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Heileurythmie: Unterschied zwischen den Versionen
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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | ||
== HEILEURYTHMIE – HERZ DER ANTHROPOSOPHISCHEN MEDIZIN == | |||
''Inwiefern kann Heileurythmie als das Herz der medizinischen Bewegung gesehen werden?'' | |||
=== ''Heileurythmie und Bildebewegungen'' === | |||
Ein Grund, warum ich den Eindruck habe, dass die Heileurythmie das Herz der Anthroposophischen Medizin ist, hängt mit dem heutigen Medizinstudium zusammen: Das Medizinstudium ist durch und durch dem Geist der heutigen Zeit verpflichtet – einem Wissenschaftsverständnis rein materialistischer Art. Der Medizinstudent wird enorm belastet von all dem Wissen, das er im Grunde nicht versteht, nicht verstehen kann. Rudolf Steiner sagt über die Anthroposophie: ''„So sollen wir auf dem Wege der Anthroposophie ausgehen lernen von der Erkenntnis, uns erheben zur Kunst und endigen in religiöser Innigkeit.“ '''[1]''''' | |||
Das Belebende, das die Wissenschaft erlöst und verwandelt in echtes Verstehen, in intimes Begreifen, kann man ohne Eurythmie nicht kennen lernen. Warum? Weil Eurythmie das System der embryonalen Bildebewegungen ist. | |||
Die Bildebewegungen des menschlichen Organismus kann ich nachahmen, indem ich Eurythmie mache. Ich kann sie aber in einem ersten Schritt auch nur denken: Ich kann einen Winkel, einen Punkt, eine Linie denken. Und dann kann ich das, was ich gedacht habe – Anthroposophie beginnt in allen Bereichen mit Wissen, mit dem Denken – auch tun, mit meiner ganzen Gestalt ausführen und erkenne: Mein Wille ist realisierter Gedanke. Ich trage wirklich die Schöpferkräfte dieser Welt in mir, nicht nur in meinem Denken als leibfreie ätherische Kompetenz, als ‚ewiges Leben', sondern eben auch als ‚vergängliches Leben', als Prozess, als Bildebewegung, als Geschehen, als Substanzprozess. Je mehr ich von diesen Prozessen erlebe, erfahre und verwirkliche, umso mehr sehe ich sie auch um mich herum und in anderen. | |||
=== ''Gründe für Ausübung von Eurythmie in den Ausbildungen für Ärzte'' === | |||
Im Rahmen unserer Ärzteausbildungen haben wir folgende Gründe für die Ausübung von Eurythmie: | |||
* die Schönheit von Eurythmie erlebbar zu machen | |||
* den Ärzten auf diesem Wege einen Zugang zur Heileurythmie zu eröffnen | |||
* Wahrnehmungsschulung durch Eurythmie anzubieten: Wer Eurythmie macht, lernt mit dem Herzen zu sehen, etwas sensibel zu verfolgen, z.B. einen Prozess an einer Pflanze. | |||
Ihr könnt Euch kaum vorstellen, was für ein Augenöffner es ist, wenn man mit einer Gruppe von Ärzten, die das noch nie gemacht haben, in der allerersten Stunde der Ausbildung die geometrischen Grundformen übt – den Winkel, den Punkt, die Linie, den Kreis und die Parallelen, die sich im Unendlichen schneiden. Nachdem das eine Stunde lang geübt wurde, geht der Arzt hinaus in die Natur und sieht, wie Gott dort ‚geometrisiert’. Wie die Bäume unterschiedliche Gesten machen. Und dass es viele Punkte gibt, von denen ausgehend sich etwas ausdehnt – es fällt einem wie Schuppen von den Augen. | |||
=== ''Die Prozesshaftigkeit wiederentdecken'' === | |||
''„Jede Form ist eine zur Ruhe gekommene Bewegung", '''[2]''''' sagt Rudolf Steiner. Mit diesem zur Erfahrung gewordenen Wissen kann ich alles, was sich gefügt und verfestigt hat, ebenso das, was sich kosmisch fügt, anschauen, auch eine Diagnose, und dabei die Prozesshaftigkeit, den Prozess der Menschengestaltung, empfinden. Von Heileurythmie und Eurythmie im Allgemeinen sagt Rudolf Steiner, dass sie den Willen wieder hereinbringen in die Menschheitsentwicklung. Sie bedeuten eine unermessliche Willensstärkung und Willenserziehung. | |||
Auf der anderen Seite fördert Eurythmie das Denken mit dem Herzen, das mir offenbart, dass alles, was ich weiß, alles Gefügte und Geformte, ehemaliger Prozess ist und sich wieder verwandeln kann in Prozess, in Geschehen, in Metamorphose, in Entwicklung. | |||
All das lernen wir im Medizinstudium nicht. Das müssten wir aber wissen, um Erkrankungs- und Gesundungsprozesse zu verstehen. Eurythmie hilft dem Arzt überhaupt erst Arzt zu werden. Denn ohne eine differenzierte Wahrnehmung des ätherischen Organismus kann man Anthroposophische Medizin gar nicht wirklich anwenden. Die eigene Erfahrung mit der Eurythmie und Heileurythmie ist der beste Weg, um die ätherischen Kräfte zu erfassen und handhaben zu lernen. | |||
=== ''Herzenskultur als Medizin erkennen'' === | |||
Das Zentrum allen Ätherwirkens ist das Herz. Eurythmie ist nicht nur Willenserziehung, Willensoffenbarung und Leibergreifung, sondern auch reine Herzenssprache und Herzensoffenbarung. Das liegt nicht nur daran, dass die Eurythmie ihren Bildegesetzen nach dem Herzens-Lungen-Schlag entstammt. Es liegt vor allem daran, dass alles Künstlerisch-Prozesshafte mit dem Herzen gemacht werden muss. Man kann nicht ausdrucksvoll oder prozessorientiert Eurythmie machen, wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist. | |||
''Was aber, wenn man nicht gelernt hat auf das eigene Herz zu hören, weil man nicht mit den eigenen Ängsten umgehen kann?'' | |||
''Wenn man immer Angst hat, etwas falsch zu machen?'' | |||
Angst wird den Ärzten heutzutage antrainiert – immer auf der sicheren Seite zu sein. Dieses Angsttraining ist geradezu eine Gegenschule zu dem Wissen und der Tatsache, dass die einzig wahre Arznei Liebe ist. Angesichts dieser ahrimanischen Gegenschule der heutigen Zeit brauchen Ärzte die Heileurythmie und die Geisteswissenschaft, um das Liebesprinzip, die Herzenskultur, die einzig gesundende Arznei, wieder handhaben zu lernen. | |||
=== ''Medizin und Heileurythmie brauchen einander'' === | |||
Das ist der Grund, warum es auch selbstverständlich ist, dass die Heileurythmie die Entwicklungsgeschichte der medizinischen Bewegung mit ihrer Hauptrepräsentantin ''Ita Wegman'' konsequent begleitet. | |||
Das moderne Arzttum braucht Eurythmie, um sich öffnen zu können für das, was wirklich heilt, und um den kranken Organismus prozesshaft verstehen zu lernen. Dazu brauchen Ärzte auch das Gespräch mit den HeileurythmistInnen. | |||
Die Tatsache des gegenseitigen Brauchens wird immer evidenter: Die HeileurythmistInnen müssen sich dazu durchringen, die Erkenntnisseite ihrer Therapie etwas mehr zu pflegen und die Ärzte müssen sich dazu bewegen lassen, von ihrem Wissensthron herunterzusteigen auf die Herzensebene. Sie müssen das, was sie wissen, auch wirklich verstehen wollen, indem sie es für sich in Prozess und Geschehen übersetzen und künstlerisch durchempfinden lernen. | |||
''Vgl. Vortrag „Vom Wesen der Heileurythmie als Herzorgan der Anthroposophischen Medizin“, Dornach, 1. Weltkonferenz für Heileurythmie, 30. Mai 2008'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Anthroposophische Gemeinschaftsbildung'', GA 257, 1. Vortrag, 23.01.1923. | |||
[2] Rudolf Steiner, ''Eurythmie als sichtbare Sprache'', GA 279, 10. Vortrag, 10.07.1924. | |||
== ENTWICKLUNG DER HEILEURYTHMIE == | |||
''Wie hat sich die Heileurythmie im Rahmen der anthroposophisch-medizinischen Bewegung entwickelt?'' | |||
''Welche Bereiche umfasst sie?'' | |||
=== ''Aus der pädagogisch-therapeutischen Praxis entstanden'' === | |||
Heileurythmie, die therapeutische Eurythmie, arbeitet hochspezifisch, akkurat und genau. Rudolf Steiner setzte sie sehr bescheiden ein in den Vorträgen für die Ärzte und sagte, man werde nicht alles damit behandeln können, aber doch sehr vieles. | |||
Das erste pädagogisch-medizinisch-anthroposophische Werk wurde von Rudolf Steiner 1907 herausgegeben, ''„Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft“.'''[1]''''' Fast auf jeder Seite wird von „gesunder Entwicklung“ gesprochen, von „Gesundheit“, von der „Überwindung von Krankheitstendenzen“. Prävention in Form von Erziehung, später ergänzt durch Selbstschulung und Selbsterziehung, der Königsweg der Medizin – ist bereits über 100 Jahre alt. | |||
Im Rahmen ihrer Tätigkeit in der Waldorfschule fragte ''Elisabeth Baumann'', die zusammen mit ''Karl Schubert'' die Hilfsklasse betreute, Rudolf Steiner immer wieder um Rat im Zusammenhang mit schwierigen Kindern und bat um spezielle therapeutische und eurythmische Übungen. Sie bekam bereitwillig Antworten – die Heileurythmie entstand so aus der pädagogischen Praxis heraus. | |||
''Erna van Deventer-Wolfram'' verfolgte später die Angaben zur therapeutischen Eurythmie zurück bis ins Jahr 1915 und davor: Von Anfang an ist das Werden der Eurythmie begleitet von Abwandlungen für deren therapeutische Anwendung. Und immer werden auch Laienkurse angeboten und entwickelt sich das pädagogisch-didaktische Element. | |||
=== ''Prophylaktisches und heilend-erzieherisches Element'' === | |||
Das prophylaktische und das heilend-erzieherische Element begleiten die Entwicklung der Anthroposophischen Medizin in ihrer zweiten Etappe. Es ist kein Zufall, dass Ostern 1921 der ''Heileurythmiekurs'''[2]''''' gegeben wird – integriert in den zweiten Kurs für Ärzte. Es ist das Jahr, in dem im Juni die heutige Ita-Wegman-Klinik und in Stuttgart von ''Otto Palmer'' die Stuttgarter Klinik begründet wurden. Das markiert den Schritt in der Entwicklung der Anthroposophischen Medizin, durch den nun – seit 1920, dem ersten Medizinerkurs – die Krankheitslehre entwickelt wird. | |||
Zusammen mit der Wissenschaft von der Krankheit wird auch die Heileurythmie als neue Therapieform systematisch entwickelt. Sie wird so vollständig dargestellt, dass Rudolf Steiner ein Jahr später, als er nochmals gebeten wurde, über Heileurythmie zu sprechen, sinngemäß sagte: ''Eigentlich habe ich bereits alles gesagt.'''[3]''''' | |||
Ich kenne das von keinem anderen Zusammenhang, dass Rudolf Steiner schlicht darauf hinweist, er hätte schon alles zu einem bestimmten Thema gesagt. In diesen Vorträgen ist eigentlich alles drin, auch wenn wir bei der Arbeit damit ständig Neues entdecken. | |||
=== ''Tonheileurythmie und weitere Entwicklungen'' === | |||
Ich bin besonders glücklich darüber, dass im Rahmen unserer 1. Weltkonferenz für Heileurythmie auch die Tonheileurythmie vorgestellt wurde, über die Rudolf Steiner im Heileurythmiekurs nicht spricht, sondern sie in einem anderen Vortragszyklus ausführt. Es gehört zu meinen ganz großen Hoffnungen, dass durch die Demonstration der Qualität ‚Tonheileurythmie' die Botschaft in 32 Länder hinausgeht und sich dieser ‚Bazillus’ Tonheileurythmie in Form einer ansteckenden Gesundheit fortpflanzt und überall ansiedelt. Denn natürlich gehört zu dem vollständigen Keim, in dem bereits alles enthalten ist, auch das Rhythmisch-Musikalische. | |||
Die Heileurythmie ist noch nach vielen Richtungen hin weiterzuentwickeln: In den Qualitäten der Farbe, der Form, der Musik, der Fülle der Rhythmen usw. liegen noch ungehobene Schätze verborgen. Auch diese historischen Zusammenhänge weisen darauf hin, dass die Heileurythmie, diese zutiefst menschliche Eurythmie, wie der Urgrund oder Urzugang zu einem spirituellen Verständnis der menschlichen Organisation ist. Ohne dieses Verständnis, lässt sich die Anthroposophische Medizin nicht denken und praktizieren. | |||
Heileurythmie ist das Herzstück. Sie selbst ist der reine Ausdruck von Herzlichkeit: Herzlichkeit im Umgang mit der Welt, Herzlichkeit im Umgang mit den Menschen. | |||
''Vgl. Vortrag „Vom Wesen der Heileurythmie als Herzorgan der Anthroposophischen Medizin“, Dornach, 1. Weltkonferenz für Heileurythmie, 30. Mai 2008'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit und deren Bedeutung für das heutige Leben,'' GA 55, 6. Vortrag. | |||
[2] Rudolf Steiner'', Heileurythmiekurs'', GA 315. | |||
[3] Ebenda, 8. Vortrag vom 28.10.1922. | |||
== MENSCHLICHE EURYTHMIE UND KEHLKOPF == | |||
''Was bedeutet ‚menschliche Eurythmie‘?'' | |||
=== ''Das Besondere an Kehlkopf und Gehör'' === | |||
Im ersten Vortrag des ''Heileurythmiekurses'''[1]''''' finden wir nicht nur die Begriffe ''‚hygienisch-therapeutische Eurythmie'<nowiki/>'', ''‚didaktisch-pädagogische Eurythmie'<nowiki/>'', und ''‚künstlerische Eurythmie‘'', sondern auch den Begriff der ''‚menschlichen Eurythmie'<nowiki/>''. Diese ‚menschliche Eurythmie’ entwickelt Rudolf Steiner am Kehlkopf. Sie ist jenseits von Kunst, Pädagogik und Therapie beheimatet – sie ist noch etwas viel Ursprünglicheres, Allgemeineres: Das rein Menschliche eurythmisiert im Kehlkopf, dem umgewendeten Hinterhaupt mit der Gehörregion. | |||
Im Vortrag ''„Geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte zur Therapie",'''[2]''''' der dem ''Heileurythmiekurs'' vorgelagert ist, schildert Rudolf Steiner, warum die Kehlkopf- und Gehörregion so besonders sind: Es ist genau dieser Bereich, in dem der physische Leib am allermeisten er selbst ist. | |||
'''''Entwicklungsschritte des physischen Erdeninstrumentes''''' | |||
Der Mensch hat sich dort ein physisches Erdeninstrument geschaffen: | |||
# Die Gehörpartie ist wie eine Erinnerung an den Saturnzustand, als der Mensch noch wie ein Ohr war und seinen eigenen Herzschlag hörte. | |||
# Aus dieser Hör-Tätigkeit bildete sich dann das Wärmeorgan, das auf- und absteigt und pulsiert in den Wärmeformen des alten Saturn. | |||
# Heute ist es physisch verdichtet und ganz ausgestaltet als unser Herz, das Zentralorgan des Menschen. | |||
# Die Metamorphose der am stärksten ausgeprägten physischen Form, der Hinterhauptpartie, findet sich in umgewendeter Weise im Kehldeckel wieder. | |||
# An ihn schließen sich Kiefer und Sprechwerkzeuge an und die dort wunderbar eingebauten Stimmbänder mitsamt den Stellknorpeln, diesen feinen, gliedmaßenähnlichen Gebilden. Alles, was wir in Worten artikulieren, wird dort in genau umgekehrter Form, rückwärts gewendet, aktiv ausgeführt. | |||
=== ''Vokalismus des Kehlkopfs'' === | |||
Im Kehlkopf finden wir – neben dem konsonantischen Aspekt, der sich in den feinen Bewegungen der Stellknorpel und den Spannungszuständen unserer Stimmbänder offenbart – die Vokale archetypisch eingezeichnet, quasi in das Herz dieses 'zweiten Menschen' eingeschrieben: | |||
* das '''A''' in der Form des Kehldeckels, | |||
* das '''O''' in den schönen Ringknorpeln um die Trachea herum, unserer Luftröhre, | |||
* dann die Parallelität des '''U''' im gesamten Aufbau des Kehlkopfes und seiner Anhangsorgane, | |||
* aber auch physiologisch-anatomisch in den kreuz- bzw. '''E'''-förmigen Muskelzügen | |||
* und schließlich das '''I''' im vertikal stehenden Kehlkopf selbst. | |||
Im Kehlkopf finden wir alle Vokale anatomisch-physiologisch eingezeichnet. Daran können wir merken: In der Eurythmie wird nur sichtbar gemacht, was uns als Körpergeometrie bereits ‚eingestaltet’ ist. | |||
''Vgl. Vortrag „Vom Wesen der Heileurythmie als Herzorgan der Anthroposophischen Medizin“, Dornach, 1. Weltkonferenz für Heileurythmie, 30. Mai 2008'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Heileurythmiekurs,'' GA 315. | |||
[2] Rudolf Steiner, ''Geisteswissenschaft und Medizin,'' GA 312, 1. Vortrag. | |||
== HEILEURYTHMIE BEIM KLEINKIND == | |||
''Welchen unmittelbaren Bezug hat Heileurythmie zur Entwicklung des Kleinkinds?'' | |||
''Welche Bedeutung haben hier die Vokale?'' | |||
=== ''Vokale und Inkarnationsbewegungen'' === | |||
In einer befreundeten Familie wurden zwei Kinder adoptiert: ein Säugling direkt nach der Geburt, dessen Mutter drogenabhängig war, und ein Kind, das schon einige Monate alt war. Bei beiden wurde von Anfang an Heileurythmie gemacht, jeden Morgen und jeden Abend – vor allem Vokale. Denn Vokale entsprechen den Inkarnationsbewegungen des Kindes im ersten Lebensjahr: | |||
==== '''·''' Das „I“ als Bewegung ==== | |||
Die erste eigenaktive Bewegung direkt nach der Geburt, wenn der auf dem Bauch liegende Säugling den Kopf hebt und die Nackenmuskulatur streckt, entspricht dem „I”. Manchmal ist der Kopf so schwer, dass er bei diesem ersten Heben richtig wackelt. Im Laufe der Wochen und Monate kommt allmählich Spannung in die Muskulatur – das „I”. | |||
Wer Eurythmie machen will, lässt sich zuerst ganz locker hängen und richtet sich dann langsam auf, bis er den Kopf ganz aus der Schwere befreit hat. Diese entscheidende „I”-Gebärde, die der Eurythmisierende zuletzt ausführt, ist beim Säugling die erste: Er ergreift seinen Leib zuerst in der Kopfregion. Was Kinder später mit Freude wiederholen, dieses Recken des Kopfes, wenn sie sagen können – Hier bin ich! – das haben sie als Erstes gelernt. | |||
==== '''·''' Das „E“ als Bewegung ==== | |||
Sobald der Blick Gegenstände zu fixieren beginnt und die Sehachsen sich kreuzen, wird der nächste Laut errungen: Jetzt beginnt das Spiel mit den Fingern, die Selbstberührung, das gezielte Greifen – das „E”. Die Bewegungen des Kindes pendeln zwischen „E” und „I”, wobei das „I” immer gerichteter wird. | |||
==== '''·''' Das „A“ als Bewegung ==== | |||
Allmählich öffnen und schließen sich auch die Arme; es dauert aber eine ganze Weile bis sie wirklich gerichtet geöffnet werden können – was dem „A” entspricht. | |||
==== '''·''' Das „O“ als Bewegung ==== | |||
Nach dem „E” ist das „O” an der Reihe, z.B. beim Umarmen der Puppe. | |||
==== '''·''' Das „U“ als Bewegung ==== | |||
Als Letztes wird mit der Parallelstellung der Beine das „U” errungen: Die Streckung der Beine ist mit sechs Monaten möglich; bis zum freien Stand im „U” dauert es meist noch ein halbes Jahr. | |||
=== ''Was Vokal- und Konsonantenübungen bewirken'' === | |||
Vokal- und Konsonanten-Eurythmie ist ein hilfreiches Instrument, wenn man täglich damit arbeitet. | |||
* '''Vokalübungen''' sind die Inkarnationshelfer des Ich par excellence. Durch sie „verselbsten” wir uns. Ein Erwachsener kann sein schwaches Selbstgefühl durch vokalisierende Eurythmie stärken. Mit Vokalübungen tun Sie den Kindern, aber auch sich selbst etwas Gutes – sie bringen ein Wohlgefühl in den Körper. | |||
* Mit Hilfe von '''Konsonantenübungen''', die im Stehen ausgeführt werden, kann das Gedächtnis verbessert und die Ausformung des Leibes unterstützt werden, können bei Kindern Fehlentwicklungen und Deformationen aufgelöst, kann anstelle dessen die richtige Form entwickelt werden. | |||
Ich beobachtete in der oben erwähnten Familie, wie sich die beiden Kinder trotz ihrer problematischen Vorgeschichte gesund entwickelten. Es war sehr schön, es selbst zu beobachten und davon zu hören. Ich führe diese positive Entwicklung auf die Persönlichkeit der Kinder, der Eltern, aber auch auf die Wirkung der Eurythmie, der bewussten, aktiven Handhabung des Ätherleibes, zurück. Dem Kind wird mit der Eurythmie etwas Gesundendes, Heilendes angeboten. | |||
=== ''Qualitäten der Vokale als Inkarnationshilfe'' === | |||
In einem Säuglingsraum wird manchmal Eurythmie gemacht, damit die Kraft der archetypischen ätherischen Leibergreifungsbewegungen auf die nachahmungsbereiten Kinder wirken kann. | |||
Diese Wirkungen müssen wir selbst auch kennenlernen. Eurythmie entspringt der Bewegungsfreude, der Geschlossenheit des Ich, dem inneren Wesen der Laute: Wir können | |||
* Bewunderung und Verehrung beim '''A''' empfinden | |||
* Ehrfurcht beim '''E''' | |||
* Selbstbehauptung beim '''I''' | |||
* liebevolles Umgreifen und Geschlossenheit beim '''O''' | |||
* „Ich suche mich im Geiste” beim '''U'''. | |||
Diese Qualitäten rufen das Wesen des Kindes herein in den Leib und erfüllen die Seele über die Bewegung mit Freude. | |||
''Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 3. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft'' | |||
== HEILEURYTHMIE ALS KÖRPERMEDITATION == | |||
''Was ist unter Körpermeditation zu verstehen?'' | |||
=== ''Meditative Aspekte der Heileurythmie'' === | |||
Die Heileurythmie hat einen rein meditativen Aspekt, aber auch den einer Körpermeditation. Denn jede Übung, die wir machen, können wir ebenso nur in Gedanken vollziehen. Wir können, wenn wir uns physisch nicht mehr gut bewegen können, dennoch die ätherischen Gliedmaßen bewegen. Das kann so stark wirken, dass man die Leibfreiheit seines aus dem kranken Organismus schon etwas herausgehenden Wesensgliedergefüges erlebt. | |||
==== '''·''' Variante 1 ==== | |||
Einige HeileurythmistInnen, ''Isabella de Jaager'' gehörte dazu, haben immer auch Meditationsübungen gegeben. Es sind Atemübungen, die aus der alten Esoterik stammten, wie z.B. die folgende: | |||
''„Die höchste Kraft des Geistes zieht mit dem Atem in mich ein.''“ | |||
Auf diesen Satz, den man still und langsam für sich denkt, atmet man ruhig und entspannt ein. | |||
''„Alle Kraft ruht in mir.''“ | |||
Auf diesen Gedanken und dessen Realisierung wird der Atem angehalten und ganz zur Ruhe gebracht. | |||
''„Von mir geht aus alles Gute, dessen ich fähig bin.''“ | |||
Ruhiges Ausatmen, gefolgt von einer weiteren Ruhepause vor Beginn der nächsten übenden Einatmung. | |||
Zu solch einer Meditationsübung sollte man sich entspannt und innerlich still hinlegen, man kann sie auch gut im Bett machen. | |||
==== '''·''' Variante 2 ==== | |||
Eine andere Möglichkeit der Durchführung nach ''Isabella de Jaager'' ist folgende: | |||
Bevor man eine Übung macht, sollte man zunächst an die Körperstelle denken, dann sich ganz zart die heilende Bewegung vorstellen und daraufhin erst anfangen sich zu bewegen. Die Intensität der Bewegung kann man im Laufe der Übung steigern und immer weiter steigern und ausgestalten. | |||
Am Ende der Bewegungssequenz sollte man wieder ruhig liegen und denken – ''„Ich habe bewegt“'' – und sich dabei vorstellen, wie die Durchblutungssteigerung langsam wieder abnimmt und wie das, was man getan hat, von der bewegten Körperstelle aufgenommen und auch an andere Organe weitergegeben wird. | |||
''Vgl. Vortrag „Vom Wesen der Heileurythmie als Herzorgan der Anthroposophischen Medizin“, Dornach, 1. Weltkonferenz für Heileurythmie, 30. Mai 2008'' |
Aktuelle Version vom 1. April 2025, 11:05 Uhr
Heileurythmie – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
HEILEURYTHMIE – HERZ DER ANTHROPOSOPHISCHEN MEDIZIN
Inwiefern kann Heileurythmie als das Herz der medizinischen Bewegung gesehen werden?
Heileurythmie und Bildebewegungen
Ein Grund, warum ich den Eindruck habe, dass die Heileurythmie das Herz der Anthroposophischen Medizin ist, hängt mit dem heutigen Medizinstudium zusammen: Das Medizinstudium ist durch und durch dem Geist der heutigen Zeit verpflichtet – einem Wissenschaftsverständnis rein materialistischer Art. Der Medizinstudent wird enorm belastet von all dem Wissen, das er im Grunde nicht versteht, nicht verstehen kann. Rudolf Steiner sagt über die Anthroposophie: „So sollen wir auf dem Wege der Anthroposophie ausgehen lernen von der Erkenntnis, uns erheben zur Kunst und endigen in religiöser Innigkeit.“ [1]
Das Belebende, das die Wissenschaft erlöst und verwandelt in echtes Verstehen, in intimes Begreifen, kann man ohne Eurythmie nicht kennen lernen. Warum? Weil Eurythmie das System der embryonalen Bildebewegungen ist.
Die Bildebewegungen des menschlichen Organismus kann ich nachahmen, indem ich Eurythmie mache. Ich kann sie aber in einem ersten Schritt auch nur denken: Ich kann einen Winkel, einen Punkt, eine Linie denken. Und dann kann ich das, was ich gedacht habe – Anthroposophie beginnt in allen Bereichen mit Wissen, mit dem Denken – auch tun, mit meiner ganzen Gestalt ausführen und erkenne: Mein Wille ist realisierter Gedanke. Ich trage wirklich die Schöpferkräfte dieser Welt in mir, nicht nur in meinem Denken als leibfreie ätherische Kompetenz, als ‚ewiges Leben', sondern eben auch als ‚vergängliches Leben', als Prozess, als Bildebewegung, als Geschehen, als Substanzprozess. Je mehr ich von diesen Prozessen erlebe, erfahre und verwirkliche, umso mehr sehe ich sie auch um mich herum und in anderen.
Gründe für Ausübung von Eurythmie in den Ausbildungen für Ärzte
Im Rahmen unserer Ärzteausbildungen haben wir folgende Gründe für die Ausübung von Eurythmie:
- die Schönheit von Eurythmie erlebbar zu machen
- den Ärzten auf diesem Wege einen Zugang zur Heileurythmie zu eröffnen
- Wahrnehmungsschulung durch Eurythmie anzubieten: Wer Eurythmie macht, lernt mit dem Herzen zu sehen, etwas sensibel zu verfolgen, z.B. einen Prozess an einer Pflanze.
Ihr könnt Euch kaum vorstellen, was für ein Augenöffner es ist, wenn man mit einer Gruppe von Ärzten, die das noch nie gemacht haben, in der allerersten Stunde der Ausbildung die geometrischen Grundformen übt – den Winkel, den Punkt, die Linie, den Kreis und die Parallelen, die sich im Unendlichen schneiden. Nachdem das eine Stunde lang geübt wurde, geht der Arzt hinaus in die Natur und sieht, wie Gott dort ‚geometrisiert’. Wie die Bäume unterschiedliche Gesten machen. Und dass es viele Punkte gibt, von denen ausgehend sich etwas ausdehnt – es fällt einem wie Schuppen von den Augen.
Die Prozesshaftigkeit wiederentdecken
„Jede Form ist eine zur Ruhe gekommene Bewegung", [2] sagt Rudolf Steiner. Mit diesem zur Erfahrung gewordenen Wissen kann ich alles, was sich gefügt und verfestigt hat, ebenso das, was sich kosmisch fügt, anschauen, auch eine Diagnose, und dabei die Prozesshaftigkeit, den Prozess der Menschengestaltung, empfinden. Von Heileurythmie und Eurythmie im Allgemeinen sagt Rudolf Steiner, dass sie den Willen wieder hereinbringen in die Menschheitsentwicklung. Sie bedeuten eine unermessliche Willensstärkung und Willenserziehung.
Auf der anderen Seite fördert Eurythmie das Denken mit dem Herzen, das mir offenbart, dass alles, was ich weiß, alles Gefügte und Geformte, ehemaliger Prozess ist und sich wieder verwandeln kann in Prozess, in Geschehen, in Metamorphose, in Entwicklung.
All das lernen wir im Medizinstudium nicht. Das müssten wir aber wissen, um Erkrankungs- und Gesundungsprozesse zu verstehen. Eurythmie hilft dem Arzt überhaupt erst Arzt zu werden. Denn ohne eine differenzierte Wahrnehmung des ätherischen Organismus kann man Anthroposophische Medizin gar nicht wirklich anwenden. Die eigene Erfahrung mit der Eurythmie und Heileurythmie ist der beste Weg, um die ätherischen Kräfte zu erfassen und handhaben zu lernen.
Herzenskultur als Medizin erkennen
Das Zentrum allen Ätherwirkens ist das Herz. Eurythmie ist nicht nur Willenserziehung, Willensoffenbarung und Leibergreifung, sondern auch reine Herzenssprache und Herzensoffenbarung. Das liegt nicht nur daran, dass die Eurythmie ihren Bildegesetzen nach dem Herzens-Lungen-Schlag entstammt. Es liegt vor allem daran, dass alles Künstlerisch-Prozesshafte mit dem Herzen gemacht werden muss. Man kann nicht ausdrucksvoll oder prozessorientiert Eurythmie machen, wenn man nicht mit dem Herzen dabei ist.
Was aber, wenn man nicht gelernt hat auf das eigene Herz zu hören, weil man nicht mit den eigenen Ängsten umgehen kann?
Wenn man immer Angst hat, etwas falsch zu machen?
Angst wird den Ärzten heutzutage antrainiert – immer auf der sicheren Seite zu sein. Dieses Angsttraining ist geradezu eine Gegenschule zu dem Wissen und der Tatsache, dass die einzig wahre Arznei Liebe ist. Angesichts dieser ahrimanischen Gegenschule der heutigen Zeit brauchen Ärzte die Heileurythmie und die Geisteswissenschaft, um das Liebesprinzip, die Herzenskultur, die einzig gesundende Arznei, wieder handhaben zu lernen.
Medizin und Heileurythmie brauchen einander
Das ist der Grund, warum es auch selbstverständlich ist, dass die Heileurythmie die Entwicklungsgeschichte der medizinischen Bewegung mit ihrer Hauptrepräsentantin Ita Wegman konsequent begleitet.
Das moderne Arzttum braucht Eurythmie, um sich öffnen zu können für das, was wirklich heilt, und um den kranken Organismus prozesshaft verstehen zu lernen. Dazu brauchen Ärzte auch das Gespräch mit den HeileurythmistInnen.
Die Tatsache des gegenseitigen Brauchens wird immer evidenter: Die HeileurythmistInnen müssen sich dazu durchringen, die Erkenntnisseite ihrer Therapie etwas mehr zu pflegen und die Ärzte müssen sich dazu bewegen lassen, von ihrem Wissensthron herunterzusteigen auf die Herzensebene. Sie müssen das, was sie wissen, auch wirklich verstehen wollen, indem sie es für sich in Prozess und Geschehen übersetzen und künstlerisch durchempfinden lernen.
Vgl. Vortrag „Vom Wesen der Heileurythmie als Herzorgan der Anthroposophischen Medizin“, Dornach, 1. Weltkonferenz für Heileurythmie, 30. Mai 2008
[1] Rudolf Steiner, Anthroposophische Gemeinschaftsbildung, GA 257, 1. Vortrag, 23.01.1923.
[2] Rudolf Steiner, Eurythmie als sichtbare Sprache, GA 279, 10. Vortrag, 10.07.1924.
ENTWICKLUNG DER HEILEURYTHMIE
Wie hat sich die Heileurythmie im Rahmen der anthroposophisch-medizinischen Bewegung entwickelt?
Welche Bereiche umfasst sie?
Aus der pädagogisch-therapeutischen Praxis entstanden
Heileurythmie, die therapeutische Eurythmie, arbeitet hochspezifisch, akkurat und genau. Rudolf Steiner setzte sie sehr bescheiden ein in den Vorträgen für die Ärzte und sagte, man werde nicht alles damit behandeln können, aber doch sehr vieles.
Das erste pädagogisch-medizinisch-anthroposophische Werk wurde von Rudolf Steiner 1907 herausgegeben, „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft“.[1] Fast auf jeder Seite wird von „gesunder Entwicklung“ gesprochen, von „Gesundheit“, von der „Überwindung von Krankheitstendenzen“. Prävention in Form von Erziehung, später ergänzt durch Selbstschulung und Selbsterziehung, der Königsweg der Medizin – ist bereits über 100 Jahre alt.
Im Rahmen ihrer Tätigkeit in der Waldorfschule fragte Elisabeth Baumann, die zusammen mit Karl Schubert die Hilfsklasse betreute, Rudolf Steiner immer wieder um Rat im Zusammenhang mit schwierigen Kindern und bat um spezielle therapeutische und eurythmische Übungen. Sie bekam bereitwillig Antworten – die Heileurythmie entstand so aus der pädagogischen Praxis heraus.
Erna van Deventer-Wolfram verfolgte später die Angaben zur therapeutischen Eurythmie zurück bis ins Jahr 1915 und davor: Von Anfang an ist das Werden der Eurythmie begleitet von Abwandlungen für deren therapeutische Anwendung. Und immer werden auch Laienkurse angeboten und entwickelt sich das pädagogisch-didaktische Element.
Prophylaktisches und heilend-erzieherisches Element
Das prophylaktische und das heilend-erzieherische Element begleiten die Entwicklung der Anthroposophischen Medizin in ihrer zweiten Etappe. Es ist kein Zufall, dass Ostern 1921 der Heileurythmiekurs[2] gegeben wird – integriert in den zweiten Kurs für Ärzte. Es ist das Jahr, in dem im Juni die heutige Ita-Wegman-Klinik und in Stuttgart von Otto Palmer die Stuttgarter Klinik begründet wurden. Das markiert den Schritt in der Entwicklung der Anthroposophischen Medizin, durch den nun – seit 1920, dem ersten Medizinerkurs – die Krankheitslehre entwickelt wird.
Zusammen mit der Wissenschaft von der Krankheit wird auch die Heileurythmie als neue Therapieform systematisch entwickelt. Sie wird so vollständig dargestellt, dass Rudolf Steiner ein Jahr später, als er nochmals gebeten wurde, über Heileurythmie zu sprechen, sinngemäß sagte: Eigentlich habe ich bereits alles gesagt.[3]
Ich kenne das von keinem anderen Zusammenhang, dass Rudolf Steiner schlicht darauf hinweist, er hätte schon alles zu einem bestimmten Thema gesagt. In diesen Vorträgen ist eigentlich alles drin, auch wenn wir bei der Arbeit damit ständig Neues entdecken.
Tonheileurythmie und weitere Entwicklungen
Ich bin besonders glücklich darüber, dass im Rahmen unserer 1. Weltkonferenz für Heileurythmie auch die Tonheileurythmie vorgestellt wurde, über die Rudolf Steiner im Heileurythmiekurs nicht spricht, sondern sie in einem anderen Vortragszyklus ausführt. Es gehört zu meinen ganz großen Hoffnungen, dass durch die Demonstration der Qualität ‚Tonheileurythmie' die Botschaft in 32 Länder hinausgeht und sich dieser ‚Bazillus’ Tonheileurythmie in Form einer ansteckenden Gesundheit fortpflanzt und überall ansiedelt. Denn natürlich gehört zu dem vollständigen Keim, in dem bereits alles enthalten ist, auch das Rhythmisch-Musikalische.
Die Heileurythmie ist noch nach vielen Richtungen hin weiterzuentwickeln: In den Qualitäten der Farbe, der Form, der Musik, der Fülle der Rhythmen usw. liegen noch ungehobene Schätze verborgen. Auch diese historischen Zusammenhänge weisen darauf hin, dass die Heileurythmie, diese zutiefst menschliche Eurythmie, wie der Urgrund oder Urzugang zu einem spirituellen Verständnis der menschlichen Organisation ist. Ohne dieses Verständnis, lässt sich die Anthroposophische Medizin nicht denken und praktizieren.
Heileurythmie ist das Herzstück. Sie selbst ist der reine Ausdruck von Herzlichkeit: Herzlichkeit im Umgang mit der Welt, Herzlichkeit im Umgang mit den Menschen.
Vgl. Vortrag „Vom Wesen der Heileurythmie als Herzorgan der Anthroposophischen Medizin“, Dornach, 1. Weltkonferenz für Heileurythmie, 30. Mai 2008
[1] Rudolf Steiner, Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit und deren Bedeutung für das heutige Leben, GA 55, 6. Vortrag.
[2] Rudolf Steiner, Heileurythmiekurs, GA 315.
[3] Ebenda, 8. Vortrag vom 28.10.1922.
MENSCHLICHE EURYTHMIE UND KEHLKOPF
Was bedeutet ‚menschliche Eurythmie‘?
Das Besondere an Kehlkopf und Gehör
Im ersten Vortrag des Heileurythmiekurses[1] finden wir nicht nur die Begriffe ‚hygienisch-therapeutische Eurythmie', ‚didaktisch-pädagogische Eurythmie', und ‚künstlerische Eurythmie‘, sondern auch den Begriff der ‚menschlichen Eurythmie'. Diese ‚menschliche Eurythmie’ entwickelt Rudolf Steiner am Kehlkopf. Sie ist jenseits von Kunst, Pädagogik und Therapie beheimatet – sie ist noch etwas viel Ursprünglicheres, Allgemeineres: Das rein Menschliche eurythmisiert im Kehlkopf, dem umgewendeten Hinterhaupt mit der Gehörregion.
Im Vortrag „Geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte zur Therapie",[2] der dem Heileurythmiekurs vorgelagert ist, schildert Rudolf Steiner, warum die Kehlkopf- und Gehörregion so besonders sind: Es ist genau dieser Bereich, in dem der physische Leib am allermeisten er selbst ist.
Entwicklungsschritte des physischen Erdeninstrumentes
Der Mensch hat sich dort ein physisches Erdeninstrument geschaffen:
- Die Gehörpartie ist wie eine Erinnerung an den Saturnzustand, als der Mensch noch wie ein Ohr war und seinen eigenen Herzschlag hörte.
- Aus dieser Hör-Tätigkeit bildete sich dann das Wärmeorgan, das auf- und absteigt und pulsiert in den Wärmeformen des alten Saturn.
- Heute ist es physisch verdichtet und ganz ausgestaltet als unser Herz, das Zentralorgan des Menschen.
- Die Metamorphose der am stärksten ausgeprägten physischen Form, der Hinterhauptpartie, findet sich in umgewendeter Weise im Kehldeckel wieder.
- An ihn schließen sich Kiefer und Sprechwerkzeuge an und die dort wunderbar eingebauten Stimmbänder mitsamt den Stellknorpeln, diesen feinen, gliedmaßenähnlichen Gebilden. Alles, was wir in Worten artikulieren, wird dort in genau umgekehrter Form, rückwärts gewendet, aktiv ausgeführt.
Vokalismus des Kehlkopfs
Im Kehlkopf finden wir – neben dem konsonantischen Aspekt, der sich in den feinen Bewegungen der Stellknorpel und den Spannungszuständen unserer Stimmbänder offenbart – die Vokale archetypisch eingezeichnet, quasi in das Herz dieses 'zweiten Menschen' eingeschrieben:
- das A in der Form des Kehldeckels,
- das O in den schönen Ringknorpeln um die Trachea herum, unserer Luftröhre,
- dann die Parallelität des U im gesamten Aufbau des Kehlkopfes und seiner Anhangsorgane,
- aber auch physiologisch-anatomisch in den kreuz- bzw. E-förmigen Muskelzügen
- und schließlich das I im vertikal stehenden Kehlkopf selbst.
Im Kehlkopf finden wir alle Vokale anatomisch-physiologisch eingezeichnet. Daran können wir merken: In der Eurythmie wird nur sichtbar gemacht, was uns als Körpergeometrie bereits ‚eingestaltet’ ist.
Vgl. Vortrag „Vom Wesen der Heileurythmie als Herzorgan der Anthroposophischen Medizin“, Dornach, 1. Weltkonferenz für Heileurythmie, 30. Mai 2008
[1] Rudolf Steiner, Heileurythmiekurs, GA 315.
[2] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin, GA 312, 1. Vortrag.
HEILEURYTHMIE BEIM KLEINKIND
Welchen unmittelbaren Bezug hat Heileurythmie zur Entwicklung des Kleinkinds?
Welche Bedeutung haben hier die Vokale?
Vokale und Inkarnationsbewegungen
In einer befreundeten Familie wurden zwei Kinder adoptiert: ein Säugling direkt nach der Geburt, dessen Mutter drogenabhängig war, und ein Kind, das schon einige Monate alt war. Bei beiden wurde von Anfang an Heileurythmie gemacht, jeden Morgen und jeden Abend – vor allem Vokale. Denn Vokale entsprechen den Inkarnationsbewegungen des Kindes im ersten Lebensjahr:
· Das „I“ als Bewegung
Die erste eigenaktive Bewegung direkt nach der Geburt, wenn der auf dem Bauch liegende Säugling den Kopf hebt und die Nackenmuskulatur streckt, entspricht dem „I”. Manchmal ist der Kopf so schwer, dass er bei diesem ersten Heben richtig wackelt. Im Laufe der Wochen und Monate kommt allmählich Spannung in die Muskulatur – das „I”.
Wer Eurythmie machen will, lässt sich zuerst ganz locker hängen und richtet sich dann langsam auf, bis er den Kopf ganz aus der Schwere befreit hat. Diese entscheidende „I”-Gebärde, die der Eurythmisierende zuletzt ausführt, ist beim Säugling die erste: Er ergreift seinen Leib zuerst in der Kopfregion. Was Kinder später mit Freude wiederholen, dieses Recken des Kopfes, wenn sie sagen können – Hier bin ich! – das haben sie als Erstes gelernt.
· Das „E“ als Bewegung
Sobald der Blick Gegenstände zu fixieren beginnt und die Sehachsen sich kreuzen, wird der nächste Laut errungen: Jetzt beginnt das Spiel mit den Fingern, die Selbstberührung, das gezielte Greifen – das „E”. Die Bewegungen des Kindes pendeln zwischen „E” und „I”, wobei das „I” immer gerichteter wird.
· Das „A“ als Bewegung
Allmählich öffnen und schließen sich auch die Arme; es dauert aber eine ganze Weile bis sie wirklich gerichtet geöffnet werden können – was dem „A” entspricht.
· Das „O“ als Bewegung
Nach dem „E” ist das „O” an der Reihe, z.B. beim Umarmen der Puppe.
· Das „U“ als Bewegung
Als Letztes wird mit der Parallelstellung der Beine das „U” errungen: Die Streckung der Beine ist mit sechs Monaten möglich; bis zum freien Stand im „U” dauert es meist noch ein halbes Jahr.
Was Vokal- und Konsonantenübungen bewirken
Vokal- und Konsonanten-Eurythmie ist ein hilfreiches Instrument, wenn man täglich damit arbeitet.
- Vokalübungen sind die Inkarnationshelfer des Ich par excellence. Durch sie „verselbsten” wir uns. Ein Erwachsener kann sein schwaches Selbstgefühl durch vokalisierende Eurythmie stärken. Mit Vokalübungen tun Sie den Kindern, aber auch sich selbst etwas Gutes – sie bringen ein Wohlgefühl in den Körper.
- Mit Hilfe von Konsonantenübungen, die im Stehen ausgeführt werden, kann das Gedächtnis verbessert und die Ausformung des Leibes unterstützt werden, können bei Kindern Fehlentwicklungen und Deformationen aufgelöst, kann anstelle dessen die richtige Form entwickelt werden.
Ich beobachtete in der oben erwähnten Familie, wie sich die beiden Kinder trotz ihrer problematischen Vorgeschichte gesund entwickelten. Es war sehr schön, es selbst zu beobachten und davon zu hören. Ich führe diese positive Entwicklung auf die Persönlichkeit der Kinder, der Eltern, aber auch auf die Wirkung der Eurythmie, der bewussten, aktiven Handhabung des Ätherleibes, zurück. Dem Kind wird mit der Eurythmie etwas Gesundendes, Heilendes angeboten.
Qualitäten der Vokale als Inkarnationshilfe
In einem Säuglingsraum wird manchmal Eurythmie gemacht, damit die Kraft der archetypischen ätherischen Leibergreifungsbewegungen auf die nachahmungsbereiten Kinder wirken kann.
Diese Wirkungen müssen wir selbst auch kennenlernen. Eurythmie entspringt der Bewegungsfreude, der Geschlossenheit des Ich, dem inneren Wesen der Laute: Wir können
- Bewunderung und Verehrung beim A empfinden
- Ehrfurcht beim E
- Selbstbehauptung beim I
- liebevolles Umgreifen und Geschlossenheit beim O
- „Ich suche mich im Geiste” beim U.
Diese Qualitäten rufen das Wesen des Kindes herein in den Leib und erfüllen die Seele über die Bewegung mit Freude.
Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 3. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft
HEILEURYTHMIE ALS KÖRPERMEDITATION
Was ist unter Körpermeditation zu verstehen?
Meditative Aspekte der Heileurythmie
Die Heileurythmie hat einen rein meditativen Aspekt, aber auch den einer Körpermeditation. Denn jede Übung, die wir machen, können wir ebenso nur in Gedanken vollziehen. Wir können, wenn wir uns physisch nicht mehr gut bewegen können, dennoch die ätherischen Gliedmaßen bewegen. Das kann so stark wirken, dass man die Leibfreiheit seines aus dem kranken Organismus schon etwas herausgehenden Wesensgliedergefüges erlebt.
· Variante 1
Einige HeileurythmistInnen, Isabella de Jaager gehörte dazu, haben immer auch Meditationsübungen gegeben. Es sind Atemübungen, die aus der alten Esoterik stammten, wie z.B. die folgende:
„Die höchste Kraft des Geistes zieht mit dem Atem in mich ein.“
Auf diesen Satz, den man still und langsam für sich denkt, atmet man ruhig und entspannt ein.
„Alle Kraft ruht in mir.“
Auf diesen Gedanken und dessen Realisierung wird der Atem angehalten und ganz zur Ruhe gebracht.
„Von mir geht aus alles Gute, dessen ich fähig bin.“
Ruhiges Ausatmen, gefolgt von einer weiteren Ruhepause vor Beginn der nächsten übenden Einatmung.
Zu solch einer Meditationsübung sollte man sich entspannt und innerlich still hinlegen, man kann sie auch gut im Bett machen.
· Variante 2
Eine andere Möglichkeit der Durchführung nach Isabella de Jaager ist folgende:
Bevor man eine Übung macht, sollte man zunächst an die Körperstelle denken, dann sich ganz zart die heilende Bewegung vorstellen und daraufhin erst anfangen sich zu bewegen. Die Intensität der Bewegung kann man im Laufe der Übung steigern und immer weiter steigern und ausgestalten.
Am Ende der Bewegungssequenz sollte man wieder ruhig liegen und denken – „Ich habe bewegt“ – und sich dabei vorstellen, wie die Durchblutungssteigerung langsam wieder abnimmt und wie das, was man getan hat, von der bewegten Körperstelle aufgenommen und auch an andere Organe weitergegeben wird.
Vgl. Vortrag „Vom Wesen der Heileurythmie als Herzorgan der Anthroposophischen Medizin“, Dornach, 1. Weltkonferenz für Heileurythmie, 30. Mai 2008