieren | |||
· uns über die Welt aufzuklären und uns unseres Zusammenhangs mit ihr bewusst zu werden. | |||
Ebenso kann es dazu verwendet werden, uns über das, was uns mit dem Lebens- bzw. Ehepartner verbindet oder von ihm trennt, bewusst zu werden und es normal zu finden, dass es diese beiden Seiten auch in der Partnerschaft geben ''muss'', weil es sich um ich-begabte Menschen handelt. Es kann nicht nur das Verbindende geben. | |||
==== 2. Zweischneidigkeit im Fühlen ==== | |||
Entsprechend verhält es sich mit dem Fühlen: | |||
· Es ist wohltuend, sich hin und wieder ganz in sich selber zu verschließen und die damit verbundene Einsamkeit, verbunden mit Lebensfreude und/oder Trauer als Stärkung des Selbstbewusstseins zu erleben. | |||
· Und es ist wohltuend, sich über die Mitleidsfähigkeit auch wieder eng mit anderen Menschen, Schicksalen, Aufgaben und wichtigen Zeitfragen verbunden zu fühlen. | |||
Diese gefühlsmäßige Anteilnahme aneinander ist eine entscheidende menschenverbindende Kraft, deren Stärke einem oft erst bewusstwird, wenn eine Beziehung zu zerbrechen droht und man spürt, wie viel Kraft man aus dem Gefühl der Gemeinsamkeit bezogen hat. | |||
==== 3. Zweischneidigkeit im Handeln ==== | |||
Auch auf der Handlungsebene gibt es beide Möglichkeiten: etwas ganz für sich alleine zu tun oder für und mit dem anderen. Will man nun in Ehe und Partnerschaft das Gemeinsame pflegen, insbesondere das stärkende Zusammengehörigkeitsgefühl, gelingt das umso anhaltender, je mehr es seine Wurzeln im Verständnis des menschlichen Ich hat. | |||
Christus sagt von seinem Wesen, seinem „Ich“: ''„Ich bin die Wahrheit“'' und'': „Ich bin unter euch, wenn ihr einander liebt“'' und: ''„Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“'', was bedeutet: Ihr werdet mich (die Wahrheit) erkennen, und das wird euch '''–''' euer Ich '''–''' befreien und zu sich selbst führen. | |||
Kann man in einer Partnerschaft verabreden, diese drei Ich-Qualitäten – Wahrhaftigkeit, Liebe und Freiheit'''–''' zu üben, so hat man sich auf geistiger Ebene im Wesentlichen verbunden. Dann lebt man in einem gemeinsamen Entwicklungsstrom und fühlt die Nähe des anderen in jedem Augenblick, in dem man sich auf dieses Versprechen und die damit verbundene innere Arbeit besinnt. Denn jene drei Eigenschaften dienen der Charakterbildung und Entwicklung von Mann und Frau in gleicher Weise, und sie sind auch das, was für die Erziehung der Kinder die entscheidende Orientierung gibt. Diese drei Qualitäten machen die Würde des Ich aus, begründen, erhalten und pflegen sie. | |||
=== ''Wenn Wahrheit, Liebe und Freiheit fehlen'' === | |||
Auch wenn der Entschluss, diese Qualitäten zu üben, nicht gemeinsam gefasst wurde und als etwas Verbindendes angesehen werden kann, wird man doch immer wieder auf sie stoßen und vor allem ihre Abwesenheit schmerzlich bemerken. | |||
==== '''·''' Schmerzliches Fehlen von Wahrheit ==== | |||
Wie störend und unterminierend wirkt sich eine auch noch so verborgene Verlogenheit auf eine Partnerschaft bzw. Ehe aus! Wie oft führt das sogenannte Mitleid mit dem anderen dazu, ihm wichtigste Dinge, z.B. die Freundschaft mit einem neuen Menschen, zu verheimlichen bzw. zu verharmlosen, anstatt daran zu arbeiten, diese neue Beziehung konstruktiv und unter Mitarbeit des anderen in den gegenwärtigen Schicksalszusammenhang zu integrieren. So manche „Nebenbeziehung“ würde andere Formen annehmen und für alle Beteiligten zum größeren Gewinn gereichen, wenn von Anfang an offen über sie gesprochen werden könnte. | |||
==== '''·''' Lieblosigkeit ==== | |||
Entsprechend ist es mit den vielen kleinen und großen Lieblosigkeiten, die eine Beziehung belasten können. Hier steht der Mangel an gegenseitiger Anerkennung an vorderster Stelle. Wie sehr ist man versucht, dem anderen gegenüber seine Stärke auszuspielen, ständig auf diesem und jenem Gebiet in geheimer Konkurrenz zu sein oder aber die Fähigkeiten des anderen zu wenig wahrzunehmen und zu bestätigen. (Hierzu gehört auch die Fähigkeit, dass der andere es schon so lange mit einem aushält...) | |||
==== '''·''' Das Fehlen von Freiheit ==== | |||
Welche Belastung stellt Unfreiheit in jeder Beziehung dar! Sehr oft ist es dieses Fehlen von Freiheit, das den einen oder anderen Partner dazu verleitet, sich geheime Spielräume zu suchen, in die der andere nicht hineinreden kann, wo Kontrolle nicht möglich ist. | |||
Damit wird deutlich, dass die empfindlichsten Störfaktoren und Belastungen einer Partnerschaft auf dem Mangel an Ich-Präsenz beruhen, dem Mangel an Wahrhaftigkeit, Liebe und Freiheit. Gelingt es nicht, auf dieser geistigen Ebene zur Gemeinsamkeit zu finden und sich des gemeinsamen Wollens in Richtung der drei Ideale bewusst zu werden, fehlt der Beziehung der entscheidende Halt in Krisenzeiten, wenn es seelisch und körperlich einmal nicht so gut klappt. Umgekehrt kann natürlich auch Harmonie in der körperlichen und /oder seelischen Beziehung lange Jahre Gemeinsamkeit schenken, auch wenn man sich geistig nie richtig verständigen konnte und den anderen eigentlich noch nicht gefunden hat. | |||
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997'' | |||
----[1] Vgl. Rudolf Steiner, ''Theosophie.'' GA 9. | |||
== VOM SINN DER „LEBENSLÄNGLICHKEIT“ == | |||
''Welche Bedeutung haben dauerhafte menschliche Verbindungen?'' | |||
''Wie können sie gelingen?'' | |||
=== ''Ehe als Ausnahme'' === | |||
Die erworbene Immunschwäche HIV/AIDS trug dazu bei, dass Umfragen zunahmen, wie viele Geschlechtspartner die Befragten in wie vielen Jahren hatten, ob sie verheiratet waren oder nicht. Dabei wurde deutlich, dass die ausschließliche eheliche Beziehung im klassischen Sinne eher die Ausnahme darstellt. In die gleiche Richtung weist die Tatsache, dass der Trend zum Ein-Personen-Haushalt ungebrochen anhält. Das sind alles Zeichen einer zunehmenden Unverbindlichkeit – aber auch Individualisierung. | |||
Diese Tendenzen, sowie die häufig auftretende Schwierigkeit, in Ehe und Partnerschaft überhaupt noch einen Sinn zu finden, verdeutlichen, dass die Persönlichkeitsentwicklung – allein und in Gemeinschaft – zu einem zentralen Problem geworden ist. Fragt man Betroffene, warum sie sich trennen, erhält man oft die Antwort, dass sie sich durch den anderen in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit behindert fühlen. Die letztendlichen Ursachen für Trennung sind das Gefühl von Unfreiheit und die Unfähigkeit, an den dafür verantwortlichen äußeren und inneren Ursachen zu arbeiten. So ist es verständlich, dass man heute lieber von „Lebensphasengemeinschaft“ oder vom „Lebensabschnittsgefährten“ spricht und nicht mehr so optimistisch vom Lebensgefährten. Vor diesem Hintergrund stellt sich noch eindringlicher die Frage, welche besondere Bedeutung dauerhafte menschliche Verbindungen hatten und haben. | |||
=== ''Vertieftes Lernen in dauerhaften Beziehungen'' === | |||
Eine lebenslange Partnerschaft, die durch dick und dünn geht und bis zum Lebensende anhält, weist Qualitäten auf, die einer vorübergehenden Beziehung fehlen: viele gemeinsame Erinnerungen, Kontinuität, Vertrauen, Begleiten-Können, Krisenfestigkeit, Toleranz, nicht erlahmendes Interesse am anderen, Stabilität, Sicherheit und Treue. So wie man ein Leben lang braucht, um sich selbst zu entwickeln, so brauchen auch Beziehungen eine gewisse Stabilität und Dauer, um als notwendiges Korrektiv und „Spiegel“ für die eigene Entwicklung und die des Partners dienen zu können und um den Erwerb von Charaktereigenschaften zu ermöglichen, die man nur in lebenslanger Zweisamkeit entwickeln kann. | |||
Mit jemanden zusammenzuleben, der einen unterstützt und begleitet, der aber auch den Mut hat, Unangenehmes anzusprechen, ohne Angst haben zu müssen vor Liebesentzug und von dem man sich auch etwas sagen lassen kann, ohne dass einem „ein Zacken aus der Krone bricht“, kann eine große Hilfe auf dem eigenen Weg sein. Daher ist es für Menschen, die keine feste Bindung eingehen, schwerer, ihre innerliche Entwicklung in die Hand zu nehmen und auf ihrem Weg wirklich weiterzukommen. Sehr oft bleiben sie auf einer bestimmten Entwicklungsetappe stehen, weil ihre Beziehungen gerade da enden, wo – im Falle des Zusammenbleibens – die innere Arbeit an der eigenen Veränderung hätte anfangen müssen. So wechselt man eher den Partner, als dass man sich selber ändert. | |||
=== ''Selbständigkeit als Voraussetzung für Dauerhaftigkeit'' === | |||
Es gibt nichts, was man in eine Ehe nicht integrieren könnte, aber es gibt auch nichts, was nicht Anlass sein könnte, sich wieder zu trennen. Letztlich hängt alles davon ab, wie groß das Interesse am anderen wirklich ist. In dem Augenblick, in dem es Gründe gibt auseinanderzugehen, ist oft zu spüren, wie Eigeninteressen das Interesse am anderen zu überwiegen beginnen. Diese Eigeninteressen sind es letztlich, die die Menschen auseinandertreiben, und die – wenn wir es von der positiven Seite nehmen – die Entwicklung zur Selbständigkeit fördern. Dass diese notwendig ist, liegt auf der Hand. Denn letztlich ist man erst dann für eine Dauerbeziehung geeignet, wenn man auch alleine leben könnte. Daher gehen Beziehungen leicht zu Bruch, in denen ein Partner oder beide noch auf der Suche nach sich selber sind und sich auf Zeit mit dem anderen wie einem „Ersatz-Ich“ identifizieren. | |||
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997'' | |||
== BIOGRAPHIEARBEIT IN DER PARTNERSCHAFT == | |||
''Inwiefern kann die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie bei Problemen mit dem Partner helfen?'' | |||
=== ''Offenheit und Interesse füreinander pflegen'' === | |||
Jede Biographie ist einmalig und ein Entwicklungsweg. Je mehr wir uns für die Einmaligkeit des Partners als auch für die individuellen und gemeinsamen Entwicklungsmöglichkeiten interessieren, desto persönlicher und menschlich erfüllender kann die Lebensgemeinsamkeit werden. Arbeit an der eigenen Biographie bildet die wichtigste Voraussetzung, um die Biographie des anderen mit dem nötigen Interesse und Verständnis anschauen und befragen zu können. | |||
Zwei Menschen, die sich entschließen zusammen zu bleiben, erzählen sich früher oder später wichtige Lebensereignisse und wen sie vor dieser Freundschaft bzw. Liebe schon geliebt haben. Oft lassen diese Offenheit und Bereitschaft, Persönlichstes von sich zu erzählen, bald nach – sei es, dass das Leben anderes von einem fordert und kein besonderer Anlass mehr dafür gegeben ist, oder weil bereits erste Enttäuschungen stattgefunden haben und man beginnt, sich zu verschließen in der Meinung, dass man vom anderen doch nicht so in der Tiefe verstanden wird, wie anfangs angenommen. In einer solchen Situation kann es hilfreich sein, sich mit der eigenen Biographie zu beschäftigen. Zu diesem Thema steht umfangreiche Literatur zur Verfügung, ganz abgesehen davon, dass es an vielen Orten spezielle Biographieberatung und Biographiearbeit gibt.[1] | |||
Aufgrund dieser Arbeit erwachen neue Fragen – an sich selbst und an den anderen. Einsichten und auch Verständnismöglichkeiten zeichnen sich ab, die helfen können, das eigene Verletzt-Sein zu überwinden und dem anderen mit neuer Unbefangenheit und voll Interesse zu begegnen. Entscheidend ist jedoch, ob man das will oder nicht: Denn es gibt immer auch Gründe, nicht zu wollen. Diese gilt es zu durchschauen und ihren lähmenden und destruktiven Charakter aufzudecken. | |||
=== ''Biographie als Ausschnitt einer umfassenderen Entwicklung'' === | |||
Wenn man sich mit der eigenen Biographie beschäftigt, lernt man sie in ihrer Einmaligkeit als Ausschnitt einer umfassenderen Entwicklung anzuschauen. Denn jeder wird mit ganz bestimmten Fähigkeiten in eine so oder so und nicht anders geartete Familienkonstellation hinein geboren. Man erlebt außerdem, wie viele Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen in einem Leben sich mit Sicherheit nicht erfüllen lassen, man sie also mit in den Tod nehmen wird. | |||
Die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen, öffnet den Blick für die Tatsache der Wiederverkörperung als Entwicklungsgesetzmäßigkeit für den Menschengeist. | |||
Das menschliche Ich, der Kern der Persönlichkeit, geht durch wiederholte Erdenleben hindurch und wird in jedem Leben zu einer anderen Persönlichkeit, dank der speziellen körperlichen Konstitution, die ihm eigen ist, der Erdgegend, in der er geboren wird, der Geschlechtszugehörigkeit und der weiteren Schicksalsgestaltung. Das Ich nimmt die Erfahrungen aus den verschiedenen Lebensläufen in sich auf und gewinnt so ein immer umfassenderes Bewusstsein davon, was Menschsein und Menschlichkeit in Wahrheit bedeuten. | |||
Die Tatsache der wiederholten Erdenleben anzuerkennen, hat etwas ungemein Befreiendes, aber auch Heilsames für jede konkrete Schicksalssituation. Man kann nun in der scheinbaren Enge und Unausweichlichkeit bestimmter Lebenstatsachen Lernbedingungen erkennen für ganz bestimmte Fähigkeiten, die man nur in dieser scheinbaren Zwangssituation erreichen konnte. Denn jede Fähigkeit braucht für ihre Ausbildung die Erfüllung bestimmter Lernbedingungen: Egal ob es um den Erwerb des Führerscheins geht oder um ein Studium oder eine Berufsausbildung – immer müssen wir uns an bestimmte Lernvorgaben und Bedingungen halten, wenn wir die gewünschte Fähigkeit erlangen wollen. Haben wir sie einmal erworben, können wir in freier Weise damit umgehen. So kann ein ganzes Leben im Zeichen bestimmter, vielleicht auch belastender und schwieriger Lebens- und Arbeitsbedingungen stehen. | |||
=== ''Notwendigkeit und Freiheit'' === | |||
Was unter solchen Lebensbedingungen gelernt wird, steht in einem nächsten Erdenleben als angeborene, mitgebrachte Fähigkeit, u. U. sogar als Genialität zur freien Verfügung. Es hat – wie jedes Lernergebnis – unabhängig von den Bedingungen, unter denen man es erreicht hat, seine Bedeutung. In dieser Weise hängen Notwendigkeit und Freiheit im Schicksal jedes Menschen zusammen: Lernbedingungen stellen eine Notwendigkeit dar, wohingegen erlernte Fähigkeiten in freier Weise dort eingesetzt werden können, wo wir es für richtig halten und auch wollen. | |||
Mit Hilfe des Schicksals- und Wiederverkörperungsgedankens wird das Leben allein und in Gemeinschaft mit einem oder auch mehreren Menschen zu einem Entwicklungsweg, der umso mehr Freude macht, je mehr man ihn als solchen erkennt. Denn man erlebt zunehmend, dass dieser Weg der richtige ist, der wirklich zu einem gehört, und man erfährt, in welch hohem Maß es von einem selbst abhängt, wie man sich zu ihm stellt und was man aus seinen Lernangeboten macht. | |||
Diese und ähnliche Überlegungen führen zu einem neuen Freiheitserleben und einer befriedigenden Lebenseinstellung und sind die Quelle von Humor. Beim Lernen kommt es oft auch zu Fehlern, Irrtümern und Versagenszuständen, über die man später selbst oft lachen kann, über die aber auch andere ruhig schmunzeln dürfen. Beim nächsten Anlauf kann es nur besser werden... Diese Einstellung der eigenen Biographie gegenüber eröffnet auch die Möglichkeit, sich der Biographie des Lebenspartners mit neuem Interesse zuzuwenden und die eigene Rolle darin zu überdenken. Man sollte manches ehrlich hinterfragen: | |||
''Wie kann ich wissen, was er sich für dieses Leben vorgenommen hat?'' | |||
''Wie vieles hat er vielleicht nur getan, um mich zufriedenzustellen?'' | |||
''Wie kann die Beziehung der Entwicklung '''beider''' dienen?'' | |||
Fragen dieser Art eröffnen neue Dimensionen von Freundschaft und „Sich-verstehen“. | |||
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997'' | |||
----[1] Vgl. z. B. G. Burkhard, ''Das Leben in die Hand nehmen.'' Stuttgart 1992; dies.: ''Schlüsselfragen zur Biographie.'' Stuttgart 2004; | |||
B. Lievegoed, ''Lebenskrisen – Lebenschancen.'' Stuttgart 1979; ders.: ''Der Mensch an der Schwelle. Stuttgart 2012''; | |||
M. Wais, ''Biographiearbeit - Lebensberatung.'' Urachhaus, 1992''.'' | |||
== SELBSTERZIEHUNG IN DER PARTNERSCHAFT == | |||
''Warum ist Selbsterziehung in einer Partnerschaft eine Notwendigkeit?'' | |||
=== ''Mangelerlebnisse aus Kindheit und Jugend'' === | |||
Viele Menschen blicken in eine Kindheit und Jugend zurück, die von Vertrauens- und Liebesmangel, von Angst, von Sich-ausgegrenzt-Fühlen, von Einsamkeit und vielleicht auch periodischem Erleben von Sinnlosigkeit und Langeweile geprägt war. Ihnen war es nicht möglich, zu einer befriedigenden Selbsterfahrung zu kommen und ein gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen. Auch fehlte die Begegnung mit jemandem, der einem die Freude am Menschsein hätte wirklich vermitteln können. Vielleicht war die Schulzeit auch gekennzeichnet von Demütigungen, weil man leistungsmäßig oft nicht mithalten konnte, vielleicht auch unbeliebt war in der Klasse oder Lehrer hatte, die einen nicht mochten. | |||
Umso verständlicher ist es, dass diese Menschen von einer Liebesbeziehung meist ungemein viel erwarten. Man erhofft sich von ihr, was einem bisher gefehlt hat und was einem insbesondere in Kindheit und Jugend versagt blieb. | |||
=== ''Verliebtheit als Projektions-Falle'' === | |||
Die beglückende Erfahrung des Verliebt-Seins und Geliebt-Werdens gibt dieser Erwartung zunächst auch scheinbar recht. Denn man fühlt sich in seinem Selbst gestärkt, überhöht, bejaht, mit Liebe und Vertrauen umgeben und tatsächlich so ein bisschen „wie im Himmel“. Man identifiziert sich, macht sich vielleicht auch ein Bild von dem anderen, das dem eigenen Glückserleben entspricht – oder von dem man hofft, dass er ihm immer mehr entsprechen wird. Man bemerkt dabei nicht, dass dieses Wunschbild im Grunde der Selbstentwurf für die eigene Ich-Werdung ist, und dass man diese unbemerkt in den anderen hineinprojiziert. | |||
Lässt die Intensität des Verliebt-Seins nach und treten zunehmende Verletzungen des symbiotischen Einheitserlebens auf, so wird die damit verbundene Enttäuschung und Unzufriedenheit oft zur Quelle von aggressiven Neigungen. Jetzt kann das andere Extrem eintreten, dass einem der andere so gut wie gar nichts mehr recht machen kann und man an allem etwas auszusetzen hat. | |||
=== ''Wichtige Einsichten in Bezug auf sich und den anderen'' === | |||
Hier rettet nur die Einsicht, dass der Partner ein genauso unvollkommener, suchender und noch an seiner Identität arbeitender Mensch ist wie man selbst, und dass Momente beglückender Gemeinsamkeit Geschenke sind, deren Wert man in liebevoller Erinnerung behalten muss, damit man sie nicht vergisst. Aus der Illusion, im andern die eigene Identität finden zu können und sich durch ihn in erster Linie bestätigt und anerkannt zu sehen, befreit einen nur das echte Interesse am Schicksal des anderen und der Wille, an der eigenen Biographie zu arbeiten und in ihr die Entwicklungsbedingungen für die persönliche Ich-Findung zu suchen. Damit kann dann auch das Zusammenleben mit dem anderen wieder einen neuen Stellenwert bekommen. | |||
==== 1. Falsche Erwartungen durchschauen ==== | |||
Wenn berechtigte Erwartungen enttäuscht werden, ist das eine bittere Erfahrung. Das betrifft sowohl Erwartungen, die man sich selbst gegenüber hegt, als auch solche, die man an den Lebenspartner hat. Die Frage ist nur, woher man so sicher weiß, dass die eigenen Erwartungen berechtigt waren bzw. sind. Denn die Tatsache, dass sie enttäuscht wurden, zeigt zumindest, dass der andere nicht in der Lage war, sie zu erfüllen. Es ist äußerst heilsam, die eigene Biographie einmal daraufhin durchzuarbeiten, wie man von klein auf mit seinen Erwartungen und mit Hoffnung umgegangen ist. | |||
''Hat Hoffnung durch eine schwierige Kindheit und Jugend hindurch getragen, ohne jemals erfüllt zu werden?'' | |||
''Leben bestimmte Erwartungen als unerfüllte Sehnsüchte und Wünsche immer noch in der Seele?'' | |||
''Haben sich Erwartungen hie und da erfüllt?'' | |||
''Wie ging man mit der Tatsache von Erfüllung um, mit erfüllten Wünschen, erfüllter Hoffnung, gestillter Sehnsucht?'' | |||
''Nahm man sie als selbstverständlich hin oder waren sie Anlass, tiefe und nachhaltige Dankbarkeit zu empfinden?'' | |||
Dankbarkeit und Zufriedenheit sind Gefühle, die in unseren Tagen einer allgemeinen Undankbarkeit und Unzufriedenheit gewichen sind. Wer noch die Nachkriegszeit erlebt hat mit all ihrer materiellen Not und Entbehrung und den Wohlstand heute sieht, der trotz relativ hoher Arbeitslosigkeit herrscht, müsste annehmen, dass Dankbarkeit das beherrschende Gefühl unter den jetzt lebenden Menschen ist. | |||
''Warum ist das nicht so?'' | |||
''Warum wird der Zustand der Bedürftigkeit und der Hoffnung auf materiellen Wohlstand so rasch vergessen?'' | |||
''Warum wird Wohlstand als etwas völlig Selbstverständliches gefordert, für das man nicht dankbar sein muss?'' | |||
Es ließen sich viele Beispiele anführen, die zeigen, dass Gründe für Dankbarkeit kaum wahrgenommen bzw. einfach verschlafen werden. | |||
=== ''Realistische Bilanz ziehen'' === | |||
In Zeiten, in denen man mit Umständen konfrontiert ist, die den eigenen Erwartungen nicht entsprechen, kann es eine Hilfe sein, eine realistische Bilanz zu ziehen und sich zu fragen, was man den Lebensumständen zu verdanken hatte, bevor die Enttäuschungen eingesetzt haben. Dann kann man sich fragen, woran es liegen mag, dass der andere die eigenen Erwartungen enttäuscht hat. | |||
''Hat er einen Fehler gemacht, den er – weil es ja ein Fehler ist – auch einsehen kann?'' | |||
''Oder hängt die Enttäuschung mit Verhaltensweisen zusammen, die zum Partner gehören, mit Schwächen, die dieser gegenwärtig nicht bearbeiten kann oder will und als zu sich gehörig betrachtet?'' | |||
''Oder liegt der Grund für die Enttäuschung in dem illusionären Bild, das man sich vom anderen gemacht hat und dem er gar nicht entsprechen wollte?'' | |||
Angesichts enttäuschter Erwartungen stellt sich die Frage, wie man sich zu einem gesunden Lebensrealismus erziehen kann. Ideale sind nur dann hilfreich, wenn sie sich in der Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit, so wie sie ist, bewähren. Je realistischer ein Mensch wird, umso mehr kann er ein Gefühl der Zufriedenheit entwickeln. Denn in allen Lebenssituationen gibt es genügend Dinge und Vorgänge, für die man dankbar sein kann und die infolgedessen auch zufrieden machen können. Für das Gelingen einer Partnerschaft ist es hilfreich, enttäuschte Erwartungen als Mangel an Realismus zu diagnostizieren und sich auf das zu besinnen, was real möglich ist. Den anderen so nehmen zu lernen, wie er ist, und daraus das Beste zu machen, ist die Aufgabe. Stattdessen wollen wir meist gerne selber bleiben, wie wir sind, und kritisieren den anderen.[1] | |||
==== 2. Wünsche und Erwartungen an sich selber richten ==== | |||
Je weniger man Wünsche und Erwartungen in den Partner projiziert und je mehr man deren Erfüllung von sich selbst erwartet, um so entlastender ist das für eine Beziehung und umso mehr Freude macht es dem anderen, unerwartete Geschenke zu machen und Liebesbezeugungen zu erweisen. Nichts lähmt den Drang, dem anderen eine Freude zu machen, mehr, als wenn dieser es in einer Weise erwartet, die man doch nicht erfüllen kann. Lieber sollte man das, was man selbst gerne hätte, probeweise dem anderen angedeihen lassen. | |||
Als harmloses Beispiel sei das Feiern des Hochzeitstages genannt. Wenn man diesen Tag gerne mit irgendetwas Festlichem oder einer kleinen Erinnerung, sei es nur ein Blumenstrauß oder ein Telefongespräch mit dem Partner, begehen möchte, sollte man die Umsetzung dieser guten Idee nicht von ihm erwarten, sondern selbst verwirklichen und dem anderen damit eine Freude machen. Ist man jedoch ohnehin immer derjenige, der vieles für den anderen macht, ohne dass je etwas zurückkommt, könnte eine konstruktive Initiative darin bestehen, einmal ganz bewusst darauf zu verzichten und stattdessen Dinge zu unternehmen, die einem selber Spaß machen und auf die man schon seit Langem verzichtet hat. Ein solches Verhalten wird eher Aufmerksamkeit erregen und zu Gesprächen Anlass geben oder zumindest zur Folge haben, dass sich in der festgefahrenen Situation etwas ändert ''–'' und zwar zum eigenen Vorteil, der genauso berechtigt ist wie der Vorteil des anderen. | |||
==== 3. Angst vor Liebesverlust entlarven ==== | |||
Ein solches Vorgehen erfordert allerdings Mut, da sich hinter dem Wunsch, dem anderen alles recht machen zu wollen, oft die Angst verbirgt, er könnte einem seine Liebe entziehen, wenn man nicht ständig zur Verfügung steht. Diese Angst ist kein guter Lebensbegleiter und trägt auch nichts Positives zur ehelichen Gemeinschaftsbildung bei. Vielmehr schafft sie zunehmende Abhängigkeit und engt den Betreffenden in seinem Entwicklungsradius immer mehr ein. | |||
Diese Angst kann zum Anlass werden, den nötigen Mut zu entwickeln, den man zum Selbständig-Werden braucht und damit auch zum Überwinden dieser Angst. Denn wenn der andere tatsächlich nur die Dienstleistungen liebt und nicht einen selbst, ist das keine Grundlage für eine befriedigende Partnerschaft und muss früher oder später ohnehin in die Krise führen. Wer nicht lernt, selbständig zu werden und nötigenfalls auch allein zu leben, ist im Grunde nicht reif für eine Partnerschaft. Dass heute so viele Ehen scheitern und die Ein-Personen-Haushalte weltweit in starker Zunahme begriffen sind, ist ein Beweis für diese Tatsache. Viele Ehen sind Lebensgemeinschaften auf Zeit, die zwischen der Abhängigkeit von der Stammfamilie und der Fähigkeit, das Leben wirklich selbständig in die Hand zu nehmen, als eine Art Übergang gewählt werden. Hat man jedoch den Mut zur Selbständigkeit gefunden, hat man damit auch die Fähigkeit erworben, sich auf eine dauerhafte Lebensgemeinsamkeit einzulassen. | |||
==== 4. Dem Doppelgänger begegnen ==== | |||
In der psychologischen Literatur gibt es verschiedene Bezeichnungen für das „andere Selbst“: „niederes Selbst“, „Schatten“ oder auch „Doppelgänger“. Dieser Begriff umfasst die Eigenschaften, die im Unbewussten des Menschen Zweifel, Hassgefühle und Ängste hervorrufen, aber auch Wünsche, Neigungen und Begierden, die man sich bei vollem Bewusstsein nie eingestehen würde, die aber doch real vorhanden sind. Beim Doppelgänger handelt es sich um den Schattenwurf der eigenen Ich-Entwicklung, um die Realität des Bösen in uns, die wir so gerne verdrängen. Der Doppelgänger ist die Seite unserer Natur, die wir noch nicht durch Arbeit an uns selbst „vermenschlicht“ haben. Wir können damit noch nicht frei umgehen. Es ist die Seite unserer Trieb- und Begierde-Natur, mit der wir uns noch nicht bewusst identifiziert haben und die wir deshalb noch nicht liebevoll handhaben können. | |||
Der Sublimationsbegriff der Psychoanalyse gibt die darin liegende Aufgabe für uns Menschen nur sehr unvollständig wieder. In der anthroposophischen Menschenkunde wird der Prozess der Umwandlung des Schattens durch Schulung in aller Klarheit und Vollständigkeit beschrieben.[2] | |||
Wir Menschen haben eine große Scheu, uns die Schattenseiten unseres Doppelgängers zu Bewusstsein zu bringen. Deshalb neigen wir dazu, diese Schatten unbewusst in unsere Mitmenschen zu projizieren. | |||
=== ''Beispiele für Doppelgänger-Projektionen'' === | |||
Hierfür einige Beispiele aus der Praxis: | |||
* Man verspürt eine Neigung, bestimmte Menschen in ihrem Verhalten besonders stark zu kritisieren, ohne sich bewusst zu sein, dass man sie im Grunde beneidet. Man will und kann sich den Neid aber nicht eingestehen und sucht nun Wege, den anderen Menschen als problematisch und nicht beneidenswert erscheinen zu lassen. | |||
* Oder man ist argwöhnisch und ängstlich und wittert überall berechtigte Gründe für Misstrauen: Man meint, die anderen hätten Schlechtes im Sinn oder wären nicht zuverlässig oder würden etwas im Schilde führen. Dabei hat man selber diese Eigenschaften ... | |||
* Auch gibt es Menschen mit einem deutlichen Mangel an sozialer Wahrnehmungsfähigkeit. Dieser Mangel wird nun bei anderen wahrgenommen, kritisiert und besprochen. So ist oft zu erleben, dass Menschen, die besonders viel und gerne über das soziale Miteinander reden, selber auf diesem Gebiet erstaunlich unfähig sind. | |||
Das Positive an der Projektion der Doppelgänger-Eigenschaften ist, dass einem diese Eigenschaften, Probleme und Eigenarten durch die Begegnung mit den Menschen des eigenen Umfeldes bewusstwerden können und man nun beginnen kann, daran zu arbeiten. Wer einmal aufmerksam geworden ist auf das Problem der Spiegelung oder der Projektion des Doppelgängers in die Mitmenschen, entwickelt ein neues Verhältnis zu Schwierigkeiten und Problemen im Sozialen. Denn er weiß jetzt: Alles, was mir bei den Menschen meines Umkreises besonders problematisch erscheint, hat auch mit mir selbst zu tun. Indem ich lerne, damit umzugehen, läutert sich mein eigenes unbewusstes Wesen, dann arbeite ich an der Verwandlung meines eigenen Doppelgängers, aber zugleich auch an der Klärung meines menschlichen Umfeldes. | |||
=== ''Problematische Folgen von Projektionen'' === | |||
Man projiziert seinen Doppelgänger auf andere, solange man nicht die Kraft hat, ehrliche Selbsterkenntnis zu üben und bewusst an diesen Eigenschaften zu arbeiten und sich auf diese Weise weiterzuentwickeln. Das ist einerseits legitim, führt andererseits aber zu unlösbaren Schwierigkeiten, wenn man sich dauerhaft weigert, sich der Tatsache dieser Spiegelung bewusst zu werden und tatsächlich meint, die Probleme lägen nur bei den anderen und man selbst wäre das Unschuldslamm. Unversöhnlichkeit, Verurteilungen und bittere Resignation sind die Folge. | |||
Wer nicht lernt, seine Herrschaftsgelüste und Machtinstinkte auf sich selbst anzuwenden in Form von Selbstbeherrschung, wird Freude daran haben, andere zu beherrschen. Deswegen geht es gerade in Beziehungen darum, diese Doppelgänger-Qualität ins Bewusstsein zu heben, um dadurch zu lernen, das eigene Machtpotential zu instrumentalisieren und aus innerer Freiheit da einzusetzen, wo es gebraucht wird, wo es hilfreich ist und die Menschlichkeit fördert. | |||
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997'' | |||
----[1] Vgl. Rudolf Steiner, ''Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden?, aus: Mysteriengestaltungen,'' GA.232. | |||
[2] Vgl. Stefan Leber, ''Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik.'' Stuttgart 1993. | |||
== DER RICHTIGE ZEITPUNKT FÜR ENTWICKLUNGSPROZESSE IM SOZIALEN == | |||
''Wann ist der richtige Zeitpunkt, um an Problemen und Konflikten in der Partnerschaft zu arbeiten?'' | |||
Das Spannungsfeld von Individualität und Gemeinschaft für die Entwicklung nutzen zu lernen, ist ein lebenslanger Prozess. Dabei spielt der Umgang mit dem Faktor Zeit eine zentrale Rolle. | |||
=== ''Der Faktor Zeit in der Beziehungsarbeit'' === | |||
Die Arbeit an Problemen und Konflikten kann nicht zu jedem Zeitpunkt vorgenommen werden. Das zu berücksichtigen ist wichtig: Wer meint, nach Mitternacht noch mit dem Partner konstruktiv an Problemlösungen arbeiten zu können, hat sich in der Regel getäuscht. Man kann um diese Zeit zwar noch lange diskutieren – es kommt jedoch selten etwas Konstruktives dabei heraus. Meist dreht man sich dabei im Kreis und ist am Ende müde und verzweifelt. Am nächsten Tag ist man unausgeschlafen und reagiert schon deshalb aggressiver als nötig. | |||
Am besten sind Zeiten, die man gemeinsam verabredet und auf die man sich innerlich einstellen kann. Oder aber solche Augenblicke, die man im Laufe des Tages geistesgegenwärtig ergreift, wenn sich ein Gespräch ergeben hat, das man dann in Richtung der notwendigen Problemlösung fortsetzen kann. | |||
Solche Überlegungen helfen auch bei Kindern. Oft entspannt sich die Situation bereits, wenn man genauer abzuschätzen versucht, wo sie sich gerade befinden. So ist z.B. „berechtigtes Schimpfen“ zu einem Zeitpunkt, an dem das Kind bereits übellaunig, aggressiv, müde, gestresst oder hungrig ist, nicht sinnvoll und sollte lieber vermieden werden. Viel effektiver ist es, in der akuten Situation zu schweigen und abzuwarten, bis Ruhe einkehrt und das Kind wieder aufnahmefähig ist, um dann die notwendige Korrektur oder Erklärung vorzubringen. | |||
=== ''Wahrnehmen von Prozessen üben'' === | |||
Im Umgang mit Konflikten stellt sich generell die Frage, ob die Sache schon so reif ist, dass wirklich etwas entschieden werden kann, ob eine Konfrontation stattfinden sollte oder ob ein „chirurgischer Eingriff“ vorgenommen werden muss. Hier den richtigen Zeitpunkt für eine Entscheidung zu finden, ist schwierig, weil wir nicht im ruhigen Wahrnehmen solcher Vorgänge geübt sind. | |||
Auch sind Menschen immer weniger gewillt, sich für Entwicklungsprozesse im Sozialen die notwendige Zeit zu nehmen. Man möchte vielmehr hier und jetzt, quasi auf Knopfdruck, alles geregelt haben. So wie man Kindern ihre Kindheit nicht mehr zugesteht und sie so früh wie möglich zu kleinen Erwachsenen macht, so gesteht man auch alten Menschen ihr Alter nicht mehr zu und lässt generell zu wenig Zeit für Reifungsprozesse. Man ist leicht geneigt, seine eigenen Neigungen und Fähigkeiten zum Maßstab für andere zu machen und die unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven für Entwicklungsverläufe aus dem Auge zu verlieren. | |||
Wie wohltuend ist es, wenn man berechtigte Forderungen an jemanden zurückstellen kann, weil man erkennt, dass der Betreffende gerade besonders belastet ist. Auch wenn es von der Sache her richtig wäre, eine Forderung zu stellen, kann es sein, dass jetzt nicht der „richtige“ Zeitpunkt dafür ist. Ungeduld und die Unfähigkeit, sich Zeit zu lassen, zerstören viel an Entwicklungsmöglichkeiten. | |||
=== ''Gefahr vorschneller und zu spät getroffener Entscheidungen'' === | |||
Immer wieder gibt es in der Partnerschaft Konstellationen, die ausweglos erscheinen und bei denen der Partner auf eine Entscheidung drängt: ''„Wenn du dich jetzt nicht so oder so entscheidest, dann ...“.'' Unter diesem Druck wird u.U. vorschnell etwas entschieden, auf das man später mit Reue zurückblickt, weil man zugeben muss, dass die Entscheidung unreif war. Man hätte sich und anderen Leid erspart, wenn der Druck nicht gewesen wäre. | |||
Aber auch das Umgekehrte kommt vor: Ehepartner, die sich seit Jahren in ihrer Entwicklung mehr behindern als fördern, und deren Kinder schließlich schon sagen – ''„Warum trennt ihr euch denn nicht?“'' – fassen diesen Entschluss womöglich zu einem Zeitpunkt, an dem es für einen der beiden Partner oder für beide bereits zu spät ist, dem Leben eine entscheidende Wendung und damit eine neue Entwicklungschance zu geben. | |||
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 7. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997'' | |||
== HILFEN BEI EHEPROBLEMEN == | |||
''Wer kann von sich sagen, dass er wirklich zu Toleranz und Verträglichkeit erzogen worden ist?'' | |||
Lässt sich ''Erziehung zur Verträglichkeit im späteren Leben nachholen?'' | |||
=== ''Beziehungsproblemen lösen durch Erziehung zur Verträglichkeit'' === | |||
Um auf diese Fragen einzugehen, soll noch das pädagogische Problem der Selbsterziehung angesprochen werden. Rudolf Steiner, der einmal nach der Ursache zunehmender Eheschwierigkeiten gefragt wurde, bemerkte dazu, dass sie in erster Linie Ausdruck einer nicht stattgefundenen Erziehung zur Verträglichkeit sei. Diesbezüglich können wir sicher alle noch viel hinzulernen. Ich möchte daher zwei Hilfen nennen, die sich auf diesem Gebiet bewährt haben: | |||
==== '''·''' Besinnung auf die geistige Welt ==== | |||
Das erste Hilfsmittel ist, sich auf das eigene Verhältnis zur geistigen Welt zu besinnen: | |||
''Was ist mein Lebensziel?'' | |||
''Welches ist das Ideal meiner Entwicklung?'' | |||
''Wie sehe ich es in Verbindung mit der Tatsache, dass alle anderen Menschen sich ebenfalls entwickeln?'' | |||
''Gibt es ein uns Menschen gemeinsames Ideal des Werdens, der Menschlichkeit, zu dem die unterschiedlichsten Wege hinführen?'' | |||
''Und: Kenne ich das Lebensideal meines Ehepartners?'' | |||
''Kann ich dieses Ideal lieben als sein Zentrum, seine innerste Sehnsucht nach Daseinsverwirklichung?'' | |||
==== '''·''' Den anderen nehmen, wie er ist ==== | |||
Das zweite Hilfsmittel ist die Befolgung eines sozialtherapeutischen Ratschlages von Rudolf Steiner: ''„Man nehme den anderen Menschen, wie er ist, und versuche aus dem, was er ist, das Allerbeste zu machen.“'' [1] | |||
Tatsächlich tut man meist genau das Umgekehrte: Man nimmt sich selbst so, wie man ist, und mäkelt an dem anderen herum. In dem Augenblick, in dem man Freude daran gewinnt und die nötige Fantasie entwickelt, aus allem, was gesagt wird und geschieht, das für das gemeinsame Leben Fruchtbarste zu machen, wird es nicht mehr zu kraftraubenden, sich ewig wiederholenden Konflikten kommen. Durch ein solches Bemühen lernt man sich gegenseitig erst richtig kennen, lernt über Unvollkommenheiten des anderen zu schmunzeln, die einen früher zur Weißglut bringen konnten, und bemerkt viele positive Gestaltungsmöglichkelten des gemeinsamen Lebens, die man bisher noch gar nicht entdeckt hatte. | |||
Wenn man in der Kinderarztpraxis mit Eltern über diesen Punkt spricht, nicken die Männer meistens ganz verständnisvoll, wohingegen die Frauen einem entgegenhalten: ''„Die Erfahrung habe ich schon oft gemacht, dass es keinen Streit mehr bei uns gibt, wenn ich mich so verhalte, wie mein Mann es von mir erwartet. Wenn ich mich in allem füge und flexibel zeige, gibt es zwar keine Probleme, aber ich fühle mich in meinen Wünschen, Fragen und Problemen alleingelassen und nicht ernstgenommen.“'' | |||
Und hier liegt tatsächlich ein Kern des Problems. Solange man sich so fühlt, als ''müsse'' man sich unterordnen und als herrsche keine Partnerschaftlichkeit beim Äußern von Bitten und Wünschen, steht man noch nicht auf dem oben angedeuteten Boden. Denn dieser Boden kann nur durch einen freien Entschluss betreten werden. Man will das Beste daraus machen im Vertrauen auf die Entwicklungsfähigkeit des anderen, auch wenn er sich vorerst gar nicht ändert. | |||
=== ''Ermutigende Bejahung des anderen'' === | |||
Die Erfahrung zeigt, dass ein Mensch, der ständig von einem anderen in seinem Sosein bejaht und in seiner Existenz bestärkt wird, sich in einer solchen Atmosphäre anders entwickeln kann als jemand, der im Inneren resigniert hat, weil er spürt, dass er dem anderen doch nichts recht machen kann, dass er den hohen, in ihn gesetzten Erwartungen nicht entspricht. | |||
Es zeigt sich immer wieder, dass in Gesprächen dieser Art der charakteristische Unterschied im Seelenleben von Mann und Frau zum Tragen kommt und, wo das unbewusst bleibt, zum Konflikt führen muss: | |||
· SIE hat aufgrund ihrer stärkeren seelischen Farbigkeit und Regsamkeit eine konstitutionelle Neigung, IHN zu idealisieren und mehr in ihm zu sehen, als er bieten kann. | |||
· Umgekehrt hat ER die konstitutionelle Neigung, sich rascher zufriedenzugeben, eher etwas weniger von dem wahrzunehmen, was SIE ist und eigentlich will, und hat in ihren Augen oft zu geringe Ansprüche an das gemeinsame Leben und seine Gestaltung. | |||
Bei der Frau bestünde die Übung des oben angeführten Satzes – ''„den anderen nehmen, wie er ist, und daraus das Beste machen“'' – mehr darin, sich zu bemühen, realistischer zu werden, und beim Mann läge die Verwirklichung des Satzes mehr darin, ein wenig idealistischer zu werden. Beiden gemeinsam wäre das damit verbundene Bemühen, die Persönlichkeit des andern in ihrem Sosein ernst zu nehmen. | |||
''Vgl.'' ''Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden?'' Vortrag vom 10. 10. 1916 in Zürich. In: ''Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten,'' GA 168. | |||
== KONSTRUKTIVER UMGANG MIT DEM SCHEITERN VON BEZIEHUNGEN == | |||
''Warum scheitern heutzutage so viele Beziehungen?'' | |||
''Wie können die Betroffenen konstruktiv damit umgehen?'' | |||
=== ''Warum Beziehungen heute oft scheitern'' === | |||
Es gibt heute Schulklassen, in denen nur ein Drittel der Kinder aus einer Familie kommt, in der Vater und Mutter noch zusammenleben. Die Zeiten sind vorbei, in denen eine Ehe aufgrund eines einmal in der Kirche gegebenen Versprechens oder aufgrund gesellschaftlicher Normen und Verpflichtungen aufrechterhalten werden kann. Über das Zusammenbleiben entscheidet heute, ob die Partner in der Lage sind, ihre persönliche Entwicklung (ihre Selbstverwirklichung) auch vor dem Hintergrund der familiären Bindung zu realisieren. | |||
Ohne eine starke Motivation und klare Gesichtspunkte zur Selbsterziehung wird es immer schwerer, mit anderen Menschen und ihren Bedürfnissen zurechtzukommen. Enttäuschte Erwartungen, hohe Ansprüche, Missverständnisse, unerfüllte Sehnsüchte, Wunschträume, deren Realisierungsmöglichkeiten man nicht klar durchdacht hat, Neid- und Eifersuchtssituationen und nicht zuletzt Meinungsverschiedenheiten über Kindererziehung und Lebensgestaltung – all diese Themen wirken wie Sprengstoff in der Beziehung, wenn sie nicht als fruchtbare Felder der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Partner angesehen werden können. | |||
=== ''Fragen in der Beziehungskrise'' === | |||
Wenn eine Beziehung in Gefahr ist, ist es sehr hilfreich, wenn die Beteiligten sich nach zwei Richtungen hin befragen: | |||
* ob dieser Bruch nötig ist, damit beide in ihrer Entwicklung weiterkommen, | |||
* ob der Bruch vermeidbar ist, wenn einer oder beide bereit sind, ihre Einstellung dahingehend zu verändern, dass sie an sich etwas ändern, so dass sich dadurch neue Entwicklungsperspektiven ergeben, die eine Fortsetzung der Beziehung als sinnvoll erscheinen lassen. | |||
Bisweilen hat einer der beiden Partner die Notwendigkeit zur Selbsterziehung entdeckt oder besitzt durch andere Hilfe die Kraft, eine Beziehung auch dann fortzusetzen, wenn bereits vieles dafürspricht, sie abzubrechen. Oft jedoch sind die Umstände so unerträglich geworden , dass es zum Wohle beider Partner und insbesondere zum Wohl des Kindes besser ist, die Trennung zu vollziehen. Für ein Kind ist es wesentlich gesünder, in einer harmonischen Mutter-Kind-Beziehung aufzuwachsen, als täglich die zermürbenden Spannungen oder die immer wieder auftretende eisige oder resignierte Stimmung zu erleben, die mit einer zerrütteten Ehe einhergeht. | |||
=== ''Lernen aus dem Scheitern von Beziehungen'' === | |||
Viele Freundschaften, Partnerschaften und Ehen zerbrechen an dem Mangel an Freiheit in der Beziehung. Um der Freiheit willen ist man geneigt, Bindungen aufzugeben, um sich erst einmal selbst zu finden, oder auch '''–''' meist unbewusst '''–''' um der Freiheit des anderen willen, der zu stark in Abhängigkeit geraten ist. Viele Menschen lernen erst in der Isolierung und Vereinzelung, wie man beziehungs- und bindungsfähig wird. Menschen, die sich nach einer ersten gescheiterten Partnerschaft oder Ehe wieder neu mit einem anderen Menschen verbunden haben, sagen sehr oft, wie viel sie aus der alten Beziehung für die neue gelernt haben. Durch die scheinbare Katastrophe haben sie die Kraft erworben für eine neue, oft viel bewusstere und tragfähigere Verbindung. | |||
Damit soll natürlich keine Lanze gebrochen werden für die Ehescheidung '''–''' ich möchte damit nur deutlich machen, dass dieses Zerbrechen von Lebensformen und Gemeinschaften auch etwas Positives hat, das im Sinne der christlichen Werteentwicklung und Ziele der Menschheit liegt. | |||
''Vgl. „Die alleinerziehende Mutter“ und „Vom Umgang mit sozialen Problemen“, aus „Elternfragen heute“, Verlag Urachhaus, Stuttgart'' |
Aktuelle Version vom 8. April 2025, 11:06 Uhr
Partnerschaft und Ehe – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
ÜBER EHE, PARTNERSCHAFT UND FREIHEIT
Wie weiß man, ob der Freund, mit dem man zusammen ist, die Person ist, mit der man sein ganzes Leben verbringen wird?
Das Schöne ist, dass man es nicht weiß. Die einzige wichtige Frage ist, ob man es WILL. Wenn man es will, kann man es auch.
Versprechen der Lebensgemeinsamkeit
Das Geniale am Sakrament der Christengemeinschaft ist die Formulierung des Traurituals: Man verspricht einander die Lebensgemeinsamkeit. Man verspricht nicht, dass man nie mehr mit einem anderen zusammen sein will, dass man dies und jenes nicht tun würde. Vielmehr verspricht man dem anderen Menschen, ihm treu zu sein durch das ganze Leben hindurch und mit ihm gemeinsam zu leben. Man heiratet auch den Schicksalsumkreis des Freundes. Wenn das Interesse am andern nicht nachlässt, kann man auch Zeiten als bereichernd erleben, in denen andere Freundschaften dazwischenkommen. Man erzählt sich gegenseitig davon, man spricht darüber, weil es die Ehe, die Lebensgemeinsamkeit, nicht tangiert. Und selbst wenn es sie tangiert, bleibt es im menschlichen Bereich, solange man darüber spricht und sich austauscht darüber, was man empfindet. Dann ist es möglich, einander selbst zu solchen Zeiten zu verstehen und zu begleiten. Auf diese Weise kann man auch Möglichkeiten finden, damit zurechtzukommen.
Darin äußert sich der zukunftsweisende Wunsch nach Freiheit. Der Individualismus und der Freiheitsdrang regen sich im Menschen, weil sie seine Zukunft sind. Wir brauchen neue Formen von Ehe und Gemeinsamkeit, in denen der Respekt vor dem Individuum erhalten bleibt. Man muss doch sein eigenes Leben weiterleben können, auch wenn man verheiratet ist. Wer weiß denn, wen man noch treffen wird, welche Erfahrungen noch auf einen zukommen! Andererseits ist es etwas unheimlich Schönes, mit einem Menschen zusammen alt zu werden. Das ist wirklich eine besondere Erfahrung.
Persönliche Erfahrung
Ich bin jetzt 34 Jahre mit meinem Mann zusammen.[1] Er ist 12 Jahre älter als ich, ist quasi schon ein alter Mann. Wir merken aber, die Ehe wird immer schöner durch das reifer und weiser Werden und die Fähigkeit, die Dinge anders zu sehen. Man kann über vieles ganz anders sprechen, wenn man älter wird. Diese Qualitäten können nicht erlebt werden, wenn man aus Angst vor einer Bindung nur Lebensabschnittepisoden und -partnerschaften lebt. Diese Partnerschaften sind viel besser als nichts, doch die vorhin beschriebene Lebensgemeinsamkeit ist ein Schulungsweg, auf dem man unglaublich viel lernt. Viel mehr, als wenn man sich nur den geeigneten Partner für den letzten Entwicklungsstand aussucht.
Für mich besteht das Ideal der Ehe darin – und das versuchen mein Mann und ich zu leben – dass man beides kombiniert: dass jeder machen kann, was er will, und dass man trotzdem zusammenlebt. Freiheit und Liebe sollten im Gleichgewicht sein, es sollte nicht eines gegen das andere ausgespielt oder auf Kosten des anderen gelebt werden. So braucht man keine Angst zu haben vor dem Heiraten. Die Ehe als Gefängnis aufzufassen, ist furchtbar. Viele junge Leute wollen aus diesem Grund heute nicht mehr heiraten.
- Viele sagen heute: „Ich will frei bleiben, also heirate ich nicht.“
- Das andere Extrem wäre zu sagen: „Ich liebe meinen Partner und deshalb ist er jetzt mein Besitz.“ Sich gegenseitig die Freiheit einzuschränken und sich ständig Vorwürfe zu machen, ist ein totaler Albtraum.
Freiheit und Liebe kombinieren
Dabei geht es darum, Freiheit und Liebe zu kombinieren – und genau das wird im Trauritual der Christengemeinschaft formuliert. Kinder erinnern sich ja auch gerne ein Leben lang an ihre Kindheit, sie behalten ihren Namen und bleiben ihren Eltern ein Leben lang verbunden, auch wenn sie eines Tages von zuhause weggehen und die eigene Freiheit genießen.
Warum sollte man dem eigenen Partner nicht auch diese Freiheit in Liebe zugestehen?
Das ist in der Ehe auch möglich – wenn man zusammenbleibt. Es bedeutet einen großen Kraftzuwachs, wenn man sich im täglichen Leben hilft und beisteht und sich über diese Basis hinaus auch echt für das Schicksal des anderen interessiert. Dann versteht man, warum der Partner welche Freunde hat, warum vieles bei ihm so ist, wie es ist, und warum er manche Sachen nicht mag und nicht macht, die man selbst mag und macht.
Mann und Frau sind so unterschiedlich. Wenn man zusammenlebt, merkt man erst, wie einseitig man ist. Das zu erkennen ist ganz wichtig für die eigene Entwicklung. Wenn man mit Freunden zusammen ist, ist man viel weniger individuell und „einzeln“, als wenn man mit jemandem zusammenlebt, der bis in die Ausgestaltung des Körpers wirklich anders ist.
Vgl. Gespräch mit jungen Menschen, IPMT in Santiago di Chile 2010
[1] Das war 2010, inzwischen ist Georg Glöckler gestorben.
EHE ALS GEMEINSCHAFT ZWEIER INDIVIDUALITÄTEN
Wie können sich zwei Individuen so verbinden, dass sie eine Gemeinschaft bilden und doch ihre Eigenständigkeit nicht verlieren?
Welche Herausforderungen und Aufgaben bringt das mit sich?
Die Falle der Projektion
Eine Vielzahl von Eheproblemen hängt damit zusammen, dass man bei der Suche nach sich selbst und nach dem Sinn der eigenen Existenz das Gesuchte in den Partner projiziert und nun meint, im anderen das eigene Selbst gefunden zu haben. Auch wenn wir an der Begegnung mit unserem Partner zur immer genaueren Erkenntnis des eigenen Wesens gelangen, so bleibt uns doch ein Rätsel, wer der andere wirklich ist. Davon können wir uns nur immer wieder aufs Neue ein Bild zu machen versuchen.
Hat man die Suche nach sich selbst mit der Suche nach einem Partner verwechselt, so muss man oft auf schmerzliche Weise lernen, dass der andere doch ganz anders ist und ein anderes Schicksal hat als man selbst – auch oder gerade, wenn zunächst durch das Zusammenkommen zweier Polaritäten ein grenzenloses Harmoniegefühl entstanden war und man sich ganz einig und eins fühlte, weil sich zwei unterschiedliche Seelen- und Körperarten wunderbar ergänzten. Zwischen den unterschiedlichen Polen von Mann und Frau besteht eine naturgegebene seelische und körperliche Anziehung.
Streben nach Weiterentwicklung als Konfliktpotential
In beiden Partnern aber lebt ein ganz individuelles Menschen-Ich, das sich aus der Harmonie heraus eines Tages wieder stärker zu regen beginnt und nach Weiterentwicklung verlangt. Das Geistig-Individuelle, das in Seele und Körper lebt und unablässig wirkt, weil es reiner Geist ist, beginnt nach einer Zeit zu großer Harmonie mit dem Partner zu revoltieren: Es war im Erleben der Gemeinsamkeiten vorübergehend wie untergetaucht. Manchmal fragen Menschen sich nach einer solchen Phase: Wo war ich bloß die ganze Zeit?
Mit einem Mal ist der Abstand wieder da und die Einsamkeit des Ich wird wieder erlebbar. Die Suche nach „sich selbst“ wird dem Menschen nicht abgenommen dadurch, dass er einen Lebensgefährten gefunden hat.
In dieser Art Krisensituation haben es die Frauen noch immer wesentlich schwerer als die Männer, denen man die Notwendigkeit zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung eher zugesteht. Das Ich der Frau wird gerne mit ihren körperlichen und seelischen geschlechtsgebundenen Eigenschaften gleichgesetzt. Es ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten, dass jeder im anderen den geistigen Wesenskern als einmalig, allgemein-menschlich und unverwechselbar anerkennt.
Interesse für den anderen und Kontinuität
Andererseits ist es schier unmöglich, in Eheschwierigkeiten zu geraten, wenn jeder innerlich sicher seinen Weg geht und sich für das Ergehen des anderen brennend interessiert, wenn man sich miteinander über die Suche nach dem eigenen Weg unterhalten kann und man die Abgründe und Einsamkeit, mit denen beide immer wieder zu kämpfen haben, als notwendige Marksteine der inneren Entwicklung akzeptieren kann. Viele Konflikte hängen gerade damit zusammen, dass über all das nicht offen gesprochen werden kann und jeder vom anderen meint, dass dieser ihn „nicht versteht“, vielleicht sogar „nie verstanden hat“, dass das harmonische Zueinanderfinden nur eine schöne Illusion war.
Fasst man die Ehe als Gemeinschaft zweier Individualitäten auf, die sich gegenseitig in ihrer Entwicklung fördern wollen, so wird sie zu einem fruchtbaren Übungsfeld, das nur in der Kontinuität als solches zu erfahren ist. Denn eine Eigenschaft des Ich ist die Kontinuität. Unser geistiger Kern, unsere Ich-Identität, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie nicht schwankt wie unser Seelenleben. Gefühle können sehr unterschiedlich sein, je nachdem, was wir erleben.
Dauerhafte Verbindung von Ich zu Ich
Aber alles, was wir dauerhaft in unserem Seelenleben pflegen – bleibende Neigungen, Ideale, bestimmte Entschlüsse, die wir durchtragen – wird Teil unseres Ich, unserer ewigen Persönlichkeit. Allem, womit wir uns im Ich verbinden, verleihen wir Dauer. Das heißt aber auch, dass wir es nicht mehr verlassen.
Eine Ehe ist im Grunde erst dann eine Ehe, wenn sie von Ich zu Ich aus Interesse am Wesen des anderen geschlossen wird. Eine solche Beziehung ist von Dauer, weil sie geistig wesenhaft ist. Ehen, die zerbrechen können, sind nicht von Ich zu Ich geschlossen worden. Da haben andere Motive vorgeherrscht. Wenn man vom Ich aus in Beziehung zu jemandem tritt, wird man frei von der naturgegebenen körperlichen und seelischen Anziehung. Man fragt dann nicht mehr danach, was man selbst vom anderen braucht, sondern bemüht sich aus Interesse für das Ich des anderen herauszufinden, was der andere von mir braucht.
Vgl. Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987
SPIELARTEN DER LIEBE IN DER PARTNERSCHAFT
Auf welchen Ebenen kann Liebe gelebt werden in Partnerschaften?
Liebe und Wesensschichten
Wir können uns als Liebende in allen Schichten unseres Wesens erleben und bewegen, im Physischen, im Ätherischen, im Seelischen und im Ich. Entsprechend gibt es unterschiedliche Spielarten der Liebe.
· Sexuelle und erotische Liebe
Die an den physischen Leib gebundene Liebe, die Sexualität, und die an die Lebensorganisation, den Ätherleib, gebundene Erotik, sind eng gekoppelt an die jeweiligen Bedürfnisse der Partner. Sie sind naturgemäß geprägt von einer starken Selbstbezogenheit.
· Seelisch geprägte Liebe
Die seelisch geprägte Liebe, die im Seelischen, im Astralleib, wurzelt, wird im Griechischen Philia genannt. Bei dieser Liebe ist ebenfalls ein starker Selbstbezug vorherrschend: Beide Partner leben seelisch stark voneinander und füreinander. Ihr Schenken ist jedoch stets auch mit der Erwartung zu empfangen verbunden. Wird diese Erwartung enttäuscht oder glaubt man sich vom anderen nicht mehr so innig und ausschließlich geliebt, so kann diese Liebe in Hass oder Eifersucht umschlagen. Sie lebt vom ständigen Geben und Nehmen, mal gibt mehr der eine, mal mehr der andere. Es ist die Liebe, die Freundschaften bestimmt, die ihr Auf und Ab haben, durch Krisen gehen, die zerbrechen können, aber auch einmalig und wunderschön sind und einen ganz elementaren Bestandteil unseres Menschenlebens darstellen.
· Ich-hafte Liebe
Wenn man nicht mehr danach fragt, was man selbst vom anderen braucht, sondern wenn man sich bemüht aus Interesse für das Ich des anderen herauszufinden, was der andere von einem braucht, tritt man in einen Bereich der Liebe ein, den man „christliche Liebe“ nennt, weil sie schenkend ist.
Im 1. Korintherbrief des Paulus, dem Hohelied der Liebe, werden die Eigenschaften der Liebe beschrieben:
„Sie ist langmütig und freundlich, sie kennt keinen Neid, keine Prahlerei, ist immer wahr und echt, verletzt nicht, treibt die Selbstsucht aus, trägt Böses nicht nach, sie erträgt alles, hofft auf alles, ist unsäglich geduldig und vertrauensvoll.“[1]
Wir sehen, hier werden Qualitäten des Ich beschrieben. Da das Ich aber auch in Seele und Leib tätig ist, haben wir natürlich auch hier mit den mit Leib und Seele zusammenhängenden Formen von Liebesäußerungen zu tun. Die Erfahrungen der Liebe sind umso beseligender, je mehr sie im Ich empfangen und von ihm gegeben werden und damit in der Freiheit der beiden Persönlichkeiten begründet sind.
Vgl. Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987
[1] Neues Testament, 1. Korinther 13, 4-7.
FREUNDSCHAFTEN DES PARTNERS MITTRAGEN
Wie kann man konstruktiv damit umgehen, wenn der Partner eine enge Beziehung zu einem anderen Menschen eingeht?
Welche Gesichtspunkte können hilfreich sein für das Verständnis und die Bewältigung einer solchen Situation?
Ehe als Verbindung zweier Lebenskreise
Bei der Hochzeit begegnen sich Verwandte und Freunde der beiden Partner: Einander im Grunde wildfremde Menschen bieten sich bei klingenden Gläsern das Du an – d.h. die Ehe wirkt sich als ein im Sozialen verbindendes Ereignis auf den Alltag zweier Menschenkreise aus. Damit ist noch eine weitere Herausforderung verbunden: Ein Prozess ist in Gang gekommen, der seine Fortsetzung findet und an dem die Ehe eines Tages auch wieder zerbrechen kann.
Denn der menschliche Umkreis der Partner, ihr jeweiliges Schicksalsfeld und ihre Beziehungen sind ja mit der Eheschließung nicht in einen Ruhezustand eingetreten, sondern wachsen weiter. Und so fordert das Ernstnehmen des anderen auch ein echtes Interesse für die Beziehungen, die der andere hat oder neu eingeht. Gelingt es nicht, die Menschen, die ihm wichtig sind, so in das eigene Seelenleben mit aufzunehmen, wie man es bei der Hochzeit mit den Verwandten und Freunden des Partners versucht hat, so kann die Intensität neuer Freundschaften auf die Ehe sprengend wirken, statt sie zu bereichern. Wäre mit dem Entschluss zur Lebensgemeinsamkeit der Ehe gleichzeitig der Entschluss verbunden, das Schicksal des anderen mit den ihm verbundenen Menschen ebenfalls zu heiraten, so könnten viele menschlich zunächst kompliziert erscheinende Konstellationen in gesunde, alle Beteiligten fördernde Bahnen kommen. Dann können Eifersucht und Gleichgültigkeit viel leichter im Keim erstickt und überwunden werden.
Über sich und den anderen lernen wollen
Auch hier erweist sich der Wunsch, das Beste aus diesen Konstellationen zu machen, über sie zu sprechen und aus ihnen etwas über sich und den anderen zu lernen, als segensreich. Liebe schenken und Liebe genießen fallen im Leben zeitlich nicht immer zusammen. Wenn wir das erfahren, erkennen wir auch, wie schwer es ist, diese schenkende, ich-getragene geistige Liebe aufzubringen, wenn man bisher den selbstbezogenen Liebesgenuss als Zentrum der Gemeinsamkeit empfunden hatte. Eifersuchtsgefühle, Verzweiflung, Leere und Sehnsucht nach dem Verlorenen wecken den Betroffenen auf für die Einseitigkeit und Geistferne, von der seine Liebe zum Ehepartner bisher geprägt war.
Wenn man sich dagegen brennend dafür interessiert, warum gerade dieser neu hinzugekommene Mensch dem anderen so viel bedeutet, haben Empfindungen des Enttäuscht-Seins keinen Platz. Eine derartige Lebenshaltung mag dem einen oder anderen von Ihnen wirklichkeitsfremd erscheinen. Sie wird jedoch jedem sofort einleuchten, der das Eheleben als einen Weg ansieht, den anderen in seiner Entwicklung zu fördern und sich selbst mit der geistigen Welt und den die Menschheit leitenden Lebensidealen in Beziehung zu setzen.
So möge die Liebe zur heranwachsenden Generation, die noch härteren Zeiten entgegengeht als die unsrige, dazu beitragen, dass wir immer wieder die nötige Bereitschaft und Begeisterung dafür aufbringen, unsere sozialen Beziehungen gerade im häuslich-alltäglichen Bereich in menschenwürdige Bahnen zu lenken.
Vgl. Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987
MANN UND FRAU – UNTERSCHIEDE IM KÖRPERLICHEN BEREICH
Inwiefern haben die Unterschiede zwischen Mann und Frau im körperlichen Bereich mir ihrem unterschiedlichen Denken und Fühlen zu tun?
Wie lassen sich die Unterschiede von Körper, Seele und Geist von Mann und Frau entwicklungsphysiologisch erklären?
Enger Zusammenhang zwischen körperlicher Konstitution und Seelenleben
In körperlicher Hinsicht sind Mann und Frau elementar verschieden. In seelisch-geistiger Hinsicht gibt es ebenfalls signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern. So besitzt das Denken des Mannes eine deutlich andere Arbeitsdynamik und einen anderen Duktus als dasjenige der Frau. Eine Frau kann sich durch Übung manches von der typisch männlichen Denkart aneignen, so wie es umgekehrt auch für den Mann möglich ist, die weibliche Denkart bis zu einem gewissen Grad zu erlernen. Dennoch gibt es typische Unterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Seelenleben, weil die seelische Entwicklung eng mit der körperlichen Konstitution zusammenhängt und dort die Verschiedenheit evident ist.
FRAU | MANN | |
Muskulatur | weniger | mehr |
Fettansatz | mehr | weniger |
Körpergröße | weniger | mehr |
Verknöcherung des Kehlkopfes | keine | liegt vor |
Körpergewicht | weniger | mehr |
Geschlechtsorgane | auf Empfangen und Reifen-Lassen hin orientiert | auf Geben und Entwicklung-Anstoßen hin orientiert |
Brust | auf Geben hin orientiert, wandel- und verletzbar | auf Zurückhalten hin orientiert, stabil |
Entwicklungsphysiologische Besonderheiten
Bis zur siebten Woche der Embryonalentwicklung sind der weibliche und der männliche Körper äußerlich völlig gleich gebildet, beide sind männlich-weiblich veranlagt. Erst in der sechsten bis achten Woche „obliteriert“ die jeweils entgegengesetzte Geschlechtsanlage, d.h. sie bildet sich zurück: Jetzt kommen die Geschlechtschromosomen im männlichen und weiblichen Organismus so zur Wirksamkeit, dass das jeweils andere Geschlecht sich wieder zurückbilden muss und nur kleine Rudimente vom anderen Geschlecht im eigenen Organismus zurückbleiben. Diese Rudimente (Reste) der Organanlagen des anderen Geschlechts erinnern zeitlebens daran, dass der Mensch eigentlich androgyn bzw. männlich-weiblich veranlagt ist. Die potentielle Möglichkeit, das andere Geschlecht zu entwickeln, bleibt sogar so effizient erhalten, dass sie zeitlebens z.B. durch Hormongaben aktiviert werden kann. Wird eine Frau bei bestimmten Formen der Krebserkrankung mit männlichen Sexualhormonen behandelt, entwickelt sie eine tiefere Stimme und der Kehlkopf kann verknöchern, wenn die Dosierung nicht niedrig genug gehalten wird. Sie kann dann auch normalen Bartwuchs entwickeln, wohingegen die Brustentwicklung zurückgeht – die männlichen sekundären Geschlechtsmerkmale dominieren mehr und mehr. Dasselbe ist auch bei einem Mann zu beobachten, wenn er eine Östrogentherapie erhält. Er feminisiert, d.h. das Muskelgewebe nimmt zugunsten eines typisch weiblichen Fettansatzes ab.
Interessant ist nun, dass zu der Zeit in der Embryonalentwicklung (7. Woche), in der das jeweils andere Geschlecht sich zurückbildet, gleichzeitig die Großhirnbläschen aussprossen, die die Grundlage für das spätere Denkorgan bilden. Die Großhirnentwicklung vollzieht sich also parallel zur Rückbildung des entgegengesetzten Geschlechtes! Das Gehirn weist schon bald nach der Geburt kaum weitere zelluläre Neubildung auf. Die Nervenzellen können nicht nachwachsen und sind noch dazu sehr empfindlich gegenüber Sauerstoffmangel. Sie können leicht absterben oder degenerieren – ganz im Gegensatz zu den Fortpflanzungsorganen, die ständig neue Zellen bilden und diese zur Reife bringen; hier findet eine intensive zelluläre Aktivität statt. Betrachtet man diesen Tatbestand nun im Zusammenhang mit der Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedankenkräfte, muss man sich fragen, was mit den zurückgestauten Fortpflanzungskräften des jeweils anderen Geschlechtes geschieht, die physisch nicht zur Ausreifung der Organe verwendet werden.
Interessante Arbeitshypothese
Die Arbeitshypothese, dass die volle Lebenstätigkeit des jeweils anderen Geschlechts, das im eigenen männlichen bzw. weiblichen Körper nicht zur Ausprägung kommt, als leibfrei aktive Gedankenkompetenz zur Verfügung steht, macht durchaus Sinn: Beobachtet man daraufhin das eigene Denken und das des Partners oder Freundes anderen Geschlechts, so entdeckt man, wie der andere funktionell dieselbe Dynamik in seinem Denken hat, die man selber körperlich auf sexueller Ebene auslebt.
Wie sonst wäre es verständlich, dass Frauen so viel lieber Shoppingtouren machen als Männer, sich durch die Sinne anregen lassen, was sie kaufen wollen, ungerne Einkaufszettel schreiben und die Spontaneität weit mehr lieben als der Mann?
Oder warum alle großen Philosophien von Männern entwickelt wurden?
Nur dank ihrer im Denken wirksamen weiblich-genitalen Funktionsdynamik sind Letztere in der Lage, ein System in Ruhe reifen zu lassen und gedanklich mehr nach innen orientiert zu sein. Das Interessante an einer solchen Betrachtung ist, dass alles, was einen oft als „typisch anderes“ am anderen stört, der Funktionsdynamik des eigenen Geschlechts entspricht – in Form von gedanklicher Tätigkeit.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
METAMORPHOSE DER WACHSTUMSKRÄFTE IM HINBLICK AUF MANN UND FRAU
Was sagt der Zusammenhang von Denken und Wachstumskraft über den Unterschied von Mann und Frau aus?
Wie zeigen sich die Unterschiede bereits in der Embryonalentwicklung?
Unterschiedlicher Leib-Seele-Zusammenhang
Dem Leib-Seele-Zusammenhang verdanken wir u.a. die Fähigkeit, unser Seelenleben und unsere Art zu denken und zu empfinden lebenslang immer weiter zu entwickeln. Wir sind in der Lage, durch die Art unseres Denkens zerstörend oder aufbauend auf unseren Leib zurückzuwirken und ihn über längere Zeiträume in seinen Funktionen zu beeinflussen.
Dieser Leib-Seele-Zusammenhang, der sich bei Mann und Frau unterschiedlich gestaltet, hilft uns, die Verschiedenheit von Mann und Frau in körperlicher und seelischer Beziehung zu verstehen. Alle psychologischen Studien und Abhandlungen darüber können kein wirkliches Verständnis bewirken, wenn man diese Zusammenhänge nicht gleichzeitig berücksichtigt. Im Folgenden gehe ich näher darauf ein, wie sich die Unterschiede im Physischen bereits in der Embryonalzeit herausbilden und welche Auswirklungen das auf die anderen Wesensebenen hat.
Entwicklung der Fortpflanzungsorgane beim Embryo
Jeder Mensch hat 22 Chromosomenpaare (Autosomen) und dann noch zwei spezielle, die sein Geschlecht bestimmen. Nun könnte man annehmen, dass sich gleich von Anfang der Embryonalentwicklung an zeigt, ob der Embryo ein Junge oder ein Mädchen wird. Die Natur macht es jedoch seltsam umständlich: Beim 3-4 Wochen alten Embryo können Sie die folgenden Entwicklungsstadien beobachten:
- Die sogenannten Urkeimzellen beginnen in die Region der zu bildenden Fortpflanzungsorgane einzuwandern und die Entwicklung der Keimdrüsen zu induzieren (zu veranlassen): Bei beiden Geschlechtern bilden sich genau dieselben Gewebestränge als doppelgeschlechtliche Anlage aus. Bis zum Ende des zweiten Lebensmonats behält die Keimdrüsenanlage das gleiche Aussehen.
- Dann erst beginnt die sichtbare Differenzierung in ein männliches und ein weibliches Geschlecht. Dabei bildet sich die bereits angelegte Keimdrüse des entgegengesetzten Geschlechtes wieder zurück: Beim Mädchen bleiben von den sogenannten Wolf‘schen Gängen und bei den Jungen von den Müller‘schen Gängen nur kleine Rudimente im Umkreis der Fortpflanzungsorgane zurück.
Jeder Mensch trägt diese Rudimente vom entgegengesetzten Geschlecht in sich – gleichsam als organische Erinnerungen an die Embryonalzeit.
Mögliche Entwicklung beider Organanlagen
Warum verbringt der Embryo die ersten zwei Monate damit, alles doppelt anzulegen und es dann wieder rückgängig zu machen?
Wir müssen diese naiv klingende Frage stellen, um dem Verständnis näher zu kommen. Denn zwei Monate von neun sind eine ganz schöne lange Zeit!
Eines kann man unmittelbar an dem Vorhandensein der Rudimente ablesen: In jedem Menschen steckt die Potenz, beide Organanlagen, die männliche und die weibliche zu bilden: D.h. mit hohen Dosen von Testosteron lässt sich daher auch zeitlebens bei der Frau das Auftreten der männlichen sekundären Geschlechtsmerkmale provozieren und das Umgekehrte mit Östrogenen beim Mann: Sein Bartwuchs geht dann zurück, die Brust fängt an zu wachsen und es bildet sich der typisch weibliche Fettansatz. Die Frau dagegen bekommt eine tiefere Stimme, ihre Skelett-Muskulatur wird stärker, es tritt der männliche Behaarungstyp auf, die Brust schwindet und der Bartwuchs beginnt. Normalerweise regelt der genetisch festgelegte Stoffwechsel, dass der Mensch sich körperlich nicht „doppelt“ verausgabt und zum Zwitter wird.
Ein niederes Tier, z.B. der Bandwurm, der zeitlebens zweigeschlechtlich ist, sich also selbst befruchten kann, verbraucht den größten Teil seiner Energie bei diesem Selbstbefruchtungsvorgang und hat ein winzig kleines Nervensystem.
Metamorphose der gegengeschlechtlichen Fortpflanzungskräfte
In diesem Zusammenhang ist es interessant zu sehen, dass beim Menschen und den höheren Säugetieren während der Embryonalentwicklung genau parallel zum „Verzicht“ auf die Ausbildung des entgegengesetzten Geschlechtes die Großhirnbläschen aussprossen: Die Ausbildung der Großhirnhemisphäre und die Differenzierung der Keimdrüsen fallen also in denselben Zeitraum der Embroynalentwicklung. Was im 1. Buch Mose mit dem Sündenfall als Bild geschildert wird – dass die Geschlechtertrennung zusammenfällt mit der Bewusstseinsentwicklung – zeigt sich hier als biologische Tatsache.
Rudolf Steiners geisteswissenschaftliche Forschung besagt, dass wir den Impuls zur Gehirnentwicklung dem Verzicht auf die Reproduktionskraft des anderen Geschlechtes verdanken: Wenn sich beim Embryo z.B. körperlich eine weibliche Anlage ausbildet, also auf die Wachstumskraft der männlichen Anlage verzichtet wurde, dann machen die nicht benutzten männlichen Fortpflanzungskräfte eine Metamorphose durch und werden zu Gedankenkräften, die beim Aufbau des Großhirns mitwirken. Das wollen wir als Arbeitshypothese nehmen und auf dieser Grundlage die Unterschiede von Mann und Frau in leiblicher und seelischer Hinsicht beleuchten:
- Der Mann ist in der Regel etwas schwerer, hat stärkere Muskeln, eine tiefere Stimme, ein etwas schwereres Gehirn. Das männliche Fortpflanzungshormon Testosteron mit seiner anabolen, den Eiweißaufbau stimulierenden Wirkung spielt hierbei eine wesentliche Rolle.
- Frauen sind dagegen leichter gebaut, werden als das „schwache Geschlecht“ bezeichnet, und haben im Durchschnitt (im Einzelnen stimmt das natürlich nicht, das ist selbstverständlich) etwas weniger körperliche Kraft, sind ein bisschen weicher, ein bisschen zarter und nicht so „ganz da“ wie die Männer.
Vgl. Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987
MÄNNLICHES UND WEIBLICHES DENKEN
Gibt es typisch weibliches und typisch männliches Denken?
Was sind die Unterschiede und worauf lassen sie sich zurückführen?
Denken mit den nicht aktiven Reproduktionskräften des anderen Geschlechts
Rudolf Steiner erkannte, dass der Mensch mit den geistig gebliebenen, sich nicht physisch betätigenden Reproduktionskräften geistig produktiv und reproduktiv wird. Diese Reproduktionskräfte dienen von vornherein dem Denken. Ohne das Gesetz von der Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedankenkräfte zu kennen, kann man den klassischen Unterschied im Seelenleben und Denken von Mann und Frau zwar detailliert beschreiben, nicht aber wirklich verstehen.
Denn die Grunddynamik im Denken der Frau rührt von den körperlich nicht aktiven männlichen Reproduktionskräften her – und umgekehrt.[1]
Man halte sich vor Augen, was die männlichen Fortpflanzungsorgane tun: Die Samenzellen werden im Hoden zur Reife gebracht, werden dann ausgestoßen und es werden wieder neue gebildet. Es ist eine große Produktivität vorhanden, die jedoch nicht regelmäßig erfolgt, sondern den äußeren Umständen angepasst ist, d.h. diese Arbeitsleistung ist umweltbezogen. Das ist bei den Fortpflanzungsorganen der Frau nicht der Fall: Unabhängig von den äußeren Umständen entwickelt sich einmal im Monat ein Ei zur vollen Reife heran, während sich die Uterusschleimhaut auf die Einnistung des Eies vorbereitet.
- So stehen dem Mann für sein Denken die körperlich nicht benützten Kräfte der weiblichen Fortpflanzungsorgane zur Verfügung.
- Umgekehrt verfügt die Frau geistig über die schöpferische Potenz des Mannes, die dieser physisch verwirklicht hat.
Auf diesem Tatbestand beruhen die klassischen Unterschiede im Denken von Mann und Frau, die in ihrer spezifischen Eigenart – von individuellen Ausprägungen und Lernmöglichkeiten selbstverständlich abgesehen – etwas beleuchtet werden sollen.
Auswirkungen auf das Miteinander
Ein Beispiel: Sie kommt vom Einkaufen und er wundert sich, dass sie Dinge mitbringt, die nicht verabredet waren. Auch schreibt sie nie Einkaufszettel, da sie ja „in etwa“ weiß, was sie besorgen will. Sie hat Freude daran, den Einkauf spontan, umweltoffen und von außen angeregt zu tätigen. Sie hingegen wundert sich, dass er in der Regel exakt nur das besorgt, was er sich vorgenommen hat oder was auf dem Zettel stand, den er sich zu ihrer geheimen Belustigung immer wieder schreibt, um auch nichts zu vergessen.
Ein ähnliches Verhalten liegt auch bei Urlaubsplanungen vor oder bei Problemen, die besprochen werden müssen. So kann es vorkommen, dass die Partner ein bestimmtes Problem im Prinzip zu Ende besprochen und für sich gelöst haben. Er ist dankbar, dass das jetzt ein für alle Mal besprochen und klar ist. Plötzlich kommt sie, vielleicht angeregt von irgendeinem Ereignis, mit einer ganz neuen Idee und möchte das Ganze doch noch einmal von vorne durchsprechen. Er kann das nicht verstehen, weil für ihn die Sache erledigt war, und sie meint, dass neue Gesichtspunkte dazugekommen sind, die sie beim Gespräch neulich noch nicht bedacht hat.
Auch wenn er sich darauf einlässt und wirklich nochmals von vorne beginnt, kann er nie sicher sein, für wie lange das Gesprächsergebnis gültig ist. Oder: Er kommt nach Hause, hat einen anstrengenden Tag hinter sich und freut sich, dass er einen ruhigen Abend genießen kann, während sie darauf erpicht ist, jetzt etwas zu unternehmen. Auch hier prallen unterschiedliche Seelenarten aufeinander, und die Frage ist nicht, wer sich mit seinen Bedürfnissen durchsetzt, sondern ob man die elementare Verschiedenheit und Bedürftigkeit der jeweils andersgeschlechtlichen Konstitution versteht und sie in die eigene Vorgehensweise einbeziehen bzw. sie berücksichtigen kann. Oft hilft auch schon, wenn der andere sich ehrlich wahrgenommen und verstanden fühlt – auch wenn es momentan nicht zu einer Einigung kommt.
Die Andersartigkeit lieben lernen
Männer können lernen, sich vorzustellen, dass das, worauf sie im physischen Bereich oft stolz sind – ihre männliche Potenz – genau das ist, was sie an dem „typisch weiblichen Denken“ und dem dadurch geprägten Verhalten manchmal ärgert, manchmal auch erfreut: Spontaneität, Offenheit, das Anregende und die Fähigkeit, sich von allem Möglichen gefangen nehmen zu lassen. Die Frau kann diese enorme seelische Energie auch bündeln und auf bestimmten Punkten beharren, auf die sie – „bohrend“ – immer wieder zurückkommt. Oder etwas muss auf der Stelle geschehen oder besprochen werden. Dieses Nicht-locker-Lassen, bis man das Ziel erreicht hat, ist eine seelische, typisch männliche Kraft, die der Frau konstitutionell gegeben ist. Daher fällt es ihr auch schwerer, schwierige Dinge erst einmal auf sich beruhen oder Urteile reifen zu lassen. Die Fähigkeiten, die sie körperlich besitzt, fehlen ihr bis zu einem gewissen Grad geistig und müssen von ihr bewusst erlernt werden.
Männer haben dagegen ebenfalls geistig zur Verfügung, was ihnen körperlich fehlt: Empfänglichkeit für Anregungen, die Fähigkeit sich abzuschließen, etwas reifen zu lassen, zu warten und bei der Sache bleiben zu können. Damit haben sich gedanklich aber auch die Tendenz zu Enge und Sturheit, können und wollen nicht so ohne weiteres auf Fremdes und Andersartiges eingehen. Für den Mann ist es leichter im Gedanklichen treu zu sein als für die Frau, die dafür im Körperlichen eher treu sein kann.
Das partnerschaftliche Zusammenleben von Mann und Frau wird vor allem dann fruchtbar und schön, wenn beide die Andersartigkeit des Partners nicht nur bejahen und einbeziehen, sondern auch lieben lernen. Dann wird der Mann sich nicht abweisend verhalten, sondern sich geistig anregen lassen und das von ihr Kommende ernst nehmen, es weiterführen und helfen, es zur Reife zu bringen. Umgekehrt wird es der Frau dann leichter fallen, seine ruhigeren und ordnenden Fähigkeiten zu respektieren und sie auf ihre Art für sich selbst zu erwerben.
Bereicherung durch einander ergänzende Qualitäten
Das Sprühende, Anregende, aber auch Unstetere in der Gedankenführung kann eine wunderbare Ergänzung sein zu der Fähigkeit des Mannes, Gedanken ruhig und konsequent ausreifen zu lassen. Deswegen ist es für jedes Gespräch, bei dem um echte Erkenntnis gerungen wird, eine Bereicherung, wenn sich Männer und Frauen daran beteiligen.
Auch wenn im Lauf des Lebens bedingt durch Lernprozesse die individuelle Komponente des Seelenlebens die gattungsmäßige Bedingtheit immer mehr überlagert und verwandelt, bleibt doch eine gewisse Grundfärbung zeitlebens bestehen. Überspitzt könnte man zusammenfassen:
- Das weibliche Seelenleben ist generell umweltoffener, wahrnehmender, farbiger, phantasievoller und beweglicher. Die seelische Reaktion des Mannes ist verlässlicher, vorhersehbarer, konstanter und zentrierter.
- SIE hat die Einfälle – ER das Durchhaltevermögen.
- Und da man sucht, was einem fehlt, findet man oft bei IHR die Sehnsucht, sich aufgehoben, gehalten, gestützt zu fühlen – was ihrer körperlichen Veranlagung ihrer Fortpflanzungsorgane entspricht. Umgekehrt hat ER die Neigung und den Wunsch, aus dem Gewohnten auszubrechen und sich neu anregen zu lassen – wie es seinen Fortpflanzungsorganen entspricht.
Die Erfahrung zeigt, dass keiner von beiden das im anderen findet, was er selber ist. Jedoch kann das Bewusstsein für die persönlichen Eigenheiten gerade am Erleben der Andersartigkeiten des anderen erwachen.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
[1] Diese Zusammenhänge sind ausführlich wiedergegeben in: Glöckler, M., Die männliche und weibliche Konstitution. Stuttgart, 3. Aufl. 1992.
MÄNNLICHES UND WEIBLICHES FÜHLEN UND WOLLEN
Worin wurzeln entwicklungsphysiologisch die Unterschiede zwischen Mann und Frau?
Typische Unterschiede im Gefühlsbereich
Auch im Gefühlsbereich finden wir typische Unterschiede zwischen Mann und Frau. Besonders charakteristisch ist, dass das Gefühlsleben der Frau ein einheitlicheres Gepräge hat als das des Mannes, weil es stärker an das Gedankenleben angeschlossen ist, wohingegen es beim Mann mehr an den Willen und die Tätigkeit der Sinnesorgane gebunden bleibt:
- So ist die Frau seelisch abhängiger von dem, was sie gerade denkt. Probleme können bei ihr viel schneller zu seelischen Verstimmungen führen als beim Mann, wenn es ihr nicht gelingt, die Sache gedanklich zu ordnen. Das Gefühlsleben der Frau spiegelt die Einheitlichkeit, die Ordnung, den Zusammenhang und die Überschau, die das Gedankenleben braucht. Unklares wird nicht geschätzt.
- Im Gegensatz dazu hat das Gefühlsleben des Mannes aufgrund seiner unmittelbareren Anbindung an das Sinnliche verschiedene Bezirke, die er voneinander abgrenzen kann. Daher fällt es ihm auch leichter, gefühlsmäßig „ein Auge zuzudrücken“ oder etwas „wegzustecken“ und vom übrigen Seelenleben zu isolieren.
Unter diesem Gesichtspunkt leuchtete mir ein, was ein Kollege zu mir sagte: „Wie gut, dass die Seele (das Gefühlsleben) des Mannes ‚Taschen‘ hat. Darin kann man bestimmte Dinge verschwinden und auf sich beruhen lassen, bis sie sich beruhigen. Frauen müssen sich das dagegen mühsam erarbeiten.“
Das Seelenleben der Frauen gleicht ihren Handtaschen, in denen „alles“ „drin“ ist – allerdings nicht einzeln untergliedert, sodass es manchmal dauert, bis der Autoschlüssel gefunden wird. Im weiblichen Seelenleben hängt alles stärker miteinander zusammen und voneinander ab. Daher können Frauen auch auf eigentlich harmlose Dinge mit intensivem seelischem Engagement reagieren. Sie wirken viel emotionaler, als sie eigentlich sind. Dagegen bewahren sie – wenn es wirklich gefährlich wird oder um etwas geht –, plötzlich in bewundernswerter Weise die Ruhe, weil sie das Wesentliche im Auge haben und so alles „Unebene“ vernachlässigen können. Allein das zu wissen und im Umgang miteinander zu berücksichtigen, trägt viel zu einer harmonischen Partnerschaft bei.
Unterschiede im Willensbereich
Im Willensbereich sind ebenfalls gewisse Unterschiede zu erleben. Motivation hat zwei Standbeine:
- Begeisterung und Sympathie für eine Sache (Gefühl)
- Einsicht (Denken).
Das Willensvermögen der Frau ist stark vom Fühlen geprägt. Die Motivation, dieses oder jenes zu wollen, ist bei ihr weitestgehend Gefühlssache. Der Mann lässt sich lieber vom Denken leiten. Er verlässt sich nicht gern auf sein Gefühlsleben, das er mehr körperlich-persönlich empfindet; er muss etwas einsehen können, damit er motiviert ist.
Die Frau hingegen muss nicht alles einsehen, wenn oder gar bevor sie etwas tut. Ihr Gefühlsleben ist durch die stärkere Verbindung mit dem Gedankenleben umfassender und objektiver. So kann sie sich für Dinge begeistern, die ihr gefühlsmäßig klar sind, auch wenn noch nicht alle Faktoren, die zur Sache gehören, bewusst bedacht und verstanden sind. Sie vertraut ihrem Gefühl, da sie den starken Anschluss an das Gedankenleben empfindet und so auch die Weisheit des Gefühlslebens erlebt, die oft über das rational Überlegte hinausreicht. Sie kann sagen: „Ja, wenn du warten willst, bis du alles verstanden hast, bleiben wichtige Dinge ungetan! Man muss doch jetzt und hier handeln! Siehst du das denn nicht ein ...“
Das Einsehen allein reicht dem Mann nicht aus, er möchte auch verstehen, während die Frau aus einer unmittelbaren Gefühlsreaktion heraus schon handeln kann – und oft auch durch das Leben und die Tatsachen Recht bekommt.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
GEMEINSAMKEITEN VON MANN UND FRAU AUF GEISTIGER EBENE
Was sind die Gemeinsamkeiten von Mann und Frau auf geistiger Ebene?
Partnerschaft und Ehe
Die Tatsache, dass gegenwärtig mehr von Partnerschaft als von Ehe gesprochen wird, macht deutlich, dass das Individuelle in der Beziehung stärker betont wird. In dem Begriff „Ehe“ wird das Individuelle in das Gemeinsame aufgenommen, während das Wort „Partnerschaft“ von vornherein klarstellt, dass es sich hier um zwei Menschen handelt, die nicht nur zusammen auskommen, sondern auch ihre Individualität in der Gemeinsamkeit aufrechterhalten möchten. Insofern trifft „Partnerschaft“ auch viel eher auf die Form der heutigen Beziehung zwischen den Geschlechtern zu als die Bezeichnung „Ehe“. Das, was früher der Ehe den Namen gegeben hat – die eheliche Verbindung der Geschlechter –, wird heute gerade nicht mehr unbedingt und schon gar nicht ausschließlich als das Wesentliche und Tragende in der Beziehung angesehen. Andere Werte stehen im Vordergrund. Man wünscht sich von einer Partnerschaft:
- Verständnis füreinander,
- Akzeptanz der eigenen Freiheit,
- Ehrlichkeit im Umgang
- und Zuverlässigkeit bei Absprachen.
Im Vordergrund steht die Suche nach gegenseitigem Verstehen, nach seelischer und geistiger Gemeinsamkeit, Geborgenheit und der Unterstützung und Hilfe auf einer bestimmten Wegstrecke.
Gemeinsamkeit trotz Verschiedenheit suchen
Es gehört zu den Daseinsrätseln, dass zwei Menschen, die physisch und seelisch so unterschiedlich veranlagt sind, überhaupt Gemeinsamkeit erleben können, dass es eine Ebene des Begegnens gibt, die sich unabhängig von Alter und Geschlecht nur auf das rein Menschliche bezieht. Wenn jedoch dieses Allgemein-Menschliche die individuell-persönliche Verbindung und das, was man voneinander kennt und weiß, nicht genügend durchzieht und trägt, kann die Unterschiedlichkeit der seelischen und körperlichen Konstitution, wie sie zwischen männlich und weiblich, aber auch zwischen Jugend und Alter vorliegt, entscheidend dazu beitragen, die Beziehung zu stören. Sämtliche Schwierigkeiten, die zu Konflikten führen, erwachsen aus der Verschiedenheit der Beteiligten.
Dieses Allgemeinmenschliche, das Mann und Frau immer verbinden kann, betrifft die Ich-Natur, die allen Menschen gemeinsam ist[1]. Ob Mann, Frau oder Kind – alle sagen zu sich selber „ich“. Wenn Eltern und Erzieher das Ich des Kindes vom ersten Lebenstag an ernst nehmen, geschieht das aus einer Einstellung zum Kind, die für seine ganze weitere Entwicklung eine entscheidende Hilfe und Stütze sein wird. Wenn es gelingt, bei allem zu empfinden – „Hier ist ein Mensch zu mir gekommen, der von mir erwartet, dass ich ihm helfe, möglichst gut und kräftig zu sich selbst und zu seiner Lebensaufgabe zu finden“ –, ist die Grundlage für ein starkes Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit geschaffen. Der im Kind schon anwesende spätere Erwachsene, der sich noch genauso wenig kennt, wie ich ihn kenne, wartet Monat für Monat und Jahr für Jahr darauf, mehr von sich zu erfahren und genauer zu wissen, warum er sich in diesen Lebenszusammenhang begeben hat. Dieses Kind ist nicht mein Besitz, dieses Kind ist Teil meines Lebens und will mit meiner Hilfe lernen, seine Weiterentwicklung in die Hand zu nehmen.
Wenn eine solche Einstellung vorherrscht, ist der Lebensraum in Elternhaus und Schule von einer Haltung geprägt, die trotz klarer Hilfestellung und, wo nötig, auch Führung doch immer einen Freiraum schafft, der es dem Kind erlaubt, möglichst viele Erfahrungen „selbst“ zu machen.
Die Ich-Natur, ein zweischneidiges Schwert
In der Partnerschaft führt eine solche Einstellung dazu, dass sich beide mit dem Trennenden und auch mit dem Verbindenden, das mit diesem „Selbst“, mit dieser Ich-Natur, verbunden ist, auseinandersetzen. Denn das Ich ist im wahrsten Sinne des Wortes ein zweischneidiges Schwert. In der Apokalypse des Johannes wird von Christus gesagt, dass aus seinem Munde ein zweischneidiges Schwert hervorgeht. Es gibt kein treffenderes Bild, um die Doppelnatur des Ich zu charakterisieren. Liegt es doch im Wesen des Ich begründet,
- dass einerseits jeder einzelne Mensch zu sich selbst „ich“ sagt,
- und dass andererseits alle anderen Menschen das auch tun, so dass es sich um den allgemeinmenschlichsten Begriff handelt.
Im Ich liegt nicht nur die Möglichkeit, sich vollständig abzuschließen, auf sich selbst zu besinnen und sich zu isolieren – und das auch zu brauchen, um zu sich kommen zu können –, in ihm ist auch die Fähigkeit veranlagt, sich nicht nur Freunden und Bekannten, sondern letztlich der ganzen Menschheit angehörig und verbunden zu fühlen. Um das eine wie auch das andere zu können, bedarf das Ich geeigneter Arbeitsinstrumente – diese stehen ihm in den Seelenfähigkeiten von Denken, Fühlen und Wollen zur Verfügung.
1. Gedankliche Auseinandersetzung mit der Zweischneidigkeit
Wir können das Denken für zweierlei benützen:
· uns über uns selbst klar zu werden und uns von unserer Umwelt zu distanzieren
· uns über die Welt aufzuklären und uns unseres Zusammenhangs mit ihr bewusst zu werden.
Ebenso kann es dazu verwendet werden, uns über das, was uns mit dem Lebens- bzw. Ehepartner verbindet oder von ihm trennt, bewusst zu werden und es normal zu finden, dass es diese beiden Seiten auch in der Partnerschaft geben muss, weil es sich um ich-begabte Menschen handelt. Es kann nicht nur das Verbindende geben.
2. Zweischneidigkeit im Fühlen
Entsprechend verhält es sich mit dem Fühlen:
· Es ist wohltuend, sich hin und wieder ganz in sich selber zu verschließen und die damit verbundene Einsamkeit, verbunden mit Lebensfreude und/oder Trauer als Stärkung des Selbstbewusstseins zu erleben.
· Und es ist wohltuend, sich über die Mitleidsfähigkeit auch wieder eng mit anderen Menschen, Schicksalen, Aufgaben und wichtigen Zeitfragen verbunden zu fühlen.
Diese gefühlsmäßige Anteilnahme aneinander ist eine entscheidende menschenverbindende Kraft, deren Stärke einem oft erst bewusstwird, wenn eine Beziehung zu zerbrechen droht und man spürt, wie viel Kraft man aus dem Gefühl der Gemeinsamkeit bezogen hat.
3. Zweischneidigkeit im Handeln
Auch auf der Handlungsebene gibt es beide Möglichkeiten: etwas ganz für sich alleine zu tun oder für und mit dem anderen. Will man nun in Ehe und Partnerschaft das Gemeinsame pflegen, insbesondere das stärkende Zusammengehörigkeitsgefühl, gelingt das umso anhaltender, je mehr es seine Wurzeln im Verständnis des menschlichen Ich hat.
Christus sagt von seinem Wesen, seinem „Ich“: „Ich bin die Wahrheit“ und: „Ich bin unter euch, wenn ihr einander liebt“ und: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“, was bedeutet: Ihr werdet mich (die Wahrheit) erkennen, und das wird euch – euer Ich – befreien und zu sich selbst führen.
Kann man in einer Partnerschaft verabreden, diese drei Ich-Qualitäten – Wahrhaftigkeit, Liebe und Freiheit– zu üben, so hat man sich auf geistiger Ebene im Wesentlichen verbunden. Dann lebt man in einem gemeinsamen Entwicklungsstrom und fühlt die Nähe des anderen in jedem Augenblick, in dem man sich auf dieses Versprechen und die damit verbundene innere Arbeit besinnt. Denn jene drei Eigenschaften dienen der Charakterbildung und Entwicklung von Mann und Frau in gleicher Weise, und sie sind auch das, was für die Erziehung der Kinder die entscheidende Orientierung gibt. Diese drei Qualitäten machen die Würde des Ich aus, begründen, erhalten und pflegen sie.
Wenn Wahrheit, Liebe und Freiheit fehlen
Auch wenn der Entschluss, diese Qualitäten zu üben, nicht gemeinsam gefasst wurde und als etwas Verbindendes angesehen werden kann, wird man doch immer wieder auf sie stoßen und vor allem ihre Abwesenheit schmerzlich bemerken.
· Schmerzliches Fehlen von Wahrheit
Wie störend und unterminierend wirkt sich eine auch noch so verborgene Verlogenheit auf eine Partnerschaft bzw. Ehe aus! Wie oft führt das sogenannte Mitleid mit dem anderen dazu, ihm wichtigste Dinge, z.B. die Freundschaft mit einem neuen Menschen, zu verheimlichen bzw. zu verharmlosen, anstatt daran zu arbeiten, diese neue Beziehung konstruktiv und unter Mitarbeit des anderen in den gegenwärtigen Schicksalszusammenhang zu integrieren. So manche „Nebenbeziehung“ würde andere Formen annehmen und für alle Beteiligten zum größeren Gewinn gereichen, wenn von Anfang an offen über sie gesprochen werden könnte.
· Lieblosigkeit
Entsprechend ist es mit den vielen kleinen und großen Lieblosigkeiten, die eine Beziehung belasten können. Hier steht der Mangel an gegenseitiger Anerkennung an vorderster Stelle. Wie sehr ist man versucht, dem anderen gegenüber seine Stärke auszuspielen, ständig auf diesem und jenem Gebiet in geheimer Konkurrenz zu sein oder aber die Fähigkeiten des anderen zu wenig wahrzunehmen und zu bestätigen. (Hierzu gehört auch die Fähigkeit, dass der andere es schon so lange mit einem aushält...)
· Das Fehlen von Freiheit
Welche Belastung stellt Unfreiheit in jeder Beziehung dar! Sehr oft ist es dieses Fehlen von Freiheit, das den einen oder anderen Partner dazu verleitet, sich geheime Spielräume zu suchen, in die der andere nicht hineinreden kann, wo Kontrolle nicht möglich ist.
Damit wird deutlich, dass die empfindlichsten Störfaktoren und Belastungen einer Partnerschaft auf dem Mangel an Ich-Präsenz beruhen, dem Mangel an Wahrhaftigkeit, Liebe und Freiheit. Gelingt es nicht, auf dieser geistigen Ebene zur Gemeinsamkeit zu finden und sich des gemeinsamen Wollens in Richtung der drei Ideale bewusst zu werden, fehlt der Beziehung der entscheidende Halt in Krisenzeiten, wenn es seelisch und körperlich einmal nicht so gut klappt. Umgekehrt kann natürlich auch Harmonie in der körperlichen und /oder seelischen Beziehung lange Jahre Gemeinsamkeit schenken, auch wenn man sich geistig nie richtig verständigen konnte und den anderen eigentlich noch nicht gefunden hat.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
[1] Vgl. Rudolf Steiner, Theosophie. GA 9.
VOM SINN DER „LEBENSLÄNGLICHKEIT“
Welche Bedeutung haben dauerhafte menschliche Verbindungen?
Wie können sie gelingen?
Ehe als Ausnahme
Die erworbene Immunschwäche HIV/AIDS trug dazu bei, dass Umfragen zunahmen, wie viele Geschlechtspartner die Befragten in wie vielen Jahren hatten, ob sie verheiratet waren oder nicht. Dabei wurde deutlich, dass die ausschließliche eheliche Beziehung im klassischen Sinne eher die Ausnahme darstellt. In die gleiche Richtung weist die Tatsache, dass der Trend zum Ein-Personen-Haushalt ungebrochen anhält. Das sind alles Zeichen einer zunehmenden Unverbindlichkeit – aber auch Individualisierung.
Diese Tendenzen, sowie die häufig auftretende Schwierigkeit, in Ehe und Partnerschaft überhaupt noch einen Sinn zu finden, verdeutlichen, dass die Persönlichkeitsentwicklung – allein und in Gemeinschaft – zu einem zentralen Problem geworden ist. Fragt man Betroffene, warum sie sich trennen, erhält man oft die Antwort, dass sie sich durch den anderen in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit behindert fühlen. Die letztendlichen Ursachen für Trennung sind das Gefühl von Unfreiheit und die Unfähigkeit, an den dafür verantwortlichen äußeren und inneren Ursachen zu arbeiten. So ist es verständlich, dass man heute lieber von „Lebensphasengemeinschaft“ oder vom „Lebensabschnittsgefährten“ spricht und nicht mehr so optimistisch vom Lebensgefährten. Vor diesem Hintergrund stellt sich noch eindringlicher die Frage, welche besondere Bedeutung dauerhafte menschliche Verbindungen hatten und haben.
Vertieftes Lernen in dauerhaften Beziehungen
Eine lebenslange Partnerschaft, die durch dick und dünn geht und bis zum Lebensende anhält, weist Qualitäten auf, die einer vorübergehenden Beziehung fehlen: viele gemeinsame Erinnerungen, Kontinuität, Vertrauen, Begleiten-Können, Krisenfestigkeit, Toleranz, nicht erlahmendes Interesse am anderen, Stabilität, Sicherheit und Treue. So wie man ein Leben lang braucht, um sich selbst zu entwickeln, so brauchen auch Beziehungen eine gewisse Stabilität und Dauer, um als notwendiges Korrektiv und „Spiegel“ für die eigene Entwicklung und die des Partners dienen zu können und um den Erwerb von Charaktereigenschaften zu ermöglichen, die man nur in lebenslanger Zweisamkeit entwickeln kann.
Mit jemanden zusammenzuleben, der einen unterstützt und begleitet, der aber auch den Mut hat, Unangenehmes anzusprechen, ohne Angst haben zu müssen vor Liebesentzug und von dem man sich auch etwas sagen lassen kann, ohne dass einem „ein Zacken aus der Krone bricht“, kann eine große Hilfe auf dem eigenen Weg sein. Daher ist es für Menschen, die keine feste Bindung eingehen, schwerer, ihre innerliche Entwicklung in die Hand zu nehmen und auf ihrem Weg wirklich weiterzukommen. Sehr oft bleiben sie auf einer bestimmten Entwicklungsetappe stehen, weil ihre Beziehungen gerade da enden, wo – im Falle des Zusammenbleibens – die innere Arbeit an der eigenen Veränderung hätte anfangen müssen. So wechselt man eher den Partner, als dass man sich selber ändert.
Selbständigkeit als Voraussetzung für Dauerhaftigkeit
Es gibt nichts, was man in eine Ehe nicht integrieren könnte, aber es gibt auch nichts, was nicht Anlass sein könnte, sich wieder zu trennen. Letztlich hängt alles davon ab, wie groß das Interesse am anderen wirklich ist. In dem Augenblick, in dem es Gründe gibt auseinanderzugehen, ist oft zu spüren, wie Eigeninteressen das Interesse am anderen zu überwiegen beginnen. Diese Eigeninteressen sind es letztlich, die die Menschen auseinandertreiben, und die – wenn wir es von der positiven Seite nehmen – die Entwicklung zur Selbständigkeit fördern. Dass diese notwendig ist, liegt auf der Hand. Denn letztlich ist man erst dann für eine Dauerbeziehung geeignet, wenn man auch alleine leben könnte. Daher gehen Beziehungen leicht zu Bruch, in denen ein Partner oder beide noch auf der Suche nach sich selber sind und sich auf Zeit mit dem anderen wie einem „Ersatz-Ich“ identifizieren.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
BIOGRAPHIEARBEIT IN DER PARTNERSCHAFT
Inwiefern kann die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie bei Problemen mit dem Partner helfen?
Offenheit und Interesse füreinander pflegen
Jede Biographie ist einmalig und ein Entwicklungsweg. Je mehr wir uns für die Einmaligkeit des Partners als auch für die individuellen und gemeinsamen Entwicklungsmöglichkeiten interessieren, desto persönlicher und menschlich erfüllender kann die Lebensgemeinsamkeit werden. Arbeit an der eigenen Biographie bildet die wichtigste Voraussetzung, um die Biographie des anderen mit dem nötigen Interesse und Verständnis anschauen und befragen zu können.
Zwei Menschen, die sich entschließen zusammen zu bleiben, erzählen sich früher oder später wichtige Lebensereignisse und wen sie vor dieser Freundschaft bzw. Liebe schon geliebt haben. Oft lassen diese Offenheit und Bereitschaft, Persönlichstes von sich zu erzählen, bald nach – sei es, dass das Leben anderes von einem fordert und kein besonderer Anlass mehr dafür gegeben ist, oder weil bereits erste Enttäuschungen stattgefunden haben und man beginnt, sich zu verschließen in der Meinung, dass man vom anderen doch nicht so in der Tiefe verstanden wird, wie anfangs angenommen. In einer solchen Situation kann es hilfreich sein, sich mit der eigenen Biographie zu beschäftigen. Zu diesem Thema steht umfangreiche Literatur zur Verfügung, ganz abgesehen davon, dass es an vielen Orten spezielle Biographieberatung und Biographiearbeit gibt.[1]
Aufgrund dieser Arbeit erwachen neue Fragen – an sich selbst und an den anderen. Einsichten und auch Verständnismöglichkeiten zeichnen sich ab, die helfen können, das eigene Verletzt-Sein zu überwinden und dem anderen mit neuer Unbefangenheit und voll Interesse zu begegnen. Entscheidend ist jedoch, ob man das will oder nicht: Denn es gibt immer auch Gründe, nicht zu wollen. Diese gilt es zu durchschauen und ihren lähmenden und destruktiven Charakter aufzudecken.
Biographie als Ausschnitt einer umfassenderen Entwicklung
Wenn man sich mit der eigenen Biographie beschäftigt, lernt man sie in ihrer Einmaligkeit als Ausschnitt einer umfassenderen Entwicklung anzuschauen. Denn jeder wird mit ganz bestimmten Fähigkeiten in eine so oder so und nicht anders geartete Familienkonstellation hinein geboren. Man erlebt außerdem, wie viele Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen in einem Leben sich mit Sicherheit nicht erfüllen lassen, man sie also mit in den Tod nehmen wird.
Die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen, öffnet den Blick für die Tatsache der Wiederverkörperung als Entwicklungsgesetzmäßigkeit für den Menschengeist.
Das menschliche Ich, der Kern der Persönlichkeit, geht durch wiederholte Erdenleben hindurch und wird in jedem Leben zu einer anderen Persönlichkeit, dank der speziellen körperlichen Konstitution, die ihm eigen ist, der Erdgegend, in der er geboren wird, der Geschlechtszugehörigkeit und der weiteren Schicksalsgestaltung. Das Ich nimmt die Erfahrungen aus den verschiedenen Lebensläufen in sich auf und gewinnt so ein immer umfassenderes Bewusstsein davon, was Menschsein und Menschlichkeit in Wahrheit bedeuten.
Die Tatsache der wiederholten Erdenleben anzuerkennen, hat etwas ungemein Befreiendes, aber auch Heilsames für jede konkrete Schicksalssituation. Man kann nun in der scheinbaren Enge und Unausweichlichkeit bestimmter Lebenstatsachen Lernbedingungen erkennen für ganz bestimmte Fähigkeiten, die man nur in dieser scheinbaren Zwangssituation erreichen konnte. Denn jede Fähigkeit braucht für ihre Ausbildung die Erfüllung bestimmter Lernbedingungen: Egal ob es um den Erwerb des Führerscheins geht oder um ein Studium oder eine Berufsausbildung – immer müssen wir uns an bestimmte Lernvorgaben und Bedingungen halten, wenn wir die gewünschte Fähigkeit erlangen wollen. Haben wir sie einmal erworben, können wir in freier Weise damit umgehen. So kann ein ganzes Leben im Zeichen bestimmter, vielleicht auch belastender und schwieriger Lebens- und Arbeitsbedingungen stehen.
Notwendigkeit und Freiheit
Was unter solchen Lebensbedingungen gelernt wird, steht in einem nächsten Erdenleben als angeborene, mitgebrachte Fähigkeit, u. U. sogar als Genialität zur freien Verfügung. Es hat – wie jedes Lernergebnis – unabhängig von den Bedingungen, unter denen man es erreicht hat, seine Bedeutung. In dieser Weise hängen Notwendigkeit und Freiheit im Schicksal jedes Menschen zusammen: Lernbedingungen stellen eine Notwendigkeit dar, wohingegen erlernte Fähigkeiten in freier Weise dort eingesetzt werden können, wo wir es für richtig halten und auch wollen.
Mit Hilfe des Schicksals- und Wiederverkörperungsgedankens wird das Leben allein und in Gemeinschaft mit einem oder auch mehreren Menschen zu einem Entwicklungsweg, der umso mehr Freude macht, je mehr man ihn als solchen erkennt. Denn man erlebt zunehmend, dass dieser Weg der richtige ist, der wirklich zu einem gehört, und man erfährt, in welch hohem Maß es von einem selbst abhängt, wie man sich zu ihm stellt und was man aus seinen Lernangeboten macht.
Diese und ähnliche Überlegungen führen zu einem neuen Freiheitserleben und einer befriedigenden Lebenseinstellung und sind die Quelle von Humor. Beim Lernen kommt es oft auch zu Fehlern, Irrtümern und Versagenszuständen, über die man später selbst oft lachen kann, über die aber auch andere ruhig schmunzeln dürfen. Beim nächsten Anlauf kann es nur besser werden... Diese Einstellung der eigenen Biographie gegenüber eröffnet auch die Möglichkeit, sich der Biographie des Lebenspartners mit neuem Interesse zuzuwenden und die eigene Rolle darin zu überdenken. Man sollte manches ehrlich hinterfragen:
Wie kann ich wissen, was er sich für dieses Leben vorgenommen hat?
Wie vieles hat er vielleicht nur getan, um mich zufriedenzustellen?
Wie kann die Beziehung der Entwicklung beider dienen?
Fragen dieser Art eröffnen neue Dimensionen von Freundschaft und „Sich-verstehen“.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 6. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
[1] Vgl. z. B. G. Burkhard, Das Leben in die Hand nehmen. Stuttgart 1992; dies.: Schlüsselfragen zur Biographie. Stuttgart 2004;
B. Lievegoed, Lebenskrisen – Lebenschancen. Stuttgart 1979; ders.: Der Mensch an der Schwelle. Stuttgart 2012;
M. Wais, Biographiearbeit - Lebensberatung. Urachhaus, 1992.
SELBSTERZIEHUNG IN DER PARTNERSCHAFT
Warum ist Selbsterziehung in einer Partnerschaft eine Notwendigkeit?
Mangelerlebnisse aus Kindheit und Jugend
Viele Menschen blicken in eine Kindheit und Jugend zurück, die von Vertrauens- und Liebesmangel, von Angst, von Sich-ausgegrenzt-Fühlen, von Einsamkeit und vielleicht auch periodischem Erleben von Sinnlosigkeit und Langeweile geprägt war. Ihnen war es nicht möglich, zu einer befriedigenden Selbsterfahrung zu kommen und ein gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen. Auch fehlte die Begegnung mit jemandem, der einem die Freude am Menschsein hätte wirklich vermitteln können. Vielleicht war die Schulzeit auch gekennzeichnet von Demütigungen, weil man leistungsmäßig oft nicht mithalten konnte, vielleicht auch unbeliebt war in der Klasse oder Lehrer hatte, die einen nicht mochten.
Umso verständlicher ist es, dass diese Menschen von einer Liebesbeziehung meist ungemein viel erwarten. Man erhofft sich von ihr, was einem bisher gefehlt hat und was einem insbesondere in Kindheit und Jugend versagt blieb.
Verliebtheit als Projektions-Falle
Die beglückende Erfahrung des Verliebt-Seins und Geliebt-Werdens gibt dieser Erwartung zunächst auch scheinbar recht. Denn man fühlt sich in seinem Selbst gestärkt, überhöht, bejaht, mit Liebe und Vertrauen umgeben und tatsächlich so ein bisschen „wie im Himmel“. Man identifiziert sich, macht sich vielleicht auch ein Bild von dem anderen, das dem eigenen Glückserleben entspricht – oder von dem man hofft, dass er ihm immer mehr entsprechen wird. Man bemerkt dabei nicht, dass dieses Wunschbild im Grunde der Selbstentwurf für die eigene Ich-Werdung ist, und dass man diese unbemerkt in den anderen hineinprojiziert.
Lässt die Intensität des Verliebt-Seins nach und treten zunehmende Verletzungen des symbiotischen Einheitserlebens auf, so wird die damit verbundene Enttäuschung und Unzufriedenheit oft zur Quelle von aggressiven Neigungen. Jetzt kann das andere Extrem eintreten, dass einem der andere so gut wie gar nichts mehr recht machen kann und man an allem etwas auszusetzen hat.
Wichtige Einsichten in Bezug auf sich und den anderen
Hier rettet nur die Einsicht, dass der Partner ein genauso unvollkommener, suchender und noch an seiner Identität arbeitender Mensch ist wie man selbst, und dass Momente beglückender Gemeinsamkeit Geschenke sind, deren Wert man in liebevoller Erinnerung behalten muss, damit man sie nicht vergisst. Aus der Illusion, im andern die eigene Identität finden zu können und sich durch ihn in erster Linie bestätigt und anerkannt zu sehen, befreit einen nur das echte Interesse am Schicksal des anderen und der Wille, an der eigenen Biographie zu arbeiten und in ihr die Entwicklungsbedingungen für die persönliche Ich-Findung zu suchen. Damit kann dann auch das Zusammenleben mit dem anderen wieder einen neuen Stellenwert bekommen.
1. Falsche Erwartungen durchschauen
Wenn berechtigte Erwartungen enttäuscht werden, ist das eine bittere Erfahrung. Das betrifft sowohl Erwartungen, die man sich selbst gegenüber hegt, als auch solche, die man an den Lebenspartner hat. Die Frage ist nur, woher man so sicher weiß, dass die eigenen Erwartungen berechtigt waren bzw. sind. Denn die Tatsache, dass sie enttäuscht wurden, zeigt zumindest, dass der andere nicht in der Lage war, sie zu erfüllen. Es ist äußerst heilsam, die eigene Biographie einmal daraufhin durchzuarbeiten, wie man von klein auf mit seinen Erwartungen und mit Hoffnung umgegangen ist.
Hat Hoffnung durch eine schwierige Kindheit und Jugend hindurch getragen, ohne jemals erfüllt zu werden?
Leben bestimmte Erwartungen als unerfüllte Sehnsüchte und Wünsche immer noch in der Seele?
Haben sich Erwartungen hie und da erfüllt?
Wie ging man mit der Tatsache von Erfüllung um, mit erfüllten Wünschen, erfüllter Hoffnung, gestillter Sehnsucht?
Nahm man sie als selbstverständlich hin oder waren sie Anlass, tiefe und nachhaltige Dankbarkeit zu empfinden?
Dankbarkeit und Zufriedenheit sind Gefühle, die in unseren Tagen einer allgemeinen Undankbarkeit und Unzufriedenheit gewichen sind. Wer noch die Nachkriegszeit erlebt hat mit all ihrer materiellen Not und Entbehrung und den Wohlstand heute sieht, der trotz relativ hoher Arbeitslosigkeit herrscht, müsste annehmen, dass Dankbarkeit das beherrschende Gefühl unter den jetzt lebenden Menschen ist.
Warum ist das nicht so?
Warum wird der Zustand der Bedürftigkeit und der Hoffnung auf materiellen Wohlstand so rasch vergessen?
Warum wird Wohlstand als etwas völlig Selbstverständliches gefordert, für das man nicht dankbar sein muss?
Es ließen sich viele Beispiele anführen, die zeigen, dass Gründe für Dankbarkeit kaum wahrgenommen bzw. einfach verschlafen werden.
Realistische Bilanz ziehen
In Zeiten, in denen man mit Umständen konfrontiert ist, die den eigenen Erwartungen nicht entsprechen, kann es eine Hilfe sein, eine realistische Bilanz zu ziehen und sich zu fragen, was man den Lebensumständen zu verdanken hatte, bevor die Enttäuschungen eingesetzt haben. Dann kann man sich fragen, woran es liegen mag, dass der andere die eigenen Erwartungen enttäuscht hat.
Hat er einen Fehler gemacht, den er – weil es ja ein Fehler ist – auch einsehen kann?
Oder hängt die Enttäuschung mit Verhaltensweisen zusammen, die zum Partner gehören, mit Schwächen, die dieser gegenwärtig nicht bearbeiten kann oder will und als zu sich gehörig betrachtet?
Oder liegt der Grund für die Enttäuschung in dem illusionären Bild, das man sich vom anderen gemacht hat und dem er gar nicht entsprechen wollte?
Angesichts enttäuschter Erwartungen stellt sich die Frage, wie man sich zu einem gesunden Lebensrealismus erziehen kann. Ideale sind nur dann hilfreich, wenn sie sich in der Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit, so wie sie ist, bewähren. Je realistischer ein Mensch wird, umso mehr kann er ein Gefühl der Zufriedenheit entwickeln. Denn in allen Lebenssituationen gibt es genügend Dinge und Vorgänge, für die man dankbar sein kann und die infolgedessen auch zufrieden machen können. Für das Gelingen einer Partnerschaft ist es hilfreich, enttäuschte Erwartungen als Mangel an Realismus zu diagnostizieren und sich auf das zu besinnen, was real möglich ist. Den anderen so nehmen zu lernen, wie er ist, und daraus das Beste zu machen, ist die Aufgabe. Stattdessen wollen wir meist gerne selber bleiben, wie wir sind, und kritisieren den anderen.[1]
2. Wünsche und Erwartungen an sich selber richten
Je weniger man Wünsche und Erwartungen in den Partner projiziert und je mehr man deren Erfüllung von sich selbst erwartet, um so entlastender ist das für eine Beziehung und umso mehr Freude macht es dem anderen, unerwartete Geschenke zu machen und Liebesbezeugungen zu erweisen. Nichts lähmt den Drang, dem anderen eine Freude zu machen, mehr, als wenn dieser es in einer Weise erwartet, die man doch nicht erfüllen kann. Lieber sollte man das, was man selbst gerne hätte, probeweise dem anderen angedeihen lassen.
Als harmloses Beispiel sei das Feiern des Hochzeitstages genannt. Wenn man diesen Tag gerne mit irgendetwas Festlichem oder einer kleinen Erinnerung, sei es nur ein Blumenstrauß oder ein Telefongespräch mit dem Partner, begehen möchte, sollte man die Umsetzung dieser guten Idee nicht von ihm erwarten, sondern selbst verwirklichen und dem anderen damit eine Freude machen. Ist man jedoch ohnehin immer derjenige, der vieles für den anderen macht, ohne dass je etwas zurückkommt, könnte eine konstruktive Initiative darin bestehen, einmal ganz bewusst darauf zu verzichten und stattdessen Dinge zu unternehmen, die einem selber Spaß machen und auf die man schon seit Langem verzichtet hat. Ein solches Verhalten wird eher Aufmerksamkeit erregen und zu Gesprächen Anlass geben oder zumindest zur Folge haben, dass sich in der festgefahrenen Situation etwas ändert – und zwar zum eigenen Vorteil, der genauso berechtigt ist wie der Vorteil des anderen.
3. Angst vor Liebesverlust entlarven
Ein solches Vorgehen erfordert allerdings Mut, da sich hinter dem Wunsch, dem anderen alles recht machen zu wollen, oft die Angst verbirgt, er könnte einem seine Liebe entziehen, wenn man nicht ständig zur Verfügung steht. Diese Angst ist kein guter Lebensbegleiter und trägt auch nichts Positives zur ehelichen Gemeinschaftsbildung bei. Vielmehr schafft sie zunehmende Abhängigkeit und engt den Betreffenden in seinem Entwicklungsradius immer mehr ein.
Diese Angst kann zum Anlass werden, den nötigen Mut zu entwickeln, den man zum Selbständig-Werden braucht und damit auch zum Überwinden dieser Angst. Denn wenn der andere tatsächlich nur die Dienstleistungen liebt und nicht einen selbst, ist das keine Grundlage für eine befriedigende Partnerschaft und muss früher oder später ohnehin in die Krise führen. Wer nicht lernt, selbständig zu werden und nötigenfalls auch allein zu leben, ist im Grunde nicht reif für eine Partnerschaft. Dass heute so viele Ehen scheitern und die Ein-Personen-Haushalte weltweit in starker Zunahme begriffen sind, ist ein Beweis für diese Tatsache. Viele Ehen sind Lebensgemeinschaften auf Zeit, die zwischen der Abhängigkeit von der Stammfamilie und der Fähigkeit, das Leben wirklich selbständig in die Hand zu nehmen, als eine Art Übergang gewählt werden. Hat man jedoch den Mut zur Selbständigkeit gefunden, hat man damit auch die Fähigkeit erworben, sich auf eine dauerhafte Lebensgemeinsamkeit einzulassen.
4. Dem Doppelgänger begegnen
In der psychologischen Literatur gibt es verschiedene Bezeichnungen für das „andere Selbst“: „niederes Selbst“, „Schatten“ oder auch „Doppelgänger“. Dieser Begriff umfasst die Eigenschaften, die im Unbewussten des Menschen Zweifel, Hassgefühle und Ängste hervorrufen, aber auch Wünsche, Neigungen und Begierden, die man sich bei vollem Bewusstsein nie eingestehen würde, die aber doch real vorhanden sind. Beim Doppelgänger handelt es sich um den Schattenwurf der eigenen Ich-Entwicklung, um die Realität des Bösen in uns, die wir so gerne verdrängen. Der Doppelgänger ist die Seite unserer Natur, die wir noch nicht durch Arbeit an uns selbst „vermenschlicht“ haben. Wir können damit noch nicht frei umgehen. Es ist die Seite unserer Trieb- und Begierde-Natur, mit der wir uns noch nicht bewusst identifiziert haben und die wir deshalb noch nicht liebevoll handhaben können.
Der Sublimationsbegriff der Psychoanalyse gibt die darin liegende Aufgabe für uns Menschen nur sehr unvollständig wieder. In der anthroposophischen Menschenkunde wird der Prozess der Umwandlung des Schattens durch Schulung in aller Klarheit und Vollständigkeit beschrieben.[2]
Wir Menschen haben eine große Scheu, uns die Schattenseiten unseres Doppelgängers zu Bewusstsein zu bringen. Deshalb neigen wir dazu, diese Schatten unbewusst in unsere Mitmenschen zu projizieren.
Beispiele für Doppelgänger-Projektionen
Hierfür einige Beispiele aus der Praxis:
- Man verspürt eine Neigung, bestimmte Menschen in ihrem Verhalten besonders stark zu kritisieren, ohne sich bewusst zu sein, dass man sie im Grunde beneidet. Man will und kann sich den Neid aber nicht eingestehen und sucht nun Wege, den anderen Menschen als problematisch und nicht beneidenswert erscheinen zu lassen.
- Oder man ist argwöhnisch und ängstlich und wittert überall berechtigte Gründe für Misstrauen: Man meint, die anderen hätten Schlechtes im Sinn oder wären nicht zuverlässig oder würden etwas im Schilde führen. Dabei hat man selber diese Eigenschaften ...
- Auch gibt es Menschen mit einem deutlichen Mangel an sozialer Wahrnehmungsfähigkeit. Dieser Mangel wird nun bei anderen wahrgenommen, kritisiert und besprochen. So ist oft zu erleben, dass Menschen, die besonders viel und gerne über das soziale Miteinander reden, selber auf diesem Gebiet erstaunlich unfähig sind.
Das Positive an der Projektion der Doppelgänger-Eigenschaften ist, dass einem diese Eigenschaften, Probleme und Eigenarten durch die Begegnung mit den Menschen des eigenen Umfeldes bewusstwerden können und man nun beginnen kann, daran zu arbeiten. Wer einmal aufmerksam geworden ist auf das Problem der Spiegelung oder der Projektion des Doppelgängers in die Mitmenschen, entwickelt ein neues Verhältnis zu Schwierigkeiten und Problemen im Sozialen. Denn er weiß jetzt: Alles, was mir bei den Menschen meines Umkreises besonders problematisch erscheint, hat auch mit mir selbst zu tun. Indem ich lerne, damit umzugehen, läutert sich mein eigenes unbewusstes Wesen, dann arbeite ich an der Verwandlung meines eigenen Doppelgängers, aber zugleich auch an der Klärung meines menschlichen Umfeldes.
Problematische Folgen von Projektionen
Man projiziert seinen Doppelgänger auf andere, solange man nicht die Kraft hat, ehrliche Selbsterkenntnis zu üben und bewusst an diesen Eigenschaften zu arbeiten und sich auf diese Weise weiterzuentwickeln. Das ist einerseits legitim, führt andererseits aber zu unlösbaren Schwierigkeiten, wenn man sich dauerhaft weigert, sich der Tatsache dieser Spiegelung bewusst zu werden und tatsächlich meint, die Probleme lägen nur bei den anderen und man selbst wäre das Unschuldslamm. Unversöhnlichkeit, Verurteilungen und bittere Resignation sind die Folge.
Wer nicht lernt, seine Herrschaftsgelüste und Machtinstinkte auf sich selbst anzuwenden in Form von Selbstbeherrschung, wird Freude daran haben, andere zu beherrschen. Deswegen geht es gerade in Beziehungen darum, diese Doppelgänger-Qualität ins Bewusstsein zu heben, um dadurch zu lernen, das eigene Machtpotential zu instrumentalisieren und aus innerer Freiheit da einzusetzen, wo es gebraucht wird, wo es hilfreich ist und die Menschlichkeit fördert.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
[1] Vgl. Rudolf Steiner, Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden?, aus: Mysteriengestaltungen, GA.232.
[2] Vgl. Stefan Leber, Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik. Stuttgart 1993.
DER RICHTIGE ZEITPUNKT FÜR ENTWICKLUNGSPROZESSE IM SOZIALEN
Wann ist der richtige Zeitpunkt, um an Problemen und Konflikten in der Partnerschaft zu arbeiten?
Das Spannungsfeld von Individualität und Gemeinschaft für die Entwicklung nutzen zu lernen, ist ein lebenslanger Prozess. Dabei spielt der Umgang mit dem Faktor Zeit eine zentrale Rolle.
Der Faktor Zeit in der Beziehungsarbeit
Die Arbeit an Problemen und Konflikten kann nicht zu jedem Zeitpunkt vorgenommen werden. Das zu berücksichtigen ist wichtig: Wer meint, nach Mitternacht noch mit dem Partner konstruktiv an Problemlösungen arbeiten zu können, hat sich in der Regel getäuscht. Man kann um diese Zeit zwar noch lange diskutieren – es kommt jedoch selten etwas Konstruktives dabei heraus. Meist dreht man sich dabei im Kreis und ist am Ende müde und verzweifelt. Am nächsten Tag ist man unausgeschlafen und reagiert schon deshalb aggressiver als nötig.
Am besten sind Zeiten, die man gemeinsam verabredet und auf die man sich innerlich einstellen kann. Oder aber solche Augenblicke, die man im Laufe des Tages geistesgegenwärtig ergreift, wenn sich ein Gespräch ergeben hat, das man dann in Richtung der notwendigen Problemlösung fortsetzen kann.
Solche Überlegungen helfen auch bei Kindern. Oft entspannt sich die Situation bereits, wenn man genauer abzuschätzen versucht, wo sie sich gerade befinden. So ist z.B. „berechtigtes Schimpfen“ zu einem Zeitpunkt, an dem das Kind bereits übellaunig, aggressiv, müde, gestresst oder hungrig ist, nicht sinnvoll und sollte lieber vermieden werden. Viel effektiver ist es, in der akuten Situation zu schweigen und abzuwarten, bis Ruhe einkehrt und das Kind wieder aufnahmefähig ist, um dann die notwendige Korrektur oder Erklärung vorzubringen.
Wahrnehmen von Prozessen üben
Im Umgang mit Konflikten stellt sich generell die Frage, ob die Sache schon so reif ist, dass wirklich etwas entschieden werden kann, ob eine Konfrontation stattfinden sollte oder ob ein „chirurgischer Eingriff“ vorgenommen werden muss. Hier den richtigen Zeitpunkt für eine Entscheidung zu finden, ist schwierig, weil wir nicht im ruhigen Wahrnehmen solcher Vorgänge geübt sind.
Auch sind Menschen immer weniger gewillt, sich für Entwicklungsprozesse im Sozialen die notwendige Zeit zu nehmen. Man möchte vielmehr hier und jetzt, quasi auf Knopfdruck, alles geregelt haben. So wie man Kindern ihre Kindheit nicht mehr zugesteht und sie so früh wie möglich zu kleinen Erwachsenen macht, so gesteht man auch alten Menschen ihr Alter nicht mehr zu und lässt generell zu wenig Zeit für Reifungsprozesse. Man ist leicht geneigt, seine eigenen Neigungen und Fähigkeiten zum Maßstab für andere zu machen und die unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven für Entwicklungsverläufe aus dem Auge zu verlieren.
Wie wohltuend ist es, wenn man berechtigte Forderungen an jemanden zurückstellen kann, weil man erkennt, dass der Betreffende gerade besonders belastet ist. Auch wenn es von der Sache her richtig wäre, eine Forderung zu stellen, kann es sein, dass jetzt nicht der „richtige“ Zeitpunkt dafür ist. Ungeduld und die Unfähigkeit, sich Zeit zu lassen, zerstören viel an Entwicklungsmöglichkeiten.
Gefahr vorschneller und zu spät getroffener Entscheidungen
Immer wieder gibt es in der Partnerschaft Konstellationen, die ausweglos erscheinen und bei denen der Partner auf eine Entscheidung drängt: „Wenn du dich jetzt nicht so oder so entscheidest, dann ...“. Unter diesem Druck wird u.U. vorschnell etwas entschieden, auf das man später mit Reue zurückblickt, weil man zugeben muss, dass die Entscheidung unreif war. Man hätte sich und anderen Leid erspart, wenn der Druck nicht gewesen wäre.
Aber auch das Umgekehrte kommt vor: Ehepartner, die sich seit Jahren in ihrer Entwicklung mehr behindern als fördern, und deren Kinder schließlich schon sagen – „Warum trennt ihr euch denn nicht?“ – fassen diesen Entschluss womöglich zu einem Zeitpunkt, an dem es für einen der beiden Partner oder für beide bereits zu spät ist, dem Leben eine entscheidende Wendung und damit eine neue Entwicklungschance zu geben.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 7. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
HILFEN BEI EHEPROBLEMEN
Wer kann von sich sagen, dass er wirklich zu Toleranz und Verträglichkeit erzogen worden ist?
Lässt sich Erziehung zur Verträglichkeit im späteren Leben nachholen?
Beziehungsproblemen lösen durch Erziehung zur Verträglichkeit
Um auf diese Fragen einzugehen, soll noch das pädagogische Problem der Selbsterziehung angesprochen werden. Rudolf Steiner, der einmal nach der Ursache zunehmender Eheschwierigkeiten gefragt wurde, bemerkte dazu, dass sie in erster Linie Ausdruck einer nicht stattgefundenen Erziehung zur Verträglichkeit sei. Diesbezüglich können wir sicher alle noch viel hinzulernen. Ich möchte daher zwei Hilfen nennen, die sich auf diesem Gebiet bewährt haben:
· Besinnung auf die geistige Welt
Das erste Hilfsmittel ist, sich auf das eigene Verhältnis zur geistigen Welt zu besinnen:
Was ist mein Lebensziel?
Welches ist das Ideal meiner Entwicklung?
Wie sehe ich es in Verbindung mit der Tatsache, dass alle anderen Menschen sich ebenfalls entwickeln?
Gibt es ein uns Menschen gemeinsames Ideal des Werdens, der Menschlichkeit, zu dem die unterschiedlichsten Wege hinführen?
Und: Kenne ich das Lebensideal meines Ehepartners?
Kann ich dieses Ideal lieben als sein Zentrum, seine innerste Sehnsucht nach Daseinsverwirklichung?
· Den anderen nehmen, wie er ist
Das zweite Hilfsmittel ist die Befolgung eines sozialtherapeutischen Ratschlages von Rudolf Steiner: „Man nehme den anderen Menschen, wie er ist, und versuche aus dem, was er ist, das Allerbeste zu machen.“ [1]
Tatsächlich tut man meist genau das Umgekehrte: Man nimmt sich selbst so, wie man ist, und mäkelt an dem anderen herum. In dem Augenblick, in dem man Freude daran gewinnt und die nötige Fantasie entwickelt, aus allem, was gesagt wird und geschieht, das für das gemeinsame Leben Fruchtbarste zu machen, wird es nicht mehr zu kraftraubenden, sich ewig wiederholenden Konflikten kommen. Durch ein solches Bemühen lernt man sich gegenseitig erst richtig kennen, lernt über Unvollkommenheiten des anderen zu schmunzeln, die einen früher zur Weißglut bringen konnten, und bemerkt viele positive Gestaltungsmöglichkelten des gemeinsamen Lebens, die man bisher noch gar nicht entdeckt hatte.
Wenn man in der Kinderarztpraxis mit Eltern über diesen Punkt spricht, nicken die Männer meistens ganz verständnisvoll, wohingegen die Frauen einem entgegenhalten: „Die Erfahrung habe ich schon oft gemacht, dass es keinen Streit mehr bei uns gibt, wenn ich mich so verhalte, wie mein Mann es von mir erwartet. Wenn ich mich in allem füge und flexibel zeige, gibt es zwar keine Probleme, aber ich fühle mich in meinen Wünschen, Fragen und Problemen alleingelassen und nicht ernstgenommen.“
Und hier liegt tatsächlich ein Kern des Problems. Solange man sich so fühlt, als müsse man sich unterordnen und als herrsche keine Partnerschaftlichkeit beim Äußern von Bitten und Wünschen, steht man noch nicht auf dem oben angedeuteten Boden. Denn dieser Boden kann nur durch einen freien Entschluss betreten werden. Man will das Beste daraus machen im Vertrauen auf die Entwicklungsfähigkeit des anderen, auch wenn er sich vorerst gar nicht ändert.
Ermutigende Bejahung des anderen
Die Erfahrung zeigt, dass ein Mensch, der ständig von einem anderen in seinem Sosein bejaht und in seiner Existenz bestärkt wird, sich in einer solchen Atmosphäre anders entwickeln kann als jemand, der im Inneren resigniert hat, weil er spürt, dass er dem anderen doch nichts recht machen kann, dass er den hohen, in ihn gesetzten Erwartungen nicht entspricht.
Es zeigt sich immer wieder, dass in Gesprächen dieser Art der charakteristische Unterschied im Seelenleben von Mann und Frau zum Tragen kommt und, wo das unbewusst bleibt, zum Konflikt führen muss:
· SIE hat aufgrund ihrer stärkeren seelischen Farbigkeit und Regsamkeit eine konstitutionelle Neigung, IHN zu idealisieren und mehr in ihm zu sehen, als er bieten kann.
· Umgekehrt hat ER die konstitutionelle Neigung, sich rascher zufriedenzugeben, eher etwas weniger von dem wahrzunehmen, was SIE ist und eigentlich will, und hat in ihren Augen oft zu geringe Ansprüche an das gemeinsame Leben und seine Gestaltung.
Bei der Frau bestünde die Übung des oben angeführten Satzes – „den anderen nehmen, wie er ist, und daraus das Beste machen“ – mehr darin, sich zu bemühen, realistischer zu werden, und beim Mann läge die Verwirklichung des Satzes mehr darin, ein wenig idealistischer zu werden. Beiden gemeinsam wäre das damit verbundene Bemühen, die Persönlichkeit des andern in ihrem Sosein ernst zu nehmen.
Vgl. Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987
[1] Rudolf Steiner, Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden? Vortrag vom 10. 10. 1916 in Zürich. In: Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten, GA 168.
KONSTRUKTIVER UMGANG MIT DEM SCHEITERN VON BEZIEHUNGEN
Warum scheitern heutzutage so viele Beziehungen?
Wie können die Betroffenen konstruktiv damit umgehen?
Warum Beziehungen heute oft scheitern
Es gibt heute Schulklassen, in denen nur ein Drittel der Kinder aus einer Familie kommt, in der Vater und Mutter noch zusammenleben. Die Zeiten sind vorbei, in denen eine Ehe aufgrund eines einmal in der Kirche gegebenen Versprechens oder aufgrund gesellschaftlicher Normen und Verpflichtungen aufrechterhalten werden kann. Über das Zusammenbleiben entscheidet heute, ob die Partner in der Lage sind, ihre persönliche Entwicklung (ihre Selbstverwirklichung) auch vor dem Hintergrund der familiären Bindung zu realisieren.
Ohne eine starke Motivation und klare Gesichtspunkte zur Selbsterziehung wird es immer schwerer, mit anderen Menschen und ihren Bedürfnissen zurechtzukommen. Enttäuschte Erwartungen, hohe Ansprüche, Missverständnisse, unerfüllte Sehnsüchte, Wunschträume, deren Realisierungsmöglichkeiten man nicht klar durchdacht hat, Neid- und Eifersuchtssituationen und nicht zuletzt Meinungsverschiedenheiten über Kindererziehung und Lebensgestaltung – all diese Themen wirken wie Sprengstoff in der Beziehung, wenn sie nicht als fruchtbare Felder der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Partner angesehen werden können.
Fragen in der Beziehungskrise
Wenn eine Beziehung in Gefahr ist, ist es sehr hilfreich, wenn die Beteiligten sich nach zwei Richtungen hin befragen:
- ob dieser Bruch nötig ist, damit beide in ihrer Entwicklung weiterkommen,
- ob der Bruch vermeidbar ist, wenn einer oder beide bereit sind, ihre Einstellung dahingehend zu verändern, dass sie an sich etwas ändern, so dass sich dadurch neue Entwicklungsperspektiven ergeben, die eine Fortsetzung der Beziehung als sinnvoll erscheinen lassen.
Bisweilen hat einer der beiden Partner die Notwendigkeit zur Selbsterziehung entdeckt oder besitzt durch andere Hilfe die Kraft, eine Beziehung auch dann fortzusetzen, wenn bereits vieles dafürspricht, sie abzubrechen. Oft jedoch sind die Umstände so unerträglich geworden , dass es zum Wohle beider Partner und insbesondere zum Wohl des Kindes besser ist, die Trennung zu vollziehen. Für ein Kind ist es wesentlich gesünder, in einer harmonischen Mutter-Kind-Beziehung aufzuwachsen, als täglich die zermürbenden Spannungen oder die immer wieder auftretende eisige oder resignierte Stimmung zu erleben, die mit einer zerrütteten Ehe einhergeht.
Lernen aus dem Scheitern von Beziehungen
Viele Freundschaften, Partnerschaften und Ehen zerbrechen an dem Mangel an Freiheit in der Beziehung. Um der Freiheit willen ist man geneigt, Bindungen aufzugeben, um sich erst einmal selbst zu finden, oder auch – meist unbewusst – um der Freiheit des anderen willen, der zu stark in Abhängigkeit geraten ist. Viele Menschen lernen erst in der Isolierung und Vereinzelung, wie man beziehungs- und bindungsfähig wird. Menschen, die sich nach einer ersten gescheiterten Partnerschaft oder Ehe wieder neu mit einem anderen Menschen verbunden haben, sagen sehr oft, wie viel sie aus der alten Beziehung für die neue gelernt haben. Durch die scheinbare Katastrophe haben sie die Kraft erworben für eine neue, oft viel bewusstere und tragfähigere Verbindung.
Damit soll natürlich keine Lanze gebrochen werden für die Ehescheidung – ich möchte damit nur deutlich machen, dass dieses Zerbrechen von Lebensformen und Gemeinschaften auch etwas Positives hat, das im Sinne der christlichen Werteentwicklung und Ziele der Menschheit liegt.
Vgl. „Die alleinerziehende Mutter“ und „Vom Umgang mit sozialen Problemen“, aus „Elternfragen heute“, Verlag Urachhaus, Stuttgart