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Ethische Fragen: Unterschied zwischen den Versionen
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== ETHISCHE FRAGEN ALS SCHWELLENFRAGEN == | |||
'''''FRAGE:''''' ''Welche tiefere Bedeutung haben Fragen zur Ethik in der Medizin?'' | |||
'''ANTWORT:''' Ärztliches Handeln will immer ethisches Handeln sein. Die Tatsache, dass sich öffentliche Diskussionen oder der Rat von Ethik-Kommissionen nur mit Themen rund um die Schwelle zwischen Tod und Leben befassen, oder wenn Eingriffe in das Karma eines anderen Menschen vorliegen, macht zweierlei deutlich: Zum einen zeigen diese Reaktionen, dass sich ein Schwellenbewusstsein zu regen beginnt, dass der einzelne aber Ohnmacht verspürt, weil er sich auf diesem Gebiet noch nicht genügend zurechtfinden kann. Zum anderen zeigen diese selektiven Reaktionen aber auch, wie oft im ärztlichen oder therapeutischen Alltag Entscheidungen einfach gefällt werden, weil man die üblichen Therapierichtlinien befolgen und sich eben so verhalten muss, oder weil andere Kollegen es so machen. In diesen Situationen wird die ebenfalls vorhandene Schwelle nicht mit derselben Deutlichkeit empfunden, weil man sich auf bewährtem, sicherem Boden wähnt. Man stellt sich nicht die Gewissensfrage: | |||
'''''FRAGE:''''' ''Weiß ich als Mediziner denn wirklich, was ich tue?'' | |||
'''ANTWORT:''' Es ist interessant zu sehen, wie sich in der Ethikliteratur heute – insbesondere zur medizinischen Ethik – die Einsicht durchzusetzen beginnt, dass es im Grunde keine kollektiven, allgemeingültigen gesellschaftlichen ethischen Normen geben kann, sondern nur die individuelle Entscheidung zählt. Man könne zwar beratend zur Seite stehen bei solchen Entscheidungsfindungen – letztlich müssten sie jedoch vom Betroffenen selbst getroffen werden, oder so weit wie möglich in seinem Sinne, wenn er selbst dazu nicht mehr in der Lage ist.[1] Hinter den weltweiten Diskussionen über Ethik in der Medizin rumort das unbewusste Schwellenerleben und drängt durch das Bearbeiten der ethischen Fragestellungen in das Bewusstsein hinauf. Die entscheidende Frage ist, ob es gelingt, die weckenden und hilfreichen Gedanken der Anthroposophie in das Gespräch unter Zeitgenossen mit einzubringen, vor allem aber, ob es gelingt, das Wissen um Reinkarnation und Karma so mit den ethischen Fragen zu verknüpfen, dass sie zu bewusst erlebten Schicksalsfragen werden können.[2] | |||
''Vgl. 4. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993'' | |||
----[1] Vgl. Eberhard Amelung, ''Ethisches Denken in der Medizin'', Heidelberg, 1992, Seite 20ff; | |||
F.J. Illhardt, ''Medizinische Ethik,'' Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo, 1985. | |||
[2] Vgl. Rudolf Steiner, ''Theosophie,'' GA 9. | |||
== ZUM SCHWANGERSCHAFTSABBRUCH == | |||
Wie steht die Anthroposophie zum Schwangerschaftsabbruch? | |||
=== ''Möglichkeiten und Grenzen kollektiver ethischer Normen'' === | |||
Das Gespräch über den Abtreibungsparagraphen zeigt, in wie hohem Maße auch am Tor der Geburt das Bewusstsein des Stehens an der Schwelle zur geistigen Welt verdunkelt ist. Gerade dieser „Strafparagraph“ offenbart phänomenologisch in größter Deutlichkeit die Möglichkeiten und Grenzen, die das Aufstellen kollektiver ethischer Normen heute hat.[1] | |||
Rudolf Steiner sagte wiederholt, dass es ein Wort gibt, das zu hören Ahriman[2] nicht erträgt: Es ist das Wort „Ungeborenheit“.[3] Die Fragen und Schmerzen, die diejenigen bewegen, die Zeugen einer Abtreibungssituation sind, lenken das Bewusstsein auf die Welt der Ungeborenen. Sterben hängt mit dem Egoismus des Menschen zusammen, wohingegen das Geborenwerden mit dem Altruismus verbunden ist, den Ahriman flieht. Bei der Geburt ist noch völlig ungewiss, wer und was mit dem Neugeborenen auf uns zukommt, das an die Hilfsbereitschaft, an die Liebe und Hingabe der Umgebung appelliert. | |||
=== ''Seelendramatik unseres Zeitalters'' === | |||
Ich möchte an dieser Stelle ''Frits Wilmar'' zu Wort kommen lassen. Er hat die Diskussion um die Novellierung des Abtreibungsparagraphen bis zu seinem Tode mit größtem Interesse und warmer Anteilnahme verfolgt. Es lag ihm gänzlich fern, hier eine richterliche Stellung einzunehmen. Vielmehr stand ihm die ganze Seelendramatik des materialistischen Zeitalters vor Augen, das sich durch Schuld und Schmerzen zum Schwellenbewusstsein hindurch ringen muss. Als Arzt fühlte er sich verpflichtet, die geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse über das vorgeburtliche Leben und die Menschwerdung den Menschen heute zur Verfügung zu stellen und diese Erkenntnisse milde und klärend in das heutige Bewusstsein hineinleuchten zu lassen. Er schreibt in seinem sehr lesenswerten Buch „Vorgeburtliche Menschwerdung“:[4] | |||
„Aus bestimmten Gründen, die mit ihren vergangenen Erdenschicksalen zusammenhängen, (...) bekommt die Seele nach einer längeren Zeit des Aufenthaltes und Wirkens im ‚Geisterlande` den Impuls zu einem neuen Erdenleben. Sie wendet sich unter der Führung der höheren Wesen des Geisterlandes allmählich einem künftigen Erdendasein zu. (...) Wenn dieses Geschehen seinen Anfang nimmt, muß die Geistseele des Menschen erleben, dass der Geistkeim des physischen Leibes ihr von den höheren Mächten genommen wird, dass dieser sich von ihr entfernt, und unter der Führung der höheren Mächte sich der Erdensphäre zu nähern beginnt. Er beginnt sich dazu als Kraftwesenheit zu konzentrieren. Er nimmt gewissermaßen an Umfang ab. Während dessen ändert sich das Bewusstsein der sich noch im Geisterland befindenden Geistseele des Menschen, dem Inhalte und auch der Richtung nach. Sie fängt nun an, sich wieder als Einzelwesen zu erleben. Dieses Erleben wird alsbald wieder erfüllt mit all dem, was an Unvollkommenheiten und Makeln die andere Seite der Ergebnisse des vorigen Erdenlebens ausmachte. Die geistigen Hierarchien gestalten nun am neuen Seelenleib (Astralleib) der Individualität in dem Sinne, dass alles dasjenige, was von der Weltenlenkung zeitweise zurückgewiesen und in der Seelenwelt als ‚Substanz‘ im Wesen bestimmter geistiger Hierarchien aufbewahrt wurde, von jetzt ab dem Menschenwesen für das kommende Erdenleben einverleibt wird. Es wird solcherart umgestaltet, dass es die Impulse und die Kräfte zum Ausgleich der Unvollkommenheiten aus dem vorigen Erdenleben in sich enthält. Diese Impulse werden dem Menschen-Ich während des Erdenlebens teils von innen her als seine leibliche Konstitution, teils von außen her als seine Schicksale entgegentreten, zumeist völlig unbewusst für das gewöhnliche wache Tagesbewusstsein.“ | |||
Der Haltung des willkürlichen Umgangs mit der Schwelle der Geburt, in den völlig gegensätzlichen Ausprägungen von Schwangerschaftsabbruch und künstlicher Befruchtung, hält er die Ergebnisse der Geistesforschung und seiner menschenkundlichen Untersuchungen entgegen. Er sucht das Gespräch unter Zeitgenossen und zeigt uns vorbildlich, wie wir das Anliegen der Anthroposophie, Schwellenbewusstsein im individuellen Menschen wachzurufen, zur Wirksamkeit bringen können, um zur Verantwortungsbildung und wahren Selbstfindung des einzelnen Menschen beizutragen. Auch sei an dieser Stelle auf die von Max Hoffmeister zusammengestellten Erkenntnisgrundlagen zur Frage der Empfängnisregelung verwiesen.[5] | |||
=== ''Ethische Grundsatzfragen'' === | |||
Nur wenige Äußerungen Rudolf Steiners zur Frage des Schwangerschaftsabbruches sind uns überliefert. Im Rundbrief an die Jungmediziner vom 11. März 1924 führt er jedoch etwas Grundsätzliches aus, das die karmische Realität dieser Fragestellung betrifft: | |||
„Auf die Frage, ob man bei einer Schwangerschaftsunterbrechung, '''die man zur Rettung der Mutter''' vornimmt,'''[6]''' in das Karma der Mutter und in das Karma des Kindes eingreift, ist zu sagen: Dass beide Karmas zwar in kurzer Zeit in andere Bahnen gelenkt, aber bald wieder durch den Eigenverlauf in die entsprechende Richtung gebracht werden, so dass von dieser Seite von einem Eingreifen in das Karma kaum gesprochen werden kann. Dagegen findet ein starker Eingriff in das Karma des Operierenden statt. Und dieser hat sich zu fragen, ob er vollbewusst auf sich nehmen will, was ihn in karmische Verbindungen bringt, die ohne den Eingriff nicht dagewesen wären. Fragen dieser Art sind aber nicht generell zu beantworten, sondern hängen von der Besonderheit des Falles ab, gleich manchem, das ja auch im rein seelischen Kulturleben einen Eingriff in das Karma bedeutet und zu tiefen, tragischen Lebenskonflikten führen kann.“'''[7]''' | |||
Wir kennen keine Äußerung Rudolf Steiners zum willkürlichen Schwangerschafts-abbruch. Er stellt keine medizinisch notwendige Fragestellung dar. Vielmehr liegt in jedem einzelnen Fall eine Schicksalstragik vor, die von außen nur schwer zu beurteilen ist. Angesichts dieser Tragik wird nur eines wirksam weiterhelfen: um die spirituelle Seite der Inkarnation und die Realität des Karma zu wissen. Das Bewusstsein für diese Realität in die Kultur zu bringen, ist unsere Aufgabe.[8] | |||
Wie würden Ärzte beratend um das Leben jedes Kindes kämpfen, wenn sie ahnten, was sich für ''sie selbst'' karmisch aus dem Schwangerschaftsabbruch ergibt! | |||
Die Grundsatzfragen der Ethik werden immer lauten: | |||
''Weiß ich, was ich tue?'' | |||
''Kann ich zu den Folgen stehen und Verantwortung übernehmen?'' | |||
=== Turbulente Zwischenphase der Entwicklung === | |||
In seinen Ausführungen zu den geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnissen Rudolf Steiners macht uns ''Max Hoffmeister'' noch auf eine sehr aktuelle Frage aufmerksam, die hier auch angesprochen sei, weil sie in direkter Beziehung steht zu dem oben genannten hygienischen Okkultismus. Rudolf Steiner sagt, dass diese Fähigkeit nicht lange auf sich warten lassen werde. Diese „mittlere“ Fähigkeit, die mit der Spiritualisierung des Denkens zusammenhängt, muss der Entwicklung der eugenetischen und der mechanisch-okkulten Fähigkeiten vorausgehen, damit diese in die richtigen Bahnen gelenkt werden können. Man kann den Eindruck haben, dass die Entwicklung in Ost und West schneller gegangen ist, aber aufgrund der noch nicht ausreichend entwickelten hygienisch-okkulten Kraft der Mitte erst einmal im materialistischen Zerrbild erscheint. Und so steht die im Osten (China, Japan) per Gesetz gehandhabte Empfängnisregelung und Abtreibungspraxis der immer perfekteren Maschinenwelt des Westens gegenüber, die zunehmend mit Seele und Geist der Menschen zusammenwächst, die tagtäglich mit Computern arbeiten oder sich seelische von der Vergnügungstechnologie manipulieren lassen. ''Max Hoffmeister'' schreibt hierzu in seinen Kommentaren zu den Ausführungen Rudolf Steiners: | |||
„Wenn man so versucht, aufgrund einer spirituellen Weltanschauung, wie sie in der Anthroposophie diesen Ausführungen ja zugrunde liegt, immer wieder in dieser Fragestimmung den Mitmenschen gegenüber zu leben, ahnt man, wie solche Fragestimmung eine erste Voraussetzung dafür ist, die eugenetisch-okkulte Fähigkeit zu erwerben, wodurch es später einmal möglich sein wird, eine Empfängnisregelung vollziehen zu dürfen. Dann erledigt sich zukünftig die Frage von selbst, ob die Elternpersönlichkeiten frei sind in ihrer Entscheidung, eine Konzeption eintreten lassen zu wollen oder nicht. Aber heute befinden wir uns offensichtlich in einer Zwischenphase der Entwicklung, die auf allen Lebensgebieten turbulent, chaotisch ist. Durch die vielen Empfängnisverhütungen und Abtreibungen gelangen die Kinder nicht mehr zu ihren ursprünglich einmal vorgesehenen Eltern. Der Eindruck, den Rudolf Steiner hatte, dass die Menschenkeime durch den Astralraum eilig hin- und herschießen, um ein einigermaßen passendes Elternpaar für ihre Inkarnation zu finden, dürfte darauf hindeuten und scheint heute wohl tatsächlich der vorherrschende zu sein... .“'''''[9]''''' | |||
----[1] Glöckler/Schily/Debus, ''Lebensschutz und Gewissensentscheidung'', Stuttgart 1992; Stellungnahme zur Neufassung der gesetzlichen Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch, Stuttgart, 1992; Friedwart Husemann, Ethischer Individualismus und Schwangerschaftsabbruch, Das Goetheanum 13/1993; Werner Hassauer, Freiheit und Notwendigkeit beim Schwangerschaftsabbruch, Das Goetheanum 31/32, 1992. | |||
[2] Anm. d. Autorin: Ahriman ist diejenige geistige Macht, die den Menschen denkend, fühlend und wollend an die Materie fesseln will. | |||
[3] Rudolf Steiner, ''Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung'', GA 203, 1989, | |||
Vortrag vom 13. März 1921. | |||
[4] Frits Wilmar, ''Vorgeburtliche Menschwerdung'', Stuttgart 1991, Seite 28ff. | |||
[5] Max Hoffmeister, ''Die übersinnliche Vorbereitung der Inkarnation'', Basel 1979. | |||
[6] Hervorhebung durch die Verfasserin. | |||
[7] Rudolf Steiner, ''Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst,'' | |||
GA 3I6, 1987, Anhang, Erster Rundbrief vom 11. März 1924. | |||
[8] Vergl. Rudolf Steiner, ''Die Offenbarungen des Karma,'' GA 120, 1975. | |||
[9] Frits Wilmar, ''Vorgeburtliche Menschwerdung,'' Stuttgart 1991, Seite 127. | |||
== VOM UNGEBORENSEIN SPRECHEN == | |||
''Warum ist es so wichtig vom Ungeborensein zu sprechen?'' | |||
''Was bewirkt das Bewusstsein über diese Phase des Menschseines?'' | |||
=== ''Aufgabe für die Menschheit'' === | |||
Mit diesem Text sei an eine Aufgabe erinnert, die Rudolf Steiner in seinem Dornacher Vortrag vom 13. März 1921 anspricht:[1] | |||
„Suchen Sie aber in den Kultursprachen ein gangbares Wort für ‚ungeboren‘! ‚Unsterblich‘ haben Sie überall, aber ‚ungeboren‘ haben Sie nicht. Das Wort ‚ungeboren‘ brauchen wir; das muß ebenso ein gangbares Wort sein in den Kultursprachen, wie das Wort ‚unsterblich‘, das die Sprachen schon haben. Daran zeigt sich die Verahrimanisierung der modernen Zivilisation. Es ist eines der wichtigsten Symptome für die Verahrimanisierung der modernen Zivilisation, dass wir kein Wort haben für das Nichtgeborensein. Denn ebensowenig wie wir mit dem Tode der Erde verfallen, ebensowenig sind wir mit der Geburt oder mit der Empfängnis erst entstanden. Wir müssen ein Wort haben, das deutlich hinweist auf die Präexistenz. Man darf überhaupt nicht unterschätzen die Bedeutung, welche im Worte liegt. | |||
Sie mögen noch so viel denken, noch so scharfsinnig denken, so ist etwas in Ihnen, das eben intellektualistisch in dem Menschen ist. In dem Augenblicke, wo sich der Gedanke umprägt zum Worte, selbst wenn das Wort als solches nur gedacht wird, wie in der Wortmeditation, in demselben Moment prägt sich das Wort ein in den Äther der Welt. Der Gedanke prägt sich als solcher nicht in den Äther der Welt ein, sonst könnten wir niemals im reinen Denken freie Wesen werden. Wir sind ja in dem Augenblicke gebunden, wo sich etwas einprägt. Wir sind ja nicht durch das Wort frei, sondern durch das reine Denken – das können Sie in meiner „Philosophie der Freiheit“ desweiteren ersehen –, aber das Wort prägt sich dafür in den Weltenäther ein. | |||
=== ''Entscheidender Kampf gegen die ahrimanischen Mächte'' === | |||
Nun bedenken Sie: Für die Initiationswissenschaft liegt ja heute einfach die Tatsache vor, dass im ganzen Erdenäther dadurch, dass die zivilisierten Sprachen kein gangbares Wort für Ungeborenheit haben, dieses für die Menschheit wichtige Ungeborensein überhaupt nicht dem Weltenäther eingeprägt wird. Alles das aber, was an wichtigen Worten eingeprägt wird in den Weltenäther vom Entstehen, von alldem, was den Menschen betrifft in seiner Kindheit, in seiner Jugend, all das bedeutet einen furchtbaren Schrecken für die ahrimanischen Mächte. Unsterblichkeit im Weltenäther eingeschrieben, das vertragen die ahrimanischen Mächte eigentlich sehr gut, denn Unsterblichkeit bedeutet, dass sie mit dem Menschen eine neue Schöpfung beginnen und mit dem Menschen hinauswandern wollen. Das irritiert die ahrimanischen Wesenheiten nicht, wenn sie immer wieder den Äther durchsausen, um mit dem Menschen ihr Spiel zu treiben, wenn da so und so viel von den Kanzeln von Unsterblichkeit verkündet wird und in den Weltenäther eingeschrieben wird. Das tut den ahrimanischen Wesen sehr wohl. Aber ein furchtbarer Schrecken für sie ist es, wenn sie das Wort ‚Ungeborenheit‘ in den Weltenäther eingeschrieben finden. Da löscht für sie überhaupt das Licht aus, in dem sie sich bewegen. Da kommen sie nicht weiter, da verlieren sie die Richtung, da fühlen sie sich wie in einem Abgrund, wie im Bodenlosen. Und daraus können Sie ersehen, dass es eine ahrimanische Tat ist, die Menschheit davon abzuhalten, vom Ungeborensein zu sprechen. (...) Es ist im Grunde genommen nichts Geringeres als der Kampf gegen die ahrimanischen Mächte, den wir selber aufnehmen müssen.“ | |||
''Vgl. 4. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung,'' GA 203, 1989, Vortrag vom 13. März 1921 in Dornach. | |||
== AN DER TODESSCHWELLE == | |||
''Sind Verwirrtheit im Alter und Menschenwürde ein Widerspruch?'' | |||
''Was bringen Erfahrungen im Koma für alle Beteiligten?'' | |||
''Wie wirken Erfahrungen an der Schwelle sich im Nachtodlichen aus?'' | |||
''Warum ist der Hirntod zu kurz gegriffen?'' | |||
=== ''Der Sinn von komatösen und verwirrten Zuständen'' === | |||
Bei schwerer Krankheit oder komatösen Zuständen stellt sich die Sinnfrage auf besonders schmerzliche Weise. Keiner wünscht sich Zustände dieser Art zu durchleben, und so wünscht es auch keiner dem anderen – es besteht bei vielen Menschen sogar eine instinktive Neigung, dem anderen zu helfen, diesen quälenden Zustand zu beenden. Aus diesem Empfinden heraus hat sich nicht zuletzt auch die ethische Diskussion um die Sterbehilfe entwickelt. Auch hier wird man ohne ein Studium der geisteswissenschaftlichen Tatsachen zu keinen wirklichkeitsgemäßen Vorstellungen und Empfindungen kommen können. | |||
''Was bedeutet es zum Beispiel für das Karma eines Menschen, der sein Leben lang kraftvoll und selbstbewusst seine Arbeit verrichtet hat und immer in der Anschauung lebte, andere Menschen nicht zu brauchen und stets der Gebende zu sein, wenn er im Alter eine längere Periode, vielleicht sogar Jahre durchleben muss, in denen er pflegebedürftig wird, vielleicht sogar geistig hilfsbedürftig, weil er verwirrt ist und das Gedächtnis verliert?'' | |||
Vom Erdenaspekt aus erlebt er nun – wenn auch unbewusst –, welche Gnade es ist, dass andere Menschen für einen da sind und dass man als Mensch auch lernen darf, Hilfe anzunehmen, und dass man dabei ganz andere Erfahrungen macht als beim Geben. Denn aus der geistigen Perspektive sind ihm diese Zusammenhänge bewusst. Ganz abgesehen davon bekommen die Menschen, die dem Betreffenden karmisch verbunden sind, auf diese Weise die Möglichkeit, ihre Beziehung zu ihm noch einmal ganz neu zu überdenken und manches auszugleichen, was während des Lebens unausgeglichen geblieben ist. | |||
=== ''Hirntod aus geisteswissenschaftlicher Sicht'' === | |||
Beim Bedenken dieser Fragen können die Leitsätze Rudolf Steiners über die Bildnatur (ätherischen Organismus) des Menschen, auf die bereits hingewiesen wurde, eine große Hilfe sein.[1] Denn dort wird dargestellt, dass das Ich des Menschen in drei Bereichen des dreigegliederten Organismus ich-haft – wenn auch nicht wachbewusst – anwesend ist: | |||
* im '''Nervensinnes-System''' als sich seiner selbst ''bewusstes Sinnes-Ich'' | |||
* im '''rhythmischen System''' als ''träumendes Fühlen'' | |||
* und im '''Stoffwechsel-Gliedmaßen-System''' als ''schlafendes Wollen.'' | |||
Das Ich erlebt beim Träumen und Schlafen sehr wohl aktiv mit, was mit dem Leib geschieht. So gesehen ist der Begriff des „Hirntodes“ ein völliger Unbegriff. Denn die Ich-Anwesenheit im rhythmischen System und im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System ist dann noch immer gegeben. Der Betroffene ist – wie einmal sehr schön in einer Zeitung zu lesen war – eine „stille Persönlichkeit“ geworden. Das wach reagierende Alltags-Ich, das sein Bewusstsein am Nerven-Sinnes-System gespiegelt hat, ist zwar ausgelöscht. Die beiden anderen Bewusstseinszentren im rhythmischen System und im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System nehmen dafür umso tiefer wahr. Erst dieser Aspekt der Dreigliederung,[2] das Wissen um die drei Bewusstseinszentren des Ich (wachendes Denken, träumendes Fühlen, schlafendes Wollen) führt zu einem menschenwürdigen Verständnis des so genannten Hirntodes. | |||
=== ''Vom Sinn des Wartens auf den Todesaugenblick'' === | |||
Unter diesem Aspekt muss z.B. auch vollständig neu überdacht werden, ob die Beatmung bei einem komatösen Patienten fortgesetzt werden soll oder nicht, oder was geschehen soll, wenn eine sogenannt hirntote Frau ein Kind im Leib trägt, das lebt und regsam ist. Von Tod im geisteswissenschaftlichen Sinne kann erst gesprochen werden, wenn die Rückschau nach dem vollständigen Ablegen des physischen Leibes beginnt, indem sich der Ätherleib auflöst. | |||
Diese Herauslösung des Ätherleibes kann aber erst einsetzen, wenn Herzschlag und Atmung aufhören und die Trennung des Seelisch-Geistigen vom Leiblichen vollzogen ist: Nachdem sich der Lebensrückblick in den ersten drei Tagen und Nächten nach Eintritt des Todes vollzogen hat, gibt der ätherische Leib seine vermittelnde Tätigkeit zwischen dem Seelisch-Geistigen und dem Physischen auf und zieht sich wieder in die Weltenweiten zurück.[3] Für Menschen, die etwas feinfühliger sind, ist die erlebende Anwesenheit des seelisch-geistigen Wesens des Kranken durchaus spürbar, auch wenn er tief schläft oder im Koma liegt. Das unter Umständen wochenlange Warten auf den Todeszeitpunkt wird für die Betroffenen in jedem Falle etwas anderes bedeuten. | |||
=== ''Sterben als Einweihung'' === | |||
Aus den Schilderungen Rudolf Steiners über das Sterben und das nachtodliche Leben geht deutlich hervor, dass es sich hierbei um tiefgreifende Einweihungserlebnisse handelt, um ein Stehen an der Todesschwelle zwischen der physischen und der geistigen Welt, mit einer Fülle seelischer und geistiger Erfahrungen. Dasselbe geht auch aus Schilderungen von Patienten hervor, die nach komatösen Zuständen oder Wiederbelebungsmaßnahmen wieder voll zu Bewusstsein gekommen sind. Gerade eine solche Betrachtung kann verständlich machen, warum auch das Erleiden einer Krankheit als physische Erfahrung von unschätzbarem geistigem Gewinn ist. Denn alles, was das Ich im Willensbereich des Stoffwechsels unbewusst erlebt, wird ihm nachtodlich, durch die Hilfe der Wesenheiten in der Planetensphäre des Merkur, zu einer bewussten und beglückenden, umfassenden Erkenntnis, die ihn durch das ganze weitere nachtodliche Leben begleitet.[4] | |||
Einsichten dieser Art führen zu einem ganz neuen Verständnis der Vorgänge auf Intensivstationen von Krankenhäusern – insbesondere deshalb, weil wir wissen, dass auf den Intensivstationen, trotz aller Beatmungs- und Infusionstechnik, der Tod jederzeit eintreten kann, wenn das Leben eines Menschen wirklich vollendet ist. Intensivmedizinische Maßnahmen können einem Kranken zwar eine physische Stütze geben, dass die höheren Wesensglieder sich im physischen Leib halten können. Niemals kann jedoch das Leben dieser höheren Wesensglieder im Leib „erzwungen werden“. | |||
Wenn die Todesstunde eines Menschen gekommen ist, versagt das rhythmische System und der Herzschlag setzt aus oder eine andere unvorhersehbare Komplikation tritt ein und der Tod ist unaufhaltbar trotz aller ärztlichen Kunst und Technik. Diese Tatsache wird nicht oft genug dargestellt, sodass bei vielen Menschen heute die Illusion entsteht, Ärzte könnten willkürlich Leben verlängern. Sie können vielmehr durch Entzug von Beistand Leben willkürlich beenden helfen – mit den entsprechenden Schicksalsfolgen. | |||
=== ''Leidvolle Zustände als Vorbereitung'' === | |||
Die Tatsache, dass sehr viele Menschen heute so alt werden und häufig im Alter leidvolle Zustände an der Schwelle zwischen Sinnes- und Geisteswelt durchmachen, kann auch zu der Frage führen, ob sich darin nicht die Sehnsucht der heutigen Menschheit manifestiert, diese Schwellensituation deutlich zu erleben – auch wenn es nicht mehr mit wachem Erdenbewusstsein geschehen kann. Hier erwächst uns die Aufgabe, diese verwirrten oder „stillen“ Persönlichkeiten mit besonderer Liebe und spirituellem Verständnis zu begleiten. Nach dem Tode werden ihnen diese Erfahrungen dann bewusst und dienen der Vorbereitung eines darauffolgenden geistorientierten Erdenlebens.[5] So können wir z.B. auch fragen: | |||
''In welche Schule ist ein Mensch zuvor gegangen, der hochbegabt geboren wird und nur weniger Hilfen bedarf, um sich verschiedenste Fähigkeiten anzueignen?'' | |||
Was in einem Leben auf der körperlichen Ebene unbewusst im Willen durchgemacht wurde, wird in einem anderen Leben bewusstes Erleben und Können. Dass in unserem Jahrhundert die Notwendigkeit eingetreten ist, uns des Stehens an der Schwelle bewusst zu werden, ist offensichtlich. Weil es jedoch aus eigenem Antrieb immer noch viel zu wenig geschieht, treten zunehmend Grenzerlebnisse und Schwellensituationen auf, durch die der nähere und weitere Umkreis von Betroffenen angeregt wird, über Fragen dieser Art nachzudenken. So wird Schwellenbewusstsein durch leidvolle Erfahrungen geweckt. | |||
„(...) die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, dass der Mensch lerne, mit der geistigen Welt ebenso zu leben, wie er hier auf der Erde mit der physischen Welt lebt. Und nur dadurch, dass wir gewissermaßen als Menschheit wiederum in der geistigen Welt heimisch werden, wie es die Urmenschheit war, indem wir richtig begreifen das Christus-Wort: ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt‘, werden wir die Zukunft der Menschheit fördern.“'''[6]''' | |||
''Vgl. 4. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Anthroposophische Leitsätze'', Leitsätze Nr.35-37. | |||
[2] Vergl. Rudolf Steiner, ''Von Seelenrätseln''. GA 21, 1983. | |||
[3] Rudolf Steiner, ''Theosophie,'' GA 9, 1987, ''Die drei Welten''. | |||
[4] Rudolf Steiner, ''Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen'', GA 141, 1983. | |||
[5] Vergl. Rudolf Steiner, ''Von Seelenrätseln''. GA 21, 1983. | |||
[6] Rudolf Steiner, ''Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus,'' | |||
GA 218, 1992, Vortrag vom 19. November 1922 in London. | |||
== HANS JONAS ETHISCHES PRINZIP DER VERANTWORTUNG == | |||
''Was ist das Neue an Hans Jonas´ Gottesbild?'' | |||
''Was verlangt es vom modernen Menschen?'' | |||
=== ''Hans Jonas Glaubenskrise'' === | |||
''Hans Jonas'', jüdischer Forscher und Philosoph, war ein Überlebender des Holocaust[1] und wurde nach dem Krieg ''der'' Ethik-Philosoph des 20. Jahrhunderts, der mehr als eine Generation prägte. Wie es dazu kam, legte er in einem berühmt gewordenen Aufsatz dar.[2] | |||
Durch den Holocaust verlor er seine geliebte Mutter in den Gaskammern von Ausschwitz und durchlebte eine an den Grundnerv seiner Existenz rührende Glaubens-, Gewissens- und Identitätskrise. Denn nichts unterminiert den Glauben mehr, als wenn man dem Bösen ausgesetzt ist. Dazu kommt, dass Gott nach der jüdischen Glaubensvorstellung keinen gerechten Menschen straft. Hans Jonas Mutter war der beste Mensch gewesen, den er gekannt hatte. Dass sie in den Gaskammern von Ausschwitz auf so menschenverachtende Weise zu Tode kommen konnte, war für ihn schlicht unbegreiflich und unerträglich und stellte sein gesamtes Gottesbild und seine bisherigen Überzeugungen in Frage. | |||
=== ''Suche nach einem neuen Gottesverständnis'' === | |||
Doch als Philosoph begann er darüber nachzudenken, worin sein Glaube in früheren Zeiten wurzelte und warum er ihn völlig verloren hatte. In dem genannten Essay führt er nun aus, dass er plötzlich einen rettenden Einfall hatte. Wenn wir am Ende „unseres Lateins“ sind, sind wir offen für Neues. Dann können wir Gedanken entwickeln, die uns sonst nicht gekommen wären, weil wir normalerweise völlig besetzt sind von unserem eigenen Denken, unserer Meinung, unseren Urteilen und wenig empfänglich für einen neuen Gedanken. Hans Jonas fragte sich in dieser Krise, wie er neue Zielvorstellungen und einen neuen Sinn finden und ein neues Gottesverständnis entwickeln könnte. Denn die alten Vorstellungen von Gott passten nicht mehr. Sein Eindruck war, dass sich die Beziehung Gottes zu den Menschen völlig gewandelt hatte. Seine bisherigen Glaubenssätze lauteten: | |||
* Gott weiß, was geschehen soll, was gut ist für den Menschen – er ist ''allwissend''. | |||
* Gott hält die Schöpfung und jedes Wesen in Händen – er ist ''allmächtig.'' | |||
* Gott ist Quelle von Schönheit und Liebe auf Erden – er ist ''allumfassende Liebe''. | |||
=== ''Sinn von Gottes Verzicht auf Allmacht und Allwissen'' === | |||
Ihm wurde angesichts dieser Prinzipien klar, dass sich in Gott eine große Wandlung vollzogen haben musste: Gott könne nicht mehr allmächtig sein, er muss seine voraussehende Weisheit aufgegeben habe. Ein allmächtiger Gott hätte den 2. Weltkrieg und den Holocaust mit seinen 50 Millionen Toten verhindert, hätte Wege gefunden, diese Katastrophe nicht geschehen zu lassen. Er muss also seine Macht bewusst an die Menschen abgegeben haben, aus dem Wunsch heraus, dass sie auf der Erde herrschen und vor allem sich selbst beherrschen lernen. Dass wir Menschen das noch nicht können, sähe man an den Katastrophen. Wir müssen erst lernen, die göttliche Macht nicht zu missbrauchen, sondern sie verantwortungsvoll zu handhaben. | |||
Entsprechend verfüge Gott auch nicht mehr über Allwissen und Voraussicht, weil der Mensch selber lernen müsse zu wissen, was er tut. | |||
Gott sei ein Gott der Ohnmacht geworden und leide unendliche Qualen, weil er mitansehen müsse, was wir mit unserer Macht und unserem Wissen alles auf der Erde anstellen. Da die Erde aber ein Ort sei, wo sich Freiheit entwickeln solle, müssen diese Übel solange walten, bis genügend Menschen aufgewacht seien für Möglichkeiten, anders damit zurechtzukommen. Nur so sei zu verstehen, warum es so viel Leid und so viele Probleme in der Welt gebe. Weil wir sonst nicht erkennen würden, dass jeder einzelne von uns dazu aufgerufen ist, sich zu bemühen, den Sinn der irdischen Existenz zu verstehen und herauszufinden, wie wir unsere Lebenszeit und unsere Entwicklungsmöglichkeiten auf bestmögliche Art nützen können. Wäre Gott allwissend und allmächtig geblieben, ein Gott der alles regelte, alle beschützte und die Welt in Ordnung hielt, könnte sich diese Entwicklung nicht vollziehen. | |||
Es stimmte Hans Jonas extrem traurig zu sehen, wie wenige Menschen diese Tatsache begriffen, wie negativ sich das 20. Jahrhundert entwickelte, wieviel Zerstörung und Missbrauch stattfanden. Seine Philosophie vom „Prinzip der Verantwortung“ soll die Menschen aufwecken für die Tatsache, dass die göttliche Welt den Menschen die Verantwortung für alle weitere Entwicklung übergeben hat – für die Erde, für die Heimat, für das eigene Leben. | |||
=== ''Gottes ungebrochene All-Liebe'' === | |||
Hans Jonas erkannte aber auch, dass es einen Bereich gab, in dem Gott die Menschheit niemals verlassen hatte und es auch nie tun würde – das war ihm ein großer Trost: Durch Geburt und Tod und das ganze Leben hindurch bleibt ER die Kraft, die sich mit Weisheits- und Machtverzicht vereinbaren lässt: allumfassende Liebe. | |||
In dem Essay mit dem Titel: „''Der Gottesbegriff nach Auschwitz: eine jüdische Stimme''“[3] stellte Hans Jonas die Frage: | |||
''Wo war Gott, als Ausschwitz geschah?'' | |||
Er fand selbst folgende Antwort: Gott war als Gott der Liebe die ganze Zeit ''in Ausschwitz anwesend'' – denn Liebe schränkt die Freiheit des anderen nicht ein. Er war überzeugt, dass Gott seiner Mutter und allen anderen nahe gewesen war und dass sie mit Gottes Beistand gestorben waren. Seinem neuen Gottesverständnis nach blieb Gott den Menschen auch dann innerlich nahe und für sie erreichbar, als äußerlich die Zerstörungskräfte über sie hereinbrachen. Sie spürten die Gegenwart Gottes und wurden durch den Tod hindurch in das Leben danach getragen. | |||
Seine All-Liebe gab Gott die Macht, die Menschen überallhin zu begleiten, in allen Lagen bei ihnen zu sein. Nur deshalb war ER bereit das Risiko einzugehen, die Menschen freizugeben, damit sie selbst rational und sinnvoll denken lernen und die Kraft entwickeln konnten, eigenständig zu handeln. Die Gefahr, die mit der menschlichen Freiheit einhergeht, wurde durch die Liebe Gottes ausbalanciert. Von einigen, die dem Tode entkamen, wissen wir, dass sie Initiationserfahrungen durchmachten und anstatt schwer geschädigt zu werden für den Rest des Lebens, begegneten sie Gott in dieser Todesnähe, erlebten dort eine Art Einweihung. | |||
''Vgl. Vortrag „Ursprung und Ziel von Gesundheit“, Dornach, April 2007'' | |||
----[1] Kurzbiographie und Schriftenverzeichnis unter www.hans-jonas-zentrum.de. | |||
[2] Hans Jonas, ''Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation.'' Suhrkamp 1979. | |||
[3] Hans Jonas, ''Der Gottesbegriff nach Auschwitz: eine jüdische Stimme''. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987. |
Aktuelle Version vom 31. März 2025, 14:03 Uhr
Ethische Fragen – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
ETHISCHE FRAGEN ALS SCHWELLENFRAGEN
FRAGE: Welche tiefere Bedeutung haben Fragen zur Ethik in der Medizin?
ANTWORT: Ärztliches Handeln will immer ethisches Handeln sein. Die Tatsache, dass sich öffentliche Diskussionen oder der Rat von Ethik-Kommissionen nur mit Themen rund um die Schwelle zwischen Tod und Leben befassen, oder wenn Eingriffe in das Karma eines anderen Menschen vorliegen, macht zweierlei deutlich: Zum einen zeigen diese Reaktionen, dass sich ein Schwellenbewusstsein zu regen beginnt, dass der einzelne aber Ohnmacht verspürt, weil er sich auf diesem Gebiet noch nicht genügend zurechtfinden kann. Zum anderen zeigen diese selektiven Reaktionen aber auch, wie oft im ärztlichen oder therapeutischen Alltag Entscheidungen einfach gefällt werden, weil man die üblichen Therapierichtlinien befolgen und sich eben so verhalten muss, oder weil andere Kollegen es so machen. In diesen Situationen wird die ebenfalls vorhandene Schwelle nicht mit derselben Deutlichkeit empfunden, weil man sich auf bewährtem, sicherem Boden wähnt. Man stellt sich nicht die Gewissensfrage:
FRAGE: Weiß ich als Mediziner denn wirklich, was ich tue?
ANTWORT: Es ist interessant zu sehen, wie sich in der Ethikliteratur heute – insbesondere zur medizinischen Ethik – die Einsicht durchzusetzen beginnt, dass es im Grunde keine kollektiven, allgemeingültigen gesellschaftlichen ethischen Normen geben kann, sondern nur die individuelle Entscheidung zählt. Man könne zwar beratend zur Seite stehen bei solchen Entscheidungsfindungen – letztlich müssten sie jedoch vom Betroffenen selbst getroffen werden, oder so weit wie möglich in seinem Sinne, wenn er selbst dazu nicht mehr in der Lage ist.[1] Hinter den weltweiten Diskussionen über Ethik in der Medizin rumort das unbewusste Schwellenerleben und drängt durch das Bearbeiten der ethischen Fragestellungen in das Bewusstsein hinauf. Die entscheidende Frage ist, ob es gelingt, die weckenden und hilfreichen Gedanken der Anthroposophie in das Gespräch unter Zeitgenossen mit einzubringen, vor allem aber, ob es gelingt, das Wissen um Reinkarnation und Karma so mit den ethischen Fragen zu verknüpfen, dass sie zu bewusst erlebten Schicksalsfragen werden können.[2]
Vgl. 4. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993
[1] Vgl. Eberhard Amelung, Ethisches Denken in der Medizin, Heidelberg, 1992, Seite 20ff;
F.J. Illhardt, Medizinische Ethik, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo, 1985.
[2] Vgl. Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.
ZUM SCHWANGERSCHAFTSABBRUCH
Wie steht die Anthroposophie zum Schwangerschaftsabbruch?
Möglichkeiten und Grenzen kollektiver ethischer Normen
Das Gespräch über den Abtreibungsparagraphen zeigt, in wie hohem Maße auch am Tor der Geburt das Bewusstsein des Stehens an der Schwelle zur geistigen Welt verdunkelt ist. Gerade dieser „Strafparagraph“ offenbart phänomenologisch in größter Deutlichkeit die Möglichkeiten und Grenzen, die das Aufstellen kollektiver ethischer Normen heute hat.[1]
Rudolf Steiner sagte wiederholt, dass es ein Wort gibt, das zu hören Ahriman[2] nicht erträgt: Es ist das Wort „Ungeborenheit“.[3] Die Fragen und Schmerzen, die diejenigen bewegen, die Zeugen einer Abtreibungssituation sind, lenken das Bewusstsein auf die Welt der Ungeborenen. Sterben hängt mit dem Egoismus des Menschen zusammen, wohingegen das Geborenwerden mit dem Altruismus verbunden ist, den Ahriman flieht. Bei der Geburt ist noch völlig ungewiss, wer und was mit dem Neugeborenen auf uns zukommt, das an die Hilfsbereitschaft, an die Liebe und Hingabe der Umgebung appelliert.
Seelendramatik unseres Zeitalters
Ich möchte an dieser Stelle Frits Wilmar zu Wort kommen lassen. Er hat die Diskussion um die Novellierung des Abtreibungsparagraphen bis zu seinem Tode mit größtem Interesse und warmer Anteilnahme verfolgt. Es lag ihm gänzlich fern, hier eine richterliche Stellung einzunehmen. Vielmehr stand ihm die ganze Seelendramatik des materialistischen Zeitalters vor Augen, das sich durch Schuld und Schmerzen zum Schwellenbewusstsein hindurch ringen muss. Als Arzt fühlte er sich verpflichtet, die geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse über das vorgeburtliche Leben und die Menschwerdung den Menschen heute zur Verfügung zu stellen und diese Erkenntnisse milde und klärend in das heutige Bewusstsein hineinleuchten zu lassen. Er schreibt in seinem sehr lesenswerten Buch „Vorgeburtliche Menschwerdung“:[4]
„Aus bestimmten Gründen, die mit ihren vergangenen Erdenschicksalen zusammenhängen, (...) bekommt die Seele nach einer längeren Zeit des Aufenthaltes und Wirkens im ‚Geisterlande` den Impuls zu einem neuen Erdenleben. Sie wendet sich unter der Führung der höheren Wesen des Geisterlandes allmählich einem künftigen Erdendasein zu. (...) Wenn dieses Geschehen seinen Anfang nimmt, muß die Geistseele des Menschen erleben, dass der Geistkeim des physischen Leibes ihr von den höheren Mächten genommen wird, dass dieser sich von ihr entfernt, und unter der Führung der höheren Mächte sich der Erdensphäre zu nähern beginnt. Er beginnt sich dazu als Kraftwesenheit zu konzentrieren. Er nimmt gewissermaßen an Umfang ab. Während dessen ändert sich das Bewusstsein der sich noch im Geisterland befindenden Geistseele des Menschen, dem Inhalte und auch der Richtung nach. Sie fängt nun an, sich wieder als Einzelwesen zu erleben. Dieses Erleben wird alsbald wieder erfüllt mit all dem, was an Unvollkommenheiten und Makeln die andere Seite der Ergebnisse des vorigen Erdenlebens ausmachte. Die geistigen Hierarchien gestalten nun am neuen Seelenleib (Astralleib) der Individualität in dem Sinne, dass alles dasjenige, was von der Weltenlenkung zeitweise zurückgewiesen und in der Seelenwelt als ‚Substanz‘ im Wesen bestimmter geistiger Hierarchien aufbewahrt wurde, von jetzt ab dem Menschenwesen für das kommende Erdenleben einverleibt wird. Es wird solcherart umgestaltet, dass es die Impulse und die Kräfte zum Ausgleich der Unvollkommenheiten aus dem vorigen Erdenleben in sich enthält. Diese Impulse werden dem Menschen-Ich während des Erdenlebens teils von innen her als seine leibliche Konstitution, teils von außen her als seine Schicksale entgegentreten, zumeist völlig unbewusst für das gewöhnliche wache Tagesbewusstsein.“
Der Haltung des willkürlichen Umgangs mit der Schwelle der Geburt, in den völlig gegensätzlichen Ausprägungen von Schwangerschaftsabbruch und künstlicher Befruchtung, hält er die Ergebnisse der Geistesforschung und seiner menschenkundlichen Untersuchungen entgegen. Er sucht das Gespräch unter Zeitgenossen und zeigt uns vorbildlich, wie wir das Anliegen der Anthroposophie, Schwellenbewusstsein im individuellen Menschen wachzurufen, zur Wirksamkeit bringen können, um zur Verantwortungsbildung und wahren Selbstfindung des einzelnen Menschen beizutragen. Auch sei an dieser Stelle auf die von Max Hoffmeister zusammengestellten Erkenntnisgrundlagen zur Frage der Empfängnisregelung verwiesen.[5]
Ethische Grundsatzfragen
Nur wenige Äußerungen Rudolf Steiners zur Frage des Schwangerschaftsabbruches sind uns überliefert. Im Rundbrief an die Jungmediziner vom 11. März 1924 führt er jedoch etwas Grundsätzliches aus, das die karmische Realität dieser Fragestellung betrifft:
„Auf die Frage, ob man bei einer Schwangerschaftsunterbrechung, die man zur Rettung der Mutter vornimmt,[6] in das Karma der Mutter und in das Karma des Kindes eingreift, ist zu sagen: Dass beide Karmas zwar in kurzer Zeit in andere Bahnen gelenkt, aber bald wieder durch den Eigenverlauf in die entsprechende Richtung gebracht werden, so dass von dieser Seite von einem Eingreifen in das Karma kaum gesprochen werden kann. Dagegen findet ein starker Eingriff in das Karma des Operierenden statt. Und dieser hat sich zu fragen, ob er vollbewusst auf sich nehmen will, was ihn in karmische Verbindungen bringt, die ohne den Eingriff nicht dagewesen wären. Fragen dieser Art sind aber nicht generell zu beantworten, sondern hängen von der Besonderheit des Falles ab, gleich manchem, das ja auch im rein seelischen Kulturleben einen Eingriff in das Karma bedeutet und zu tiefen, tragischen Lebenskonflikten führen kann.“[7]
Wir kennen keine Äußerung Rudolf Steiners zum willkürlichen Schwangerschafts-abbruch. Er stellt keine medizinisch notwendige Fragestellung dar. Vielmehr liegt in jedem einzelnen Fall eine Schicksalstragik vor, die von außen nur schwer zu beurteilen ist. Angesichts dieser Tragik wird nur eines wirksam weiterhelfen: um die spirituelle Seite der Inkarnation und die Realität des Karma zu wissen. Das Bewusstsein für diese Realität in die Kultur zu bringen, ist unsere Aufgabe.[8]
Wie würden Ärzte beratend um das Leben jedes Kindes kämpfen, wenn sie ahnten, was sich für sie selbst karmisch aus dem Schwangerschaftsabbruch ergibt!
Die Grundsatzfragen der Ethik werden immer lauten:
Weiß ich, was ich tue?
Kann ich zu den Folgen stehen und Verantwortung übernehmen?
Turbulente Zwischenphase der Entwicklung
In seinen Ausführungen zu den geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnissen Rudolf Steiners macht uns Max Hoffmeister noch auf eine sehr aktuelle Frage aufmerksam, die hier auch angesprochen sei, weil sie in direkter Beziehung steht zu dem oben genannten hygienischen Okkultismus. Rudolf Steiner sagt, dass diese Fähigkeit nicht lange auf sich warten lassen werde. Diese „mittlere“ Fähigkeit, die mit der Spiritualisierung des Denkens zusammenhängt, muss der Entwicklung der eugenetischen und der mechanisch-okkulten Fähigkeiten vorausgehen, damit diese in die richtigen Bahnen gelenkt werden können. Man kann den Eindruck haben, dass die Entwicklung in Ost und West schneller gegangen ist, aber aufgrund der noch nicht ausreichend entwickelten hygienisch-okkulten Kraft der Mitte erst einmal im materialistischen Zerrbild erscheint. Und so steht die im Osten (China, Japan) per Gesetz gehandhabte Empfängnisregelung und Abtreibungspraxis der immer perfekteren Maschinenwelt des Westens gegenüber, die zunehmend mit Seele und Geist der Menschen zusammenwächst, die tagtäglich mit Computern arbeiten oder sich seelische von der Vergnügungstechnologie manipulieren lassen. Max Hoffmeister schreibt hierzu in seinen Kommentaren zu den Ausführungen Rudolf Steiners:
„Wenn man so versucht, aufgrund einer spirituellen Weltanschauung, wie sie in der Anthroposophie diesen Ausführungen ja zugrunde liegt, immer wieder in dieser Fragestimmung den Mitmenschen gegenüber zu leben, ahnt man, wie solche Fragestimmung eine erste Voraussetzung dafür ist, die eugenetisch-okkulte Fähigkeit zu erwerben, wodurch es später einmal möglich sein wird, eine Empfängnisregelung vollziehen zu dürfen. Dann erledigt sich zukünftig die Frage von selbst, ob die Elternpersönlichkeiten frei sind in ihrer Entscheidung, eine Konzeption eintreten lassen zu wollen oder nicht. Aber heute befinden wir uns offensichtlich in einer Zwischenphase der Entwicklung, die auf allen Lebensgebieten turbulent, chaotisch ist. Durch die vielen Empfängnisverhütungen und Abtreibungen gelangen die Kinder nicht mehr zu ihren ursprünglich einmal vorgesehenen Eltern. Der Eindruck, den Rudolf Steiner hatte, dass die Menschenkeime durch den Astralraum eilig hin- und herschießen, um ein einigermaßen passendes Elternpaar für ihre Inkarnation zu finden, dürfte darauf hindeuten und scheint heute wohl tatsächlich der vorherrschende zu sein... .“[9]
[1] Glöckler/Schily/Debus, Lebensschutz und Gewissensentscheidung, Stuttgart 1992; Stellungnahme zur Neufassung der gesetzlichen Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch, Stuttgart, 1992; Friedwart Husemann, Ethischer Individualismus und Schwangerschaftsabbruch, Das Goetheanum 13/1993; Werner Hassauer, Freiheit und Notwendigkeit beim Schwangerschaftsabbruch, Das Goetheanum 31/32, 1992.
[2] Anm. d. Autorin: Ahriman ist diejenige geistige Macht, die den Menschen denkend, fühlend und wollend an die Materie fesseln will.
[3] Rudolf Steiner, Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung, GA 203, 1989,
Vortrag vom 13. März 1921.
[4] Frits Wilmar, Vorgeburtliche Menschwerdung, Stuttgart 1991, Seite 28ff.
[5] Max Hoffmeister, Die übersinnliche Vorbereitung der Inkarnation, Basel 1979.
[6] Hervorhebung durch die Verfasserin.
[7] Rudolf Steiner, Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst,
GA 3I6, 1987, Anhang, Erster Rundbrief vom 11. März 1924.
[8] Vergl. Rudolf Steiner, Die Offenbarungen des Karma, GA 120, 1975.
[9] Frits Wilmar, Vorgeburtliche Menschwerdung, Stuttgart 1991, Seite 127.
VOM UNGEBORENSEIN SPRECHEN
Warum ist es so wichtig vom Ungeborensein zu sprechen?
Was bewirkt das Bewusstsein über diese Phase des Menschseines?
Aufgabe für die Menschheit
Mit diesem Text sei an eine Aufgabe erinnert, die Rudolf Steiner in seinem Dornacher Vortrag vom 13. März 1921 anspricht:[1]
„Suchen Sie aber in den Kultursprachen ein gangbares Wort für ‚ungeboren‘! ‚Unsterblich‘ haben Sie überall, aber ‚ungeboren‘ haben Sie nicht. Das Wort ‚ungeboren‘ brauchen wir; das muß ebenso ein gangbares Wort sein in den Kultursprachen, wie das Wort ‚unsterblich‘, das die Sprachen schon haben. Daran zeigt sich die Verahrimanisierung der modernen Zivilisation. Es ist eines der wichtigsten Symptome für die Verahrimanisierung der modernen Zivilisation, dass wir kein Wort haben für das Nichtgeborensein. Denn ebensowenig wie wir mit dem Tode der Erde verfallen, ebensowenig sind wir mit der Geburt oder mit der Empfängnis erst entstanden. Wir müssen ein Wort haben, das deutlich hinweist auf die Präexistenz. Man darf überhaupt nicht unterschätzen die Bedeutung, welche im Worte liegt.
Sie mögen noch so viel denken, noch so scharfsinnig denken, so ist etwas in Ihnen, das eben intellektualistisch in dem Menschen ist. In dem Augenblicke, wo sich der Gedanke umprägt zum Worte, selbst wenn das Wort als solches nur gedacht wird, wie in der Wortmeditation, in demselben Moment prägt sich das Wort ein in den Äther der Welt. Der Gedanke prägt sich als solcher nicht in den Äther der Welt ein, sonst könnten wir niemals im reinen Denken freie Wesen werden. Wir sind ja in dem Augenblicke gebunden, wo sich etwas einprägt. Wir sind ja nicht durch das Wort frei, sondern durch das reine Denken – das können Sie in meiner „Philosophie der Freiheit“ desweiteren ersehen –, aber das Wort prägt sich dafür in den Weltenäther ein.
Entscheidender Kampf gegen die ahrimanischen Mächte
Nun bedenken Sie: Für die Initiationswissenschaft liegt ja heute einfach die Tatsache vor, dass im ganzen Erdenäther dadurch, dass die zivilisierten Sprachen kein gangbares Wort für Ungeborenheit haben, dieses für die Menschheit wichtige Ungeborensein überhaupt nicht dem Weltenäther eingeprägt wird. Alles das aber, was an wichtigen Worten eingeprägt wird in den Weltenäther vom Entstehen, von alldem, was den Menschen betrifft in seiner Kindheit, in seiner Jugend, all das bedeutet einen furchtbaren Schrecken für die ahrimanischen Mächte. Unsterblichkeit im Weltenäther eingeschrieben, das vertragen die ahrimanischen Mächte eigentlich sehr gut, denn Unsterblichkeit bedeutet, dass sie mit dem Menschen eine neue Schöpfung beginnen und mit dem Menschen hinauswandern wollen. Das irritiert die ahrimanischen Wesenheiten nicht, wenn sie immer wieder den Äther durchsausen, um mit dem Menschen ihr Spiel zu treiben, wenn da so und so viel von den Kanzeln von Unsterblichkeit verkündet wird und in den Weltenäther eingeschrieben wird. Das tut den ahrimanischen Wesen sehr wohl. Aber ein furchtbarer Schrecken für sie ist es, wenn sie das Wort ‚Ungeborenheit‘ in den Weltenäther eingeschrieben finden. Da löscht für sie überhaupt das Licht aus, in dem sie sich bewegen. Da kommen sie nicht weiter, da verlieren sie die Richtung, da fühlen sie sich wie in einem Abgrund, wie im Bodenlosen. Und daraus können Sie ersehen, dass es eine ahrimanische Tat ist, die Menschheit davon abzuhalten, vom Ungeborensein zu sprechen. (...) Es ist im Grunde genommen nichts Geringeres als der Kampf gegen die ahrimanischen Mächte, den wir selber aufnehmen müssen.“
Vgl. 4. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993
[1] Rudolf Steiner, Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwicklung, GA 203, 1989, Vortrag vom 13. März 1921 in Dornach.
AN DER TODESSCHWELLE
Sind Verwirrtheit im Alter und Menschenwürde ein Widerspruch?
Was bringen Erfahrungen im Koma für alle Beteiligten?
Wie wirken Erfahrungen an der Schwelle sich im Nachtodlichen aus?
Warum ist der Hirntod zu kurz gegriffen?
Der Sinn von komatösen und verwirrten Zuständen
Bei schwerer Krankheit oder komatösen Zuständen stellt sich die Sinnfrage auf besonders schmerzliche Weise. Keiner wünscht sich Zustände dieser Art zu durchleben, und so wünscht es auch keiner dem anderen – es besteht bei vielen Menschen sogar eine instinktive Neigung, dem anderen zu helfen, diesen quälenden Zustand zu beenden. Aus diesem Empfinden heraus hat sich nicht zuletzt auch die ethische Diskussion um die Sterbehilfe entwickelt. Auch hier wird man ohne ein Studium der geisteswissenschaftlichen Tatsachen zu keinen wirklichkeitsgemäßen Vorstellungen und Empfindungen kommen können.
Was bedeutet es zum Beispiel für das Karma eines Menschen, der sein Leben lang kraftvoll und selbstbewusst seine Arbeit verrichtet hat und immer in der Anschauung lebte, andere Menschen nicht zu brauchen und stets der Gebende zu sein, wenn er im Alter eine längere Periode, vielleicht sogar Jahre durchleben muss, in denen er pflegebedürftig wird, vielleicht sogar geistig hilfsbedürftig, weil er verwirrt ist und das Gedächtnis verliert?
Vom Erdenaspekt aus erlebt er nun – wenn auch unbewusst –, welche Gnade es ist, dass andere Menschen für einen da sind und dass man als Mensch auch lernen darf, Hilfe anzunehmen, und dass man dabei ganz andere Erfahrungen macht als beim Geben. Denn aus der geistigen Perspektive sind ihm diese Zusammenhänge bewusst. Ganz abgesehen davon bekommen die Menschen, die dem Betreffenden karmisch verbunden sind, auf diese Weise die Möglichkeit, ihre Beziehung zu ihm noch einmal ganz neu zu überdenken und manches auszugleichen, was während des Lebens unausgeglichen geblieben ist.
Hirntod aus geisteswissenschaftlicher Sicht
Beim Bedenken dieser Fragen können die Leitsätze Rudolf Steiners über die Bildnatur (ätherischen Organismus) des Menschen, auf die bereits hingewiesen wurde, eine große Hilfe sein.[1] Denn dort wird dargestellt, dass das Ich des Menschen in drei Bereichen des dreigegliederten Organismus ich-haft – wenn auch nicht wachbewusst – anwesend ist:
- im Nervensinnes-System als sich seiner selbst bewusstes Sinnes-Ich
- im rhythmischen System als träumendes Fühlen
- und im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System als schlafendes Wollen.
Das Ich erlebt beim Träumen und Schlafen sehr wohl aktiv mit, was mit dem Leib geschieht. So gesehen ist der Begriff des „Hirntodes“ ein völliger Unbegriff. Denn die Ich-Anwesenheit im rhythmischen System und im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System ist dann noch immer gegeben. Der Betroffene ist – wie einmal sehr schön in einer Zeitung zu lesen war – eine „stille Persönlichkeit“ geworden. Das wach reagierende Alltags-Ich, das sein Bewusstsein am Nerven-Sinnes-System gespiegelt hat, ist zwar ausgelöscht. Die beiden anderen Bewusstseinszentren im rhythmischen System und im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System nehmen dafür umso tiefer wahr. Erst dieser Aspekt der Dreigliederung,[2] das Wissen um die drei Bewusstseinszentren des Ich (wachendes Denken, träumendes Fühlen, schlafendes Wollen) führt zu einem menschenwürdigen Verständnis des so genannten Hirntodes.
Vom Sinn des Wartens auf den Todesaugenblick
Unter diesem Aspekt muss z.B. auch vollständig neu überdacht werden, ob die Beatmung bei einem komatösen Patienten fortgesetzt werden soll oder nicht, oder was geschehen soll, wenn eine sogenannt hirntote Frau ein Kind im Leib trägt, das lebt und regsam ist. Von Tod im geisteswissenschaftlichen Sinne kann erst gesprochen werden, wenn die Rückschau nach dem vollständigen Ablegen des physischen Leibes beginnt, indem sich der Ätherleib auflöst.
Diese Herauslösung des Ätherleibes kann aber erst einsetzen, wenn Herzschlag und Atmung aufhören und die Trennung des Seelisch-Geistigen vom Leiblichen vollzogen ist: Nachdem sich der Lebensrückblick in den ersten drei Tagen und Nächten nach Eintritt des Todes vollzogen hat, gibt der ätherische Leib seine vermittelnde Tätigkeit zwischen dem Seelisch-Geistigen und dem Physischen auf und zieht sich wieder in die Weltenweiten zurück.[3] Für Menschen, die etwas feinfühliger sind, ist die erlebende Anwesenheit des seelisch-geistigen Wesens des Kranken durchaus spürbar, auch wenn er tief schläft oder im Koma liegt. Das unter Umständen wochenlange Warten auf den Todeszeitpunkt wird für die Betroffenen in jedem Falle etwas anderes bedeuten.
Sterben als Einweihung
Aus den Schilderungen Rudolf Steiners über das Sterben und das nachtodliche Leben geht deutlich hervor, dass es sich hierbei um tiefgreifende Einweihungserlebnisse handelt, um ein Stehen an der Todesschwelle zwischen der physischen und der geistigen Welt, mit einer Fülle seelischer und geistiger Erfahrungen. Dasselbe geht auch aus Schilderungen von Patienten hervor, die nach komatösen Zuständen oder Wiederbelebungsmaßnahmen wieder voll zu Bewusstsein gekommen sind. Gerade eine solche Betrachtung kann verständlich machen, warum auch das Erleiden einer Krankheit als physische Erfahrung von unschätzbarem geistigem Gewinn ist. Denn alles, was das Ich im Willensbereich des Stoffwechsels unbewusst erlebt, wird ihm nachtodlich, durch die Hilfe der Wesenheiten in der Planetensphäre des Merkur, zu einer bewussten und beglückenden, umfassenden Erkenntnis, die ihn durch das ganze weitere nachtodliche Leben begleitet.[4]
Einsichten dieser Art führen zu einem ganz neuen Verständnis der Vorgänge auf Intensivstationen von Krankenhäusern – insbesondere deshalb, weil wir wissen, dass auf den Intensivstationen, trotz aller Beatmungs- und Infusionstechnik, der Tod jederzeit eintreten kann, wenn das Leben eines Menschen wirklich vollendet ist. Intensivmedizinische Maßnahmen können einem Kranken zwar eine physische Stütze geben, dass die höheren Wesensglieder sich im physischen Leib halten können. Niemals kann jedoch das Leben dieser höheren Wesensglieder im Leib „erzwungen werden“.
Wenn die Todesstunde eines Menschen gekommen ist, versagt das rhythmische System und der Herzschlag setzt aus oder eine andere unvorhersehbare Komplikation tritt ein und der Tod ist unaufhaltbar trotz aller ärztlichen Kunst und Technik. Diese Tatsache wird nicht oft genug dargestellt, sodass bei vielen Menschen heute die Illusion entsteht, Ärzte könnten willkürlich Leben verlängern. Sie können vielmehr durch Entzug von Beistand Leben willkürlich beenden helfen – mit den entsprechenden Schicksalsfolgen.
Leidvolle Zustände als Vorbereitung
Die Tatsache, dass sehr viele Menschen heute so alt werden und häufig im Alter leidvolle Zustände an der Schwelle zwischen Sinnes- und Geisteswelt durchmachen, kann auch zu der Frage führen, ob sich darin nicht die Sehnsucht der heutigen Menschheit manifestiert, diese Schwellensituation deutlich zu erleben – auch wenn es nicht mehr mit wachem Erdenbewusstsein geschehen kann. Hier erwächst uns die Aufgabe, diese verwirrten oder „stillen“ Persönlichkeiten mit besonderer Liebe und spirituellem Verständnis zu begleiten. Nach dem Tode werden ihnen diese Erfahrungen dann bewusst und dienen der Vorbereitung eines darauffolgenden geistorientierten Erdenlebens.[5] So können wir z.B. auch fragen:
In welche Schule ist ein Mensch zuvor gegangen, der hochbegabt geboren wird und nur weniger Hilfen bedarf, um sich verschiedenste Fähigkeiten anzueignen?
Was in einem Leben auf der körperlichen Ebene unbewusst im Willen durchgemacht wurde, wird in einem anderen Leben bewusstes Erleben und Können. Dass in unserem Jahrhundert die Notwendigkeit eingetreten ist, uns des Stehens an der Schwelle bewusst zu werden, ist offensichtlich. Weil es jedoch aus eigenem Antrieb immer noch viel zu wenig geschieht, treten zunehmend Grenzerlebnisse und Schwellensituationen auf, durch die der nähere und weitere Umkreis von Betroffenen angeregt wird, über Fragen dieser Art nachzudenken. So wird Schwellenbewusstsein durch leidvolle Erfahrungen geweckt.
„(...) die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, dass der Mensch lerne, mit der geistigen Welt ebenso zu leben, wie er hier auf der Erde mit der physischen Welt lebt. Und nur dadurch, dass wir gewissermaßen als Menschheit wiederum in der geistigen Welt heimisch werden, wie es die Urmenschheit war, indem wir richtig begreifen das Christus-Wort: ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt‘, werden wir die Zukunft der Menschheit fördern.“[6]
Vgl. 4. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993
[1] Rudolf Steiner, Anthroposophische Leitsätze, Leitsätze Nr.35-37.
[2] Vergl. Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln. GA 21, 1983.
[3] Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9, 1987, Die drei Welten.
[4] Rudolf Steiner, Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen, GA 141, 1983.
[5] Vergl. Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln. GA 21, 1983.
[6] Rudolf Steiner, Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus,
GA 218, 1992, Vortrag vom 19. November 1922 in London.
HANS JONAS ETHISCHES PRINZIP DER VERANTWORTUNG
Was ist das Neue an Hans Jonas´ Gottesbild?
Was verlangt es vom modernen Menschen?
Hans Jonas Glaubenskrise
Hans Jonas, jüdischer Forscher und Philosoph, war ein Überlebender des Holocaust[1] und wurde nach dem Krieg der Ethik-Philosoph des 20. Jahrhunderts, der mehr als eine Generation prägte. Wie es dazu kam, legte er in einem berühmt gewordenen Aufsatz dar.[2]
Durch den Holocaust verlor er seine geliebte Mutter in den Gaskammern von Ausschwitz und durchlebte eine an den Grundnerv seiner Existenz rührende Glaubens-, Gewissens- und Identitätskrise. Denn nichts unterminiert den Glauben mehr, als wenn man dem Bösen ausgesetzt ist. Dazu kommt, dass Gott nach der jüdischen Glaubensvorstellung keinen gerechten Menschen straft. Hans Jonas Mutter war der beste Mensch gewesen, den er gekannt hatte. Dass sie in den Gaskammern von Ausschwitz auf so menschenverachtende Weise zu Tode kommen konnte, war für ihn schlicht unbegreiflich und unerträglich und stellte sein gesamtes Gottesbild und seine bisherigen Überzeugungen in Frage.
Suche nach einem neuen Gottesverständnis
Doch als Philosoph begann er darüber nachzudenken, worin sein Glaube in früheren Zeiten wurzelte und warum er ihn völlig verloren hatte. In dem genannten Essay führt er nun aus, dass er plötzlich einen rettenden Einfall hatte. Wenn wir am Ende „unseres Lateins“ sind, sind wir offen für Neues. Dann können wir Gedanken entwickeln, die uns sonst nicht gekommen wären, weil wir normalerweise völlig besetzt sind von unserem eigenen Denken, unserer Meinung, unseren Urteilen und wenig empfänglich für einen neuen Gedanken. Hans Jonas fragte sich in dieser Krise, wie er neue Zielvorstellungen und einen neuen Sinn finden und ein neues Gottesverständnis entwickeln könnte. Denn die alten Vorstellungen von Gott passten nicht mehr. Sein Eindruck war, dass sich die Beziehung Gottes zu den Menschen völlig gewandelt hatte. Seine bisherigen Glaubenssätze lauteten:
- Gott weiß, was geschehen soll, was gut ist für den Menschen – er ist allwissend.
- Gott hält die Schöpfung und jedes Wesen in Händen – er ist allmächtig.
- Gott ist Quelle von Schönheit und Liebe auf Erden – er ist allumfassende Liebe.
Sinn von Gottes Verzicht auf Allmacht und Allwissen
Ihm wurde angesichts dieser Prinzipien klar, dass sich in Gott eine große Wandlung vollzogen haben musste: Gott könne nicht mehr allmächtig sein, er muss seine voraussehende Weisheit aufgegeben habe. Ein allmächtiger Gott hätte den 2. Weltkrieg und den Holocaust mit seinen 50 Millionen Toten verhindert, hätte Wege gefunden, diese Katastrophe nicht geschehen zu lassen. Er muss also seine Macht bewusst an die Menschen abgegeben haben, aus dem Wunsch heraus, dass sie auf der Erde herrschen und vor allem sich selbst beherrschen lernen. Dass wir Menschen das noch nicht können, sähe man an den Katastrophen. Wir müssen erst lernen, die göttliche Macht nicht zu missbrauchen, sondern sie verantwortungsvoll zu handhaben.
Entsprechend verfüge Gott auch nicht mehr über Allwissen und Voraussicht, weil der Mensch selber lernen müsse zu wissen, was er tut.
Gott sei ein Gott der Ohnmacht geworden und leide unendliche Qualen, weil er mitansehen müsse, was wir mit unserer Macht und unserem Wissen alles auf der Erde anstellen. Da die Erde aber ein Ort sei, wo sich Freiheit entwickeln solle, müssen diese Übel solange walten, bis genügend Menschen aufgewacht seien für Möglichkeiten, anders damit zurechtzukommen. Nur so sei zu verstehen, warum es so viel Leid und so viele Probleme in der Welt gebe. Weil wir sonst nicht erkennen würden, dass jeder einzelne von uns dazu aufgerufen ist, sich zu bemühen, den Sinn der irdischen Existenz zu verstehen und herauszufinden, wie wir unsere Lebenszeit und unsere Entwicklungsmöglichkeiten auf bestmögliche Art nützen können. Wäre Gott allwissend und allmächtig geblieben, ein Gott der alles regelte, alle beschützte und die Welt in Ordnung hielt, könnte sich diese Entwicklung nicht vollziehen.
Es stimmte Hans Jonas extrem traurig zu sehen, wie wenige Menschen diese Tatsache begriffen, wie negativ sich das 20. Jahrhundert entwickelte, wieviel Zerstörung und Missbrauch stattfanden. Seine Philosophie vom „Prinzip der Verantwortung“ soll die Menschen aufwecken für die Tatsache, dass die göttliche Welt den Menschen die Verantwortung für alle weitere Entwicklung übergeben hat – für die Erde, für die Heimat, für das eigene Leben.
Gottes ungebrochene All-Liebe
Hans Jonas erkannte aber auch, dass es einen Bereich gab, in dem Gott die Menschheit niemals verlassen hatte und es auch nie tun würde – das war ihm ein großer Trost: Durch Geburt und Tod und das ganze Leben hindurch bleibt ER die Kraft, die sich mit Weisheits- und Machtverzicht vereinbaren lässt: allumfassende Liebe.
In dem Essay mit dem Titel: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz: eine jüdische Stimme“[3] stellte Hans Jonas die Frage:
Wo war Gott, als Ausschwitz geschah?
Er fand selbst folgende Antwort: Gott war als Gott der Liebe die ganze Zeit in Ausschwitz anwesend – denn Liebe schränkt die Freiheit des anderen nicht ein. Er war überzeugt, dass Gott seiner Mutter und allen anderen nahe gewesen war und dass sie mit Gottes Beistand gestorben waren. Seinem neuen Gottesverständnis nach blieb Gott den Menschen auch dann innerlich nahe und für sie erreichbar, als äußerlich die Zerstörungskräfte über sie hereinbrachen. Sie spürten die Gegenwart Gottes und wurden durch den Tod hindurch in das Leben danach getragen.
Seine All-Liebe gab Gott die Macht, die Menschen überallhin zu begleiten, in allen Lagen bei ihnen zu sein. Nur deshalb war ER bereit das Risiko einzugehen, die Menschen freizugeben, damit sie selbst rational und sinnvoll denken lernen und die Kraft entwickeln konnten, eigenständig zu handeln. Die Gefahr, die mit der menschlichen Freiheit einhergeht, wurde durch die Liebe Gottes ausbalanciert. Von einigen, die dem Tode entkamen, wissen wir, dass sie Initiationserfahrungen durchmachten und anstatt schwer geschädigt zu werden für den Rest des Lebens, begegneten sie Gott in dieser Todesnähe, erlebten dort eine Art Einweihung.
Vgl. Vortrag „Ursprung und Ziel von Gesundheit“, Dornach, April 2007
[1] Kurzbiographie und Schriftenverzeichnis unter www.hans-jonas-zentrum.de.
[2] Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Suhrkamp 1979.
[3] Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz: eine jüdische Stimme. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987.