Zur "Erweiterung der Heilkunst" – von Michaela Glöckler: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Geistesforschung
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[14] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.
[14] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.
== „GRUNDLEGENDES FÜR EINE ERWEITERUNG DER HEILKUNST“ ALS MEDITATIONSBUCH ==
''Inwiefern ist das im Titel genannte medizinische Grundlagenbuch[1] auch ein Meditationsbuch?''
''Welche Rolle spielt dabei das Denken?''
''Welche Bedeutung hat das sinnlichkeitsfreie Denken für die Erfassung der inneren und äußeren Welt?''
=== ''Die verbindende Rolle des Denkens'' ===
Die anthroposophische Meditation nimmt ihren Ausgangspunkt beim Denken. Dieses geht auch wach wahrnehmend mit, wenn es um Körpermeditationen, Sinnesschulung und Wortmeditationen geht.[2]
Immer spielt das Denken eine zentrale Rolle, wenn es um die Erfassung der Welten geht, in die der Mensch eingebunden ist:
* Die '''naturwissenschaftlichen Methoden''' beruhen auf einer Erforschung der ''„sinnenfällig gegebenen Welt“,[3]'' die mithilfe des Denkens analysiert wird, um die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zu finden.
* Die '''geisteswissenschaftliche Methode''' im Sinne Steiners stützt sich auf das Denken, das zum Anschauungsorgan für Geistiges weiterentwickelt werden kann.
Ein gemäß der anthroposophischen Erkenntnisschulung ''„erkraftetes Denken“[4]'' wird methodisch bereits  in Kapitel I beschrieben und liegt allen weiteren Ausführungen des Buches zugrunde.
Das Verbindende zwischen Natur- und Geisteswissenschaft kann nicht im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren liegen. Es kann nur im Denken selber gefunden werden, da dies in beiden Bereichen gleichermaßen führend ist, wenn etwas verstanden werden soll.
=== ''Stärkung des sinnlichkeitsfreien Denkvermögens'' ===
Auch für die anderen Grundschriften Rudolf Steiners gilt, dass ihre Lektüre das sinnlichkeitsfreie Denkvermögen stärkt. Doch ist dies bei dem Grundlagenwerk der Anthroposophischen Medizin[5] in besonderem Maße der Fall. Denn es ist so abgefasst, dass man ohne eigene echte Gedankenanstrengung kaum Gewinn davon hat bzw. das Werk als unzugänglich empfinden muss.
Von daher auch in Kapitel I der Hinweis auf die beiden Schulungsbücher ''„Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“[6]'' und ''„Die Geheimwissenschaft im Umriss“[7]'' sowie auf ergänzende Schriften und Vorträge, in denen die Übungen beschrieben sind zur Weiterentwicklung der Tätigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens. Damit ist klargestellt, dass Medizin nicht nur bedeutet, viel über den Menschen zu wissen, sondern auch, die geistigen Quellen zu kennen, denen der Mensch sein Dasein und seine Entwicklungskompetenz verdankt.
Von Kritikern der Anthroposophie wird mit Bezug auf die meditative Selbstschulung gerne der Einwand erhoben, dass keiner der Schüler Steiners bisher die von ihm beschriebenen höheren und höchsten Einweihungsgrade erreicht habe.
=== ''Meisterschaft durch Übung'' ===
Wer jedoch den von Steiner empfohlenen Weg zur höheren Erkenntnis beschreitet, kann bei sachgemäßer Befolgung schon der allerersten Übungsanweisung: ''„Schaffe dir Augenblicke innerer Ruhe und lerne in diesen Augenblicken das Wesentliche von dem Unwesentlichen unterscheiden“,[8]'' an sich selbst erleben, wie stark die Wirkung einer solchen Übung ist, wenn man sie durchführt und beginnt, mit ihr zu leben. Dadurch hat man bereits eine Erfahrung gemacht, die Vertrauen stiftet, auch anderes zu versuchen oder auch Forschungsergebnisse Steiners zumindest hypothetisch für möglich zu halten und Leben und Erfahrung im Lichte einer solchen hypothetischen Annahme zu reflektieren.
Das kann z.B. auch Medizinstudenten motivieren, den einen oder anderen Hinweis aus der anthroposophischen Geistesforschung zum Ausgangspunkt einer Doktorarbeit bzw. späteren Habilitation zu machen – was Steiner in seinen Kursen mehrfach vorgeschlagen hat und was auch wiederholt geschehen ist.[9]
''Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 2025[10]''
----[1] Rudolf Steiner, Ita Wegman, ''Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.''
[2] Rudolf Steiner, ''Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst'', Vorträge für Ärzte und Medizinstudierende, GA 316.
[3] Rudolf Steiner, ''Wahrheit und Wissenschaft, 11. Kapitel,'' GA 3.
[4] Rudolf Steiner, ''Vorstufen zum Mysterium von Golgatha,'' GA 152, Seite 51–53.
[5] Siehe FN 1.
[6] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.''
[7] Rudolf Steiner, ''Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13.''
[8] Sie FN 4, 1. Kapitel.
[9] Vgl. <nowiki>https://medsektion-goetheanum.org/forschung/publications</nowiki>; [6.1.2025].
[10] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

Aktuelle Version vom 15. Dezember 2025, 17:54 Uhr

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

DIE THEMENSCHWERPUNKTE VON „GRUNDLEGENDES FÜR EINE ERWEITERUNG DER HEILKUNST“

Wie ist dieses Grundlagenwerk der Anthroposophischen Medizin[1] aufgebaut?

Zur inneren Gliederung des Werkes

Das Buch hat vier thematische Schwerpunkte:

  1. Mensch und Makrokosmos – Kap. 1 bis 7
  2. Ursachen für Stoffwechselerkrankungen – Kap. 8 bis 12
  3. Therapie-Kapitel – Kap. 13 bis 18
  4. Wirkprinzipien von Arzneimitteln und Heileurythmie – Kap. 19 bis 21

In aller Kürze kann man sagen:

In den Kapiteln 1 bis 18 wird das „medizinische System“ skizziert, das als Grundlage einer „rationellen Diagnostik und Therapie“ dienen möchte.[2]

Die beiden Schlusskapitel geben dann Einblick in die Praxis und zeigen, wie sich naturwissenschaftliche Medizin und das medizinische System der Anthroposophie gegenseitig ergänzen und inspirieren können.

Ad1. Mensch und Makrokosmos – Kap. 1 bis 7

Hier werden die Grundlagen zum Verständnis der Gesundheit erörtert. Es wird das viergliedrige Menschenbild eingeführt in Form von vier regulierenden, ordnenden Kraftsystemen, die in ihrem Zusammenwirken die – funktionell dreigliedrige – menschliche Konstitution bilden. Auch wird das Verhältnis des gesunden Mikrokosmos Mensch zum Makrokosmos herausgearbeitet.

In den ersten fünf Kapiteln werden darüber hinaus die Grundlagen für ein spirituelles Substanz-Verständnis gelegt.

Im ersten Kapitel wird das Geheimnis des Merkurstabs enthüllt, indem auf die Bedeutung der Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedankenkräfte eingegangen wird.

Im zweiten Kapitel wird eingehend erläutert, wie Krankheit dadurch entstehen kann, dass der Mensch zwar geistig seelisch tätig ist, aber in Einseitigkeit und Irrtum verfällt.

Im dritten bis fünften Kapitel werden die mikrokosmische und makrokosmische Natur der menschlichen Wesensglieder und ihrer spezifischen Kräftekonfigurationen eingeführt. Es wird aber auch in zu Herzen gehender Weise geschildert, welchen Opfergang und welches Schicksal die Welt der irdisch gewordenen Substanzen dabei erfährt. Und wie dieser Opfergang der Substanzen seine Erlösung und Erfüllung findet, wenn die Substanz im Menschen „geisttragend“ werden kann. Wenn „geistgetragene Menschenseelen“ diesem Opfer zum Segen werden.

Im sechsten Kapitel wird dann das embryonale Bildegeschehen des menschlichen Körpers so dargestellt, dass man die physiologischen Prozesse des Wesensgliederwirkens denken lernen und sich für die verschiedenen Organbildungen anschaulich machen kann.

Im siebten Kapitel wird der entwicklungsoffene, in sich nicht abgeschlossene gesunde Gesamtorganismus geschildert und daran das Prinzip der Selbstkränkung und das Wesen der Selbstheilungskräfte verdeutlicht.

Ad 2. Ursachen für Stoffwechselerkrankungen – Kap. 8 bis 12

Die Kapitel acht bis zwölf behandeln die fünf Hauptursachen pathologischer Prozesse. Sie beschreiben die fünf zentralen Ursachen der Entstehung von Erkrankungen des Stoffwechsels. Diese werden anhand der Wirkweise von Zucker, Eiweiß, Fett, Harnsäure und Wärme anschaulich gemacht. Dabei werden auch die diese Stoffwechselprozesse regulierenden Wesensglieder in ihrem leiblich-seelischen Wirken anschaulich.

Ad 3. Therapie-Kapitel – Kap. 13 bis 18

Es folgen fünf Therapie-Kapitel, in denen die therapeutische Regulierung des Verhältnisses zwischen Ätherleib und Astralleib im Mittelpunkt steht, dann die regulierende Kraft der Ich-Organisation, dann die mögliche Schwächung der physisch-ätherischen Konstitution im Laufe des Älterwerdens, das Prinzip der Arzneimittelfindung und die Einführung in das Wesen der Substanzerkenntnis als Grundlage der Heilmittel-Erkenntnis.

Ad 4. Wirkprinzipien von Arzneimitteln und Heileurythmie – Kap. 19 bis 21

In den letzten drei Kapiteln des Buches werden charakteristische Krankheitsfälle und typische Heilmittel vorgestellt. Sie sind dem Wirkprinzip der Heileurythmie gewidmet, geben einen Einblick in die Praxis der Anthroposophischen Medizin anhand von neun individuellen Krankheitsfällen und nennen den Einsatz von Arzneimitteln, die bestimmten typischen Erkrankungen angepasst sind.

Die „Erweiterung der Heilkunst“ wurde bis heute bis auf wenige Anmerkungen und Hinweise zur Entstehung und Autorschaft unverändert nachgedruckt. Es hat über drei Generationen hinweg vielen Fachleuten auf dem Gebiet der Anthroposophischen Medizin die nötige Grundorientierung gegeben, um das akademisch erworbene Wissen auch unter spirituellen Gesichtspunkten anzuschauen und es so im Einzelfall praktisch anwendbar zu machen.

Dieses Werk stellt im Grunde einen Lehrgang dar, der – wie es Ita Wegman in ihrem damals nicht veröffentlichten Vorwort zu diesem Buch schreibt – jeden Arzt in die Lage versetzt, selbst die Krankheiten geistig anzuschauen, wenn er bereit ist, das „ganz richtige Lesen dieses Buches“ zu üben.

Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015


[1] Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27, Dornach 1991.

[2] Zu Rudolf Steiners Verständnis der Anthroposophischen Medizin als einer im Gegensatz zur Schulmedizin, wahrhaft rationellen‘ Heilkunst siehe auch das Vorwort der „Erweiterten Heilkunst“. Elemente für eine echte Ratio zusammenzutragen, wie sich aus der Diagnose die Therapie ergibt, war bereits Hauptanliegen im ersten Kursus für Mediziner im Jahr 1920 gewesen: Vgl. Steiners „Geisteswissenschaft und Medizin“, GA 312.

DIE KAPITEL I–VII: GRUNDLAGEN ZUM VERSTÄNDNIS DER GESUNDHEIT[1]

Was zeichnet den gesundheitswissenschaftlichen Ansatz der Anthroposophischen Medizin aus?

Wie unterscheidet er sich von dem pathogenetischen Ansatz der naturwissenschaftlich basierten Schulmedizin?

Welche Reformen wünschte Rudolf Steiner bereits zu seinen Lebzeiten?

Zukunftsweisender gesundheitswissenschaftlicher Ansatz der AM

Kapitel I–VII umfassen den gesundheitswissenschaftlichen Ansatz der Anthroposophischen Medizin. Unter ‚Volksgesundheit‘ verstand man am Anfang des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen hygienische Maßnahmen, genügend Schlaf, gesunde Ernährung und Lebensführung.[2] Noch heute stellen Medizinstudenten und Ärzte immer wieder erstaunt fest, wie wenig sie darüber hinaus während ihres Studiums über die Entstehung von Gesundheit erfahren haben im Gegensatz zur Aufklärung über Krankheitsentstehung, d.h. Pathogenese.

Der pathogenetische Ansatz der naturwissenschaftlich basierten Medizin bzw. Schulmedizin hat gegenwärtig mit der molekulargenetischen Steuerungsebene eine gewisse Kulmination erreicht, die in Zukunft mithilfe der Digitalisierung noch weiter optimiert werden wird. Parallel zu dieser Entwicklung hat aber auch die Wissenschaft von den Nebenwirkungen der pathogenetisch fokussierten Therapie zugenommen.[3] Daher wird von naturwissenschaftlicher Seite argumentiert, dass ein Arzneimittel, das keinerlei Nebenwirkungen hat, auch nicht wirksam sein kann. Und alles Bestreben geht dahin, Nebenwirkungen bestmöglich zu minimieren bzw. durch den Einsatz anderer Arzneimittel zu kompensieren.

Diesem pathogenetisch orientierten Ansatz steht der gesundheitswissenschaftlich-salutogenetische gegenüber. Dieser hat seine Entwicklung und Kulmination noch vor sich. Er etabliert sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst langsam in der akademischen Welt. Es ist jedoch zu hoffen, dass er dennoch in nicht allzu ferner Zeit die Mitte der Gesellschaft erreichen wird.

Paradigmenwechsel als politische und wirtschaftliche Herausforderung

Denn der Paradigmenwechsel der Umorientierung von der Verhütung von Krankheit zur Förderung von Gesundheit ist zwar proklamiert – ihn lebenspraktisch zu machen ist und bleibt aber die noch bestehende große soziale und politische und nicht zuletzt wirtschaftliche Herausforderung. Denn:

Wie kann man an der Gesundheit verdienen?

Wer macht dafür Lobbyarbeit?

Und: Was braucht es alles zur auch gedanklich-konzeptionellen Neuausrichtung und Umstrukturierung der Ausbildung für die Gesundheitsberufe, insbesondere der Ärzteschaft?

„Wie weit man davon noch entfernt ist, hat auch das weltweit durchgreifende Corona-Pandemie-Management gezeigt, das ausschließlich pathogenetisch orientiert war. Salutogenetisch orientierte Auffassungen bezüglich Erkrankungsrisiken, Prävention und Therapie wurden auch in der medialen Berichterstattung konsequent ausgeblendet oder sogar lächerlich gemacht und bekämpft. Dabei konnten nicht zuletzt auch die anthroposophischen Krankenhäuser auf ihren Intensivstationen dank ihres integrativmedizinischen Vorgehens auch bei Schwerkranken erstaunlich gute Behandlungsergebnisse aufzeigen.“[4]

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die fortschrittliche Medizin ebenso pathogenetisch orientiert, wie es der heutige Mainstream der Medizin immer noch ist. Im Mittelpunkt stand das neue Paradigma einer modernen Zellularpathologie, mit der Aussicht, immer mehr pathologische Prozesse diagnostisch bis auf die molekulare Ebene im Zellstoffwechsel zu erforschen.[5]

Rudolf Steiners Ruf nach Reformen in der Medizin

Demgegenüber eröffnete Steiner seinen ersten Kurs für Anthroposophische Medizin 1920 mit den Worten: „[…] es ist ja ziemlich selbstverständlich, daß von dem, was Sie wahrscheinlich alle erwarten von der Zukunft des medizinischen Lebens, nur ein sehr geringer Teil in diesem Kursus wird angedeutet werden können, denn Sie alle werden ja mit mir darinnen übereinstimmen, daß ein wirkliches, zukunftssicheres Arbeiten auf dem medizinischen Felde von einer Reform des medizinischen Studiums als solchem abhängt.

Man kann nicht mit dem, was man in einem Kursus mitteilen kann, eine solche Reform des medizinischen Studiums auch nur im Entferntesten anregen, höchstens in der Weise, daß in einer Anzahl von Menschen der Drang entsteht, mitzutun bei einer solchen Reform. […] Dasjenige, was in diesen Vorträgen beigebracht werden soll, das möchte ich erreichen dadurch, daß ich in einer Art von Programm verteile das zu Betrachtende in der folgenden Weise: Erstens möchte ich Ihnen geben einiges, das hinweist auf die Hindernisse, die im heutigen gebräuchlichen Studium bestehen gegen eine wirklich sachgemäße Erfassung des Krankheitswesens als solchem. Zweitens möchte ich dann andeuten, in welcher Richtung eine Erkenntnis des Menschen zu suchen ist, die eine wirkliche Grundlage für das medizinische Arbeiten abgeben kann. Drittens möchte ich auf die Möglichkeiten eines rationellen Heilwesens hinweisen durch die Erkenntnis der Beziehungen des Menschen zur übrigen Welt.“[6]

Als viertes wünschte er sich Fragen aus dem Teilnehmerkreis, weil er seine Ausführungen ganz nach den Bedürfnissen der anwesenden Fachleute und Studierenden richten wollte.[7]

Entwicklung von ganzheitlichen Therapieformen

Seither haben sich auch andere an der ‚Ganzheit Mensch‘ und einem neuen Gesundheits- bzw. Krankheitsverständnis orientierte Therapieformen entwickelt – insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg. Beispielhaft seien

  • die Gestalttherapie[8] genannt,
  • Viktor Frankls (1905–1997) Logotherapie[9]
  • und die humanistische Psychotherapie.

Die Kapitel I bis VII zeigen den methodischen Ansatz für einen solchen Paradigmenwechsel aus anthroposophischer Perspektive auf.

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 2025[10]


[1] Hierbei handelt es sich um Kapitel aus dem Grundlagenwerk von Rudolf Steiner und Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.

[2] Siehe z. B. Steurer-Stuttgart (1919), Fuchs-Wolfring (1912), Dennig (1919).

[3] Vgl. Ammon (2001); Stolze (2014).

[4] Vgl. COVID-19: www.anthromedics.org/PRA-0939-DE; [6.1.2025].

[5] Vgl. Schipperges (1985).

[6] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin, GA 312, S. 13.

[7] Ebenda, S. 14.

[8] Vgl. Boeckh (2015).

[9] Vgl. Frankl (2005).

[10] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

KAPITEL VIII–XII: DIE FÜNF HAUPTURSACHEN PATHOLOGISCHER PROZESSE[1]

Worum geht es in diesen Kapiteln?

Welche Parallelen gibt es zu Paracelsus Sichtweise auf Krankheitsursachen?

Welche Regulationsmöglichkeiten bietet das Wesensglieder-Konzept?

Fünf prinzipielle pathophysiologische Erscheinungen

Die fünf der Pathologie gewidmeten Kapitel haben paradigmatischen Charakter. Es geht nicht um einzelne Krankheitsbilder – obgleich Beispiele genannt werden – es geht um prinzipielle pathophysiologische Erscheinungen aufgrund typischer Ungleichgewichte im Zusammenspiel der Wesensglieder. So wundert es auch nicht, dass so prominente Krankheitsbilder wie z.B. der Krebs keine Erwähnung finden. Auch die Mistel (Viscum album), als das bekannteste anthroposophische Arzneimittel – obgleich bereits seit 1917 durch Wegman in ihrer Zürcher Praxis im Einsatz[2] – findet (in Kapitel XX) keine Erwähnung.

Es geht vielmehr um Beschreibungen pathologischer Stoffwechselprozesse, die bei der Verdauung der Grundnahrungsmittel: Kohlenhydrate, Eiweiße, Fette auftreten können (Kap. VIII–X) sowie die Pathophysiologie der Gicht-Erkrankung, die als Beispiel einer meist hereditären, d.h. genetisch bedingten, Stoffwechselstörung auftritt (Kap. XI). Zuletzt werden in Kapitel XII typische Regulationsweisen im labilen Gesundheits-Krankheits-Kontinuum aufgezeigt, das jederzeit in Richtung Krankheit entgleisen oder sich in Richtung Gesundheit entwickeln kann.

Es zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass diese fünf Schilderungen Schlüssel und Ausgangspunkt zum Verstehen aller Krankheitserscheinungen sind. Sie haben einen ebenso fundamentalen Charakter wie die anderen Kapitel im Kontext der Schrift, da die Autoren sich auf den methodischen Ansatz beschränken, den es dann unbegrenzt weiter auszugestalten und zu erforschen gilt. Die fünf Kapitel sind sozusagen Pathologie ‚in a nutshell‘, d.h. Pathologie im Keimzustand.

Parallelen zu Paracelsus „quinque entibus“

Interessanterweise sprach auch Paracelsus in seinem „Volumen Paramirum“ von fünf Krankheitsursachen: „De quinque entibus“. Schaut man sich sein Konzept unter dem Aspekt der anthroposophischen Menschenkunde an, so ist darin – wie auch in den fünf Pathologie-Kapiteln der Erweiterung der Heilkunst – jeweils eines der vier Wesensglieder in der Hauptverantwortung für die entsprechende Regulationsstörung. Elise Wolfram (1868–1942) hat diesen Aspekt schon 1912 in einem viel beachteten Buch herausgearbeitet.[3] Sie war durch Steiners Ausführungen zu Paracelsus und seine Bedeutung für die Medizin dazu angeregt worden. Seither wurde dieser paracelsische Ansatz wiederholt von anthroposophischen Ärzten mündlich und schriftlich dargestellt.[4]

Im „Volumen Paramirum“ lässt Paracelsus sechs Ärzte sich um einen an der Cholera verstorbenen Patienten versammeln, fünf als Vertreter bestimmter medizinischer Auffassungen (‚Sekten‘), während der sechste Paracelsus selbst ist. Gründlich werden in diesem Zusammenhang fünf mögliche Ursachen und deren jeweilige Beschleuniger abgehandelt: das ‚Ens astrale‘, ‚Ens veneni‘, ‚Ens naturale‘, ‚Ens spirituale‘ und ‚Ens deale‘. Man möchte wissen, welches ‚Ens‘ letztlich verantwortlich war für den Tod, denn nicht alle Cholerakranken starben bei der Epidemie. Es muss also verschiedene Ursachen geben, warum dieser Mensch erkrankt bzw. verstorben ist.

1. Ens astrale – physischer Leib

Hier liegt die Ursache entweder in den individuellen Schicksalsgegebenheiten eines Menschen, der durch seine Geburt in einer bestimmten Erdgegend, einem bestimmten Volks- und Familienzusammenhang sowie entsprechenden sozialen Verhältnissen lebt, und den daraus resultierenden, der Gesundheit schädlichen oder sie fördernden Einflüssen ausgesetzt ist. Diese primär physische Krankheitsursache, zu der auch das kontaminierte Wasser gehört, das die Cholera-Epidemie verursacht hat, wird bezeichnenderweise von Paracelsus ‚Ens astrale‘ genannt.

Es wird dabei auf das Geburtshoroskop verwiesen, auf den ganzen Schicksalskontext dieses bestimmten Menschen in seinem makro-mikrokosmischen Zusammenhang. Dabei unterscheidet Paracelsus klar den Einfluss der Gestirne auf den Menschen als ‚Ens virtutis‘ von dem ‚Ens seminis‘, dem von der Erde stammenden Erbgut, das für die Körperkonstitution verantwortlich ist und damit ebenfalls für möglichen Schutz vor Erkrankung oder aber begünstigend für ihr Auftreten.

Überträgt man diese Vorstellungen in die anthroposophische Terminologie, so geht es hier um den Einfluss der physischen Organisation in Resonanz mit dem auf sie einwirkenden Schicksalsumkreis.

2. Ens veneni[5] – Ätherleib

Hier wird auf den Ursachenzusammenhang gewiesen, der mit der Ernährungsweise und dem Lebensstil zusammenhängt und dem rechten Maß im Sinne des berühmten Spruches: „Dosis facit venenum“, d.h., nur die richtige Dosierung, das richtige Maß des jeweils zur Anwendung kommenden Heilmittels ist das Gesundheit stiftende. Diesem Aspekt entspricht in der Anthroposophischen Medizin die ätherische Organisation und die sie umgebende Lebenswelt.

3. Ens naturale – Astralleib

Dieser Ursachenkontext verweist auf das individuelle Bewusstsein des Menschen und dessen Zusammenhang mit dem Makrokosmos. Die Vielheit der Erscheinungen in der Einheit des menschlichen Bewusstseinshorizontes: das Firmament, die Elemente, die ‚complexiones‘ (konstitutionelle Gegebenheiten), die ‚humores‘ (Körpersäfte). Mit all diesen Gegebenheiten setzt sich der Mensch in seinem bewussten Seelenleben auseinander und seine Gesundheit hängt davon ab, wie er sich darin fühlt und damit umgehen lernt. In der anthroposophischen Terminologie entspricht dies der astralischen Organisation als Träger des körperbezogenen, seelisch-gefühlsmäßigen Bewusstseins und des gedanklich wachen Geist- bzw. Selbst-Bewusstseins. Hier liegt die Krankheitsursache in der „Geist- und Seelenfähigkeit“ des Menschen[6] und deren Einfluss auf die ‚humores‘, d.h. die ätherisch-physische Konstitution.

4. Ens spirituale – Ich-Organisation

Diese Betrachtungsebene betrifft bei Paracelsus die magische Beeinflussung von Wesen zu Wesen. Es geht um den Menschen, der, zwischen Göttern und Dämonen lebend, Verführungen ausgesetzt ist und dessen Gesundheit auch durch Fürbitte und Gebet beeinflusst werden kann. Geistiges wirkt in jeder Beziehung direkt auf Geistiges und von dort aus auf die ihm untergeordneten Ebenen der konstitutionellen Gegebenheit. In der anthroposophischen Terminologie entspricht dies der Ich-Organisation, die über den Wärme-Organismus auf den Luftorganismus als Träger der astralischen Kräfte wirkt und durch diesen auf den Flüssigkeitsorganismus als Träger der ätherischen Kräfte – und durch diesen wiederum auf die physische Organisation, die ihrerseits dann über die Sinne und die Betätigungen während des Tageslebens auf die Ich-Organisation zurückwirkt.[7]

5. Ens deale – Leibfreies Seelen- und Geistesleben

Paracelsus, dessen Denken und Handeln tief in der christlichen Theologie und Kultur verankert war, spricht hier das Hereingestellt-Sein des Menschen in einen gottgewollten Entwicklungskontext an, hinorientiert auf die beiden menschlichen Kernkompetenzen Freiheit und Liebe. Zusammengefasst heißt es bei Paracelsus: „Ihr wisset, daß alle Gesundheit und Krankheit von Gott kommt und nichts vom Menschen, und ihr müßt die Krankheiten der Menschen in zween Gruppen teilen, in natürliche und in solche zur Züchtigung. Die natürlichen, das sind das erste, zweite, dritte und vierte ens: das flagellum ist das fünfte.“[8]

Die ersten vier ‚Entien‘ entsprechen im anthroposophischen Kontext den vier Wesensgliedern, das fünfte hingegen der ‚quinta essentia‘, dem von der körperlichen Gebundenheit freien Seelen- und Geistesleben des Menschen, mit dem er sich bewusst in der göttlich-geistigen Welt verankern kann.[9] Es handelt sich dabei um das rein spirituelle Prinzip, von dem auch schon Aristoteles als ‚πέμπτη ουσία‘ (fünftes Seiendes) sprach: das fünfte ‚ens‘ im Sinne des Paracelsus. Hier liegt die Ursache für Krankheit und Tod sozusagen in der Hand Gottes. Hier waltet die Weisheit des Schicksals und nicht die ärztliche Kunst.

Alte Sichtweisen durch Geisteswissenschaft aktualisiert

Der Vergleich mit dem paracelsischen Verständnis von Krankheit und Gesundheit kann einerseits deutlich machen, wie mithilfe von Steiners Geisteswissenschaft spirituelle Sichtweisen aus früheren Jahrhunderten dem gegenwärtigen Bewusstseinszustand der Menschen neu zugänglich gemacht werden können. Andererseits kann ein solcher Vergleich auch deutlich machen, wie eigenständig und originär Steiners Forschungsansätze und Ausführungen sind. Seine Geisteswissenschaft versteht sich als ein zeitgemäßer Weg, sich das im Sinne Goethes ‚alte Wahre‘ erkennend und handelnd zu erschließen.[10]

In den Kapiteln VIII–XI steht jeweils ein menschliches Wesensglied ursächlich für das Krankheitsgeschehen im Mittelpunkt. Wobei es stets die Schwäche der Ich-Organisation ist, die initial für die jeweils geschilderten Stoffwechselstörungen und pathologischen Prozesse verantwortlich ist.

Kapitel XII hingegen beschreibt das Ringen dieser Ich-Organisation, die konstitutionelle Balance aufrecht zu erhalten. Auffällig ist dabei, dass die vier ersten Pathologie-Kapitel in ihrer Gesamtheit Symptome und Erkrankungen beschreiben, die inzwischen als das Metabolische Syndrom bekannt sind.[11]

· Das Metabolische Syndrom

Es umfasst einen Cluster von

  • (vor allem viszeraler) Adipositas,
  • gestörter Glukosetoleranz,
  • Fettstoffwechselstörungen,
  • arterieller Hypertonie, einschließlich möglicher genetischer Prädispositionen.

Es gilt als Vorstufe des Diabetes mellitus Typ 2 und ist zudem prädiktiv für ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko.

Zusammenhänge zwischen Adipositas und diversen Stoffwechselerkrankungen wurden auch schon zu Lebzeiten von Steiner und Wegman beschrieben.[12] Nach Hanefeld dokumentierte bereits Giovanni Battista Morgagni (1682–1771) den Zusammenhang zwischen viszeraler Fettsucht, Hypertonie, Gicht, Schlafapnoe und Arteriosklerose.[13] Allerdings wurde der pathophysiologische Zusammenhang dieser Erkrankungen und die das Metabolische Syndrom charakterisierende Insulinresistenz erst im Laufe des 20. Jahrhunderts deutlich.

· Syndrome X

Gerald M. Reaven (1928–2018) wies in seiner „Banting Lecture“ 1988 darauf hin und beschrieb den Symptomenkomplex als das „Syndrome X“.[14] Zu ihm gehören die

  • Insulinresistenz,
  • Hyperinsulinämie,
  • Glukosestoffwechselstörung,
  • Fettstoffwechselstörung
  • und Hypertonie.
  • Erst viel später wurden weitere, pathophysiologisch relevante Aspekte wie die
  • low-grade-inflammation beschrieben.[15]

Aktualität der beschriebenen Krankheitsprozesse

Interessanterweise thematisiert „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“[16] durch die Abfolge der Kapitel VIII–X bereits die syndromale Entität dieses heute als Metabolisches Syndrom bekannten Krankheitsgeschehens und weist darüber hinaus eindrücklich auf den Diabetes mellitus als Folge-Erkrankung hin (Kap. VIII).

Auch die Erwähnung „parasitäre[r] Wärmeherde“[17] im Kapitel X, im Zusammenhang mit dem Fettgewebe, bekommt unter dem Aspekt der inzwischen bekannten proinflammatorischen Wirksamkeit zahlreicher Adipokine eine geradezu überraschende Aktualität – ebenso wie der regulativ-systemische Ansatz zu Verständnis und Behandlung der Erkrankung. Auch wenn der Insulinmangel bei Diagnose und Therapie gegenwärtig immer noch im Vordergrund steht, so wurden doch inzwischen so viele unterschiedliche Beeinflussungen der Insulinresistenz bestimmter Gewebe und möglicher Gegenregulationsformen im Organismus bekannt, dass man auch hier vor einem äußerst komplexen Wechselursachenverhältnis multimodaler Einflussfaktoren steht.

Für diese Komplexität öffnen die fünf Pathologiekapitel die Augen und zeigen zudem klar auf, welche ganzheitlichen Regulationsprinzipien unter den vier Wesensgliedern jeweils unterstützt oder abgeschwächt werden müssen. Das anthroposophische Wesensglieder-Konzept bietet in diesem Kontext die Möglichkeit, die physische, ätherische, astralische und Ich-Organisation als die für die Gesamtregulation des menschlichen Organismus verantwortlichen Gesetzeszusammenhänge sehen zu lernen.[18]

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 2025[19]


[1] Hierbei handelt es sich um Kapitel aus dem Grundlagenwerk von Rudolf Steiner und Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.

[2] Vgl. Zeylmans van Emmichoven (2022), 67 f.

[3] Vgl. Wolfram (1991).

[4] Siehe www.anthromedics.org; [6.1.2025].

[5] Von lat. venerum: Gift, Medizin.

[6]  Vgl. FN 1, S. 16.

[7] Siehe dazu die ergänzenden Hinweise im Stellenkommentar, Anm. zu EH, 82, S. 133–140.

[8] Paracelsus (2010), 232.

[9] Vgl. FN 1, Kap. I, Abs. 19.

[10] „Das Wahre war schon längst gefunden / Hat edle Geisterschaft verbunden / Das alte Wahre, fass’ es an.“ WA I/2, 82.

[11] Dem Internisten Matthias Girke und seiner Publikation „Innere Medizin“ verdanke ich fachliche Unterstützung bezüglich Referenzen und Hinweisen zu den Kapiteln VIII–XII, insbesondere zum Metabolischen Syndrom und seinen Folge-Erkrankungen. Siehe Girke (2020).

[12] Vgl. Balke und Nocito (2013), 77–83.

[13] Vgl. Hanefeld und Leonhardt (1996).

[14] Vgl. Reaven (1988), 1595–1607.

[15] Minihane u. a. (2015), 999–1012.

[16] Vgl. FN 1.

[17] Vgl. FN 1, S. 52f.

[18] Zum 250. Geburtsjahr Goethes 1999 wurde eine Vorlesungsreihe an der Universität Bern veranstaltet: Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften. In seiner Vorlesung zum Thema Typusidee und Genetik führte Johannes Wirz auch für die moderne Genetik aus: „Bereits regen einige Entwicklungsbiologen und Genetiker eine Neukonzeption der Gen-zentrierten Auffassung von Entwicklungsprozessen an. Duboule und Wilking schließen zum Beispiel, dass es keine Art/spezifischen Gene, sondern nur einen artspezifischen, differentiellen Gebrauch derselben gibt. […] Die kaum beachtete epigenetische Theorie von Waddington, welche die Vernetzung von Genen stärker betont als die Bedeutung einzelner Erbfaktoren, ist kürzlich durch eine viel beachtete Publikation von Strohmann wissenschaftsfähig geworden. [...] Der genetische Determinismus wird noch weiter relativiert, wenn, wie es die Tatsachen nahelegen, Lebewesen als organische Ganzheiten im Sinne Goethes verstanden werden. Das bedingt, dass ihnen neben DNA, Proteinen, Zellen und deren vielfältigen Interaktionen, die als Erscheinungsbedingungen vorhanden sein müssen, eine Qualität zugestanden wird, welche dieselben dirigiert. Die Idee der inneren Natur oder des Typus [gemäß Goethe, M. G.] fordert zudem ein erweitertes Verständnis von Vererbung.“ (Wirz [2000], 324 f.).

[19] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

DIE KAPITEL XIII–XVIII: ZUR THERAPIE UND HEILKUNST[1]

Was ist mit der in diesen Kapiteln beschriebenen therapeutischen Denkweise gemeint?

Wie können Aufgabe und Wirkung einer Substanz – hier die Kieselsäure – im Organismus Vorbild für eine therapeutische Denkweise sein?

Was verbindet Ich-Organisation und Kieselsäure?

Innerer Zusammenhang von Kapitel XIV, XVI und XVIII

Diesen Kapiteln liegt eine Komposition zu Grunde, in der 2 × 3 Kapitel einen engeren inneren Zusammenhang haben, obgleich sie nicht aufeinander folgen.

a. Therapeutische Denkweise

Den Schlüssel zu dieser Komposition bietet der letzte Satz von Kapitel XVIII, wo es über die Heileurythmie heißt, „dass man sie durchaus als ein segensreiches Glied unserer hier dargestellten therapeutischen Denkweise ansprechen kann“.[2] Dadurch entsteht ein unmittelbarer Bezug zu Kapitel XIV „Von der therapeutischen Denkweise“. Darin wird anhand der Wirkung der Kieselsäure im menschlichen Organismus das Wesen der in diesem Kontext gemeinten therapeutischen Denkweise geschildert.

Wer oder was bestimmt den Charakter einer bestimmten Denkweise?

Gemäß Rudolf Steiner und Ita Wegman übernimmt die Ich-Organisation, „die sich seelisch frei im Denken darlebt“,[3] diese Aufgabe.

b. Gestaltungskraft von Kalk und Kiesel

Was aber verbindet die Ich-Organisation mit der Kieselsäure?

Mit dieser Frage tut sich ein weiteres Kapitel der anthroposophischen Substanz-Erkenntnis auf: die polare Wirkensweise von Kalk und Kiesel, auf die Steiner in vielen Vorträgen zu sprechen kommt. Im „Landwirtschaftlichen Kurs“ heißt es, nachdem Steiner die eiweißbildenden Elemente Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff und Schwefel geschildert hat:

„Um nun die feste Gestalt darzustellen, da muss es [alles Kohlenstoffhaltige, M.G.] sich auf ein tiefer liegendes Gerüste aufbauen und das ist dasjenige, was als ein ganz tiefliegendes Gerüst in unserem kalkartigen Knochengerüst enthalten ist, was aber auch enthalten ist in dem Kieseligen, das wir ja immer in uns tragen, sodass der Kohlenstoff im Menschen und auch im Tier bis zu einem gewissen Grade seine Gestaltungskraft maskiert. Er rankt sich hinauf an der Gestaltungskraft von Kalk und Kiesel. Kalk gibt ihm die irdische, Kiesel die kosmische Gestaltungskraft.“[4]

Der Bergkristall (als SiO2 eine reine Silicium/Sauerstoffverbindung) erscheint unter diesem Aspekt wie ein Urbild. Kosmisches und irdisch machender Sauerstoff sind in reinster Stimmigkeit auf einander bezogen. Die kosmische Gestaltungskraft manifestiert sich

  • im Irdisch-Unbelebten in Form der Bildung von Urgestein.
  • und bei den Lebewesen als Gerüstsubstanz.
  • In der menschlichen Konstitution verwandelt sich in Folge der Metamorphose die leibliche Bildetätigkeit in Gedankentätigkeit in Form von Wahrnehmen und Denken und wendet sich so wieder dem Kosmos zu.

c. Irdisch-kosmische Zusammenhänge verstehen

Aus anthroposophischer Perspektive[5] handelt es sich hierbei um die allumfassende kosmisch-ätherische Gestaltungskraft,

  • die einerseits dem Leib Leben einhaucht
  • und andererseits Grundlage für selbstgeführtes Denken ist.

Je mehr es gelingt, in solchen Zusammenhängen zu denken, Irdisches und Kosmisches in ihrem Aufeinander-bezogen-Sein zu erkennen, desto therapeutischer wird die Denkweise werden. Dann kann sie Lebenszusammenhänge verstehen, dem Leben dienen und gesunde individuelle und soziale Entwicklungen fördern.

Dann kann sie endlich auch die Wunden heilen, die infolge der reduktionistischen Denkweise entstanden sind und weiter entstehen, wenn sich der atomistische Monismus nicht mit einem ganzheitlich-spirituellen Monismus Goethe’scher Prägung versöhnen lässt.

Heileurythmie als ‚Tun‘ der Ich-Organisation

In der Heileurythmie wird diese irdisch-kosmische Tätigkeit der Ich-Organisation nicht nur ‚gedacht‘, sondern ‚getan‘. Denken, Fühlen und Wollen sind beim konzentrierten Ausüben der heileurythmischen Bewegungen dem Körper zugewendet, wodurch das Stoffwechselgeschehen und die rhythmischen Funktionen unmittelbar beeinflusst werden können. Wie sehr Bewegung und Atmungsregulierung den Gesundheitszustand beeinflussen können, ist inzwischen auch naturwissenschaftlich hinreichend belegt. Entsprechende Präventionsprogramme haben sich insbesondere in der Kardiologie seit Jahrzehnten bewährt.[6] Auch die Rehabilitationseinrichtungen bauen ihre Maßnahmen primär auf gesunde Ernährung, Bewegung, Gespräch und kulturelle Aktivitäten auf.

Die innere Beziehung zwischen Kapitel XIV und XVIII wird ergänzt durch Kapitel XVI, das nicht ohne Grund in der Mitte steht. Dieses Kapitel handelt vom Antimon unter der Überschrift „Heilmittel-Erkenntnis“. Dabei werden die Antimonprozesse als diejenigen beschrieben, die in den menschlichen Organismus gebracht, so wirken wie die Ich-Organisation.

„Im menschlichen Organismus zeigt das Blut in seiner Strömung eine Tendenz, zu gerinnen. Diese Tendenz ist diejenige, die unter dem Einfluss der Ich-Organisation steht und unter ihr die Regulierung erfahren muss.“[7]

Innerer Zusammenhang von Kapitel XIII, XV und XVII

Die zweite Dreiheit handelt vom krankhaften Zusammenspiel der Wesensglieder und den für den therapeutischen Prozess charakteristischen Heilmitteln bzw. Arzneisubstanzen.

a. Zwischen kränkenden und gesundenden Kräften

Hier steht das individuelle Therapiegeschehen im Vordergrund. So lautet die Überschrift von Kapitel XIII „Vom Wesen des Krankseins und der Heilung“ und beginnt mit dem Wort ‚Schmerz‘ als einem Erlebnis im astralischen Leib und im Ich. Es folgt dann eine kurze Charakteristik des unterschiedlichen Zusammenwirkens der Wesensglieder im Laufe des Lebens zwischen Geburt und Tod. Hauptaugenmerk bei der Therapiefindung liegt hier auf dem sensiblen Zusammenspiel zwischen der kränkenden astralischen und der gesundenden ätherischen Organisation. Diese Betrachtung findet ihre Fortsetzung in Kapitel XV, wo es unter der Überschrift „Das Heilverfahren“ heißt:

„Denn alle Entwicklung des menschlichen Organismus beruht darauf, dass ursprünglich die Gesamtgestaltung des physischen und ätherischen Leibes aus der Tätigkeit des Astralischen und der Ich-Organisation sich ergibt; dass aber mit zunehmendem Alter die astralische und Ich-Tätigkeit in der physischen und ätherischen Organisation weiterlaufen. Tun sie das nicht, so müssen der astralische Leib und die Ich-Organisation in einem Stadium ihrer Entwickelung in einer Art eingreifen, zu der sie in diesem Stadium nicht mehr geeignet sind.“ [8]

b. Ich-Organisation entlastende Heilmittel

Dann bedürfen sie der regulierenden Unterstützung durch Heilmittel, die die beiden oberen Wesensglieder von ihrem nicht mehr entwicklungsgerechten Eingreifen entlasten und die physische und ätherische Organisation so stärken, dass das unregelmäßige Eingreifen der oberen Wesensglieder zur Kompensation der geschwächten physisch-ätherischen Konstitution nicht mehr nötig ist. Zusätzlich kompliziert werden Diagnostik und Therapie dadurch, dass „die Richtung der Krankheitswirkungen“[9] ebenfalls verfolgt werden muss im Sinne der primären Ursache der Störung und deren Folge.

c. Bedeutung von Ameisensäure und Kleesäure

Abgerundet wird die Betrachtung dieser Dreiheit mit Kapitel XVII „Substanz-Erkenntnis als Grundlage der Heilmittel-Erkenntnis“, in dem zwei Substanzen im Mittelpunkt stehen, die in der Biochemie des Zellstoffwechsels eine wichtige Rolle spielen: Ameisensäure und Kleesäure.

Hexagramm aus zwei Dreiecken

Während die erste Dreiheit primär bezogen ist auf die Erscheinung der menschlichen Gestalt im Raum und ihrem Formaspekt im Reich der Natur, widmet sich die zweite Dreiheit dem Wandel der menschlichen Konstitution in der Zeit. Fügt man die beiden Dreiheiten zusammen, so ergibt sich das therapeutische Ur-Symbol des Hermes Trismegistos bzw. das Siegel Salomos, das Hexagramm, in dem ein Dreieck mit der Spitze nach unten sich durchdringt mit einem zweiten Dreieck, dessen Spitze nach oben weist. Es ist das ägyptisch-hermetische Zeichen für das harmonische Zusammenwirken von Makrokosmos und Mikrokosmos.

Die Spitze des ersten Dreiecks, die nach unten weist und dessen Basis oben ist, wäre Kapitel XIV. In der Heileurythmie wird über die rhythmisch wiederholten Bewegungsübungen daran gearbeitet, den Menschen im Raum bei der Wiederherstellung seiner urbildlichen aufrechten Gestalt zu unterstützen. Basis dafür ist eine therapeutische Denkweise, die innere Aufrichtekraft (wirklichkeitsgemäßes ‚aufrichtiges‘ Denken) und Heilmittel-Erkenntnis aus dem Mensch-Natur-Zusammenhang adäquat verbindet.

Das zweite Dreieck, dessen Spitze nach oben weist und das seine Basis unten hat, handelt vom Schmerzerleben und dem Wesen der Krankheit als weckendem Begleiter des Menschen im Verlauf des Lebens. Es zeigt durch die Basis unten die starke Beziehung des Makrokosmus zum Menschen und den ihn umgebenden Naturreichen als heilsamem Begleiter.

Heilkunst als Kunstwerk Heilung

Was ist also im Kontext dieser Ausführungen mit Heilkunst gemeint?

Es handelt sich dabei um einen Diagnoseprozess, aus dem sich die Therapie unmittelbar ablesen lässt. Dazu braucht es solides medizinisches Grundlagenwissen – auch bezüglich der Gesetzmäßigkeiten der körperlich-seelischen Reifung und den Alterungsprozessen in der zweiten Lebenshälfte. Dieses Wissen und die dadurch möglichen therapeutischen Kompetenzen sind sozusagen das „Material“ für den künstlerischen Prozess. Damit aber im Einzelfall das „Kunstwerk Heilung“ geschaffen werden kann, dazu braucht es die unmittelbare Beobachtung und die therapeutische Denkweise im Hier und Jetzt der konkret gegebenen Krankheitssituation in ihrem Umfeld. Im günstigen Fall sind Besserung und Heilung die Folge des therapeutischen Bemühens, an dem beide – der Behandelnde und der Betroffene – mitschöpferisch tätig sind. So gesehen handelt es sich immer auch um ein „soziales Kunstwerk“.

„Dass dabei nicht nur medizinisches Wissen, sondern auch Fähigkeiten wie das Erfassen des rechten Zeitpunkts (ϰαιρός), diagnostische Empathie und therapeutische Intuition eine wichtige Rolle spielen, zeichnet den künstlerischen Prozess aus.“[10]

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 2025[11]


[1] Hierbei handelt es sich um Kapitel aus dem Grundlagenwerk von Rudolf Steiner und Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.

[2] Vgl. FN 1, S. 88.

[3] Vgl. FN 1, S. 15.

[4] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft. Landwirtschaftlicher Kursus, GA 327, 66 f.

[5] Vgl. FN 1, S. 6.

[6] Siehe z.B. die Pocket-Leitlinie Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. Giehlen u. a. (2021).

[7] Vgl. FN 1, S. 79.

[8] Vgl. FN 1, S. 74.

[9] Vgl. FN 1, S. 75.

[10] Vgl. Fintelmann (2016).

[11] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

DIE KAPITEL XIX UND XX: EINBLICKE IN EINE RATIONELLE DIAGNOSTIK UND THERAPIE[1]

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit von Rudolf Steiner und Ita Wegman rund um dieses Werk?

Unter welchen Aspekten wurden die angeführten Krankengeschichten durchgesehen und veröffentlicht?

Welchem Zweck dienen diese Krankengeschichten?

Zur Entstehung der Textgrundlage

Während die Kapitel I bis XVIII in der Handschrift Steiners vorliegen, sind die beiden letzten Kapitel XIX und XX von Ita Wegman niedergeschrieben. Es gilt jedoch für alle 20 Kapitel dieses Buches, dass sie in intensiver gemeinsamer Arbeit von beiden Autoren verfasst wurden. Wann genau die einzelnen Kapitel entstanden sind, wissen wir zwar nicht.

Walter Holtzapfel hatte aber als dritter Nachfolger in der Leitung der Medizinischen Sektion[2] noch viel Gelegenheit, mit Menschen zu sprechen, die den eineinhalbjährigen Prozess der Entstehung des Buches miterlebt haben. Von ihm stammt die Mitteilung, dass ein um das andere Kapitel „von den beiden Autoren gemeinsam durchgesprochen und dann zunächst von Frau Dr. Wegman formuliert und niedergeschrieben wurde. Gewiss stammt die endgültige Formulierung wohl fast immer von Rudolf Steiner.“[3]

Zu den Krankengeschichten

Von den neun in das Buch aufgenommenen Krankengeschichten wurden der vierte und fünfte Fall bereits am 23. April 1924 im Rahmen einer Dornacher Ärztebesprechung von Ita Wegman vorgelesen und von Rudolf Steiner eingehend im Gespräch kommentiert.[4] So können wir davon ausgehen, dass zumindest diese Kasuistiken schon während des ersten halben Jahres der gemeinsamen Arbeit entstanden sind, d.h. dass von Beginn an die gemeinsame Arbeit am Buch stets auch in direkter Resonanz war mit konkreten Menschen und ihrem Krankheitsschicksal. Ganz abgesehen von den zahlreichen Vortragsreisen im Jahre 1924, bei denen Wegman ebenfalls mitreiste und wo ihnen jeweils Patienten vorgestellt und deren Therapie beraten worden war.[5]

Es muss an dieser Stelle aber auch klar hervorgehoben werden, dass es die Kollegin und enge Mitarbeiterin Ita Wegmans – Hilma Walter – gewesen ist, der die Dokumentationen der Krankengeschichten des „Klinisch-Therapeutischen Instituts“ zu verdanken sind, die den für das Buch formulierten Texten zugrunde liegen.

Diese Dokumentationen wurden 2007 von Peter Selg in der Originalfassung herausgegeben, so dass sie heute eingehend studiert und auch im Detail mit der textlichen Abfassung in Kapitel XIX verglichen werden können.[6] So wird auch deutlich, was Wegman direkt aus Walters Kasuistiken übernommen hat und was von den Autoren gekürzt, neu formuliert und auch ausgelassen wurde. Walter hat dann auch in ihrer Endredaktion des Buches nach Steiners Tod vor der Drucklegung insbesondere die Krankengeschichten noch einmal gründlich durchgesehen und wo nötig noch etwas gestrichen, damit keiner der dort geschilderten Patientinnen und Patienten in dem gedruckten Buch wiedererkannt werden konnte.[7] Waren es doch fast ausnahmslos Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, um die es jeweils ging.

Zu Peter Selgs Dokumentation von Krankengeschichten

Selg hat für seine Publikation nicht nur die Krankenunterlagen dieser neun Patienten im Original studiert, sondern auch die zugehörigen Notizbucheinträge im Nachlass Hilma Walters, die Ärzte- und Patientenkorrespondenz Wegmans sowie weitere Nachlassunterlagen. So liegen die Krankengeschichten aus Kapitel XIX gesichtet und aufgearbeitet vor und sind Grundlage für weitere Forschung. Er schreibt dazu insbesondere im Hinblick auf noch zu leistende weitere Kontextualisierungen dieser Krankengeschichten:

„Je plastischer die Kranken- und Therapiegeschichten jedoch selbst werden (indem man zwischen dem Original der Krankenakte und der Buchwiedergabe vergleichen kann – M.G.), umso klarer wird das methodische Gewichtungs- und Auswahlverfahren der Buchdarstellung erkennbar. In diesem Sinne vermögen die hier erstmals publizierten Materialien, verschiedene Aspekte deutlicher hervortreten zu lassen, darunter auch die Zeitgestalt der (oft monatelangen) Behandlung, der einzelnen Schritte und Vorgehensweisen, der therapeutischen Erfolge, aber auch der Rückfälle und weiter bestehenden Schwierigkeiten, die Teil der Kranken- und Behandlungsgeschichte waren. Sie bieten daher Anlass und Voraussetzung für ein erneutes und eingehendes Studium der Kasuistiken selbst.

Im Rahmen dieser Dokumentation wurde konsequent davon abgesehen, die zur Darstellung kommenden diagnostischen und therapeutischen Prozesse im Einzelnen zu kommentieren und zu bewerten; ein solcher Kommentar – vor dem Hintergrund der gesamten anthroposophischen Physiologie, Pathophysiologie und Therapeutik und in Auseinandersetzung mit einer schulmedizinischen Interpretation der verschiedenen Krankheitsfälle – soll zu einem späteren Zeitpunkt erarbeitet und publiziert werden.“[8]

Leuchtende Vorbilder für Wesensgliederdiagnosen

Diese von Selg in Aussicht gestellte Publikation konnte jedoch bisher nicht realisiert werden, bzw. bleibt ein weiterhin lohnendes und erforderliches Desiderat. Denn beides – der Hintergrund der gesamten anthroposophischen Physiologie, Pathologie und Therapeutika sowie die schulmedizinische Kontextualisierung – sind große Arbeitsvorhaben, die eigentlich nur im Team zu leisten sind und viel Zeit erfordern. Dennoch kann jeder interessierte Arzt auch aus dem bis jetzt vorliegenden Material unschätzbare Anregungen für die eigene Arbeit entnehmen.

Der anthroposophische Internist Friedwart Husemann (1945–2022) schreibt in seinem Kurzporträt über die „Erweiterung der Heilkunst“: „Bei den Krankengeschichten geben die Autoren Wesensgliederdiagnosen und sehr individuelle Heilverfahren, die für den anthroposophischen Arzt von heute ein leuchtendes und selten erreichtes Vorbild darstellen.“[9]

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 2025[10]


[1] Hierbei handelt es sich um Kapitel aus dem Grundlagenwerk von Rudolf Steiner und Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.

[2] Nach Wegmans Tod wurde zunächst eine Interim-Gruppenleitung eingesetzt – bis dann 1963 die enge Mitarbeiterin Wegmans in ihrem Arlesheimer Klinisch-Therapeutischen Institut, Margarete Kirchner-Bockholt (1894–1973), für ihre Nachfolge nominiert wurde, die sie dann nach ihrem Ausscheiden an Holtzapfel übergab.

[3] Holtzapfel (1973), 51–53.

[4] Vgl. Rudolf Steiner, Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. Zur Therapie und Hygiene, GA 314, S. 337–349.

[5] Vgl. Selg (2007), 15f. und 21f.

[6] Ebd., 22.

[7] Ebd., 23f.

[8] Selg (2007), 25.

[9] F. Husemann (2018), 323.

[10] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

DIE DER THERAPIEFINDUNG GEWIDMETEN KAPITEL XIV BIS XVIII

Welche Blickrichtungen werden in den jeweiligen Kapiteln skizziert?

Fünf therapeutische Perspektiven

In den genannten Kapiteln von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“[1] werden fünf therapeutisch-menschenkundliche Blickrichtungen geschildert, die es im Einzelfall gegeneinander abzuwägen oder zu kombinieren gilt.

1. Der therapeutische Aspekt des Siliziumprozesses

In Kapitel XIV wird der Silizium-Prozess zum Vorbild der therapeutischen Denkweise. Diese richtet ihr Augenmerk darauf, inwiefern Krankheitssymptome Ausdruck mangelnder oder überhöhter gegenseitiger Wahrnehmung bzw. Resonanz zwischen den Organsystemen und ihren Funktionen sind. Sie weisen auf die Notwendigkeit richtiger Balance zwischen notwendiger Abgrenzung und ebenso notwendiger Wahrnehmung der Belange des Gesamtorganismus.

2. Regulierungsmöglichkeiten bei schwacher Ich-Organisation

Im Kapitel XV werden verschiedene Regulierungsmöglichkeiten aufgezeigt, wenn die Ich-Organisation diese Aufgabe nicht mehr zureichend leisten kann. Wie in den Kapiteln I bis VII geschildert, zeigen Krankheitssymptome an, wie

  • im physischen Leib die Mineralisierung,
  • im ätherischen Leib die Wachstumsbereitschaft,
  • sowie die vom Astralleib bewirkten Absonderungs- und Ablagerungsprozesse partiell überhandnehmen

wenn sich diese Wesensglieder der Integrationskraft der Ich-Organisation nicht (mehr) ausreichend fügen, weil diese an Kraft eingebüßt hat.

3. Heilmittelerkenntnis

In Kapitel XVI geht es um die Heilmittelerkenntnis, die man gewinnt, wenn man „durch der Natur Examen geht“[2] und den Blick primär auf die Kräfte lenkt, die als Zentral- und Universalkräfte in der unbelebten und belebten Natur wirken.

4. Prozessorientierte Substanz-Erkenntnis

In Kapitel XVII liegt der Fokus auf einer konsequent prozessorientierten Substanz-Erkenntnis, die Steiner im Ärztekurs für die jungen Mediziner so formuliert hat: dass es die Aufgabe des Arztes sei, „die Weltenaufgaben der Substanzen zu erkennen“.[3] Etwas von dieser ‚Weltenaufgabe‘ wird in der EH anhand der Ameisensäure und der Kleesäure aufgezeigt und damit auf die Bedeutung dieser Blickrichtung für bestimmte Prozesse im menschlichen Zellstoffwechsel hingewiesen.

5. Therapeutischer Einfluss von Bewegungsübungen

Kapitel XVIII enthält die fünfte therapeutische Blickrichtung: den regulierenden Einfluss von bewusst ausgeführten Bewegungsübungen auf die abbauenden und aufbauenden Stoffwechselprozesse.

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 2025[4]


[1] Rudolf Steiner und Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.

[2] Ausspruch des Paracelsus, auf den auch Steiner sich im ersten Ärztekurs von 1920 bezieht (vgl. oben, S. CXXX).

[3] Rudolf Steiner, Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst. Vorträge für Ärzte und Medizinstudierende, GA 316, 22.

[4] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

DIE ICH-ORGANISATION IN DER DARSTELLUNG EINZELNER KAPITEL

Inwiefern ist die Ich-Organisation Trägerin von Gesundheit, aber auch Ursache für jegliche Krankheit?

Wodurch beherrscht die Ich-Organisation die Erdenstoffe und Substanzen?

Wodurch werden Heilmittel zu Regulatoren und Unterstützern der Ich-Organisation?

Ich-Organisation als Verursacherin von Gesundheit und Krankheit

Die Ich-Organisation wird im Gang durch die Kapitel von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“[1] als das Kraftsystem geschildert, das für die Erhaltung der Gesundheit und für den Erfolg von Heilungsvorgängen den Ausschlag gibt. Daher steht sie im Zusammenwirken mit der ätherischen Organisation als Trägerin der Regenerations- und Selbstheilungskräfte im Fokus jeder therapeutischen Intervention.

Andererseits ist eben diese Ich-Organisation – zusammen mit dem Astralleib als außerkörperlich aktive ‚Geist- und Seelenfähigkeit‘ – zugleich Ursache und Grundlage dafür, dass wir krank werden und sterben können.

Zum Wirken der Ich-Organisation

Im Folgenden eine kurze Rekapitulation dessen, was in den einzelnen Kapiteln zur Wirkung der Ich-Organisation und den Substanzen in ihrem Dienst ausgeführt wird.

· Kapitel I – Der Substanzstrom fügt sich dem Ich = Gesundheit

In Kapitel I heißt es in Bezug auf alle Substanzen: „Die Wesenheit, welche diese Stofflichkeit als ‚Ich-Organisation‘ annimmt, ist zunächst die Form des Erdenstoffes, in der sich dieser am meisten seiner irdisch-physischen Art entfremdet.“[2] Das bedeutet, dass sich der Substanzstrom nach seinem Durchgang durch die Bereiche der physischen, ätherischen und astralischen Kräfte auf der vierten Verwandlungsstufe dem „Weben und Wesen des ‚Ich‘“ in der Form einfügt, dass er ‚Geist tragend‘ wird.[3]

Kann dieser Verwandlungsprozess ungestört stattfinden, ist Gesundheit die Folge.

· Kapitel II – Ich-bedingte Störungen im Ätherischen

In Kapitel II werden Störungsmöglichkeiten aufgezeigt, indem zwei Formen des Krankseins geschildert werden, die jeweils durch ein zu starkes oder zu schwaches Untertauchen von Ich-Organisation und Astralleib in die physisch-ätherische Konstitution entstehen.

Jetzt bedarf es der Regulation durch Arzneimittel, die auf die eine oder andere Weise die ätherische Organisation in ihrer Regenerations- und Selbstheilungsfähigkeit unterstützen.

· Kapitel III und IV – Über das Pflanzen- und Tierreich

In den Kapiteln III und IV wird die Ich-Organisation nicht erwähnt – hier stehen die ätherische und astralische Organisation und das durch sie mögliche Pflanzen- und Tierreich im Zentrum.

Deren gesundes Zusammenleben und -wirken ist im Haushalt der Natur im Sinne des ökologischen Gleichgewichts reguliert.

· Kapitel V – Menschengestalt dank des Wirkens der Ich-Organisation

In Kapitel V wird die Ich-Organisation neu eingeführt als das Kraftsystem, welches in der Lage ist, die verschiedenen Kräftebereiche – den physischen, den ätherisch-pflanzlichen sowie den astralisch-tierischen – ‚im Fluss zu halten‘. Das bedeutet, die menschliche Konstitution vor jeglicher Spezialisierung und Einseitigkeit zu bewahren. Dadurch verwandeln sich die Substanzströme im Bereich der physischen, ätherischen und astralischen Kräfte nochmals: Es entsteht ein dreifacher Substanzstrom, aus dem heraus sich die innere und äußere menschliche Gestalt bildet. Dadurch wird sie zum Träger des selbstbewussten Geisteslebens.

„Bis in die kleinsten Teile seiner Substanz hinein ist der Mensch in seiner Gestaltung ein Ergebnis dieser Ich-Organisation.“[4]

· Kapitel VI – Einfluss der Ich-Organisation auf Blut, Skelett und Gehirn

In Kapitel VI wird dies weiter erläutert,

  • indem die gesamte Blutbildung bis hin zur Wirkung der Verdauungsenzyme als unter dem Einfluss der Ich-Organisation stehend geschildert wird.
  • Und in der Bildung des Skeletts geht das Wesen der Ich-Organisation so vollständig auf, dass dieses als ihr physisches Abbild gesehen werden kann.
  • Im Gehirn dagegen ist das Ich als geistige Wesenheit tätig. Seine formbildende, ins Physische hineinwirkende Kraft wird dort aber ganz vom Ätherischen sowie von den Eigenkräften des Physischen überwältigt. Dem Gehirn liegt die organisierende Kraft des Ich also nur leise zugrunde, da sie im Wirken des Lebendigen und in den physischen Eigenwirkungen untergeht.

Das ist auch der Grund, warum das Gehirn zum Träger der geistigen Ich-Wirkung wird: Gerade weil die Ich-Organisation im Gehirn nicht organisch-physisch in Anspruch genommen wird, sind ihre Kräfte als solche völlig frei, sich geistig zu betätigen.[5]

· Kapitel VII – Ich-Organisation, Eisen und Selbstheilungskräfte

In Kapitel VII wird die Ich-Organisation als maßgeblich für die körpereigenen Selbstheilungskräfte eingeführt. Diese beruhen darauf, dass die Ich-Organisation in der Lage ist, das im Sinne der äußeren Natur noch kristallisationsfähige Eisen in ihre Gestaltungskräfte hinein zu ‚zwingen‘.

· Kapitel VIII – Glukosestoffwechsel und Ich-Organisation

Im Kapitel VIII wird der gesamte Glukosestoffwechsel als Instrument der Ich-Organisation dargestellt:

„Wo Zucker ist, da ist Ich-Organisation; wo Zucker entsteht, da tritt die Ich-Organisation auf, um die untermenschliche (vegetative, animalische) Körperlichkeit zum Menschlichen hin zu orientieren.“[6]

· Kapitel IX – Ich-Organisation als Beherrscherin des Unorganischen

Kapitel IX schildert die Eigenschaft der Ich-Organisation, sich bis in die Kräfte des unorganisch Toten hinein als beherrschend zu zeigen:

„Alles, was in den Bereich der Ich-Organisation kommt, erstirbt. Daher gliedert sich die Ich-Organisation im physischen Leib rein unorganische Substanzen ein. Diese wirken im menschlichen physischen Organismus nicht so wie in der leblosen Natur außerhalb des Menschen; aber sie wirken doch eben unorganisch, d.h. ertötend.“[7]

· Kapitel X – Erdenstoffe als Wärmelieferanten für die Ich-Organisation

In Kapitel X wird deutlich gemacht, was mit der Formulierung, dass sich alle Erdenstoffe dem „Weben und Wesen des ‚Ich‘ einfügen“, gemeint ist. Denn von jeder im menschlichen Körper befindlichen Substanz kommt für die Ich-Organisation nur so viel in Betracht, als bei deren Wirksamkeit Wärmeentfaltung stattfindet.

Entzieht sich ein Wärmebezirk der Herrschaft der Ich-Organisation, so markiert dies den Beginn pathologischer Prozesse.

· Kapitel XI – Ich-Organisation und Harnsäureverteilung

In Kapitel XI heißt es: In der richtig verteilten Harnsäureablagerung „kommt zum Ausdrucke, ob zwischen der Ich-Organisation und dem astralischen Leib in irgendeinem Organ oder Organsysteme das rechte Verhältnis besteht.“[8]

· Kapitel XII – Ich-Organisation und Ausscheidungstätigkeit

Kapitel XII beschreibt das Wesen der Ich-Organisation als reine Wärmeaktivität – sowohl bei der Organbildung durch Erhöhung oder Verminderung der Wärmezustände, als auch in den Tätigkeiten, die nach innen oder nach außen zu Ausscheidungen führen.

Insofern in diesen Ausscheidungen Stoffe eingelagert sind, „die bis zum Unorganischen getrieben sind, dann lebt in diesen auch die Ich-Organisation“[9]

· Kapitel XIII – Ich-Organisation und Phosphor

In Kapitel XIII wird der Phosphor als das Element geschildert, welches eine besondere Beziehung zur Ich-Organisation hat: Phosphor findet sich im menschlichen Organismus als Phosphorsäure und phosphorsaure Salze im Eiweiß, im Faserstoff [das Blutgerinnungssystem, MG], im Gehirn, in den Knochen. Er drängt zu den unorganischen Substanzen hin, die in dem Bereich der Ich-Organisation ihre Bedeutung haben.

Er regt die bewusste Tätigkeit des Menschen an.[10]

· Kapitel XIV – Ich-Organisation und Kieselsäure

Kapitel XIV ist der Kieselsäure als der „physischen Grundlage der Ich-Organisation“ gewidmet,– denn die Gestaltung des Körpers und der einzelnen Organe ist nur möglich mithilfe einer Substanz, die einerseits in der ganzen Gestaltungsfülle der Lebenswelt beherrschend auftritt und die andererseits eine größtmögliche Oberflächensensibilität und Resonanzfähigkeit besitzt.

Das ermöglicht ein sensibles und selbstbewusstes Leben in der Sinneswelt.

· Kapitel XV – Heilmittel für altersbedingte Störungen im Kieselsäureorganismus

In Kapitel XV werden Heilmittelwirkungen geschildert, die altersbedingte Störungen im Kieselsäureorganismus regulieren können: „Denn alle Entwicklung des menschlichen Organismus beruht darauf, dass ursprünglich die Gesamtgestaltung des physischen und ätherischen Leibes aus der Tätigkeit des Astralischen und der Ich-Organisation sich ergibt; dass aber mit zunehmendem Alter die astralische und Ich-Tätigkeit in der physischen und ätherischen Organisation weiterlaufen. Tun sie das nicht, so müssen der astralische Leib und die Ich-Organisation in einem Stadium ihrer Entwickelung in einer Art eingreifen, zu der sie in diesem Stadium nicht mehr geeignet sind.“[11]

· Kapitel XVI – Parallelen von Antimonprozessen und Ich-Organisation

Kapitel XVI schließlich zeigt auf, dass Antimonprozesse so wirken, „wie die Ich-Organisation“.[12] Das wird am Beispiel des Antimons in seiner Beziehung zum Schwefel in Form des in der Natur vorkommenden Grauspießglanzes aufgezeigt (Sb2 S3, auch als Antimonit bzw. Stibnit bekannt), sowie am Prozess der Austernschalenbildung.

Für alle drei Substanzen, von denen hier die Rede ist, gilt, dass, wenn man sich näher mit ihnen befasst, dies das Verständnis der von Rudolf Steiner und Ita Wegman charakterisierten Wirkungsweisen untermauert. Denn es komme darauf an, „die Wirkungen zu beobachten, die sich aus dem Zusammenhange der inneren Kräftekonstitution einer Substanz im Verhältnis zu den Kräften ergeben, die von der Erde ausstrahlen oder in sie einstrahlen“.[13]

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 2025[14]


[1] Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27,

[2] Siehe FN 1, S. 9.

[3] Ebenda.

[4] Siehe FN 1, S. 29.

[5]  Siehe FN 1, S. 36.

[6] Siehe FN 1, S. 44.

[7] Siehe FN 1, S. 48.

[8] Siehe FN 1, S. 57.

[9] Siehe FN 1, S. 63.

[10] Siehe FN 1, S. 67.

[11] Siehe FN 1, S. 74.

[12] Siehe FN 1, S. 79.

[13] Siehe FN 1, S. 77.

[14] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.

„GRUNDLEGENDES FÜR EINE ERWEITERUNG DER HEILKUNST“ ALS MEDITATIONSBUCH

Inwiefern ist das im Titel genannte medizinische Grundlagenbuch[1] auch ein Meditationsbuch?

Welche Rolle spielt dabei das Denken?

Welche Bedeutung hat das sinnlichkeitsfreie Denken für die Erfassung der inneren und äußeren Welt?

Die verbindende Rolle des Denkens

Die anthroposophische Meditation nimmt ihren Ausgangspunkt beim Denken. Dieses geht auch wach wahrnehmend mit, wenn es um Körpermeditationen, Sinnesschulung und Wortmeditationen geht.[2]

Immer spielt das Denken eine zentrale Rolle, wenn es um die Erfassung der Welten geht, in die der Mensch eingebunden ist:

  • Die naturwissenschaftlichen Methoden beruhen auf einer Erforschung der „sinnenfällig gegebenen Welt“,[3] die mithilfe des Denkens analysiert wird, um die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zu finden.
  • Die geisteswissenschaftliche Methode im Sinne Steiners stützt sich auf das Denken, das zum Anschauungsorgan für Geistiges weiterentwickelt werden kann.

Ein gemäß der anthroposophischen Erkenntnisschulung „erkraftetes Denken“[4] wird methodisch bereits  in Kapitel I beschrieben und liegt allen weiteren Ausführungen des Buches zugrunde.

Das Verbindende zwischen Natur- und Geisteswissenschaft kann nicht im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren liegen. Es kann nur im Denken selber gefunden werden, da dies in beiden Bereichen gleichermaßen führend ist, wenn etwas verstanden werden soll.

Stärkung des sinnlichkeitsfreien Denkvermögens

Auch für die anderen Grundschriften Rudolf Steiners gilt, dass ihre Lektüre das sinnlichkeitsfreie Denkvermögen stärkt. Doch ist dies bei dem Grundlagenwerk der Anthroposophischen Medizin[5] in besonderem Maße der Fall. Denn es ist so abgefasst, dass man ohne eigene echte Gedankenanstrengung kaum Gewinn davon hat bzw. das Werk als unzugänglich empfinden muss.

Von daher auch in Kapitel I der Hinweis auf die beiden Schulungsbücher „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“[6] und „Die Geheimwissenschaft im Umriss“[7] sowie auf ergänzende Schriften und Vorträge, in denen die Übungen beschrieben sind zur Weiterentwicklung der Tätigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens. Damit ist klargestellt, dass Medizin nicht nur bedeutet, viel über den Menschen zu wissen, sondern auch, die geistigen Quellen zu kennen, denen der Mensch sein Dasein und seine Entwicklungskompetenz verdankt.

Von Kritikern der Anthroposophie wird mit Bezug auf die meditative Selbstschulung gerne der Einwand erhoben, dass keiner der Schüler Steiners bisher die von ihm beschriebenen höheren und höchsten Einweihungsgrade erreicht habe.

Meisterschaft durch Übung

Wer jedoch den von Steiner empfohlenen Weg zur höheren Erkenntnis beschreitet, kann bei sachgemäßer Befolgung schon der allerersten Übungsanweisung: „Schaffe dir Augenblicke innerer Ruhe und lerne in diesen Augenblicken das Wesentliche von dem Unwesentlichen unterscheiden“,[8] an sich selbst erleben, wie stark die Wirkung einer solchen Übung ist, wenn man sie durchführt und beginnt, mit ihr zu leben. Dadurch hat man bereits eine Erfahrung gemacht, die Vertrauen stiftet, auch anderes zu versuchen oder auch Forschungsergebnisse Steiners zumindest hypothetisch für möglich zu halten und Leben und Erfahrung im Lichte einer solchen hypothetischen Annahme zu reflektieren.

Das kann z.B. auch Medizinstudenten motivieren, den einen oder anderen Hinweis aus der anthroposophischen Geistesforschung zum Ausgangspunkt einer Doktorarbeit bzw. späteren Habilitation zu machen – was Steiner in seinen Kursen mehrfach vorgeschlagen hat und was auch wiederholt geschehen ist.[9]

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 2025[10]



[1] Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.

[2] Rudolf Steiner, Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst, Vorträge für Ärzte und Medizinstudierende, GA 316.

[3] Rudolf Steiner, Wahrheit und Wissenschaft, 11. Kapitel, GA 3.

[4] Rudolf Steiner, Vorstufen zum Mysterium von Golgatha, GA 152, Seite 51–53.

[5] Siehe FN 1.

[6] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.

[7] Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13.

[8] Sie FN 4, 1. Kapitel.

[9] Vgl. https://medsektion-goetheanum.org/forschung/publications; [6.1.2025].

[10] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.