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Sinne und Sinnespflege: Unterschied zwischen den Versionen
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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | ||
== ALLGEMEINES ZUM THEMA SINNE == | |||
''Was macht die Sinneslehre so besonders und herausfordernd?'' | |||
''Inwiefern ist sie die Achillesferse sowohl der anthroposophischen Menschenkunde wie auch der schulmedizinischen Physiologie?'' | |||
=== ''Herausfordernde Sinneslehre'' === | |||
Rudolf Steiners Ausführungen zu den Sinnen machen einen großen Teil seines Werkes aus. Denn das Thema Sinne ist eine Art Achillesferse der Anthroposophischen Menschenkunde wie auch der schulmedizinischen Physiologie. In seiner Schrift ''„Anthroposophie, ein Fragment“'''[1]''''' schildert Rudolf Steiner die Sinneslehre als das erste Kapitel, ja sogar ''das'' Fundament der Anthroposophie. Warum? Weil auf diesem Gebiet die Grenzen eines reduktionistischen und materialistischen Weltbildes offensichtlich sind. Nirgendwo spürt man die Erkenntnis-Ohnmacht der heutigen anerkannten Wissenschaft so deutlich wie hier. Man weiß noch immer nur wenig über die vielfältigen Auswirkungen der Sinnestätigkeit auf die Verfasstheit des ganzen Menschen. Rudolf Steiner hoffte, dass jeder, der die Sinneslehre studiert, selbst bemerkt, dass der Geist real ist. Wenn wir dieses große Gebiet im Detail durcharbeiten, können wir einen gewaltigen Beitrag zur Überwindung des Materialismus in der Medizin leisten. | |||
=== ''Sinne als Öffnungen zur Umwelt'' === | |||
Wir sprechen von den Sinnen als von speziellen Öffnungen zur Umwelt hin. Jeder Sinn besteht aus sogenannten Rezeptoren oder Sensoren, die spezifisch gereizt werden müssen,[2] damit es zu einem echten Sinneseindruck kommt. Der sogenannte adäquate oder spezifische Reiz stimuliert dann ein bestimmtes Sinnesorgan. Jedes einzelne Sinneshaar ist nervös umsponnen wie von einer feinen Spindel. Und von jedem Haar geht ein feiner Nervenfortsatz aus, der sich nach innen hin mit anderen zu größeren Nervenleitungsbahnen vereinigt und ins Rückenmark mündet. | |||
Die Sinneseindrücke werden über das Nervensystem zum Rückenmark, zum Mittelhirn, zum Kleinhirn, und manche bis hin zum Großhirn geleitet. Je nachdem werden sie uns mehr oder weniger bewusst. Die Nerven unter der Regie des Astralleibes sind die Bewusst-Macher. Auf entsprechenden Abbildungen kann man sehen, wie die Nerven und die Organe aufeinander zu wachsen. Das allein verbietet den Kurzschluss, Gedanken würden durch Nerven hervorgebracht bzw. die Frage, wer wen bedingt. Denn es ist offensichtlich eine Wechselwirkung: Wenn es kein Organ gibt, wächst auch kein Nerv drauf zu. Und wenn kein Nerv vorhanden ist, verkümmern die Organe. | |||
Eine Übersicht vom Gesamtaufbau des Gehirns (zentrales Hirn, Rautenhirn, Stammhirn, Kleinhirn und Hypophyse) zeigt, | |||
* dass wir alle Sinneseindrücke, die ihre Repräsentationszonen an den Rindenfeldern haben, mit wachem Bewusstsein wahrnehmen. | |||
* Wenn Sinneseindrücke jedoch mehr in der Tiefe verarbeitet werden und nur an die Rinde ausstrahlen, wie Schmerz- oder Wärmeeindrücke, gibt es einen großen Spielraum in der Art, wie wir damit umgehen: Das zeigt sich daran, dass der Umgang mit Schmerzen und Wärme sehr individuell ist, ja regelrecht geschult werden kann. Andererseits merken wir auch viel weniger von der eigentlichen Verarbeitung. | |||
=== ''Jede Sinneserfahrung ist ein Tasten'' === | |||
In ''„Anthroposophie ein Fragment''“[3] sagt Rudolf Steiner gleich zu Anfang, der Tastsinn könne am allerwenigsten isoliert für sich betrachtet werden: Denn auch die Augen und die Ohren können tasten und die Wärme sei ebenfalls eng mit dem Tastsinn verbunden. Das kann jeder sehr gut im Selbstexperiment nachvollziehen, indem man sich fragt: | |||
''Inwiefern taste ich Farben und Formen ab?'' | |||
''Wo ertaste ich Klangqualitäten?'' | |||
Deshalb sagte Steiner: Alles Sinnliche an sich sei ein Tasten. Deshalb gebe es den Tastsinn als eigenen Sinn eigentlich nicht. Dennoch ordnet er dem Tastsinn zusammen mit dem Ich-Sinn später einen Ort zu. Damals war noch nicht erforscht, wie komplex der gesamte Sinneszusammenhang ist: Wie eng der Wärmesinn und die anderen Sinne miteinander verflochten sind und dass es keine klare Zuordnung gibt in Form von Wärmetastkörperchen, sondern dass die anderen Nervenendigungen an der Wärmewahrnehmung mit beteiligt sind. | |||
=== ''Tastsinn als Ur-Sinn'' === | |||
Unsere Körperoberfläche, die Haut, ist eine Art Ur-Sinn. Schon am Ende des zweiten Monats in der Embryonalentwicklung ist die Haut ein voll funktionsfähiges Tastorgan. Bereits der Embryo tastet schon alles nach innen und nach außen ab. Auch die Oberflächen unserer inneren Organe, die Schleimhaut wie auch die äußere Haut sind tastfähig. Sie bilden ein einziges großes Sinnesorgan zum Tasten, zum Wahrnehmen von Grenzen im Prozess des ständigen Sich-Weiterbildens, Weitergestaltens an der Grenze. | |||
Der Tastsinn kann als Prototyp eines Sinnesorgans gesehen werden. Denn lange bevor Auge und Ohr sich bilden, ist dieses Tasten bei Mensch und Tier schon aktiv aufgrund der Tatsache, dass ''jede'' Zelloberfläche sensibel ist: Das Wesen der Oberfläche ist Sensibilität. Deshalb kann bereits ein Einzeller die Umgebung durch die sensible Zelloberfläche wahrnehmen und kann auf mechanischen und auf chemischen Druck sowie auf Berührungsreize reagieren. Genau das tut auch schon die Eizelle: Erst im Zuge des Wachstums bilden sich spezielle Organe für die Wahrnehmung – die Nerven. Man kann sagen: Am Anfang war die Sensibilität, die sensible Zelle, der Sinn für die Grenze, das Tasten. | |||
''Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
----[1] Rudolf Steiner'','' ''Anthroposophie – Ein Fragment'', GA 45, II. Der Mensch als Sinnesorganismus, S. 33. | |||
[2] Ein unspezifischer Reiz liegt z.B. vor, wenn man einen Schlag auf den Kopf bekommt. Da reagiert man mit Schmerz und „sieht Sterne“, was jedoch mit einem echten Sinneseindruck nichts zu tun hat. | |||
[3] Siehe Fußnote 1. | |||
== PROBLEM DER VERNETZTHEIT DER SINNE == | |||
''Warum forschte Rudolf Steiner bis zuletzt an den Sinnen?'' | |||
''Womit hängen die Schwierigkeiten, die Sinne den entsprechenden Erfahrungsfeldern zuzuordnen, zusammen?'' | |||
''Was sagt die anthroposophische Sinneslehre diesbezüglich?'' | |||
=== ''Komplexe Sinneslehre als Herausforderung'' === | |||
Die Sinnesfelder werden fast alle zehn Jahre etwas anders benannt und beschrieben. Auch die heutige Physiologie beschränkt sich längst nicht mehr auf fünf Sinne: Man spricht von einem Kraftsinn, einem Lagesinn – alle möglichen Sinne werden wie „erfunden“ – was mit der hochgradigen Vernetzung der Sinnesfelder zusammenhängt. Das kann helfen, Rudolf Steiner besser zu verstehen: | |||
· Er sagte zu Anfang seiner geisteswissenschaftlichen Forschungen zu den Sinnen, die Haut wäre eine ganz peripher gelegene Sinnessphäre, ein riesengroßes Sinnesorgan, und deshalb wäre der Tastsinn mit allen anderen Sinnen vernetzt. | |||
· Später betonte er, es sei wichtig, dass wir in der anthroposophischen Sinneslehre die eigentlichen spezifischen zwölf Sinnesfelder klar zu bestimmen und zu unterscheiden lernen: Denn sie stellen unterschiedliche Erfahrungsfelder dar, die eng mit dem Makrokosmos und dem Tierkreis zusammenhängen. | |||
Und weil es auch für Rudolf Steiner nicht einfach war, diese Zusammenhänge erkenntnismäßig zu durchdringen, hat er bis zuletzt an der Sinneslehre gearbeitet. Er machte z.B. drei verschiedene Anläufe, die Sinne dem Tierkreis zuzuordnen: einmal unter dem Aspekt von Tag und Nacht, dann wieder unter dem Aspekt von Makrokosmos und Mikrokosmos. In seinem Notizbuch findet man Stellen, wo er einen Sinn durchstrich, einen anderen drüberschrieb. Das zeigt, wie er sich dem Thema immer wieder unter unterschiedlichen Aspekten näherte. | |||
=== ''Zusammenarbeit der Sinne'' === | |||
Steiner erkannte auch, dass es keine Sinneserfahrung gibt, bei der nicht mehrere Sinne zusammenwirken. Denn um ein Berührungserlebnis richtig interpretieren zu können, muss man schon bei den feinsten Bewegungen zusätzlich zum Tastsinn den Bewegungssinn, den Lebenssinn und den Gleichgewichtssinn betätigen. Laut Rudolf Steiner entspreche es dem Wesen des Urteilens, Erlebnisse immer durch das Zusammenspiel von mehreren Sinneserfahrungen, die sich gegenseitig erklären, zu beurteilen – nur dass dieser Vorgang im Falle der Sinneswahrnehmung weitgehend unbewusst und schnell abläuft, dass man sich dessen normalerweise nicht bewusst ist. | |||
Die Zusammenarbeit aller Sinne zeigt sich z.B. auch, wenn wir stolpern: Da arbeiten Gleichgewichtssinn, Bewegungssinn, Lebenssinn und Tastsinn unwillkürlich zusammen. Dass man nur ganz selten hinfällt, wenn man stolpert, liegt auch daran, dass im Kleinhirn das Stolpern bereits wahrgenommen wird und die Flucht-, Regulations- und Kompensationsmöglichkeiten der unteren Sinne greifen, bevor man überhaupt merkt, dass man gestolpert ist. Das ist die Gnade des Unbewussten. Es ist unser Glück, dass die Reize im unbewussten Kleinhirn landen und nicht an der Hirnrinde, wo wir erst nachdenken müssten und erst viel zu spät reagieren würden! Nein, hier spüren wir unmittelbar, dass das Leben bedroht ist: Der Gleichgewichtssinn sagt der Muskulatur, wie sie gegensteuern muss, damit man nicht stürzt, sondern sich wieder fängt. Eine fantastische überaus intelligente Kooperation! | |||
=== ''Kompensation einzelner Sinne'' === | |||
Wenn andererseits Bereiche z.B. des Tastsinnes ausfallen oder wenn das Bogengangsystem krank ist oder zerstört wird durch einen Unfall bzw. wenn Gleichgewichtssinn oder Tastsinn geschädigt sind, dann übernehmen Auge und Ohr die entscheidenden Funktionen der ausgefallenen Sinne. | |||
* Das Ohr kann über das ''Richtungs- und Entfernungshören'' die Gleichgewichtsfunktion übernehmen und feststellen, ob sich etwas hinter einem befindet. | |||
* Ähnlich kann das ''stereotaktische Sehen'' genützt werden. Räumliches Sehen wird ja gelernt, da hilft der Tastsinn dem Auge und das Auge dem Tastsinn. | |||
Eine gar nicht so einfache Gleichgewichtsübung aus der Eurythmie ist das U mit Gegenbewegung: Während ich die Arme parallel in der U-Geste nach unten führe, gehe ich zugleich langsam auf die Zehenspitzen: Während ich mich mit den Füßen immer höher und höher stemme, führe ich das U mit den Armen immer mehr in die Tiefe. Dann senke ich mein Gewicht langsam auf die Fersen, während die Arme parallel nach oben wandern. Mit offenen Augen kann das fast jeder ohne zu wackeln ausführen. Mit geschlossenen Augen kann man erleben, in wie hohem Maß das Sehen den Gleichgewichtssinn ersetzt, kompensiert und ergänzt. Denn mit geschlossenen Augen kann diese Übung nur ausführen, wer über einen gesund entwickelten Gleichgewichtssinn verfügt. | |||
=== ''Sinne als Erlebnisfelder erkennen'' === | |||
Einen anderen Blick auf die Komplexität des Themas Sinne gewinnen wir, wenn wir uns die Frage stellen, welche Gebiete des Daseins uns die einzelnen Sinne erschließen sollen oder wollen. Denn wir leben mit unserem Bewusstsein, mit unserem Denken, Fühlen und Wollen, dort, wofür wir einen Sinn (entwickelt) haben. Und wofür wir keinen Sinn haben, das erschließt sich uns auch nicht als Erlebnis. Und so ist es eben ein Unterschied, ob ich von einem Tastsinn, Bewegungssinn und Lebenssinn spreche, also von Tasten, Leben und Bewegen, oder ob ich von einem Kraftsinn spreche. Kraft ist etwas rein Übersinnliches. Kraft kann man nicht wahrnehmen, nur indirekt darauf zurückschließen. Wir müssen unterscheiden, dass wir andere Dinge sinnlich wahrnehmen, auf Kraft aber rückschließen, weil wir über Geisteskraft verfügen, die sich im Sinnlichen betätigt – und damit im Bereich der Interpretation landen. Allein das zeigt, dass ein großer Gesprächsbedarf zwischen anthroposophischen Ärzten und Vertretern der heutigen Physiologie besteht. | |||
Bis heute liegt noch keine wirklich vollständige anthroposophische Sinneslehre vor – trotz der schönen Ansätze von Wolfgang Michael Auer[1] und anderen. Eine anthroposophische Sinneslehre müsste zwölf Bände füllen! Für jeden Sinn müsste es einen Band geben, weil die ganzen Experimente und Forschungen bis hin zu den exakten Angaben, an welchen Tieren was exemplifiziert wurde, miteinbezogen werden müssten. Das ist ein riesen Forschungsgebiet für die Zukunft. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Bewegungssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
----[1] Wolfgang-M. Auer, ''Sinnes-Welten'', Kösel-Verlag 2007. | |||
== AUFGABE DER SINNE == | |||
''Welche Aufgabe haben die Sinne aus geisteswissenschaftlicher Sicht?'' | |||
In „Anthroposophie – ein Fragment“[1] ist zu lesen: ''„In anthroposophischer Beleuchtung darf alles dasjenige ein menschlicher Sinn genannt werden, was den Menschen dazu veranlasst, das Dasein eines Gegenstandes, Wesens oder Vorganges so anzuerkennen, dass er dieses Dasein in die physische Welt zu versetzen berechtigt ist.“'' | |||
=== ''Sinne als Schwelle zwischen physisch und geistig'' === | |||
Diese Worte Rudolf Steiners besagen, dass es um das Dasein, um das Wesen, um Vorgänge in der sinnlichen, der physischen Welt geht. Die Sinne sind gleichsam die Schwelle für das Ich, an der es zwischen der Sinneswelt und der Geisteswelt steht und an der es ganz klar unterscheiden lernt zwischen dem, was der physischen Welt und dem, was dem Seelisch-Geistigen angehört. Das heißt, die Sinnesorgane geben dem Ich die Möglichkeit, die Schwelle zur geistigen Welt als Schwelle überhaupt erst zu realisieren. Das muss so deutlich gesagt werden, weil unser Erleben als solches geistig-seelischer Natur ist: | |||
* Unsere '''Gedanken''' sind reine ätherische Kraft, sind übersinnlich. Noch kein Mensch – auch nicht der raffinierteste Sinnesphysiologe – konnte einen Gedanken sinnlich sichtbar machen. | |||
* Auch unsere '''Gefühle''' sind nicht sinnlicher Natur. Man behauptet ja, sie werden im Nervensystem, im limbischen System, durch Hormone und das, was die Hormone mit den Nerven machen, erzeugt. Das lässt sich jedoch nicht zeigen. | |||
=== ''Sinne als Werkzeuge der Verortung im Physischen'' === | |||
Einzig die Sinne sagen uns Menschen, ob eine Erfahrung in dieser Welt stattfindet oder ob wir uns im Übersinnlichen befinden. Sie sind die Organe, durch die dem Kind im Laufe von Wachstum und Reifung klar wird: Ich bin auf der Erde, ich bin nicht mehr in der geistigen Welt. In den ersten Lebensjahren wächst das Kind langsam aus der vorgeburtlichen Welt heraus und lernt die Dinge, Wesen und Vorgänge, die es eigentlich in sich erlebt, als in der physischen Welt befindlich zu erkennen. Alle kleinen Kinder sind hellsichtig, sie können nur nicht darüber sprechen. Aber man merkt es, wenn man sie beobachtet. | |||
Die Möglichkeit, Mensch zu werden, ein Wesen zu sein, das lernt sich selbst zu erkennen, sich selbst zu bestimmen und sich selbst zu entwickeln, verdanken wir der Sinneswelt, die uns dazu zwingt, Abstand zu nehmen vom Geist. Der Materialismus – hoch sei er gepriesen! – schneidet uns vom spontanen Wissen um den Geist ab. Die Sinne helfen uns, uns in dieser Welt der Objekte zu verorten und uns als verletzliches physisches Werkzeug zu erleben, das vergessen hat, dass es einen geistigen Ursprung hat. | |||
=== ''Geistige Erfahrung im Sinnlichen'' === | |||
Die Anthroposophie stützt sich auf die Sinnesfelder und ihre Erlebnisformen, um aufzuzeigen, dass wir es hier mit Realitäten, mit geistiger Erfahrung im Sinnlichen, zu tun haben – weswegen Rudolf Steiner die Sinneslehre das erste Kapitel der Anthroposophie nennt. Auf diesem Gebiet zeigt sich die Interpretationsschwäche des Materialismus in seiner „geistigen Dummheit“ besonders deutlich. Der Materialismus als Weltanschauung ist zwar sehr gut dafür geeignet, die in der physischen Welt stattfindende Destruktivität, Manipulation, aber auch Ursachen und Wirkmechanismen von Abhängigkeiten in einem sehr eng gesteckten Rahmen genau zu erforschen. Da gibt es nichts Besseres. | |||
Aber in dem Moment, in dem man etwas in einem größeren Zusammenhang verstehen will, kommt diese Weltanschauung sehr schnell an ihre Grenzen. Insofern kann uns die Vertiefung in die anthroposophische Sinneslehre als Werkzeug dienen, als Hebel für die eigene Erfahrung, die wir zur Annäherung an die geistige Realität brauchen. | |||
Alle Sinne sind reine Ich- und damit Willenstätigkeit. Die Sinnessphäre ist die wache Ich-Sphäre: | |||
* Ich nehme das Ich des anderen wahr. | |||
* Ich nehme die Gedanken des anderen wahr. | |||
* Ich nehme die Worte, die Ausdrucksweisen, die Körpersprache eines anderen Menschen wahr. Ich höre, ich sehe und erlebe Wärme usw. | |||
* Ich, ich, ich… | |||
Doch sind neben der Sinneserfahrung noch andere Interpretations- und Gedankenformen vonnöten, damit man sich als Individuum überhaupt in dieser Welt – nicht nur physisch, sondern auch seelisch und geistig – beheimaten kann. | |||
=== ''Denken als Sinn für Geistiges'' === | |||
In der geistigen Welt sind wir getragen von und geborgen in den Hierarchien. Wir leben zwischen Tod und Geburt ein Leben ohne Selbstverantwortung. Wir sind in der Verantwortungssphäre der höheren Hierarchien und können nur in dem Maß an der Vorbereitung unserer nächsten Biographie mitgestalten, in dem wir uns im letzten und im vorletzten Leben befähigt haben, die Hierarchien wahrzunehmen und uns ihnen erlebend gegenüberzustellen. Dazu müssen wir geistige Sinne für geistige Wesen entwickelt haben. | |||
Der schlichteste Sinn für Geistiges ist unser Denken, denn es ist bereits ein geistiges Tastorgan. Ein guter Gedanke beglückt mich, weil er mein Ich als geistige Wirklichkeit berührt. Gedanken sind wie sensible Zelloberflächen gegenüber der geistigen Welt. Das Ätherische (des Gedankenlebens) ist die Berührfläche zu dem, was sich geistig bis ins Ätherische herein offenbaren kann als Vision, als Imagination. | |||
Ein Sinn offenbart uns geisteswissenschaftlich gesehen den Geist von außen: Die ganze Schöpfung, die Taten Gottes, der Hierarchien, der Elementarwesen, sehen wir dank der Sinne von der materiellen Außenseite her. Und wenn ich den Sinnen vertrauen gelernt habe und mein Verstand mich wach erhält, kann ich erkennen, dass das, was seelisch-geistig in mir lebt und das, was mir über die Sinne von außen sichtbar wird, ein und dasselbe ist. Welterkenntnis wird zu Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis wird zu Welterkenntnis. | |||
=== ''Sinnesschulung aus anthroposophischer Sicht'' === | |||
Sinnesschulung unter dem definitorischen Diktum, was in anthroposophischer Beleuchtung ein Sinn ist, würde bedeuten, dass wir folgenden Gang antreten: vom Ich über die Seele (Astralleib) über das Leben (Ätherleib) zum Sinn (physischer Leib) und dadurch in die Begegnung mit etwas Sinnlichem: mit Farbe, Form, Klang, Geschmack, Geruch. Wir können ja sämtliche Sinne an der Farbe, am Ton etc. aktivieren. Das möchte ich am Beispiel des Tastens ausführen: | |||
''Was ertaste ich, bis ich zu der scheinbar materiellen Außenwelt komme?'' | |||
Über Farbe und Licht wird etwas offenbar, was mit der Seele Verwandtschaft hat. Im Johannes-Prolog heißt es sinngemäß: Wenn sich das Ich inkarniert, kommt es in sein Eigentum. Das Licht scheint in die Finsternis – in die Sinnlichkeit – und wenn es aufgenommen wird von dieser Sinnlichkeit, dann kann das Geistige, das sich in Licht, Farbe und Form im materiellen Dasein schaffend offenbart, sich wieder mit dem Seelisch-Geistigen im Menschen vereinigen. Der Mensch kann an der Außenwelt das Seeleninnere erkennen und kann mit dem so geweckten Seeleninneren dem Außen mit mehr Dankbarkeit, Freude, Respekt und Wachheit u.a.m. begegnen. | |||
''Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Anthroposophie – ein Fragment'', GA 45, II. ''Der Mensch als Sinnesorganismus'', S.31. | |||
== KÖRPERORIENTIERTE SINNE == | |||
''Welches sind unsere körperorientierten Sinne?'' | |||
''Welche Möglichkeiten der Pflege und der Schädigung gibt es?'' | |||
=== ''Die unteren Sinne'' === | |||
Die ersten vier Sinne, auch untere Sinne genannt, sind stark mit dem Körper und seinen Funktionen verknüpft. Die Wahrnehmung ist stark körperabhängig. | |||
==== 1. Der Tastsinn ==== | |||
Der wichtigste Sinn, vor allem in der ersten Lebenszeit, ist der Tastsinn. Sein Organ ist die Gesamtheit der inneren und äußeren Haut. | |||
''Welche Art von Selbsterfahrung verdanken wir dem Sinn, der uns unsere Körperperipherie bewusst macht?'' | |||
''Der die Grenzbestimmung des Leibes schlechthin ist?'' | |||
''Durch den wir uns überhaupt erst als ein von der Umwelt abgegrenztes Selbst erleben können?'' | |||
Der Tastsinn ist die Grundlage für unser Selbstbewusstsein. Denn solange man nicht spürt, dass man Grenzen hat, kann man sich nicht als autonomes Selbst erkennen. Wenn ich z.B. meine Handflächen aneinander lege, kommt es bei mir zu einer verstärkten Selbstwahrnehmung. Solange ich mich nicht berühre, bin ich mit meiner Aufmerksamkeit ganz bei Ihnen und habe nur eine sehr geringe Selbstwahrnehmung. Indem ich mich aber selbst anfasse, spüre ich mich selbst stärker und ziehe sofort meine Aufmerksamkeit von Ihnen ab. Der Tastsinn verstärkt die Selbstwahrnehmung, ermöglicht uns aber auch das unglaublich schöne Erlebnis, mit den Füßen den Boden zu ertasten und zu erfahren, dass der Boden uns stützt. | |||
Der Tastsinn vermittelt uns: Ich werde getragen, werde gestützt, bin geborgen. Ich habe eine Umwelt, die mich aufnimmt. Ich bin zwar isoliert innerhalb meiner Grenzen, aber ich bin zugleich auch geborgen. Ich bin als ein einzelnes Wesen aufgenommen in ein Ganzes. Das Gefühl, das aus dieser Selbsterfahrung durch den Tastsinn resultiert, ist Vertrauen in das Selbst, in die Existenz, in das Dasein, in die Existenzerfahrung schlechthin. | |||
Wenn mit dieser Tasterfahrung, wie im Falle der Kindsmisshandlung oder des sexuellen Missbrauchs, Unrechtserlebnisse und Grenzüberschreitungen zustande kommen, wird die Selbsterfahrung empfindlich gestört, sodass das Kind das, was es erlebt, tief ablehnen muss und kein Vertrauen daran entwickeln kann. Das führt bei der Entwicklung des späteren Selbstbewusstseins zu Uneinigkeit mit sich selbst und tiefer Verunsicherung. | |||
Zur Pflege dieses Sinnes ist es wichtig, dass ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt wird zwischen Geborgenheit und das Sich-selbst-überlassen-Sein. Wenn ich Kinder zu lange nur mit mir herum trage, haben sie es später schwerer, die für die Selbstständigkeit nötigen Einsamkeitserlebnisse zu machen. Wenn ich das Kind zu früh sich selbst überlasse, wird es sich ungeborgen fühlen. Ich muss also wechseln in einem möglichst angenehmen Rhythmus, damit das Neue sich immer angenehm erfrischend und belebend auf das erwachende Selbstbewusstsein auswirkt. | |||
==== 2. Der Lebenssinn ==== | |||
Der Lebens- oder Vitalitätssinn ist ebenfalls ganz stark mit dem Körper verbunden durch sein Organ, das vegetative Nervensystem. Es nimmt wahr, wie die Organe im Organismus zusammenarbeiten. Arbeiten sie harmonisch zusammen, ist das Erleben von körperlicher Harmonie und Übereinstimmung die Folge, körperliches Wohlbefinden. Arbeiten die Organe unregelmäßig oder liegt Hunger vor oder irgendein Mangel, dann meldet der Lebenssinn Unbehagen, Disharmonie, fehlende Übereinstimmung im Körper. Zur Pflege dieses Sinnes, die außerordentlich wichtig ist, sollte auf einen guten Wechsel zwischen Hunger und Sättigung geachtet und weder das eine noch das andere übertrieben werden. | |||
Durch den Lebenssinn kann der Mensch auf tiefgreifende Weise Harmonie erleben. So wie ihm durch den Tastsinn die Tatsache seiner Existenz erlebbar wird, so erlebt er durch den Lebenssinn, dass er eine in sich stimmige und harmonisch zusammenstimmende Ganzheit ist. Auch dieser Sinn hat eine weitreichende soziale Komponente. Der Lebenssinn hat nicht nur mit dem körperlichen Harmonieempfinden zu tun. Das Kind nimmt durch die tiefe körperliche Wahrnehmungsfähigkeit des Lebenssinns auch alle Unstimmigkeiten und Disharmonien in der Umgebung wahr. Ist der Lebenssinn nur mangelhaft entwickelt, leidet der Betroffene daran, nur mangelhaft mit sich und der Welt in Übereinstimmung kommen zu können. Je regelmäßiger und besser aufeinander abgestimmt der Tagesablauf ist, je harmonischer die Menschen im Umfeld des Kindes zusammenarbeiten und die Vorgänge ineinander greifen, umso aufbauender wirkt sich das auf die Selbsterfahrung des Kindes aus. | |||
Menschen, die von klein auf einen gut entwickelten Lebenssinn haben, bei denen ein gesundes Harmonieempfinden Teil ihres Selbstbewusstseins ist, können später in Bereichen arbeiten, in denen es um Ausgleich und Heilung geht. Sie haben die Fähigkeit, für ausgewogene Verhältnisse zu sorgen, haben einen feinen Sinn dafür, wo etwas fehlt und wie es ergänzt werden kann. Ärzte und Therapeuten brauchen einen gut entwickelten Lebenssinn. Wenn sie ihn nicht haben, müssen sie ihn entwickeln, um therapeutisch arbeiten zu können. Das Schöne ist ja, dass man durch Selbsterziehung vieles nachreifen lassen kann, was in der Entwicklung verabsäumt wurde. | |||
==== 3. Der Bewegungssinn ==== | |||
Der so genannte Bewegungssinn ist auch noch stark körperorientiert. Er stützt sich als Eigenbewegungssinn auf die Muskelspindeln, die Rezeptoren in den Muskeln. Mit ihm kann man die Qualität einer Bewegung im Raum unmittelbar wahrnehmen. | |||
Der Bewegungssinn bildet die Grundlage für die Ausbildung dessen, was später unser Freiheitssinn ist, ist die körperliche Verankerung dafür. Er ermöglicht die Erfahrung, dass der Mensch ein freies Wesen ist. Freiheit ist mehr als ein Wort. Bei der Beschreibung des Gelenksstatus spricht man von Freiheitsgraden, je nach Ausmaß der Beweglichkeit, ob es sich um ein Kugelgelenk oder um ein Scharniergelenk handelt. Schon Krabbelkinder gehen mit einem unbändigen Freiheits- und Untersuchungsdrang auf alles und jedes zu und reagieren total frustriert, wenn die Erwachsenen sie wegziehen, weil sie an irgendetwas geraten sind, das sie kaputt machen könnten. An ihrer Reaktion lässt sich ablesen, wie sehr sich das Durchkreuzen des freien Bewegungsimpulses des Kindes auf sein Selbstbewusstsein auswirkt. | |||
Wenn man heute Anamnesen der frühen Kindheit macht, zeigt sich oft ein großer Mangel an Sinneserfahrungen. Man muss aufpassen, dass man Eltern nicht zu sehr verstört, wenn die Nachfrage ergibt, dass enorme Defizite in Bezug auf die Lebenssinn- und Bewegungssinnpflege vorliegen. Vieles, was später an Zwanghaftem auftaucht, aber auch der Umstand, dass jemand nichts Rechtes mit sich anzufangen weiß, sind auf solche Defizite zurückzuführen, weil sich das Freiheitsgefühl nie richtig entwickeln konnte und die Betroffenen nie wirklich erleben durften: ''„Ich kann, was ich will“.'' Es erfordert im späteren Leben viel Arbeit an sich selbst, diesen Sinn nachreifen zu lassen. | |||
==== 4. Der Gleichgewichtssinn ==== | |||
Das Organ für den Gleichgewichtssinn liegt im Innenohr und hat die Aufgabe, die Lage im Raum zu bestimmen. Darüber hinaus ermöglicht der Gleichgewichtssinn die Erfahrung, dass es bei allen Bewegungen und Lageveränderungen im Raum auch einen Ruhepunkt gibt, in dem Gleichgewicht herrscht und von dem aus Veränderungen wahrgenommen werden können. Diese wichtige Selbsterfahrungskomponente bildet die Grundlage dafür, dass der Mensch später ein meditatives Leben führen kann oder jemanden anderen zur Ruhe zu bringen oder in Hypnose zu versetzen vermag. | |||
Kindern, die mit Stelzen laufen, wippen oder balancieren, oder auf Rillen zwischen den Pflastersteinen zu laufen versuchen, merkt man einen instinktiven Drang an, den Gleichgewichtssinn auszubilden. Sie wollen den Schwerpunkt finden, den Mittelpunkt des körperlichen Selbstbewusstseins. Sie machen beim Üben die Erfahrung: ''„Ich kann meinen Körper im Ruhepunkt halten, ich bin in mir zentriert.“'' Menschen, die ständig die Tendenz haben, ihre Sinne zu stimulieren, vermeiden genau diese Erfahrung, die sie nicht kennen, vor der sie Angst haben wie vor einem Abgrund. Vieles an dieser Nervosität und Unruhe, an dem Drang sich ständig irgendwelchen Pseudobeschäftigungen auszusetzen, kommt daher, dass Kinder heutzutage immer weniger Möglichkeiten haben, den Gleichgewichtssinn ausgiebig zu schulen, insbesondere in den ersten drei Jahren, aber leider auch in Kindergarten und Schule. | |||
=== ''Mit den unteren Sinnen verbundene Fähigkeiten'' === | |||
Die vier besprochenen körperorientierten Sinne sind die Grundlage für Eigenschaften, die sehr hohe spirituelle Qualitäten darstellen: | |||
* Existenzvertrauen, | |||
* Harmonie, Einklang mit dem Kosmos des eigenen Leibes, aber auch mit der Umwelt, | |||
* Freiheitsfähigkeit | |||
* und innere Ruhe. | |||
Das sind potenzielle Fähigkeiten des Ich, derer man sich bewusst werden muss, um sie bewusst verstärken zu können. Je mehr man von sich weiß, je tiefer man diese Eigenschaften in sich erlebt, umso stärker wird das eigene Selbst-Gefühl. Durch Sinnesschulung kann man eine Selbst-Stärkung erreichen, die weit über ein „gutes“ Selbstbewusstsein hinausgeht. | |||
''Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997'' | |||
== SEELENORIENTIERTE SINNE == | |||
''Welches sind unsere seelenorientierten Sinne?'' | |||
''Welche Möglichkeiten der Pflege und der Schädigung gibt es?'' | |||
=== ''Die mittleren Sinne'' === | |||
Die seelenorientierten Sinne, auch mittlere Sinne genannt, wirken sich mehr auf das Seelische, und darüber hinaus auch auf das soziale Miteinander und den Umgang mit der Welt, aus. Seelisches spielt sich immer zwischen den Polen von Sympathie und Antipathie ab. | |||
==== 1. Der Geruchssinn ==== | |||
Der Geruchssinn vermittelt uns auf existentielle Art Erlebnisse von Ekel und Wohlgefühl. Der Mensch kann geschüttelt werden bis zum Erbrechen, wenn er etwas Ekelhaftes riecht. Beim Riechen erlebt man eine Art Kommunion mit dem Geruchsstoff. Denn die Geruchswahrnehmung ist ein molekulares Sich-Verbinden: Die Duftstoffe gehen eine echte Verbindung mit den Rezeptoren ein. Das bedeutet eine echte Kommunion auf substantieller Ebene, an der das Gefühl ganz tief beteiligt ist. | |||
Unser Selbst macht die Erfahrung: Ich bin kommunionsfähig. Ich kann zerfließen, zusammenfließen mit dem Sein dieser Welt. Ich bin mit der Welt wesensmäßig verbunden. Mein eigenes Wesen, mein Körper ist im Erleben unmittelbar angeschlossen an das materielle Dasein meiner Umgebung. Die Kommunion vollzieht sich nicht nur mit dem Geist, sondern auch mit der Materie, mit allem. Das macht die Kommunionsfähigkeit des Ich erlebbar, die Wesensverbundenheit mit der Welt. | |||
==== 2. Der Geschmackssinn ==== | |||
Durch den Geschmackssinn, dessen Organ die verschiedenen Geschmacksknospen sind, wird das Sympathie-Antipathie-Erleben als wichtige Selbsterfahrung in sehr differenzierter Weise möglich und zunehmend verfeinert: Das Ich schmeckt, wo es sich mit der Welt vereinigen will und sagt daraufhin „ja“ zu dem Angebotenen und es schmeckt, wo es sich abgrenzen will und sagt deshalb „nein“. | |||
Wir verwenden in unserem Sprachgebrauch die Worte „schmecken“ und „riechen“ manchmal auch für soziale Erfahrungen, für Kommunionserfahrungen mit anderen Leuten: ''„Den oder die kann ich nicht riechen.“'' Oder: ''„Das schmeckt mir nicht.“'' Man meint damit eine soziale Situation, die einem nicht ganz geheuer ist, der man nicht ganz traut. Um seelisches Erleben auszudrücken, wird oft ein Begriff aus der Geschmacksphysiologie herangezogen. Ein differenziertes Geschmacksvermögen befähigt die Menschen im sozialen Miteinander dazu, sehr genau zu spüren, was sie mögen, was ihnen bekommt und was nicht. So seltsam das klingen mag – der Geschmacksinn ist der Vorbereiter für einen späteren sensiblen, geschmackvollen Umgang miteinander, für die Fähigkeit, Dinge und Situationen und Vorgänge sozial-ästhetisch zu beurteilen. | |||
Wenn Eltern sich oft aus Zeit- und Kraftmangel, vor allem in der frühen Kindheit, nur noch an dem orientieren, was ihre Kinder gerne essen, bilden sich dadurch sehr einseitige Nahrungsgewohnheiten heraus: Nudeln und rote Soße, Schokolade, eine bestimmte Sorte Kekse und roter Saft – einfachste Dinge, die es immer und ständig gibt. Dadurch kann sich keine breite Geschmackspalette oder eine differenzierte Sympathie-Antipathie-Erlebnisfähigkeit entwickeln. Was daran besonders schlimm ist: Kinder lernen nicht mehr ihre Antipathie-Erlebnisse zu bearbeiten und zu überwinden. Wenn bei dem, was ihnen „nicht unter die Nase geht“, wenn mit den Worten ''„Das will ich nicht, das mag ich nicht, das kann ich nicht“,'' immer sofort Schluss ist und keine weitere Auseinandersetzung mit dem Abgelehnten stattfindet, lernen sie nicht, wie man etwas Unangenehmes, eine Speise oder ein Problem, im wahrsten Sinne des Wortes „auskosten“ und „verdauen“ kann. | |||
===== ''Unangenehmes ist wichtig für die Selbsterfahrung'' ===== | |||
Für uns Menschen ist es wichtig, auch das Erleben von unangenehmen Qualitäten als eine wesentliche Form der Selbsterfahrung an der Welt anzunehmen. Durch Antipathie-Erlebnisse, durch das, was uns zunächst abstößt, wird gerade durch das Abstoßen unser Bewusstsein für Grenzen erhöht, werden wir uns unserer selbst mehr bewusst. An unseren unangenehmen antipathischen Erlebnissen erwachen wir, an den sympathischen Erlebnissen werden wir in uns selbst bestätigt. Aus ihnen lernen wir nichts Neues, sie geben uns aber Kraft, tun uns gut. Wir brauchen beides: die Wachheit, die durch verarbeitete Antipathie-Erlebnisse entsteht und die Kraft durch genossene Sympathie-Erlebnisse. Die Fähigkeit, beides zuzulassen, hängt direkt mit der ernährungsbedingten Geschmackserziehung zusammen, die unbedingt in den ersten Jahren der Gesamtprägung des Nervensystems und der Sinnesorgane stattfinden muss. Danach ist nur noch wenig nachzuholen, nur noch durch Verarbeiten im übertragenen Sinne. Denn in späteren Jahren lässt sich die Funktionsdynamik auf der körperlichen Ebene nur noch sehr schwer beeinflussen. | |||
Rudolf Steiner benutzte den Ausdruck „Anti-Appetite“: Man solle den Kindern helfen, ihre Anti-Appetite zu überwinden. Es kann hilfreich sein, die Regel einzuführen, dass das Kind auch von dem, was es nicht mag, zwei bis drei kleine Löffel essen muss. Wir hatten zuhause extrakleine Kaffeelöffel, die wir Kinder zum Essen mitnahmen, und haben mit ihnen unsere Pflicht-Löffel zu uns genommen. Es ist wunderbar, wenn Eltern ihren Kindern so etwas zugestehen. Alle wissen, worum es geht, die Kinder essen die geforderten drei Löffel voll und lernen alles zu verdauen. Das ist wichtig. Die ganze Angelegenheit mit Humor zu nehmen, ist ebenso wichtig und trägt zu einem guten Selbstbewusstsein bei. | |||
Im Johannesevangelium heißt es: ''„Ich bin die Tür“.'' Diese Worte sind ein Bild für eine bestimmte Form der Ich-Erfahrung: dass man als Mensch auf- ''und'' zumachen kann. Dass man sich bewusst zwischen Öffnen und Schließen zu bewegen vermag. Dass man beides beherrschen sollte. Wer nur den Umgang mit Sympathie-Erlebnissen pflegt, ist keine Tür, ist nicht souverän in beiden Richtungen, geht in der eigenen Führung nicht auf ''und'' zu. | |||
==== 3. Der Wärmesinn ==== | |||
Dieser Sinn, dessen Reize über die Haut wahrgenommen werden, hängt ebenfalls sehr stark mit dem Gefühl zusammen. Er lässt uns Temperaturdifferenzen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch sehr unterschiedlich empfinden. Auch der Wärmesinn wird heutzutage vielfach vernachlässigt, weil wir es mit einer kalten Kultur zu tun haben. Oft sagte ein Kind zu mir: „Nein, mir ist nicht kalt.“ Wenn ich daraufhin seine Hand anfasste, war sie kalt. Als Erklärung kam dann: „Das ist bei mir so. So fühle ich mich wohl. Ich mag es nicht, wenn Hände und Füße warm sind.“ Es ist manchmal sehr schwer, an diesem Empfinden etwas zu verändern: Wärme überhaupt ertragen zu lernen, Wärme als Qualität wieder schön finden zu können. | |||
Vor allem geht es darum, dass des Menschen Ich sich nicht „erkältet“. Wir sind als Ich-Wesen Wärmewesen. Unser Selbst ist seiner Natur nach warm. Wenn wir begeistert sind, „brennen“ wir für eine Sache, einen Menschen, eine Idee. Wer sein Ich nur in seiner Kühle, in seiner Fähigkeit, sich zu distanzieren erlebt, dessen Selbsterfahrung bleibt sehr einseitig. Unsere heutige Kälteerziehung fördert das Sich-abheben-Wollen von anderen, das Sich-Distanzieren, fördert die intellektuelle Entwicklung, die überall Kritik übt und dabei auf Distanz bleibt. Über die Sinnespflege können wir viel zur Überwindung dieser intellektuellen Kultur beitragen, in der Distanz, Antipathie und Kritiksucht in einseitiger Weise vorherrschen. Wir brauchen all die genannten Eigenschaften, aber in einem gesunden Maß. Wenn der Wärmesinn durch Einseitigkeit so gestört ist, dass er im Grunde genommen zu einem „Kältesinn“ verkommen ist, haben wir ein echtes Problem. | |||
Wärme und Kälte werden beide vom Wärmesinn erfasst. Wir nehmen damit Temperaturdifferenzen wahr und damit auch Kälte. Durch das Kultivieren unseres Wärmesinnes entdecken wir unsere Fähigkeit zu Wärmeäußerungen. Bäder, Einreibungen und Massagen können sehr dabei behilflich sein, nachträglich ein warmes behagliches Körperempfinden hervorzurufen. Dadurch kann der Mensch an sich selbst erleben: ''„Ich bin ein Wesen, das zur Wärme fähig ist.“'' Wir verfügen über körperliche, seelische und geistige Wärme, die dem menschlichen Selbst entspringt, dem Ich, das sich körperlich, seelisch und geistig verwirklicht. Körperlich erreichen wir das Ich über die Wärme, seelisch über Liebe und Sympathie, geistig über Themen, die uns begeistern, die das Ich unmittelbar ansprechen. | |||
==== 4. Der Hörsinn ==== | |||
Das Organ für den Hörsinn ist im Innenohr gelegen. Hören ist eine stark seelenorientierte Sinneserfahrung. Sie wird allerdings oft als solche verkannt, weil wir meinen, das Wichtige daran wären die Inhalte – die Musik, die Sprache, das Plätschern von Wasser, das Sausen des Windes, die ganzen Maschinengeräusche. Zu glauben, der Inhalt der Erfahrung wäre wichtiger als die Erfahrung an sich, ist ein Problem im Hinblick auf jede Sinneserfahrung. | |||
Wir müssen uns die Frage nach der Selbsterfahrung stellen, die durch das Grenzerleben des Hörens auftritt und durch unsere absichtsvolle Eigenaktivität beim Hören, um der tieferen Bedeutung dieses Sinnes für den Menschen auf die Spur zu kommen. Mir ist diese Bedeutung erst aufgegangen, als ich taubstumme Kinder zu behandeln begann. Ein taubstummes oder schwer hörbehindertes Kind ist bezüglich seiner Welterfahrung, bezüglich seines Selbsterlebens an der Welt, unverhältnismäßig stark auf das Auge angewiesen, das immer an der Oberfläche bleibt. In seiner seelisch-sinnlichen Selbsterfahrungsdimension hat ein taubes Kind dadurch ein Defizit – es kann mit seiner Wahrnehmung nicht in die Tiefe dringen. Für diese Kinder ist es sehr schwer, in ihrem seelischen Erleben Tiefe zu entwickeln. | |||
Wenn wir intensiv hören wollen oder müde sind und uns trotzdem konzentrieren wollen, schließen wir die Augen. Dabei kann man besonders deutlich erleben, dass man beim Hören in einen inneren Hörraum gelangt, dass das Hören diesen Raum eröffnet – man wird sich dabei seines seelischen Innenraumes gewahr. Dieses Tiefenerlebnis, das Erleben dieser Innendimension, ist ein Geschenk des Gehörs: Der herankommende Schall wird tatsächlich in die Tiefe geleitet und nicht wie beim Auge bloß reflektiert, also an der Oberfläche gespiegelt. Die Seele wird durch den Hörsinn als autonomer Bereich, als Innenraum, der sich verengen und weiten kann, erlebbar. Er vermittelt uns auf eindrückliche Weise die Selbsterfahrung, dass wir mit unserem Ich in einem seelischen Raum wohnen, in einem Bewusstseinsraum. | |||
Damit ist dieser Sinn, wie auch der benachbarte Gleichgewichtssinn, ein wesentlicher Grundsinn, um später meditativ arbeiten zu können, weil man sich dabei in diesem Seelenraum bewegt. | |||
''Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997'' | |||
== ERKENNTNISORIENTIERTE SINNE == | |||
''Welches sind unsere erkenntnisorientierten Sinne?'' | |||
''In welchem Zusammenhang stehen sie zu den unteren Sinnen?'' | |||
=== ''Die oberen Sinne'' === | |||
Es gibt noch vier weitere Sinne, auch obere Sinne genannt, die im Physischen höhere Wahrnehmungsfunktionen ermöglichen. Es sind die vier erkenntnisorientierten Sinne. | |||
==== 1. Der Sehsinn ==== | |||
Der Sehsinn wird den erkenntnisorientierten Sinnen zugerechnet, da unser ganzes Vorstellungsvermögen auf äußeren Eindrücken basiert und von ihnen genährt wird. Mit dem Auge nehmen wir die Welt um uns optisch wahr. Die Wahrnehmungen durch das Auge bleiben immer an der Oberfläche. Auch wenn wir perspektivisch sehen, sehen wir nur die Oberflächen. | |||
Der Sehsinn steht unserem Seelischen, unserem Gefühl, aber auch sehr nahe insofern, als wir nicht nur Formen und Bilder, sondern auch Licht und Farben wahrnehmen. Am äußeren Licht wird sich der Mensch seiner inneren seelisch-geistigen Lichtnatur bewusst. | |||
==== 2. Der Ich-Sinn ==== | |||
Der Ich-Sinn kann die Anwesenheit eines seelisch-geistigen Wesens, wie z.B. ein anderes Ich, im Physischen wahrnehmen. Dieser Sinn vermittelt dem Menschen, ob er ein Wesen vor sich hat, und gibt ihm auch Aufschluss darüber, welcher Art dieses Wesen ist. Dabei handelt es sich um eine sehr unmittelbare intuitive Sinneswahrnehmung. | |||
Das Sinnesorgan des Ich-Sinns ist zentralnervös oder sensorisch gesehen ganz eng mit dem Tastsinn verbunden. Denn der Ich-Sinn entwickelt sich als Organ, indem das Kind in den ersten Jahren Tasterfahrungen macht: Es ertastet durch die physische Grenzerfahrung hindurch die Mutter, den Vater, die Substanzen, die Dinge, die Materialien in seiner Umgebung. Das Kind erlebt dabei aber nicht nur die Beschaffenheit der äußeren Materie, sondern es erkennt durch den Tastsinn das Wesen der Dinge. | |||
Je intensiver ein Kind diese Wesenserfahrung machen kann, desto stärker ist auch die Erfahrung des eigenen Selbst am Wesen des anderen, die sich dem kindlichen Nervensystem einprägt. Diese Prägung wird später zum Wahrnehmungsorgan für das Wesensgefüge eines anderen Menschen. Man muss dann nicht mehr jeden umarmen, um ihn eindeutig als Wesen „ertasten“ zu können, obwohl das Umarmen in manchen Ländern üblich ist. Keine Umarmung kann so innig sein, dass man das Wesen eines anderen durch die Berührung allein erfassen könnte. Dazu hat man den Ich-Sinn. | |||
==== 3. Der Gedankensinn ==== | |||
Der dritte erkenntnisorientierte Sinn ist der Gedankensinn. Er macht es möglich, dass man, wenn gesprochen oder gelesen wird, das Sinngefüge von Worten sofort erkennen kann. Durch ihn bekommt der Mensch Zugang zum Sinn seiner eigenen Existenz. Dieser Sinn entwickelt sich an den Erfahrungen des Zusammenstimmens von ineinandergreifenden Funktionen und komplexen Prozessen durch den Lebenssinn, der darüber hinaus ja auch zuständig ist für das Erkennen von Sinnzusammenhängen in der äußeren Umgebung. | |||
Wie dieser Gedankensinn funktioniert, begriff ich erst richtig, als ich anfing Vorträge auf Englisch zu halten, in einer Sprache also, die ich nicht besonders gut beherrsche. Ich litt anfangs furchtbar darunter, komplizierte Gedanken in einfachen und, wie mir schien, nicht adäquaten Worten wiedergeben zu müssen. Ich war deshalb erstaunt, dass meine Zuhörer meinen Ausführungen meist trotzdem gut folgen konnten. Eine mit der Anthroposophie vertraute Kollegin sagte zu mir: ''„Du brauchst dich gar nicht so aufzuregen. Bei uns kannst du ziemlich alles sagen. Hauptsache, du verbindest mit dem, was du sagst, einen sinnvollen Gedanken. Denn wir haben einen gut ausgebildeten Gedankensinn. Wir kriegen mit, was du sagen willst, sogar wenn du die falschen Worte benützt.“'' | |||
Die Engländer lieben es, ihre Vorträge ohne Übersetzung von radebrechenden Referenten zu hören. Das liegt daran, dass das rationale Element in den romanischen Sprachen viel mehr durch die Grammatik und äußerst geschliffene Worte und Wendungen zum Ausdruck kommt, während es im Englischen nicht so stark an der Sprache haftet. Das hängt auch mit der englischen Sprache selbst zusammen, die sehr einfach strukturiert ist und über die man trotzdem hoch komplizierte Gedanken aussprechen kann. Das gibt einem die Möglichkeit, direkt durch Lautgestalten hindurch das Sinnhafte, den übersprachlichen, stimmigen Gedankenzusammenhang, zu erfassen. | |||
In romanischen Ländern ist das grundsätzlich anders. Ich probierte dasselbe in Frankreich und Spanien, weil ich auch Französisch und Spanisch spreche, und machte die Erfahrung, dass man mir dort viel schlechter folgen konnte. Nach dem ersten Vortrag wurde ich ganz liebenswürdig gefragt, ob nicht doch eine Übersetzung angeboten werden könnte. | |||
==== 4. Der Wortsinn ==== | |||
Der Wortsinn, der vierte erkenntnisorientierte Sinn, erfasst das ganz Individuelle, das über eine bestimmte Lautgestalt, die spezifische Physiognomie des Wortes, transportiert wird. Mithilfe des Wortsinns können wir den Sinn und die Aussage einer individuellen Lautphysiognomie, einer Bewegungsgestalt oder einer kleinen Bewegung in Form eines Wortes erfassen. Die Basis für die Entwicklung des Wortsinns bildet der Bewegungssinn. Das Erlernen differenzierter Bewegungen, z.B. von Gesten, aber auch von Mikrobewegungen beim Sprechen, bei der Lautbildung, führt zu Prägungen in den nervösen Strukturen, aus denen sich später der Wortsinn bildet. | |||
Der Wortsinn ist nicht nur an das gesprochene Wort gebunden. Er meldet mir, dass das Wort „love“ eine andere Qualität von Liebe vermittelt als „Liebe“, „amour“, „amore“. Diese Begriffe bezeichnen den gleichen Gedanken, aber was ich empfinde, wenn ich sie höre oder spreche, ist sehr unterschiedlich. Über den Lautsinn merken wir, dass die Übersetzungen von „Liebe“ unterschiedliche geistig-seelische Qualitäten benennen, dass in anderen Sprachen von anderen Seiten des gleichen Begriffs gesprochen wird. Engländer, Franzosen und Spanier sprechen von etwas ganz anderem, wenn sie von der Liebe reden. Ihre Empfindungsgrundlage ist eine andere: Liebe in der AU-Stimmung zu erleben, ist etwas völlig anderes, als in der IE-Stimmung wie die Deutschen. | |||
Der Wortsinn wird auch „Physiognomie-Sinn“ genannt, weil er sich auch auf das Erfassen von Zeichensprache und Mimik erstreckt. Er ist eine Art Individualitätssinn, der den Menschen befähigt, das ganz Spezifische von Worten und Bewegungen zu erfassen. Eurythmie kann als Bewegungsausdruck unmittelbar verstanden werden, weil der Wortsinn und der Gedankensinn ineinander greifend zusammenarbeiten. | |||
''Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997'' | |||
== ZWÖLF SINNESTÄTIGKEITEN – SINNESPFLEGE == | |||
Den im Folgenden zusammengestellten 12 Sinnestätigkeiten mit ihren wichtigsten Fördermöglichkeiten bzw. schädigenden Einflüssen liegt die Steiner‘sche Sinneslehre zugrunde:[1] | |||
=== SINNE, DIE VORZUGSWEISE DEN KÖRPER IN DIE SELBSTERFAHRUNG BRINGEN: === | |||
==== 1. DER TASTSINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Tastkörperchen und freie Nervenendigungen | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
Selbsterleben an der Körpergrenze durch Berührung, Geborgenheit durch Körperkontakt, Existenzvertrauen | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
* Wechsel zwischen Alleinsein und Geborgenheit, zärtlichem Köperkontakt und ruhigem sich selbst Überlassen-Sein: Loslassen-Können ist genauso wichtig wie In-den-Arm-Nehmen. | |||
* Insbesondere im Säuglings- und Kleinkindalter: Spielräume schaffen, wo das Kind tasten, untersuchen, entdecken kann | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Äußere Versorgung ohne wirkliches inneres Annehmen des Kindes | |||
* Zu viel Geborgenheit oder zu viel Alleingelassen-Sein | |||
* Berühren als Übergriff ohne Respekt vor der leiblich-seelischen Integrität des Kindes | |||
==== 2. DER LEBENSSINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Vegetatives Nervensystem | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
Behaglichkeit, Harmonie-Erleben, Empfinden, dass die Vorgänge zusammenstimmen | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
* Rhythmischer Tagesablauf | |||
* Zuversichtliche Lebensstimmung | |||
* Erleben von richtigem Maß und richtigem Zeitpunkt, d.h. von Ordnungen, die stimmig sind | |||
* Freudige Stimmung beim Essen | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Streit, Gewalt, Ängstigung, Hetze, Schreck, Unzufriedenheit, Maßlosigkeit, Nervosität; | |||
* Beziehungslosigkeit der Handlungsabläufe zueinander | |||
==== 3. DER EIGENBEWEGUNGSSINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Die Muskelspindeln | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
Wahrnehmung der eigenen Bewegung, Freiheitserlebnis und Gefühl der Selbstbeherrschung infolge der Beherrschung des Bewegungsspiels | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
* Kinder selber tätig werden lassen | |||
* Das Kinderzimmer so einrichten, dass alles angefasst werden kann und freies Spiel möglich ist | |||
* Sinnvolle Bewegungsabläufe | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Kinder auf Schritt und Tritt mit bestimmten Regeln oder Verboten verfolgen | |||
* Fehlende Anregung zum Tätig-Werden durch Passivität oder Abwesenheit von Vorbildern Bewegungsstau vor dem Bildschirm | |||
* Umgang mit automatischem Spielzeug, das die Kinder zu Zuschauern macht | |||
==== 4. DER GLEICHGEWICHTSSINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Bogengangsystem in der Nähe des Innenohrs | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
Erleben von Gleichgewicht, Ausgleich, Ruhepunkte, Selbstvertrauen | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
* Bewegungsspiele, Wippen, Stelzenlaufen, Springen, Laufen etc.; Ruhe und Sicherheit im Umgang mit dem Kind | |||
* Streben nach innerem Gleichgewicht seitens des Erwachsenen | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Bewegungsarmut | |||
* Innere Unruhe, Ruhelosigkeit | |||
* Depression, Resignation, Lebensüberdruss | |||
* Innere Zerrissenheit | |||
=== SINNE, DIE VORZUGSWEISE DAS SEELISCHE ERLEBEN AN DER UMWELT IN DIE SELBSTERFAHRUNG BRINGEN: === | |||
==== 5. DER GERUCHSSINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Riechschleimhaut in der Nasenwurzel | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
Verbundenheit mit dem Duftstoff | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
Differenzierte Geruchserlebnisse aufsuchen an Pflanzen, Nahrungsmitteln, in Stadt und Land | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Schlecht belüftete Räume | |||
* Geruchsbelästigungen | |||
* Ekelerregende Eindrücke und Verhaltensweisen | |||
==== 6. DER GESCHMACKSSINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Geschmacksknospen in der Zungenschleimhaut | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
Zusammen mit dem Geruchssinn differenzierte Geschmackskompositionen aus süß, sauer, salzig, bitter | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
* Eigengeschmack der Nahrungsmittel durch Art der Zubereitung hervortreten lassen | |||
* „Geschmackvolle" Beurteilung von Menschen und Dingen | |||
* Ästhetische Gestaltung der Umgebung | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Geschmacksverstärker, künstliche Aromen, „Ketchup-Missbrauch": Alles schmeckt ähnlich | |||
* Geschmacklose Bemerkungen | |||
* Taktlosigkeit | |||
* Unästhetische Umgebung | |||
==== 7. DER SEHSINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Auge | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
Licht- und Farberleben | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
* Aufmerksam machen auf die feinen Farbunterschiede in der Natur | |||
* Das Vorbild des eigenen Interesses daran | |||
* Harmonische Farbzusammenstellung bei der Bekleidung und Wohnungseinrichtung | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Fixierung durch destruktive oder „dumme" Bilder | |||
* Grelle Farben | |||
* Fernseh- und Computer-Abusus | |||
* Düstere Stimmung | |||
* Interesselosigkeit | |||
* Farblos-triste Umgebung | |||
==== 8. DER WÄRMESINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Wärme- und Kälte-Rezeptoren | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
Wärme- und Kälte-Erleben | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
* Pflege des Wärmeorganismus durch altersentsprechende Bekleidung | |||
* Verbreitung seelischer und geistiger Wärme | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Übertriebene Abhärtungsmaßnahmen | |||
* Überheizte Räume | |||
* Unzureichende Bekleidung | |||
* Kalte, unpersönliche Atmosphäre | |||
* Übertriebene oder unechte „Herzlichkeit" | |||
=== SINNE, DIE DER SEELISCH-GEISTIGEN WAHRNEHMUNG UND SELBSTERFAHRUNG DIENEN: === | |||
==== 9. DER HÖRSINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Ohren | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
Tonerlebnisse; Erschließen des seelischen Innenraumes | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
* Singen | |||
* Klassische Musik hören, spielen, insbesondere Bach, Händel, Haydn, Mozart (live, wenn irgend möglich) | |||
* Beim Erzählen und Vorlesen von Geschichten die Geschwindigkeit des Sprechens der Aufnahmefähigkeit der Kinder anpassen | |||
* Warten, damit innere Bilder, Tongedächtnis und Wortklänge entstehen können | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Akustische Überforderung insbesondere durch Medien (zu laut, zu schnell, zu lang, nicht persönlich-menschlich) | |||
* Oberflächliches Daherreden | |||
* Unmenschlicher Tonfall | |||
==== 10. DER WORTSINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Bildet sich infolge der Wahrnehmung von Bewegungsabläufen und Sprachwahrnehmungs-Prozessen als Sinn für Wahrnehmung von Ganzheiten | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
* Gestalt- und Physiognomie-Erleben (Gestaltsinn) | |||
* Erfassen von Körpersprache und Lautgestaltung eines Wortes | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
* Warmer, herzlicher Tonfall | |||
* Auf Gesten und Körpersprache achten | |||
* Inneres Erleben in Übereinstimmung bringen mit den Äußerungen, da sonst unwahre Eindrücke entstehen | |||
* Sinn für individuellen Ausdruck haben | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Mangelndes Übereinstimmen von Wort und Handlung | |||
* Kühles, neutrales Verhalten, bei dem das Kind nie recht weiß, ob die Eltern fröhlich, traurig, zugewandt oder in Wirklichkeit abwesend sind | |||
* Doppelbödiges Reden, bei dem Inneres und Äußeres nicht zur Deckung kommen | |||
==== 11. DER GEDANKENSINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Bildet sich infolge der komplexen Wahrnehmung der Lebensvorgänge, der „Stimmigkeiten" und „Unstimmigkeiten" in der Umgebung | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
Unmittelbares Sinnerfassen eines Gedankenzusammenhanges | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
* Pflege der Wahrhaftigkeit und Stimmigkeit | |||
* In Bezug bringen der Dinge und Vorgänge zueinander | |||
* Erleben von Sinnzusammenhängen in der Umgebung | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Sinnlose Handlungen | |||
* Verworrenes, unkoordiniertes Denken | |||
* Stimmungsabhängiges Verdrehen von Sinnzusammenhängen | |||
==== 12. DER ICH-SINN ==== | |||
===== Sein Organ: ===== | |||
Bildet sich infolge der Tast- und Berührungswahrnehmung an der eigenen Körpergrenze als Organ zur Gesamtwahrnehmung der Kraftgestalt des anderen | |||
===== Er vermittelt: ===== | |||
Wesenserfahrung, unmittelbares Erleben und Erkennen des anderen Menschen als „Ich" | |||
===== Hinweise zur Pflege: ===== | |||
* Frühes Ertasten und Erleben der liebevollen Bezugsperson | |||
* Liebe der Erwachsenen untereinander und zum Kind | |||
* Begegnungs- und Besuchskultur | |||
* Den anderen wirklich wahrnehmen (das „Du" Martin Bubers) | |||
===== Schädigende Einflüsse: ===== | |||
* Desinteresse, Nichtachtung, in Abwesenheit schlecht über andere reden | |||
* Medienkonsum und Umgang mit virtuellen Realitäten, bei denen keine reale Wesenserfahrung gemacht werden kann | |||
* Materialistische Vorstellungen vom Menschen | |||
''Vgl. 1. Kapitel, „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband, Verlag am Goetheanum, derzeit vergriffen'' | |||
----[1] Christoph Lindenberg, Rudolf Steiner, Themen aus dem Gesamtwerk (TB Nr. 3) - Zur Sinneslehre, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004. | |||
== ZWÖLF QUALITÄTEN DER SELBSTERFAHRUNG == | |||
''Wie lassen sich die zwölf Sinnesqualitäten beschreiben?'' | |||
''Welche Nachreifungsmöglichkeiten gibt es?'' | |||
=== ''Welcher Sinn wozu befähigt'' === | |||
Alle Sinne zusammengenommen, ermöglichen zwölf Qualitäten der Selbsterfahrung. Im Folgenden werden sie, beginnend mit dem zwölften Sinn, kurz charakterisiert: | |||
* Bewusstwerdung der eigenen ''Individualität'', der eigenen, ganz spezifisch geformten Physiognomie durch den '''Wortsinn''' | |||
* Erkennen von ''Sinn und Stimmigkeit'' in mir, von meinem Platz in der Welt durch den '''Gedankensinn''' | |||
* Erkennen der eigenen ''Wesenhaftigkeit'' durch den '''Ich-Sinn''' | |||
* Bewusstwerdung der eigenen ''Lichtnatur'', des eigenen inneren Lichtes, durch den '''Sehsinn''' | |||
* Erleben der ''Wärmenatur'' des Ich, der inneren Wärme, durch den '''Wärmesinn''' | |||
* Erleben des eigenen ''Seelenraumes'' durch den '''Hörsinn''' | |||
* Erleben der Fähigkeit ''„Ja“ und „Nein“'' zu sagen durch den '''Geschmackssinn''' | |||
* Erleben der eigenen ''Kommunionsfähigkeit'' mit der Welt durch den '''Geruchssinn''' | |||
* Spätere Entwicklung von ''innerer Ruhe'' durch den '''Gleichgewichtssinn''' | |||
* Spätere Befähigung zur ''Freiheit'' durch den '''Bewegungssinn''' | |||
* Spätere Fähigkeit, ''Harmonie'' zu erleben, durch den '''Lebenssinn''' | |||
* Spätere Entwicklung von ''Existenzvertrauen'' durch den '''Tastsinn''' | |||
=== ''Nachreifungsmöglichkeiten auf drei Ebenen'' === | |||
Bei Beratungen ist es wichtig herauszufinden, wie umfassend das Selbstbewusstsein eines Menschen ausgebildet ist, bzw. versuchen zu hören, wo es im Bereich ''der körperorientierten Sinne'' Mängel und Defizite geben könnte. Beim Vergleichen des Mitgeteilten mit den genannten zwölf Qualitäten kann man deutlich erkennen, in welchen Bereichen Mangelzustände vorliegen. Neben allem, was man sonst therapeutisch unternimmt, besteht die schöne Möglichkeit, mit dem Klienten oder den Eltern eines Kindes gemeinsam zu überlegen, wie man die fehlende(n) Qualität(en) durch Eigentätigkeit, sprich durch spezifische Sinneserfahrungen, erwecken kann. Dass dabei die künstlerischen Therapien eine Riesenrolle spielen, liegt auf der Hand. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, mangelhaft ausgebildete Sinnesqualitäten in der künstlerischen Arbeit zu erüben. | |||
Auch die Eurythmie bietet wunderbare Schulungsmöglichkeiten. Man betätigt bei der Ausübung alle zwölf Sinne, der ganze Mensch bewegt sich selbst und erlebt andere Menschen, die sich mitbewegen, man tastet bestimmte Formen ab und allem, was man macht, liegt ein sinnvoller Gedanke zugrunde, der durch eine individuelle Lautgestalt zum Ausdruck kommt, egal ob es sich um Laut- oder Toneurythmie handelt. | |||
Die ''erkenntnisorientierten Sinne'' kann man in der meditativen Arbeit entwickeln und verfeinern in Verbindung mit der Schulung der körperorientierten Sinne. | |||
Die ''seelenorientierten Sinne'' kann der Mensch im Gespräch im Rahmen einer Familientherapie oder einer Unternehmensberatung nachschulen, wo er lernt, taktvoll auf den anderen zu achten. Es gibt viele soziale Übungsprogramme, die helfen, Mängel im Bereich der mittleren Sinne nachträglich auszugleichen. Nur wenige Erwachsene erwerben heutzutage noch die benötigte Reife in der Kindheit. Deshalb brauchen wir die Möglichkeiten von Supervision, Systemische Therapie und Unternehmensberatung in allen Bereichen bis in Familien- und Klassenstrukturen hinein. | |||
''Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997'' | |||
== GRUNDLEGENDES ZUM TASTSINN == | |||
''Wozu befähigt uns der Tastsinn?'' | |||
''Was ist seine Aufgabe im Zuge der Entwicklung?'' | |||
=== ''Tastsinn zur inneren Wahrnehmung des Ich'' === | |||
Vorab ein Zitat von Rudolf Steiner zum Tastsinn: ''„Dieser Tastsinn ist eigentlich dazu bestimmt, dass wir unser Ich, ganz geistig gefasst, das vierte Glied unseres Organismus, geistig ausstrecken durch unsern ganzen Körper. Und die Organe, welche die Organe des Tastsinns sind, geben uns eigentlich ursprünglich im inneren Erleben unser Ich-Gefühl, unsere innerliche Ich-Wahrnehmung.“'''[1]''''' | |||
Vor dem Sündenfall, in der vorlemurischen Sonnenzeit, vor der luziferischen Versuchung, war der Tastsinn dazu bestimmt, uns über die Organe, als Organe des Tastsinns, im inneren Erleben unser Ich-Gefühl, eine innere Wahrnehmung von unserem Ich, zu ermöglichen, das sich geistig über den ganzen Körper ausstreckte. Durch die luziferische Versuchung wurde der Tastsinn zum Sinn, der uns hilft, unseren physischen Leib in seiner Verbundenheit mit der Sinneswelt wahrzunehmen, sodass wir uns vergessen und für die Welt erwachen. Dadurch erwerben wir ein individuelles Bewusstsein an der Welt. Mit der geschilderten Ur-Veranlagung hängt zusammen, dass der Ich-Sinn, die Ich-Wahrnehmung des anderen, eine Metamorphose des Tastsinns ist. | |||
=== ''Arten und Funktion der Tastkörperchen'' === | |||
Das Tastsinnorgan wird seit etwa 100, 150 Jahren erforscht – die ganze Wissenschaft ist noch nicht älter. D.h. zu Rudolf Steiners Lebzeiten begann sich die Forschung auf diesem Gebiet gerade erst zu entwickeln. Besonders vier Forscher sind zu erwähnen: Merkel, Ruffini, Vater Pacini und Meissner. Die von ihnen entdeckten Tastkörperchen ermöglichen unterschiedliche Tastempfindungen: | |||
* So reagieren die ''Merkelschen Scheiben'' auf '''Druckintensität''' von genau lokalisierten Berührungen | |||
* ''Ruffini-Körperchen'' auf '''Dehnungsreize''' | |||
* ''Vater-Pacini-Lamellenkörperchen'' auf '''Vibration''' | |||
* ''Die Meissner-Körperchen'' reagieren auf '''Druckveränderungen''' | |||
Durch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Berührungs- und Druckrezeptoren können Intensität, Dauer und Bereich der jeweiligen Berührung genau bestimmt werden. Wärmerezeptoren und Kälterezeptoren ermöglichen die Temperaturempfindung. Die freien Nervenendigungen empfangen Berührungs- und Schmerzreize. | |||
Dazu gibt es eine schöne Zahl: Man schätzt, dass wir zwischen drei und sechshundert Millionen Tastkörperchen in der Haut haben. Das entspricht der Zahl der derzeit in der EU lebenden Bürger, inkl. Flüchtlinge. Man kann das alles nicht sehen, es ist untersinnlich, aber man kann sich vorstellen, was für eine unendliche Fülle das ist! | |||
=== ''Rätsel der Tasterfahrung'' === | |||
In höchstem Maße unverständlich ist jedoch die elementare Tatsache, dass und wie aus solchen Scheiben, kleinen Körperchen und freien Nervenendigungen die ganze Fülle unserer Tasterfahrungen wird. Dass Blinde mithilfe dieser vier Arten von Tastkörperchen genauso schnell lesen können wie wir, ist schwer nachvollziehbar. | |||
Am Beispiel des Tastsinns erkennen wir deutlich, dass die Sinneslehre ein Gebiet ist, bei dem wir die Brücke zwischen dem Reiz, was wir als Tastorgan, als Nervenendigung, speziell geformt für den adäquaten Reiz, kennen und dem Reichtum an Sinneserfahrungen als seelischem Erlebnis nicht schlagen können. In der Physiologie nennt man diese nicht bekannte Brücke „Black Box“. In dieser Black Box, für die man hypothetisch ein materielles Substrat annimmt, sollen aus den adäquaten Reizen für die Sinnesorgane die seelischen Bewusstseinserlebnisse werden. Allein wenn man sich überlegt, dass wir uns nicht von jedem Menschen streicheln lassen wollen: Der Tastsinn vermittelt uns beim einen den siebten Himmel und beim anderen Ekel und Abscheu. Den Unterschied aber vermittelt uns nicht das Sinnesorgan! Die Sinne ermöglichen uns nur die Gewissheit, dass ein Erlebnis in der Sinneswelt stattfindet. Das Erlebnis selber aber resultiert aus bzw. basiert auf einer übersinnlichen Verbundenheit mit etwas in der Welt. | |||
Der Heidelberger Neurophysiologe und Neuropsychologe Thomas Fuchs beschreibt in seinem Buch „Das Gehirn ein Beziehungsorgan“[2], dass sich die Hirnreifung beim Kind dank der Sinne über die Beziehung zur Welt und zum eigenen Körper vollzieht, dass sich daran erst das Gehirn bildet. Sprich: Das Gehirn ist Ergebnis unserer Sensorik. Es ermöglicht sie, „macht“ sie aber nicht. Es wird durch unsere Erlebnisse geprägt, formt sie aber nicht, obgleich durch seine Tätigkeit ein Spiegelbewusstsein, eine „Reflexion“ davon entsteht. | |||
=== ''Brücken zwischen Geist und Materie'' === | |||
Wir sollten uns die Brücken zwischen Geist und Materie noch einmal neu vergegenwärtigen: | |||
* '''Wärme''' ist die sinnlich erfahrbare Brücke, | |||
* die rein übersinnliche Brücke ist das '''Denken'''. | |||
Das Ätherische zeigt sich so als „Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen“, wie dies Rudolf Steiner in der GA 202 darstellt.[3] Ich habe die vier Äther erwähnt – ich vermute, dass man die vier bekannten Tastkörperchen eines Tages auch noch spezifischer diesen vier Äthern und vier Elementen wird zuordnen können. | |||
In Bezug auf die Wärme gelingt das jetzt schon, auch die Empfindung von Bewegung und Vibration ist zum Teil erforscht, wird aber nicht klar bei einem der vier verortet. Viele Tastwahrnehmungen vollziehen sich über feine Eigen- oder Fremdbewegungen und dann gibt es noch die Druckempfindung. Immer geht es um die Qualitäten fest, flüssig-beweglich, luftig-vibrierend und die Wärme. Diese vier Qualitäten der Materie sind die adäquaten Reize für unsere Tastorgane. Sie werden über die genannten vier Arten von Nervenendigungen wahrgenommen. | |||
=== ''Zusammenhang von Tastsinn und Wärme'' === | |||
In der Schule wird oft ein Experiment gemacht. Die Schüler tauchen ihre Hand in Eiswasser und müssen dann Stecknadeln ohne Köpfe aus einem Töpfchen holen. Mit einer ganz kalten Hand ist das praktisch nicht hinzubekommen, weil man nichts spürt. Nun kann man schauen, wer sich am schnellsten aufwärmt, wer den sensibelsten Tastsinn hat. Dieses Experiment zeigt eindrücklich, wie stark wärmeabhängig unser Tastvermögen ist. Es gibt kein Tasterlebnis ohne Wärmempfinden, d.h. wenn man ganz kalt ist, kann man nichts wahrnehmen. Die Tiefensensibilität ist dann noch vorhanden – was sich als Schmerz und Muskelzittern äußert – aber die Oberflächensensibilität ist einer Taubheit gewichen. | |||
An dieser Stelle wird die ganze Komplexität und Problematik des Sinneslebens deutlich: Es ist im Grunde nicht möglich, einen Sinn, nicht einmal den Tastsinn an der äußersten Körperperipherie, streng isoliert zu betrachten. Vieles ist dabei noch unerforscht, weil man es schlicht nicht erforschen kann bzw. weil keine Objekte für diese Art Forschung zur Verfügung stehen. Wir weichen auf Tiere aus und übertragen die Ergebnisse auf den Menschen, da Tiere natürlich auch sinnlich sind und Mensch und Tier so nah verwandt sind.[4] | |||
=== ''Sensorischer Homunculus'' === | |||
Wenn uns jemand berührt oder mit dem Fuß anstößt, bemerken wir das sofort. Denn den Tastsinnerfahrungen sind – im Gegensatz zum Schmerz- und Wärmeempfinden – ganz bestimmte cortikale Gehirnareale zugeordnet: | |||
Der sensorische Homunculus zeigt, dass die größten Repräsentationsflächen im und am Cortex dem Gesicht, der Zunge und der Hand zuzuordnen sind. Den Fortpflanzungsorganen, den Füßen, den Beinen und dem übrigen Körper sind verhältnismäßig kleine Areale zugeordnet, die Hand ist jedoch ganz groß, riesig das Gesicht, groß die Zunge. Die inneren Organe und die Tiefensensibilität nehmen wieder wenig cortikalen Raum ein. | |||
Der Homunculus zeigt: Unser Tastsinn ist vor allem an Gesicht, Hand und Zunge gekoppelt. In unserer Haut haben wir dort die größte Dichte der vier verschiedenen Tastkörperchen. Oft haben wir auch das Gefühl, dass unsere Hände wie „Tastaugen“ sind. Aber auch unser Gesicht bemerkt jeden Luftzug, jede Temperaturschwankung. Über die Sensorik unserer Gesichtshaut sind wir ein feines Tastorgan für das Klima, die Stimmung, für das Wetter. Wir empfangen vieles darüber, obwohl wir uns dies nicht immer bewusst machen. | |||
''Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte.'' GA 170. | |||
[2] Thomas Fuchs, ''Das Gehirn – ein Beziehungsorgan'', Kohlhammer, Stuttgart 2007. | |||
[3] Rudolf Steiner, ''Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physische des Menschen'', GA 202, Dornach 1993. | |||
[4] Ein weiterer Grund, warum wir vom menschlichen Sinnessystem noch so relativ wenig wissen, hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass unsere gesamte Sinnesphysiologie an Fischen und Fröschen bis max. hin zu Meerschweinchen durch Tierversuche, schlimmster, grausigster Art erforscht wurde und wird. Man kann ja solche Versuche nicht an Menschen machen, das würde sich keiner gefallen lassen. Und wenn im Gefängnis Versuche an Gefangenen gemacht werden, wird das ja international geächtet. (In Klammern muss ich sagen, dass leider vieles, vieles von dem wenigen, was wir über die menschlichen Sinne wissen, aus den grausamen Menschenversuchen des Nationalsozialismus stammt. Dennoch verdanken diesen ganzen Versuchen, vor allem den Kälte- und Gefrierversuchen, wichtigste Kenntnisse…) | |||
== GRUNDLEGENDES ZUM LEBENSSINN == | |||
''Wozu befähigt uns der Lebenssinn?'' | |||
''Was ist seine Aufgabe im Zuge der Entwicklung?'' | |||
=== ''Lebenssinn zum Erspüren von Harmonie und Zusammenklang'' === | |||
Der Lebenssinn ist ein Harmonie-Sinn. Sein Organ ist unser vegetatives Nervensystem, bestehend aus sympathischem und parasympathischem Nervengeflecht, über das jedes Organ mit jedem Organ in Beziehung steht. Alle kommunizieren miteinander, nicht nur die Zelloberflächen, die dafür keine Nerven brauchen – alles nimmt sich gegenseitig wahr, ist eingebettet in eine rhythmische Ordnung, einen Zusammenklang. Und wenn man das fühlt, fühlt man sich wohl und sagt: ''„Ich bin gut drauf.“'' Unsere Organe, die alle im Dienst des Ganzen stehen, nehmen alles wahr. | |||
Ein Organismus ist umso gesünder, je selbstloser und freudiger jedes Organ seinen Beitrag zum Ganzen leistet. Der Lebenssinn ist demnach auch ein Sinn für Vollkommenheit, für Komplexität, für den ganz großen Zusammenhang, für die Ganzheit, die Schönheit, die Güte, die Harmonie des Ganzen. | |||
=== ''Rhythmusgetragenes Leben'' === | |||
Im Grundsteinspruch[1] der Anthroposophischen Gesellschaft heißt es: ''„Es waltet der Christuswille im Umkreis, in den Weltenrhythmen, seelenbegnadend“''. Auf die berühmte Frage Rudolf Hauschkas ''– „Was ist Leben?“'' – gab Rudolf Steiner dem Biochemiker und Chemiker die Antwort: ''„Studieren Sie die Rhythmen, Rhythmus trägt Leben.“'' Alles Leben ist durch und durch rhythmusgetragen. Denn Rhythmen sind Gesetze, Gesetze sind Gedanken, Gedanken sind geistiger Natur. Der geistige Urgrund des Lebens ist also eine komplexe kosmisch-rhythmische, makro-mikrokosmische Gesetzlichkeit. | |||
Das gilt auch für uns Menschen: Der 24-Stunden-Rhythmus unserer biologischen inneren Uhr ist in rhythmischem Einklang mit dem Sonnenrhythmus. Der weibliche Monatszyklus ist ein Mondenrhythmus. Die Jahreszeiten sind eingebettet in einen Jahresrhythmus. All das zeigt: Auch wir sind rhythmische Wesen. Und je rhythmischer wir unser Leben gestalten, desto gesünder ist das für uns. Jeder von uns lebt sehr individuell, führt ein hoch spezifisches Leben, ringt jeden Tag neu um den Erhalt seiner Gesundheit, steht vor neuen Herausforderungen. Jeden Tag geschieht etwas anderes – und doch leiden wir immer wieder auch an zu viel Routine und Wiederholung… | |||
Das Besondere am Rhythmus ist, dass das ganze Leben hindurch keine zwei Atemzüge gleich lang sind, keine zwei Herzschläge genau gleich. Wir atmen in 24 Stunden im Durchschnitt 25.920 mal – ein platonisches Atem-Jahr – und keine zwei Atemzüge sind dabei ganz genau gleich. Keine zwei Blätter an einem Baum sind gleich. Das ist Leben: immer anders und doch identisch, immer besonders und sich doch ähnlich. | |||
=== ''Inkarnation als Anpassung an den Umkreis'' === | |||
Rudolf Steiner sagt an einer Stelle:[2]<sup>,'''''[3]'''''</sup> ''„Die Lebensvorgänge gestalten sich nach der Gesetzmäßigkeit der Sinnesorgane.“'' Das ist äußerst rätselhaft, wenn man sich das konkret vorzustellen versucht. Alle Sinnesorgane sind Öffnungen zur Welt. Und unser Leben verhält sich gegenüber einer außen befindlichen großen makrokosmischen Welt wie ein Mikrokosmos. Wenn ein Kind geboren wird, muss es sich anpassen und muss gleichzeitig ein selbständiges Individuum werden, ein souveränes Lebewesen in seiner Umwelt. Dass das möglich ist, bewirken die Sinnesorgane, insbesondere die Willenssinne. In ihnen lebt das vorgeburtliche Wesen, ausgegossen in den Umkreis, eingebettet in das makrokosmische Leben. | |||
Daher können die Sinne unserem vorgeburtlichen Willenswesen auch die Möglichkeit geben, sich mit ihrer Hilfe an den eigenen Leib als neue mikrokosmische Umwelt anzupassen. So entsteht ein neues Zuhause für das sich jetzt individualisierende Seelisch-Geistige, so dass man für dieses Leben sagen kann: Das ist mein lebendiger Leib! Da sind meine Seele und mein Geist zu Hause. Dieser Verleiblichungsprozess wird traditionellerweise ''Inkarnation'' genannt. | |||
=== ''Das vegetative Nervensystem'' === | |||
Das Lebenssinnorgan umfasst die ganzen Organe mit ihrer Beziehung zum vegetativen Nervensystem. Wenn man sich mit den Funktionen dieses Nervensystems befasst, studiert man damit auch wieder die Gesetze des Lebendigen insofern, als alles miteinander in Resonanz ist bzw. in einer Wechselwirkung steht. Das gesamte sympathische und parasympathische Geflecht gehört zum Organ des Lebenssinns. Ganz grob kann man sagen, der Parasympathikus ist der „Schlafnerv“, zuständig für Ernährung, Erholung und Schlaf, während der Sympathikus der „Stressnerv“ ist und zuständig für alle Aktivität. Phasen der Aktivität und Ruhe müssen in der Balance sein – dafür sorgen diese polaren Nervenstrukturen. Sympathikus und Parasympathikus wirken auf die einzelnen Organe, über Kontraktion und Zusammenziehung, gefäßverengend, mal ein bisschen mehr, mal ein bisschen weniger. | |||
Über das Rückenmark werden die lebensprozess-relevanten Informationen in die verschiedenen Schichten des Gehirns weitergeleitet, wo die vitalen Funktionsbereiche ihre Repräsentationszonen haben. Im Mittelhirn befinden sich u.a. die Repräsentationszonen von Atem-Zentrum, Herzkreislauf-Zentrum. | |||
=== ''Eigene nervöse Versorgung des Darmes'' === | |||
Der Darm hat ein eigenes Darmnervensystem, eine besondere Eigenregulation, die sich ganz stark im Unbewussten vollzieht und eine Art Sonderstellung in der sympathisch-parasympathischen Innervation einnimmt. Das ist ein Thema für sich. | |||
Rudolf Steiner erstellte eine Zuordnung der einzelnen Organe zum Kosmos. Dabei ordnete er den Darm, bzw. unseren gesamten Verdauungsapparat, dem Planet Erde zu und nannte ihn ''„die innere Erde“'': Wie die Erde im Makrokosmos hat auch der Darm im Kosmos des menschlichen Organismus eine Sonderstellung inne, bis in die nervöse Versorgung hinein. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum,'' GA 260a, Dornach 1987. | |||
[2] ''„Die Sinnesorgane in ihrer Gesetzmäßigkeit werden von den Lebensvorgängen vorausgesetzt. Die Lebensvorgänge von den Seelenvorgängen, die Seelenvorgänge vom Ich, das Ich wird sich bewusst an den Seelenvorgängen. Das Ich lebt in der Seele und dann wird es sich seiner selbst bewusst. Das Ich wird sich bewusst an den Seelenvorgängen, die Seelenvorgänge werden erlebt durch die Lebensvorgänge, die Lebensvorgänge gestalten sich nach der Gesetzmäßigkeit der Sinnesorgane.“'' | |||
[3] Rudolf Steiner, ''Lucifer-Gnosis'', GA 34, Dornach 1971, S 16. | |||
== GRUNDLEGENDES ZUM BEWEGUNGSSINN == | |||
''Wozu befähigt uns der Bewegungssinn?'' | |||
''Was wird durch ihn erlebbar?'' | |||
Das Organ des Bewegungssinnes umfasst eine ganze Reihe von bestimmten besonders geformten Nervenendigungen, die sogenannten Muskelspindeln, die eine Zwischenform zwischen Nerv und Muskel sind. Muskulatur und Nerven sind sich insofern ähnlich, als beide kaum zur Zellneubildung fähig sind: Muskelzellen können durch Training zwar an Dicke und Kraft zunehmen, es entstehen dabei jedoch keine neuen Nervenzellen. | |||
Die schematische Darstellung des motorischen Cortex an der Hirnrinde ist ähnlich aufgebaut wie die des sensiblen, sensorischen Cortex. | |||
=== ''Zusammenspiel der Sinne beim Bewegen'' === | |||
Für den Bewegungssinn ist die Wahrnehmung der Körpergewebe, allem voran der Muskulatur über die Muskelspindeln, entscheidend. Propriozeption (propio = eigen, zeption = Wahrnehmung), die Wahrnehmung des eigenen Körpers, erfolgt über Tastsinn und Lebenssinn und bildet die Voraussetzung für alle Bewegung. Denn wir können nur bewegen, was wir auch wahrnehmen. | |||
Ich versuche immer zu vermitteln, wie schwer es ist, einen einzelnen Sinn isoliert zu beschreiben. Im Grunde kann kein Sinn ohne den anderen funktionieren – obwohl es beim Bewegungssinn nur um Bewegung geht, setzt das bereits vieles voraus. Das zeigen die folgenden Fragen und Antworten: | |||
* ''Wer soll denn bewegt werden?'' Natürlich der Körper! | |||
* ''Wo soll er denn bewegt werden?'' Natürlich im Raum! | |||
Folgerichtig muss man den Raum und seine Richtungen sowie ein Ziel wahrnehmen können. Dazu braucht man Auge, Ohr und Gleichgewichtssinn. | |||
Man kann aber auch im Bett liegen, die Augen zumachen, nichts hören – und ist in der Lage Eigenbewegung im Finger wahrzunehmen. Dennoch muss man die Intention haben, das zu machen, muss also das Hirn „einschalten“. Das zeigt die Komplexität des Lebens: Leben ist eben auch Bewegung und Bewegung ist das, was einen am Leben hält. | |||
=== ''Leben braucht Bewegung'' === | |||
Das spüren alte Menschen, die sterben wollen, instinktiv. Sie legen sich einfach ins Bett und bewegen sich nicht mehr. Sie vermitteln ihren Angehörigen: ''Mit mir geht es jetzt zu Ende, ich habe keinen Appetit mehr, will nichts mehr und warte jetzt, bis Gott mich ruft.'' Meist geht es dann ziemlich schnell bergab mit ihnen. Das ist der normale Alterstod, bei dem man, wie es im Märchen heißt, fühlt, dass man sterben soll. | |||
Gesunde Kinder trainieren ihre Sinne ganz von selbst, wenn man sie lässt und sie die passende Umgebung dafür haben. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich hatte das Glück in einer Zeit aufzuwachsen, wo es noch nicht allgemein üblich war, dass Kinder in den Kindergarten gingen. In unserer Nachbarschaft gab es ein traditionell erzogenes Mädchen, das viele Lieder, Singspiele, Ringelrein und Singverse kannte. Ein ganzer Kindertrupp hat stundenlang auf der Straße Lieder gesungen, z.B. das Lied: ''„14 Engel fahren…“'' Wir balancierten, hüpften auf den Pflastersteinen, malten Kurven, deren Linien wir nachliefen. Wir trainierten ständig, den ganzen Tag lang die unteren Sinne. Das war normale, spontane Kinderkultur. Heute muss man das alles pädagogisch ermöglichen bzw. therapeutisch nachholen. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik Und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
== GRUNDLEGENDES ZUM GLEICHGEWICHTSSINN == | |||
''Wozu befähigt uns der Gleichgewichtssinn?'' | |||
=== ''Aufbau des Gleichgewichtsorganes'' === | |||
Das Gleichgewichtsorgan befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Gehörschnecke hinter dem Ohr im Felsenbein: Hören und Gleichgewicht-Halten haben viel miteinander zu tun. Das Gleichgewichtsorgan besteht aus ''drei senkrecht aufeinander stehenden Bögen'' – wie eine Zimmerecke. Da, wo sie zusammenkommen, sind noch mal zwei Ausbuchtungen, die ''Sacculus'' und ''Utriculus'' heißen. Sie sind ausgekleidet mit 76tausend feinsten Haarzellen, auf denen winzige Calciumcarbonat-Kriställchen liegen, die empfindlich auf Druck, Schwere sowie Lageverschiebungen im Raum reagieren. Über sie nehmen wir das Schwerefeld der Erde wahr, auch wenn man den genauen Mechanismus immer noch nicht versteht. | |||
In jedem der drei Bogengänge befinden sich ebenfalls feine Tasthaare. Diese Bogengänge sind aber mit Endolymphe gefüllt, einer gallerteartigen Flüssigkeit. Das feste und das flüssige Element sind nötig, um uns in der Welt des Festen und des Flüssigen im Gleichgewicht halten zu können. Mithilfe der feinen Kriställchen können wir Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen unterscheiden, indem diese winzigen Steinchen bei der linearen Beschleunigung bewegt werden. Bei horizontalen, vertikalen und schrägen Bewegungen zirkuliert die Endolymphe. Und weil Flüssigkeit immer träger ist als die Bewegung in der Luft, werden die sich mitbewegenden Härchen in den Bogengängen durch die träge Flüssigkeit entgegengesetzt zur Bewegung verbogen. An diese fünf Gleichgewichtssinnesorgane schließt sich das eigentliche cortische Organ, die Gehörschnecke (Cochlea), an. | |||
=== ''Zur Entwicklung des Gleichgewichtsorganes'' === | |||
Das Gleichgewichtsorgan beginnt sich am Anfang des zweiten Monats zu bilden und misst dann 4, 3 mm. Bereits am Anfang des dritten Monats, also im Laufe ''eines Monats'', hat sich das ganze 30 mm große Organ gebildet. Zu diesem Zeitpunkt misst der gesamte Embryo nur 4, 4 mm vom Scheitel bis zum Steiß. Und in diesem winzigen Embryo hat sich das noch viel winzigere Gleichgewichtsorgan in dieser Vollkommenheit ausgebildet. | |||
Das Felsenbein ist unser härtester Knochen, der schon im Mutterleib voll zu verknöchern beginnt. Bereits ab dem dritten Lebensjahr bleibt er, wie er ist, baut er sich nicht mehr um, ist wirklich ein Fels, ähnlich den Zähnen – das ist etwas ganz Besonderes:[1] An dieser Stelle tragen wir die Sklerose durchs Leben. Das Felsenbein ist so gut geschützt, dass wir es – anders als unsere Zahnschmelzkronen – nicht schädigen können. Und darin eingebaut ist unser Gleichgewichtsorgan. | |||
=== ''Repräsentation im Gehirn'' === | |||
Die zum Gleichgewichtssinn gehörenden Nervenleitungsbahnen führen zum Kleinhirn, wo die Verarbeitung der Reize stattfindet. Gott sei Dank führen keine Nervenbahnen zum Großhirn, sondern münden in den Hirnstamm. In diesem Bereich hängt der Tastsinn eng mit dem Gleichgewichtssinn zusammen, der auch unbewusst arbeitet: Über unsere Tasterfahrungen erhalten wir Auskunft darüber, dass hier vorne und dort hinten ist usw. Im Dazwischen nehmen wir tastend die inneren Organe wahr: Hier ist die Leber, hier ist das Herz. Das sind alles unterbewusste bzw. ganz leicht bewusste Tastwahrnehmungen, die uns ein dumpfes Existenz- und Daseinsgefühl geben. Beide zusammen vermitteln uns so in jedem Moment die Verortung im Raum, die wir für ein erfülltes Selbsterleben brauchen. | |||
Die Nervenbahnen, die diese Informationen über Lage, Geschwindigkeit, Bewegung im Raum und unser eigenes Existenzgefühl weiterleiten, treffen sich im Rautenhirn, einem Teil vom Hirnstamm, und im Kleinhirn. Von dort aus werden die nicht willkürlich gesteuerten Bewegungen koordiniert, die unserem willkürlichen Zugriff weitestgehend entzogen sind. Nur wenn wir Schwindel empfinden bzw. erst wenn pathologische Verhältnisse eintreten oder Schmerz auftritt, dann rückt dieser Bereich ins Bewusstsein''.'' | |||
=== ''An der Aufrichte beteiligte Sinne'' === | |||
Auch die moderne Sinnesphysiologie sagt etwas Wunderschönes: Wir verdanken den aufrechten Gang beiden, Tastsinn und Gleichgewichtssinn. Ohne diese beiden Sinne könnte der Mensch sich nicht aufrichten. Bereits im Mutterleib sorgt der Tastsinn dafür, dass jedes Organ an den richtigen Ort kommt im Oben, Unten, Rechts, Links, Vorne, Hinten des intrauterinen Kosmos. Die Organanordnung ist demnach Ergebnis von intrauterinen Tasterlebnissen. Wenn das Kind dann geboren ist, wird diese Tasterfahrung zusammen mit den Gleichgewichtserfahrungen im gesamten Aufrichte-Prozess miteinander „verschaltet“. Natürlich sind auch noch viele andere Faktoren beteiligt, aber man ist sich in der Sinnesphysiologie einig, dass jede Tasterfahrung schon eine Gleichgewichtserfahrung ist und jede Gleichgewichtserfahrung auch eine Tasterfahrung. Beide dienen der Verortung im Raum und machen den Menschen zu einem aufrechten Wesen. | |||
''Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
----[1] Der normale Knochen weist einen regen Knochenstoffwechsel auf, weswegen die Knochen entkalken, wenn man sie ruhigstellt. Astronauten müssen mit dem Problem umgehen, dass der Kalk aus den Knochen geht, wenn sie in der Schwerelosigkeit verweilen. Unsere Knochen sind ständig im Ab- und Umbau begriffen. Wenn wir an einer besseren Haltung arbeiten, verändert sich zugleich auch unser Skelettsystem. Diese Plastizität unserer Knochen ist heute bewiesen durch die Schulmedizin, durch die Orthopädie usw. | |||
== LEBENSSINN, SCHÖNHEIT UND STIMMIGKEIT == | |||
''Warum empfinden wir etwas als schön und stimmig?'' | |||
''Warum tut es uns gut, Schönes zu betrachten und Stimmiges zu erleben?'' | |||
=== ''Wahrnehmung von Schönheit durch den Lebenssinn'' === | |||
Wenn man sich die liebevoll schraffierten Bilder von den Säulenmotiven des ersten Goetheanum anschaut, kann man sich fragen, was uns daran so berührt. Für mich ist es eine reale „Lebenssinn-Wahrnehmung“, im übertragenen Sinn, die mit dem Lebenssinn zusammenhängt. Rudolf Steiner sagte: Schön ist etwas, das sich ganz offenbaren kann. Wenn das Wesen von etwas ganz zum Ausdruck kommt, erleben wir das als schön. Etwas Schönes bildet immer eine Ganzheit – und es gibt keine vollkommenere Ganzheit als das Leben. Deswegen ist das Leben schön. | |||
Schiller lässt seinen Marquis Posa, den Freiheitshelden im ''Don Carlos'', der Königin von Spanien sagen: ''„Königin – oh Gott, das Leben ist doch schön!“''. Er ruft ihr diesen Satz nach, als sie in einem Augenblick größtmöglicher Verzweiflung stumm abgeht. | |||
Solange ein Mensch das Leben noch schön finden kann, können wir sicher sein, er ist psychisch gesund. In dem Moment, wo man das Leben nicht mehr schön finden kann, stimmt etwas ganz Entscheidendes nicht mehr. Das ist so, weil im Leben alles miteinander zusammenhängt. | |||
Gesund ist ein Organismus dann, wenn alles zusammenstimmt, wahrhaftig in Resonanz miteinander ist, wenn jedes Organ dem anderen zeigt, wie es ihm geht. Wenn man sich gegenseitig wahrnimmt. Was wir soziale Kompetenz nennen, ist nichts anderes als Lebensgemäßheit. Ein gesundes soziales Leben beinhaltet, dass man die Bedürfnisse des anderen wahrnimmt und angemessen darauf reagiert; und wenn man das nicht kann, dass man sich wenigstens entschuldigt und der andere spürt, man würde gern anders reagieren, man kann es nur nicht. Alles soziale Leben baut auf gegenseitiger Wahrnehmung auf. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
== LEBEN, SEELE, ICH UND SINNE == | |||
''Wie hängen die Prozesse des Lebens, der Seele und des Ichs mit den Sinnen zusammen?'' | |||
=== ''Zusammenspiel von Sinnen und Leben'' === | |||
Die Sinne und die Lebensprozesse gehören nach Steiner eng zusammen.[1] Das sagt auch die moderne Nervenlehre. Ohne die Lebensprozesse machen die Sinne gar keinen Sinn, denn Leben ist sensibel, ist Berührung, ist Beziehung, ist Sensorik. Leben ist immer die Verbindung zwischen etwas und seinem Umkreis, braucht einen Umkreis. Totes dagegen braucht keinen Umkreis. Und um den Umkreis erleben zu können, sind die Sinne nötig. Die Sinnesorgane in ihrer Gesetzmäßigkeit bilden sich auf der Grundlage der Lebensvorgänge, gestalten sich an der Begegnung, an der Berührung. Demnach ist das Leben die Vorbedingung für die Ausbildung der Sinnesorgane, die sich an der Umwelt für die Umwelt bilden. Oder wie Goethe vom Auge sagt, dass es sich ''„am Licht für das Licht''“ bildet. | |||
''„Die Sinnesorgane in ihrer Gesetzmäßigkeit werden von den Lebensvorgängen vorausgesetzt. Die Lebensvorgänge von den Seelenvorgängen, die Seelenvorgänge vom Ich, das Ich wird sich bewusst an den Seelenvorgängen.“'''[2]''''' | |||
Die Sinnesorgane in ihrer Gesetzmäßigkeit haben also Lebensvorgänge als Voraussetzung und diese wiederum Seelenvorgänge, die ihrerseits Ich-Tätigkeit als Voraussetzung haben: Wenn ich nichts erleben will, erlebe ich auch nichts, dann verkümmern meine Sinnesorgane. Im Zuge der Sinnesschulung sind wir bemüht, neue Erlebnisse zu „erzeugen“ – bei uns selbst oder beim anderen – wollen wir die Seele erregen, ihr neues Leben einhauchen, sie beleben, damit sie ihrerseits, lebendiger geworden, die Sinnesorgane aktiviert. | |||
Wie oft steht im Evangelium, dass Menschen Augen haben, aber nicht sehen, Ohren haben, aber nicht hören. Im Grundsteinspruch[3] heißt es: ''„Menschen mögen es hören!“'' Warum ist das so? Wenn wir uns seelisch nicht bewegen, uns für nichts interessieren, erlahmt die Lust, Neues zu erleben, denn wir kennen alles ja schon… Dann wird es langweilig, dann wird die Seele immer grauer, immer trüber, immer unbeweglicher. Als Folge degenerieren die Sinnesorgane und zum Schluss weiß man nicht mal mehr, ob es einem warm oder kalt ist. | |||
=== ''Ich und Sinneserfahrung'' === | |||
Das Ich lebt in den Sinnen, wach und bewusst. Da startet es sozusagen durch bis in die Außenwelt: Das Ich bringt den Erlebnisraum „Seele“ in Resonanz mit seiner Umwelt, entwickelt Interesse daran, bewegt sich in die Umwelt hinein. Dadurch entsteht eine lebendige Beziehung zur Umwelt, kommt es zu Sinnes-, Begegnungs-, Berührungsreizen. Und nun kehrt sich das Ganze wieder um: Es kommt zu einem Sinneseindruck, der dann mit allem möglichen Begleiterfahrungen und -umständen „angereichert“ im Großhirn landet und dort wach und bewusst mit Hilfe des Denkens verarbeitet wird. | |||
Wir können also sagen, der Tastsinn in seiner Gesetzmäßigkeit wird von den Lebensvorgängen bedingt: Am Anfang war die sensible Zelloberfläche, die den Lebensvorgängen geschuldet war und diese den Seelenvorgängen, dem Interesse an der Umwelt, das wiederum vom Ich abhängt, von der Art, wie jemand von Ich zu Ich dem anderen begegnet. | |||
''Das Ich ist also der eine „Chef“''. | |||
Das Ich wird sich umgekehrt seiner selbst bewusst an den Seelenvorgängen, die ihrerseits erlebt werden durch die Lebensvorgänge. Diese und das damit zusammenhängende Lebensgefühl gestalten sich wiederum nach der Gesetzmäßigkeit der Sinnesorgane, werden von ihnen beeindruckt und beeinflusst: Durch das, was wir sehen und erleben, wird unser ganzes Lebensgefühl verändert, verwandelt. | |||
''Die Sinnesorgane mit ihrer physischen Beeindruckbarkeit sind der andere „Chef“''. | |||
Jetzt geht es wieder zurück bis zum Ich… | |||
=== ''Den Sinnen hast du dann zu trauen…'' === | |||
Goethe sagt in seinem Gedicht „Vermächtnis“: | |||
''„Den Sinnen hast du dann zu trauen,'' | |||
''Kein Falsches lassen sie dich schauen,'' | |||
''Wenn dein Verstand dich wach erhält.“'' | |||
Alle Sinnestäuschungen sind im Grunde „Gedankentäuschungen“. Sinnestäuschungen an sich gibt es nicht, nur Fehlinterpretationen von Sinneseindrücken. Denn die Sinneseindrücke sind das Ergebnis einer Begegnungskultur, die wahr ist. Wer sich in der goetheanistischen Betrachtungsweise übt, merkt, wie er sich gedanklich umerziehen muss, um Sinneseindrücke adäquat zu verarbeiten, damit die Sinne einen nichts Falsches lehren: Z.B. ist die Theorie, dass der Mensch dem Urknall entstammt und dem Wärmetod entgegengeht eine falsche Interpretation von richtigen Sinneserfahrungen. Der ganze Materialismus ist eine einseitige – und damit eine Fehlinterpretation – unserer sinnlichen Erfahrungswelt. | |||
=== ''Zweierlei Impulse für Weiterentwicklung'' === | |||
* '''Vom Ich''' geht die ''Intention'' aus, etwas zu erleben, und die ''Art und Weise'', wie es verarbeitet wird: Wenn wir meditativ arbeiten, führt das zu seelisch geistiger Weiterentwicklung. | |||
* '''Von den Sinnen''' kommt die ''Fülle neuer Erlebnisse'', die den Leib weiter und weiter bilden und gestalten. Und so ist die Sinnesbegegnung mit der Welt die Fortsetzung der physischen Schöpfung, bringt physische Weiterentwicklung bis ins höchste Alter. | |||
Goethe, der Meister der Sinnesentwicklung und was sie dem Geiste zurückgibt, und Rudolf Steiner, der Meister der Geistesentwicklung und was diese für die Sinneskultur bedeutet, sind beide zusammen die Initiatoren der Bewusstseinsseele, die ja eine Seelenkultur an den Sinnesgrenzen, am Physischen, ist. | |||
''Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, Das ''Rätsel des Menschen, die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte,'' GA 170. | |||
[2] Rudolf Steiner, ''Lucifer-Gnosis'', GA 34, (1971), S 16. | |||
[3] Rudolf Steiner: ''Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24'', GA 260 (1994). | |||
== LUZIFERISCH-AHRIMANISCHE UMGESTALTUNG DER SINNE == | |||
''Was ist unter luziferisch-ahrimanischer Umgestaltung der Sinne zu verstehen?'' | |||
''Welche Sinne sind davon betroffen?'' | |||
=== ''Luziferischer und ahrimanischer Einschlag'' === | |||
Rudolf Steiner spricht von einem luziferischen Einschlag und einem ahrimanischen Einschlag im Zuge der Sinnesentwicklung der Menschheit.[1] | |||
* Die '''''luziferischen Umgestaltungen''''' betreffen unsere Inkarnationssinne, unsere Willenssinne, also ''Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn''. Luzifer hat unsere Willenssinne verführt, dass wir Eigenwillen entwickeln, anderes wollen als die Götter. Er hat uns eigenwillig gemacht. Damit hat er die Voraussetzung für Freiheit geschaffen. | |||
* Nur der ''Gleichgewichtssinn'' ist nicht betroffen von der luziferischen Verführung. | |||
* ''Ich-Sinn, Gedankensinn und Sprachsinn'' sind hingegen '''''von Ahriman verführt''''' worden, sodass wir etwas falsch verarbeiten, falsch hören und missverstehen können. Wenn man sich missversteht, kann man sicher sein, Ahriman war zu Besuch… Denn Ahriman ist der Großmeister des Sich-gegenseitig-Missverstehens. | |||
Nur der ''Hörsinn'' ist nicht betroffen von der ahrimanischen Verführung. | |||
=== ''Ahriman als Meister des Missverstehens'' === | |||
Im Grunde haben wird die Sprache bekommen, um uns zu verstehen. | |||
''Wieso verstehen wir uns dann ständig falsch?'' | |||
Inzwischen begreife ich, warum es Sinn macht, noch einmal zu wiederholen, was man gehört bzw. gelesen hat. Weil man dann merkt, dass man oft etwas ganz anderes denken möchte, als was man gehört hat oder was an einer bestimmten Stelle geschrieben steht. | |||
Dazu noch ein Beispiel, das unter uns leider immer wieder vorkommt: Wenn jemand eifrig bemüht ist zu erklären, was Rudolf Steiner ''eigentlich'' gemeint hat, was die ''wirkliche'' Anthroposophie ist, merkt man sofort den ahrimanischen Zug, die anderen beherrschen zu wollen kraft des eigenen Ich bzw. der eigenen Gedankenmacht, über Sprachgewalt Macht ausüben zu wollen. Das bewirkt Ahriman. Über Missverständnisse und Interpretationen kann man streiten, aber auch geschickt manipulieren. Je intelligenter jemand ist, desto besser kann er Menschen lahmlegen mit seinen einzig wahren Interpretationen. Dadurch wird das Selber-Denken der anderen wie erstickt und sie werden Teil eines beherrschenden Kollektivs. | |||
Die ahrimanische Umgestaltung betrifft drei der oberen Sinne, die luziferische drei der unteren, der Willenssinne. Umso berührender ist es, sich klar zu machen, wie sie miteinander zusammenhängen. Rudolf Steiner sagt dazu sinngemäß: ''„Was im Tastsinn unbewusst lebt, wird offenbar im Ich-Sinn. Was im Lebenssinn unbewusst da ist, wird offenbar im Denksinn, was im Bewegungssinn unbewusst sich bewegt, wird offenbar und bewusst im Sprachsinn.“'' | |||
=== ''Untere Sinne als Nervengrundlage für die oberen Sinne'' === | |||
Wenn man nun fragt, was die Organe, die Nervengrundlage, für die oberen Sinne sind, kann, darf und muss man auf den Zusammenhang mit den unteren Sinnen von Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn und Gleichgewichtssinn verweisen. Man muss sich die folgenden Fragen und Antworten darauf buchstäblich vorstellen: | |||
* ''Wer bewegt sich?'' Ich selbst bin es. | |||
* ''Wer sucht nach Gleichgewicht?'' Ich tue es. | |||
* ''Wer lebt?'' Ich lebe. | |||
* ''Wer tastet?'' Ich taste. | |||
Immer ist es das Ich, das sich verkörpert und durch die Sinne mit der Welt in Kontakt tritt. Diese Ich-Tätigkeit hinterlässt Spuren, wird an verschiedenen Stellen im Körper wie eingeprägt. Diese Spuren im eigenen Nervensystem von allem, was ich getan, gelebt, gesucht, gemacht habe, diese Stempelabdrücke im Nervensystem, vor allem im Großhirn, werden nach einer gewissen Zeit des Waltens und Wirkens zu den Wahrnehmungsorganen, den Sinnesorganen für das Ich des Anderen, für das Denken des Anderen, die Sprache des Anderen. Denn wenn das Ich nicht in einem eigenen Körper Fuß gefasst hätte und nicht wüsste, wie es ist, sich im eigenen Körper zu ertasten, so wäre es nicht in der Lage, ein anderes Ich zu ertasten, sprich: wahrzunehmen. | |||
=== ''Vom Ich zum Du'' === | |||
So wie sich das Auge ''„am Licht für das Licht“'' bildet, so entwickeln sich die höheren Sinne in dem Maße, wie man sich die Wahrnehmungsfähigkeit dazu aufgrund der eigenen Ichtätigkeit im Ertasten seiner selbst, in seiner Lebenstätigkeit und im Bewegungsausdruck seiner selbst gebildet hat. | |||
* Dadurch, dass ich mich selber ertastet habe, weiß ich, wie man andere ertastet. | |||
* Dadurch, dass ich selber lebe, und mein Ätherleib das Wesensglied ist, das mir die Bildung von Gedanken ermöglicht und ich selbst zu denken gelernt habe, kann ich jetzt Gedanken anderer wahrnehmen. | |||
* Dadurch, dass ich mich selber bewegt habe und weiß, was Bewegung ist, auch die bewusste Bewegung der Sprache, ist mein ganzes Nervensystem durch diese Ich-Tätigkeit in der Bewegung so geprägt, dass ich jetzt dadurch auch wahrnehmen kann, wenn andere sich bewegen bzw. sprechen und etwas zum Ausdruck bringen. | |||
In anderen Worten: | |||
* Was verborgen ist im ''Tastsinn'', wird offenbar im ''Ich-Sinn''. | |||
* Was verborgen ist im ''Lebenssinn'', wird offenbar im ''Gedankensinn''. | |||
* Was verborgen ist im ''Bewegungssinn'' wird offenbar im ''Sprachsinn''. | |||
=== ''Mittlere Sinne als christliche Sinne der Harmonie'' === | |||
Die mittleren Sinne sind die Sinne, die uns helfen, den notwendigen Einklang zwischen uns und der Welt herzustellen. Da überwiegt weder das luziferische Eigene, noch das ahrimanisch Weltbeherrschende. Es herrscht vielmehr Harmonie zwischen beidem. Deswegen sind das die „christlichen Sinne“. Das beginnt mit dem ''Gleichgewichtssinn,'' umfasst die ''mittleren Sinne'' und endet mit dem ''Hörsinn''. Ersterer und Letzterer gehören auch zusammen: Ohne inneres Gleichgewicht kann man nicht gut hören bzw. zuhören. Unter diesem Aspekt ist Musik die christlichste Kunst. | |||
Selbstverständlich können alle Künste luziferisch oder ahrimanisch entarten, auch die Musik. Wenn der jeweilige Sinn für Gleichgewicht, für inneres Hören, für Wärme, für Licht und Finsternis, für Geschmack und Geruch, für Qualität und Ästhetik, unterentwickelt ist, entartet jede Kunst. Dann kippt sie sozusagen aus dem Schönen, aus dem Ästhetischen, aus dem Harmonischen heraus. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte.'' GA 170. | |||
== RINGEN DES ICH UM SELBSTLOSIGKEIT == | |||
''Warum ist das Ringen um Selbstlosigkeit so wichtig?'' | |||
''Wie und wodurch kann es gelingen?'' | |||
=== ''Mikrokosmos des Ich begegnet über die Sinne dem Makrokosmos der Welt'' === | |||
Einzig in unserem Ich haben wir Menschen die Selbstlosigkeit noch nicht errungen. Warum nicht? Weil der Christus selbst zwar dieses Ich-Opfer der Selbstlosigkeit gebracht hat, es für jeden einzelnen aber erst wie „in Kraft tritt“, wenn sich jeder einzelne von uns selbst auch übend darum bemüht. Das ist das einzige Opfer, von dem wir nicht zwangsläufig bzw. konstitutionell etwas haben. Ob wir eigensüchtig bleiben wollen oder nicht, ist einzig und allein unsere Entscheidung. | |||
Über die zwölf Sinne, die Rudolf Steiner so sorgfältig differenziert und charakterisiert, kann unser um Selbstlosigkeit ringendes Ich an zwölf Orten das selbstlose Zusammenwirken von Leib und Umwelt erleben. Das Ich steht an der Schwelle und erkennt, wie Selbst und Welt zusammenhängen. Und: Es ist in diesen zwölf Sinnessphären zugegen, wenn Leib und Welt sich begegnen, und erkennt: Wir sind von derselben Wesenheit. Ich bin der Mikrokosmos, du bist der Makrokosmos. Jedes Sinnesorgan ist ein Ort, an dem das Ich sich durch die Sinnestätigkeit seiner selbst und der Beschaffenheit der Welt innewerden kann. Es lernt zu unterscheiden: Das ist das Selbst, das ist die Welt; das ist innerhalb von mir, das ist außerhalb. Es lernt aber auch die beiden zusammenzubringen. | |||
=== ''Jede Sinneserfahrung ist interpretationsbedürftig'' === | |||
Im Folgenden ein Beispiel, um zu zeigen, wie komplex dieses Geschehen ist: Mein Finger berührt diese Kante und gibt meinem Ich, meinem reinen Willen, so die Gelegenheit, diesen Berührungsakt in unterschiedlicher Hinsicht zu begreifen: In der Berührung findet eine Begegnung zwischen meiner Hautbegrenzung und der Holzoberfläche statt, ''„…sodass ich mich als Ich erleben kann, unterscheidend mein Eigenwesen…“'' und dass mir gegenüber offensichtlich ein anderes Wesen ist. Darüber hinaus erfahre ich etwas über die jeweilige Oberfläche, die ich berühre. | |||
Doch nicht der Sinn selbst gibt mir die Botschaft, ob etwas weich, trocken, hart, spitzig oder stumpf ist – nein: Ich erlebe unterschiedlich geformte Grenzen und mache mir selbst klar, was das bedeutet. Deswegen sind die Tast-Endorgane nicht spezifisch mit einem Erlebnis bzw. einer Repräsentationszone im Gehirn verbunden, sondern jede Sinneserfahrung ist interpretationsbedürftig: Jeder Sinnesort gibt dem Ich die Möglichkeit, sich dort wahrnehmend und urteilend zu betätigen. | |||
=== ''Zwischen sinnlicher und übersinnlicher Wahrnehmung unterscheiden'' === | |||
Es ist wichtig zu unterscheiden, wann wir sinnlich wahrnehmen und wann wir bereits hellsichtig und hellfühlig sind. | |||
* Nur die rein sinnliche Wahrnehmung sowie die Unterscheidung zwischen Innen und Außen können Sinneswahrnehmung genannt werden. | |||
* Alles, was wir anhand einer Sinneserfahrung im Inneren erleben, alles seelische Fühlen, ist bereits übersinnliches Erleben. | |||
Wir sollen anhand der Sinneslehre klar erkennen lernen, dass Hellsichtigkeit bzw. Hellfühligkeit bereits im ganz normalen Seelenleben beginnen. Um uns wissen zu lassen, wie man diese Fähigkeiten weiterentwickelt, hat Rudolf Steiner ''„Wie erlangt man Erkenntnisse...“'''[1]''''' geschrieben. | |||
In anderen Sprachen ist es äußerst schwer zu sagen, was eine Sinnesempfindung ist. Es gibt in der Regel kein Wort dafür. Gefühl ist nicht Empfindung! Rudolf Steiner unterscheidet sogar noch den Empfindungsleib als Grenze zwischen der physischen Sinneswahrnehmung und der Empfindung derselben in der Seele bzw. als Ort, an dem das Ich steht und merkt: Das ist mein Leib und das ist außerhalb davon. Das tut es mithilfe des Empfindungsleibes, der das Sich-in-seinem-Leib-Empfinden, das Anstoßen daran, ermöglicht. Die Empfindung am Leib ist Sinnesempfindung. | |||
=== ''Freiheit von sich selbst als Selbstlosigkeit'' === | |||
Es ist wichtig, das zu unterscheiden, weil genau an dieser Stelle die Kultivierung des Ich beginnt, die Arbeit, das eigene Ich selbstlos zu machen. Der Schulungsweg der Anthroposophie, aber auch alle Schulungselemente, die wir aus Kunst und Lebenspraxis kennen, arbeiten nach demselben Prinzip: Das Ich dahin zu bringen, sich des vollen Umfangs seiner Erlebnismöglichkeiten bewusster zu werden und es zu schulen, sich diesen Erlebnismöglichkeiten frei gegenüberzustellen, sie frei zu handhaben, nicht abhängig davon zu sein. Ein selbstloses Ich zu erringen bedeutet, dass das Ich lernt, Erlebtes nicht zum Selbstgenuss zu missbrauchen, indem es in den damit verbundenen Wohlgefühlen schwelgt und abhängig davon wird. Das Ich muss vielmehr lernen, sich selbst loszulassen und sich frei gegenüberzustehen. | |||
Selbstlosigkeit bedeutet ja nicht Selbstaufgabe, sondern ein neues losgelöstes Verhältnis zu sich selbst. Die höchste Freiheit des Menschen nennt Steiner die Freiheit von sich selbst: Dass man nichts mehr muss, nicht mehr meint, sich nicht so oder so verhalten zu müssen. Nur dann kann ich mich mir selbst frei gegenüberstellen, kann loslassen oder mich verbinden. Die Voraussetzung dafür ist das Vertrauen, sich dabei nicht zu verlieren. Glaube ist im Grunde das tiefe Vertrauen, dass das Ich Bestand hat. | |||
=== ''Sinnesempfindung bewusst erfassen'' === | |||
Die Lektion, sich selbst als ein Fremder gegenüberzustehen, beginnt mit der Sinnesempfindung. Steiner sagt, die einzige Aufgabe der Erziehung bestehe darin zu ermöglichen, dass sich das Gefühlsleben des Kindes von seiner Verhaftung mit dem physischen Leib loslöst und an das Denken anschließt. Alles dreht sich um die Art, wie das Kind sich und die Welt fühlt – und dient im besten Fall dem vorhin erwähnten vierten Christusopfer, der Selbstlosigkeit des Ich. | |||
Die wichtigste Übung, um das zu erreichen, besteht darin, tief zu empfinden, was man erlebt, genau zu sehen, was man sieht, aufmerksam zu hören, was man hört – in der Sinnessphäre detaillierte genaue Wahrnehmungen zu machen. Warum? Weil man eine Empfindung bewusst erfassen muss, um sie, wie Rudolf Steiner es in der ''Theosophie''[2] beschreibt, zum Gefühl verdichten zu können. | |||
Sinn aller Erziehung und auch zentraler Auftrag jeder Selbstschulung und Therapie ist es, sich selbst bzw. dem Kind oder Klienten zu ermöglichen, | |||
* einen Sinneseindruck bewusst zu empfinden, | |||
* die Empfindung zu einem Gefühl zu verdichten, | |||
* sich über das Gefühlte klar zu werden | |||
* und zuletzt einen Ausdruck mit künstlerischen Mitteln dafür zu finden: über Klang, Form, Farbe, Bewegung. | |||
Dabei geht es darum, einen selbstlosen Ausdruck zu finden für das Wahrgenommene als etwas, das einem gegeben wurde; nicht im Genuss hängenzubleiben, sondern den Genuss als Mittel zu nützen, etwas objektiv zu erkennen. | |||
* Zuletzt soll man sein Werk selbstlos von sich ablösen und es z.B. vor sich hinstellen bzw. es gemeinsam mit jemandem anderen anschauen: Wie siehst du es? Das hilft einem wieder ganz davon zurücktreten. | |||
Dieser Prozess ist eine Schulung in Selbstlosigkeit. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Bewegungssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse Höherer Welten?,'' GA 10. | |||
[2] Rudolf Steiner, ''Theosophie'', GA 9. | |||
== SCHMERZ- UND WÄRMEEMPFINDEN == | |||
''Wie hängen Schmerz und Wärmeempfinden mit unseren Sinnen bzw. mit der Repräsentationszone im Gehirn zusammen?'' | |||
''Wie lässt sich das individuelle Empfinden von Schmerz und Wärme erklären?'' | |||
=== ''Hinten tastempfindlich, vorne schmerzempfindlich'' === | |||
Das Rückenmark hat eine Vorderseite und eine Rückseite. Zur Vorderseite hin werden Schmerz- und Wärmeempfindungen geleitet und zur Hinterseite hin die eigentliche Tastwahrnehmung: | |||
* Am '''Rücken''' sind wir besonders ''tastempfindlich'', | |||
* während wir zum '''Bauch''' hin eher ''schmerzempfindlich'' sind. | |||
Das ist insgesamt stimmig, die Rückenmarksleitung ist völlig sinngerecht nach vorne und hinten angeordnet, denn | |||
* '''nach vorne''' hin sind wir auch seelisch und ''bewusstseinsmäßig offener'', | |||
* '''nach hinten''' ''schirmen wir uns seelisch eher ab'', bilden wir vom Bewusstsein her eine spürbare Grenze. | |||
Das Interessante ist nun, dass die Schmerz- und Wärmewahrnehmung keine besondere Repräsentationszone am Cortex, an unserer Großhirnrinde, hat. D.h. dort, wo unser Bewusstsein entsteht, enden diese Sinnesreiz-Leitungsbahnen diffus. Wärme strahlt also auf unspezifische Art ins Gehirn aus. Wenn Nervenleitungsbahnen in die Großhirnrinde münden, können wir die entsprechenden Sinneserlebnisse voll bewusst modifizieren und erfassen. Münden sie in die tiefer liegenden Hirnareale, läuft das Ganze mehr träumend, unterhalb des wachen, gedankennahen Vorstellungslebens, ab. Daher werden Wärme und Schmerz auch so individuell unterschiedlich erlebt und können über das Bewusstsein so stark modifiziert und beeinflusst werden. So haben Menschen, die wir untersuchen, oft auch kalte Hände und Füße oder auch kalte Beine und merken es nicht. Sie halten dies für normal und sagen: „''Das ist bei mir so!“'' Die Tatsache, dass sie leicht frieren, gelangt nicht in ihr Wachbewusstsein. | |||
=== ''Wärmeempfinden bewusst machen'' === | |||
Ich dachte früher immer, dass man die Kälte doch spürt, weil sie unangenehm ist. Die physiologischen Tatsachen zeigen jedoch, dass die Kälteempfindungen aufgrund ihrer diffusen Ausstrahlung im Großhirn bewusst modifiziert werden (können) und es deshalb zu sehr unterschiedlichen Wahrnehmungsintensitäten kommt. Rudolf Steiner hat immer wieder empfohlen, den Ätherleib mit seiner Wärmeäther-Qualität durch eine Kopfbedeckung zu unterstützen – was viele Menschen jedoch nicht beherzigen. Eine Kopfbedeckung hilft uns, Wärme bewusster zu empfinden. Denn im Kopfbereich haben wir über die vielen Haare nicht nur eine sehr starke Sensorik, sondern dort ist auch unser Sinn für Wärme besonders stark. | |||
Der Hinweis von Rudolf Steiner, das Wärmemilieu des Kopfes „zu behüten“ – was von den Priestern der Christengemeinschaft am konsequentesten befolgt wird –, sehe ich darin begründet, dass man dadurch wärmeempfindlicher und wärmeempfänglicher wird und die gesunde Wärmeregulation unterstützt. Die Wärme ist aber auch ''die'' Brücke zur geistigen Welt: Unser Ich lebt in der Wärme, die geistige Wärme geht über in seelische Wärme und diese in körperliche Wärme. Das ist ein Wärmestrom, der nicht physisch ist und deshalb keine Grenzen hat, denn auch physische Wärme hat keine Substanz, strahlt unbegrenzt aus. | |||
''Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
== WILLENSVERWANDTE, GEFÜHLSVERWANDTE UND VORSTELLUNGSVERWANDTE SINNE == | |||
''Welche Bezeichnungen finden wir bei Rudolf Steiner noch zur Unterscheidung der dreimal vier Sinne?'' | |||
''Wie kann man sie in aller Kürze charakterisieren?'' | |||
=== ''Drei Sinnesgruppen'' === | |||
==== 1. Willensverwandte Sinne ==== | |||
'''''Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn''''': Steiner nennt sie ''willensverwandt.'' Inkarnations-Störungen sind primäre Störungen dieser ''vier leiborientierten, unteren Sinne''. Diese eher unbewussten Sinne bezeichnet Steiner zudem als ''ausgesprochen innere Sinne''. | |||
==== 2. Gefühlsverwandte Sinne ==== | |||
Die Gruppe der ''mittleren Sinne'' bilden '''''Geruchssinn, Geschmackssinn, Sehsinn, Wärmesinn''''', die Rudolf Steiner ''gefühlsverwandt'' nennt, bzw. bezeichnet er sie auch als ''äußerlich-innerlich:'' | |||
* Alles, was ich schmecke, wird zu einem Teil von mir. | |||
* Andererseits schmecke ich eine Substanz, wie das Salz, das ich als etwas Objektives zu mir nehme. | |||
Das betrifft auch unser Sehen, Riechen und Wärmeempfinden. Diese „mystischen Sinne“ ermöglichen ein Mystisches Eins-Sein mit der Welt. Alle mystischen Erlebnisse haben da ihren Urgrund. | |||
==== 3. Vorstellungsverwandte Sinne ==== | |||
Die Gruppe der ''oberen Sinne'', '''''Gehörsinn, Wortsinn, Gedankensinn, Ich-Sinn''''' nennt Steiner ''vorstellungsverwandt'' und bezeichnet sie zugleich als ''ausgesprochen äußere Sinne.'' Wir nehmen damit etwas wahr, was ganz außerhalb von uns ist: ein anderes Ich-Wesen, eine andere Art zu denken, eine andere Sprache, fremde Melodien, uns von außen Zukommendes. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
== LEIBLICH, SEELISCH UND GEISTIG ORIENTIERTE SINNE == | |||
''Was ist unter geistig, seelisch und leiblich orientierten Sinnen zu verstehen?'' | |||
''Warum ist Sinnesschulung für Heranwachsende heute so wichtig?'' | |||
=== ''Zusammenspiel von geistigen und leiblichen Sinnen'' === | |||
Wir verfügen über zwölf Sinne, die sich in drei Hauptgruppen einteilen lassen. Auf der einen Seite gibt es die Gruppe der leiblich orientierten Sinne – '''Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn''' – und auf der anderen Seite die geistig orientierten Sinne – '''Hörsinn, Sprach- bzw. Wortsinn, Gedankensinn und Ich-Sinn;''' dazwischen liegen die seelisch orientierten Sinne – '''Geruchsinn, Geschmacksinn, Sehsinn und Wärmesinn.''' Alle diese Sinne wirken nicht einzeln für sich, sondern hängen miteinander zusammen; das gilt insbesondere für die Beziehung zwischen den leiblichen und den geistigen Sinnen. | |||
==== '''·''' Zusammenhang zwischen Hör- und Gleichgewichtssinn ==== | |||
Der Hör- und der Gleichgewichtssinn sind eng miteinander verbunden: Wer seelisch nicht im Gleichgewicht ist, kann schwer zuhören; denn er ist ganz mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Man braucht inneres Gleichgewicht, das sich in Form von innerer Ruhe zeigt, um ganz offen sein zu können. Die Fähigkeit, im Inneren Ruhe herzustellen und sich dem Außen zu öffnen, verdanken wir den Erfahrungen des Gleichgewichtssinns. Das heißt – und das ist jetzt entscheidend – unser Ich, unser Selbst, erlebt sich selbst in der Sinnesaktivität. Es ist die Aufgabe, ja sogar der Sinn des Lebens auf der Erde, dass sich der Geist, das Ich, im Anstoßen an die physische Welt als Individuum erlebt. Dieses Selbsterleben ist deshalb möglich, weil die genannten zwölf Sinne eine Schöpfung Gottes sind, so wie wir als ganzer Mensch gottgewollt sind. | |||
==== '''·''' Zusammenhang zwischen Wort-/Sprachsinn und Bewegungssinn ==== | |||
Bewegungssinn und Wort-/Sprachsinn hängen insofern zusammen, als jede Bewegung, die das Kind lernt, einen Sinn-, Wort-, Sprachzusammenhang darstellt: Jede Geste, jeder physiognomische Ausdruck ist Sprache, jede Bewegung ist Ausdruck von etwas. Das spätere Wort- und Sinnerleben wird durch die Bewegungsentwicklung in den ersten Lebensjahren entscheidend veranlagt. Dem Bewegungssinn verdanken wir unser Freiheitsgefühl. Je freier ein Mensch sich fühlt, desto freier kann er auch mit Sprache umgehen. Ein unfreier Mensch kann sich nicht ausdrücken. Man kann einen unfreien Menschen geradezu daran erkennen, dass er sich immer überlegt, was er wem wann und wo sagen will, dass er unsicher ist und unter allen möglichen Zwängen steht. Der Unfreie geht auch kein Risiko ein, er sichert sich gerne ab. Bewegungsfreiheit verwandelt sich in Ausdrucksfreiheit. Durch die Bewegungsfreiheit erleben wir, dass wir als Mensch überhaupt zur Freiheit veranlagt sind. Nur durch den Bewegungssinn kann Freiheit zur eigenen Erfahrung werden. | |||
==== '''·''' Zusammenhang zwischen Lebenssinn und Gedankensinn ==== | |||
Entsprechendes gilt für die Lebensvorgänge und das Denken. Eine gesunde Ernährung, ein guter Lebensrhythmus, die Pflege der Lebenskräfte sind die beste Intelligenzförderung, die beste Förderung für das Wahrnehmen von Gedanken und Lebensvorgängen anderer. Der Lebenssinn bringt mich in Harmonie mit mir selbst, denn er meldet mir durch Hunger, Durst und Missbehagen, dass mir etwas fehlt. Ist das Bedürfnis gestillt, bin ich zufrieden und in Einklang mit mir selbst. Die Aufgabe des Gedankensinns, durch Gedankenarbeit in Einklang mit der Umwelt zu kommen, wird durch den Lebenssinn veranlagt. Menschen, die ein gewisses Ausmaß an Selbstzufriedenheit und Harmonie erlebt haben, bei denen dieses Erleben konstitutionell zur Gewohnheit werden konnte, haben das Bedürfnis, auch in ihrem Umkreis für Harmonie zu sorgen. Wer jedoch an Disharmonie gewöhnt ist, nimmt sie gar nicht als Problem wahr. Solche Menschen können unter Umständen taktlos „dreinhauen“, ohne zu merken, dass sie die Atmosphäre verletzen und damit Zusammenhänge stören. Lebenssinn und Gedankensinn sind ganz bedeutende soziale Sinne. Selbstverständlich stellen Harmoniesüchtigkeit und Überempfindlichkeit ein ebenso problematisches anderes Extrem dar. Aber insgesamt kann man sagen: Die Fähigkeit, uns als integres, harmoniebedürftiges und harmoniefähiges Wesen zu erleben, verdanken wir individuell und sozial gesehen diesen beiden Sinnen. | |||
==== '''·''' Zusammenhang zwischen Tastsinn und Ichsinn ==== | |||
Nun der Zusammenhang zwischen Tastsinn und Ichsinn: Die wichtigste Selbsterfahrung, die der Säugling macht, erfolgt über die Oberflächen- und Tiefensensibilität; dadurch, dass das Kind seine Grenzen spürt, erlebt es, wenn auch noch dumpf und unbewusst: ''Ich bin''. Wir verdanken dem Tastsinn unser Existenzerlebnis, das die Grundlage für ein gesundes Selbstbewusstsein ist, das von keinem Zweifel an der eigenen Existenz unterminiert wird. Wenn ich von meiner eigenen Existenz überzeugt bin, kann ich auch einen Sinn dafür entwickeln, andere Existenzen wahrzunehmen. Wer sich selbst nicht wahrnimmt, kann auch andere nicht wahrnehmen. Nur wenn sich der Ichsinn, also die Wahrnehmung des anderen Ich, ungestört entwickelt, kann später Sozialkompetenz entstehen. | |||
Da das Kind erst einmal sich selbst erleben muss, stehen im ersten Jahr die leiborientierten Sinne – Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungs- und Gleichgewichtssinn – ganz im Vordergrund. Die sozialen Sinne – Ichsinn, Gedankensinn, Wortsinn und Hörsinn – sind beim kleinen Kind noch eng mit den leiborientierten Sinnen verbunden. Rudolf Steiner bemerkt hierzu: Was verborgen ist im Tastsinn, wird später offenbar im Ichsinn; das gilt entsprechend für die anderen Sinnespaare. So ertastet das kleine Kind, wenn es die Mutter oder die Tagesmutter oder einen anderen Menschen betastet, zugleich auch deren Ich, deren innerstes Wesen. Es erlebt Gedanken und Wort in den harmonischen oder unharmonischen Lebensumständen sowie in den Gesten und Bewegungen im Umkreis. | |||
=== ''Die mittleren, seelisch orientierten Sinne'' === | |||
Nun zu den oben schon genannten mittleren Sinnen: Sie lassen uns Wärme, Licht, Klang, Farben, Finsternis, Geschmacksarten, Gerüche wahrnehmen. | |||
* Der '''Sehsinn''' lässt uns Licht und Finsternis unterscheiden; ihm verdanken wir die optische Orientierung. | |||
* Der '''Geruchsinn''' macht es möglich, dass wir uns ganz und gar mit einem anderen Wesen vereinigen; denn was wir riechen, nehmen wir ganz in uns auf. | |||
* Der '''Geschmackssinn''' befähigt uns, nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch uns selbst oder eine Situation „abzuschmecken”; er ist die Erlebnisgrundlage für das spätere seelische Taktgefühl. | |||
* Der '''Wärmesinn''' dient uns zur Regulierung der Körpertemperatur; er liegt aber auch unserer späteren Fähigkeit, uns für etwas zu erwärmen, uns dafür zu begeistern zugrunde. | |||
Die Entwicklung all dieser Sinne geht sehr schnell vor sich. Wenn sie im ersten Lebensjahr gestört wird, in dem alle Organe, vor allem aber das Nervensystem, die stärkste Prägung erfahren, wird für das gesunde Erwachen im Leib eine mehr oder weniger große Behinderung veranlagt. | |||
''Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Persephone, Kongressband Nr. 2'' | |||
== EINBETTUNG DER SINNE IN DIE HIERARCHISCHE WELT == | |||
''Was ist mit Einbettung der Sinne in die hierarchische Welt gemeint?'' | |||
''Inwieweit verdanken wir unsere Sinneserfahrung unseren eigenen höheren Wesensanteilen?'' | |||
''Wo sind wir auf das Einwirken seitens der Hierarchien angewiesen?'' | |||
=== 1. Die unteren Sinne aus geisteswissenschaftlicher Betrachtung === | |||
In Bezug auf die unteren Sinne führt Rudolf Steiner in verschiedenen Zusammenhängen aus, dass wir die Umwelt mit unseren heutigen Wesensgliedern sinnlich gar nicht in selbstloser Weise wahrnehmen können, weil unser Ich noch viel zu unerzogen ist und sich noch viel zu wenig selbst erkannt und verwandelt hat. | |||
Unsere physische Sinneserfahrung ''an sich'' ist jedoch bereits vollkommen selbstlos. Man kann sagen, sie ist viel besser als wir. Das sei laut Rudolf Steiner so, weil die Wesensanteile des Zukunftsmenschen – wie '''Atman, ''der Geistesmensch'', Buddhi, ''der Lebensgeist'' und Manas, ''das Geistselbst''''' – uns von außen wie aus der Zukunft entgegenkommen und unsere heutigen Wesensglieder durchdringen und bearbeiten. Ihnen verdanken wir Sinneserlebnisse unserer unteren Sinne. Darauf möchte ich im Folgenden näher eingehen. | |||
==== '''·''' Der Lebenssinn und das Wirken von Atman ==== | |||
Das Wohlgefühl, das durch den Lebenssinn entsteht, ist laut Rudolf Steiner einem großen astralen Überschuss geschuldet. Dieser astrale Überschuss sei der Tatsache zu verdanken, dass die physisch-ätherische Konstitution den Astralleib wie auspresst dadurch, dass '''Atman''', '''''der Geistesmensch'',''' ''der vollkommen vergeistigte physische Leib'', unseren Ätherleib ganz und gar mit Strukturkraft durchsetzt. Der Ätherleib müsse sich dieser physisch vollendeten Geistgestalt fügen und sich in deren Form begeben. Das würde im Ätherleib wie eine feine Verkrampfung im Sinne einer Zusammenziehung bewirken und würde den Astralleib auspressen und für das schöne Gefühl durch unsere Lebenssinn-Wahrnehmung sorgen. | |||
==== '''·''' Der Bewegungssinn und das Wirken von Buddhi ==== | |||
'''Buddhi, ''der Lebensgeist'',''' ''der vollkommen vom Ich durchgearbeitete Ätherleib'', würde uns das Bewegungssinnerlebnis ermöglichen, indem er den Ätherleib in ein wunderbar harmonisches Gleichmaß mit sich selbst bringt und der Astralleib dadurch in der Lage wäre, ganz frei immer die Gegenbewegung zu unserer Eigenbewegung zu machen. Anhand dieser Gegenbewegung würden wir uns des Bewegungssinn-Erlebnisses bewusst. | |||
==== '''·''' Der Gleichgewichtssinn und das Wirken von Manas ==== | |||
'''Manas, ''das Geistselbst,''''' ''der vollkommen vom Ich beherrschter Astralleib'', würde uns Gleichgewichtssinn-Erlebnisse ermöglichen, indem er ausdehnend auf den Ätherleib wirkt, ihn sozusagen in die eigene Ausdehnung mitnimmt. Dadurch würde Manas den Ätherleib insofern vergeistigen, als dadurch im Physischen ein Freiraum entstünde. Der Ätherleib würde gleichsam Platz machen, damit sich das dreidimensionale Gleichgewichtsorgangebilde in Form von drei halbzirkelförmigen Kanälen wie von außen als wunderbar strukturiertes Gebilde hereinwölben und ganz frei ausbilden könne, bevor es schlussendlich „eingemauert“ wird im Felsenbein. | |||
Das ist die sehr interessante, gar nicht einfach nachzuvollziehende, aber geisteswissenschaftlich ganz exakte Erklärung, wie es zur besonderen Formung der Sinnesorgane kommt und wodurch wir sie erleben können. | |||
=== 2. Die mittleren Sinne aus geisteswissenschaftlicher Betrachtung === | |||
Unsere mittleren Sinne, ''Geruchssinn, Geschmackssinn, Wärmesinn und Hörsinn'', können laut Steiners Ausführungen überhaupt nur dank der als Ideal veranlagten Wesensglieder – '''Empfindungsleib, Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewusstseinsseele''' – wirken. Und damit sind die im Menschen selbst liegenden Möglichkeiten ausgeschöpft. | |||
=== 3. Die oberen Sinne aus geisteswissenschaftlicher Betrachtung === | |||
Unsere oberen Sinne, ''Sehsinn, Gedankensinn und Wortsinn'', können nur durch die Mitwirkung von Engel und Erzengel funktionieren: | |||
* '''Die Erzengel''' ermöglichen uns ''über den Sprachsinn das Hören''. | |||
* '''Der im Ätherischen lebende Christus''' ermöglicht uns ''über den Gedankensinn das individuelle Wahrnehmen von Gedanken''. | |||
Man sieht hier die Anknüpfung an die Christus-Opfer, dass Engel und Erzengel dem Christus dienen, damit in den höheren Sinnen die in diesen Organen notwendige Selbstlosigkeit vorhanden ist. Da wir mithilfe unserer oberen Sinne unsere Meinung am stärksten, gewaltsamsten und inkompetentesten vertreten, brauchen wir hier die Hilfe der Erzengel, die ja Gruppenengel sind, damit wir überhaupt verstehen können, was der andere sagt. | |||
Deswegen ist die Sphäre der oberen Sinne auch so anfällig für dämonische Gruppenwesen, die über Parolen und Musik das Ich wie auslöschen. Wenn Engel, Erzengel und die Christus-Präsenz wie ausgeschaltet werden, können wir nicht mehr richtig wahrnehmen. | |||
=== ''Alle Sinne unter dem Schutz der Hierarchien'' === | |||
* Der Bereich der ''mittleren und unteren Sinne'', wo unser Zukunftsmensch – sozusagen die ursprüngliche Menschenidee – zu Hause ist, steht '''unter dem Schutz des Vatergottes'''. | |||
* ''Ich-Sinn'' und ''Tastsinn'' lässt Rudolf Steiner hier aus. Diese beiden Felder stehen in direktem Zusammenhang '''mit der vatergöttlichen (Tastsinn)''' und '''der geistgöttlichen (Ich-Sinn) Instanz'''. | |||
* ''Die anderen oberen Sinne'' sind '''mit der Christussphäre verbunden'''. | |||
Über die Sinnessphäre erfährt der Mensch eine vollkommene Einbettung in die hierarchische Welt, die schon am Zukunftsmenschen schafft, wenn wir entsprechend mitmachen. Auf dieser Grundlage kann man dann auch verstehen, wieso gerade das Wahrnehmen mit den unteren Sinnen, wenn wirklich empfunden und erlebt wird, was diese uns seelisch geben, die höchste menschliche Eigenschaft darstellt. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Bewegungssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
== FRAGEN UND ANTWORTEN ZU DEN SINNEN == | |||
'''''FRAGE:''''' ''Warum plastizierte Rudolf Steiner das Gleichgewichtsorgan am Treppenaufgang zum ersten Goetheanum?'' | |||
'''ANTWORT:''' Diese wunderbare Säule ist wie eine kleine Kolumne, auf der das Gleichgewichtsorgan sitzt. Dieses Abbild der Aufrechte und des eigenen Gleichgewichtsorgans gibt, indem man es anschauend unbewusst nachahmt, bevor man die Treppe hinaufgeht, einen Gleichgewichtsimpuls. Es ist eine schöne künstlerische Geste, das Gleichgewichtsorgan vor den Treppen zu positionieren, da das Treppensteigen bei vielen ein sehr unharmonisches Gehen bewirkt – weil man dabei Mühe mit dem Gleichgewicht-Herstellen hat. | |||
=== ''Karmische Ursache für „organische Unordnung“'' === | |||
'''''FRAGE:''''' ''Dann eine Frage zur karmischen Ursache für „organische Unordnung bei Neugeborenen“, wenn Organe am falschen Ort sind oder noch in die Nabelschnur verlagert sind, nicht richtig im Körper drin sind.'' | |||
'''ANTWORT:''' Das sind Störungen, die jetzt nicht primär mit der Sinnesentwicklung zu tun haben, sondern tief karmische Ursachen haben. Das gehört in eine andere Domäne, denn die Ursache für sogenannte Missbildungen oder Organ-Irrtümer liegen in Taten in einem früheren Leben, die sozusagen „am falschen Platz“ waren, die aus dem Leben herausgefallen waren, die den Lebenszusammenhang geschädigt haben. Die Ursachen dafür können einerseits im eigenen Schicksal, in der Vergangenheit, liegen. Oder aber man hat ganz bewusst geplant, lebenslang mit so einem Widerstand zu ringen, weil man eine ganz bestimmte ''Heiltat'' in einem zukünftigen Leben vorhat, für die man Überschusskräfte braucht, um dann etwas wirklich Böses zu überwinden. D.h. Kräfte dort zum Einsatz zu bringen, wo sie Gutes bewirken. | |||
Das Schöne an der anthroposophischen Schicksalslehre ist, dass man nie mit einer normalen, bürgerlichen Moral auskommt, sondern bestens beraten ist, wenn man ganz am Phänomen bleibt und merkt: Hier will jemand etwas ganz Bestimmtes lernen und schafft sich deswegen ganz besondere Umstände, bestimmte Bedingungen, unter denen er oder sie das dann bewerkstelligen kann. Dann bleibt man „in der Mitte“ mit seiner Diagnostik, das ist zumindest meine Erfahrung, und übergibt die Verantwortung – bzw. die Deutungshoheit über das Geschehen – den Menschen, die von diesem Schicksal betroffen sind. Natürlich will der Mensch wissen, was mit ihm geschieht und warum. | |||
Jesus im Evangelium sagte sinngemäß: ''Du musst es sagen. Du musst es wissen, es ist dein Leben, dein Schicksal: Was willst du daraus machen? Wie willst du werden? Was willst du, dass ich dir tun soll? Sage es – dann kann ich handeln! Ich will und kann dich nicht entmündigen.'' Diese Haltung ist für uns Therapeuten sehr wichtig – weswegen wir uns auch hüten sollten, selber einem Guru anzuhängen, dessen Wissen man konsumieren kann, sodass man sich nicht mehr selbst anstrengen muss Antworten zu finden. Das führt uns vom Pfad ab. | |||
=== ''Sinnespflege in Todesnähe'' === | |||
'''''FRAGE:''''' ''Wie geht man mit der Sinnespflege um in Todesnähe, in der Palliativ-Medizin?'' | |||
'''ANTWORT:''' Mit sterbenskranken Menschen haben wir die größten Erfolge mit der Musiktherapie, aber auch mit der Maltherapie, wenn die Betroffenen noch sehen können, manchmal auch nur, indem man ihnen ein schönes Bild aufhängt, das sie dann stundenlang ansehen können. Wie sich die ganze Mimik eines Menschen verändert, wenn er plötzlich etwas Schönes sehen darf oder etwas, was ihn an ein wesentliches Moment in der Biographie erinnert! Kennt der Therapeut den Erkrankten gut, so kann er für ihn auch ein therapeutisch wirksames Bild malen. | |||
Aber jetzt zu den Willenssinnen. Wenn man eine/n Sterbende/n begleitet und sie/ihn fragt – ''Was würdest du denn gerne noch einmal machen? Hast du einen besonderen Wunsch?'' – dann wünschen sich manche, noch einmal in der Badewanne liegen zu dürfen. In dem Fall sollte man sich die Mühe geben, das hinzukriegen – mit einem schönen Badezusatz, alles so, wie derjenige es am liebsten hat. Und dann geht es wieder ins Bett. Manchmal kann diese Sinnesfreude, diese letzte volle Lebensbejahung, der entscheidende Impuls zum Loslassen und Sterben-Können sein. Meiner Erfahrung nach besteht die beste Sterbebegleitung darin, Freude am Leben zu ermöglichen: dass der betroffene Mensch das Leben noch mal liebgewinnt und genießt. Über kleine Dinge lächeln kann: Ein Stück weiches Fell tasten zu dürfen, eine Bienenwachs-Kugel in die Hand zu nehmen und zu erleben, wie sie langsam warm wird und zu duften beginnt. Es sind oft einfache Dinge – wir müssen nur daran denken. Kinder und alte Menschen haben Freude am Einfachen. | |||
=== ''Genießen im Alter lenkt wohltuend ab'' === | |||
Manche haben jedoch im Laufe des Lebens verlernt sich zu freuen, zu genießen. Sie sind vielleicht verbittert und haben dann in den letzten Monaten auf der Palliativ-Station noch einmal die Möglichkeit, mit Hilfe von Kunsttherapeuten und wirklich gut ausgebildeten Pflegenden, die Sinneswelt in ihrer Sinnhaftigkeit zu erleben. Zu erleben, wie Schmerz in den Hintergrund tritt durch schöne Tasterfahrungen, durch rhythmische Massage evtl. durch eine Abwaschung, durch eine Öl-Einreibung, eine Auflage, einen guten Tee. Diese Sinnesanregungen sind für mein Empfinden das Allerwichtigste, was man für die Betroffenen tun kann. Dadurch bekommen sie Zuwendung, die durch die Ablenkung von der eigenen Schmerzzone sogar auch eine Reduktion von Schmerzmitteln bewirken kann. | |||
Erinnert euch, die Schmerzbahnen gehen nicht bis zum Großhirn. Sie enden unterhalb und in der Mitte des Gehirns, diffus verteilt. Wenn man also das Bewusstsein, die Großhirn-Wachheit, ablenkt und auf etwas anderes richtet, auf angenehme Sinneseindrücke wie wohliges Empfinden, ein gutes Gespräch oder eine passende Musik, dann hat der Astralleib „Besseres zu tun“ und empfindet den Schmerz nicht mehr so. | |||
=== ''Nicht mein, sondern dein Wille geschehe'' === | |||
'''''FRAGE:''''' ''Wenn man bei jemand, einem Kind oder einem Erwachsenen, der heilpädagogisch zu betreuen ist, die Hand führt bei Formenzeichnen – ist das gut, darf man das? Oder soll man denjenigen nicht lieber selbst kritzeln lassen?'' | |||
'''ANTWORT:''' Das ist zu hundert Prozent eine Frage des ''Wie''. Ich darf es, wenn ich es mit der Haltung tue: Ich ersetzte dir die Ich-Funktionen, die du derzeit nicht handhaben kannst. Ich bin jetzt du, ich diene ganz und gar dir. Ich ersetzte dir etwas, was du im Moment nicht handhaben kannst. Das ist das eine. Zweitens muss erlebbar sein, dass der andere es will. In einem dritten Schritt ist dann wichtig, das Werk mit dem Betreffenden so anzuschauen, dass er spürt, dass es eine Gemeinschaftsleistung ist, dass er einbezogen ist. Es geht hier vor allem um das soziale Erleben: Wir haben das gemeinsam getan, haben überhaupt etwas getan! Dann ist so eine Maßnahme sehr gut. Wenn ich mich hingegen als Boss aufspiele und das Kind meine Übermacht fühlen lasse, ist das kontraproduktiv. | |||
Die Ethik der Anthroposophischen Medizin ist unter diesem Aspekt wie inspiriert von der Szene im Garten Gethsemane, wo Jesus zu seinem Vater betet: ''„Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“''[1] Wir instrumentalisieren unsere Kompetenzen, stellen sie in den Dienst des Kranken – hoffend, dass er ein Stückchen weiterkommt. Das ist im Sinne der Lebensprozesse: Wachstum und Reproduktion. Wenn ich etwas übrighabe und es in den Dienst eines anderen stellen kann, so arbeite ich heilend und Leben fördernd. | |||
''Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung'' | |||
----[1] Neues Testament, ''Lukas'' 22:42. |
Aktuelle Version vom 6. April 2025, 10:16 Uhr
Sinne und Sinnespflege – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
ALLGEMEINES ZUM THEMA SINNE
Was macht die Sinneslehre so besonders und herausfordernd?
Inwiefern ist sie die Achillesferse sowohl der anthroposophischen Menschenkunde wie auch der schulmedizinischen Physiologie?
Herausfordernde Sinneslehre
Rudolf Steiners Ausführungen zu den Sinnen machen einen großen Teil seines Werkes aus. Denn das Thema Sinne ist eine Art Achillesferse der Anthroposophischen Menschenkunde wie auch der schulmedizinischen Physiologie. In seiner Schrift „Anthroposophie, ein Fragment“[1] schildert Rudolf Steiner die Sinneslehre als das erste Kapitel, ja sogar das Fundament der Anthroposophie. Warum? Weil auf diesem Gebiet die Grenzen eines reduktionistischen und materialistischen Weltbildes offensichtlich sind. Nirgendwo spürt man die Erkenntnis-Ohnmacht der heutigen anerkannten Wissenschaft so deutlich wie hier. Man weiß noch immer nur wenig über die vielfältigen Auswirkungen der Sinnestätigkeit auf die Verfasstheit des ganzen Menschen. Rudolf Steiner hoffte, dass jeder, der die Sinneslehre studiert, selbst bemerkt, dass der Geist real ist. Wenn wir dieses große Gebiet im Detail durcharbeiten, können wir einen gewaltigen Beitrag zur Überwindung des Materialismus in der Medizin leisten.
Sinne als Öffnungen zur Umwelt
Wir sprechen von den Sinnen als von speziellen Öffnungen zur Umwelt hin. Jeder Sinn besteht aus sogenannten Rezeptoren oder Sensoren, die spezifisch gereizt werden müssen,[2] damit es zu einem echten Sinneseindruck kommt. Der sogenannte adäquate oder spezifische Reiz stimuliert dann ein bestimmtes Sinnesorgan. Jedes einzelne Sinneshaar ist nervös umsponnen wie von einer feinen Spindel. Und von jedem Haar geht ein feiner Nervenfortsatz aus, der sich nach innen hin mit anderen zu größeren Nervenleitungsbahnen vereinigt und ins Rückenmark mündet.
Die Sinneseindrücke werden über das Nervensystem zum Rückenmark, zum Mittelhirn, zum Kleinhirn, und manche bis hin zum Großhirn geleitet. Je nachdem werden sie uns mehr oder weniger bewusst. Die Nerven unter der Regie des Astralleibes sind die Bewusst-Macher. Auf entsprechenden Abbildungen kann man sehen, wie die Nerven und die Organe aufeinander zu wachsen. Das allein verbietet den Kurzschluss, Gedanken würden durch Nerven hervorgebracht bzw. die Frage, wer wen bedingt. Denn es ist offensichtlich eine Wechselwirkung: Wenn es kein Organ gibt, wächst auch kein Nerv drauf zu. Und wenn kein Nerv vorhanden ist, verkümmern die Organe.
Eine Übersicht vom Gesamtaufbau des Gehirns (zentrales Hirn, Rautenhirn, Stammhirn, Kleinhirn und Hypophyse) zeigt,
- dass wir alle Sinneseindrücke, die ihre Repräsentationszonen an den Rindenfeldern haben, mit wachem Bewusstsein wahrnehmen.
- Wenn Sinneseindrücke jedoch mehr in der Tiefe verarbeitet werden und nur an die Rinde ausstrahlen, wie Schmerz- oder Wärmeeindrücke, gibt es einen großen Spielraum in der Art, wie wir damit umgehen: Das zeigt sich daran, dass der Umgang mit Schmerzen und Wärme sehr individuell ist, ja regelrecht geschult werden kann. Andererseits merken wir auch viel weniger von der eigentlichen Verarbeitung.
Jede Sinneserfahrung ist ein Tasten
In „Anthroposophie ein Fragment“[3] sagt Rudolf Steiner gleich zu Anfang, der Tastsinn könne am allerwenigsten isoliert für sich betrachtet werden: Denn auch die Augen und die Ohren können tasten und die Wärme sei ebenfalls eng mit dem Tastsinn verbunden. Das kann jeder sehr gut im Selbstexperiment nachvollziehen, indem man sich fragt:
Inwiefern taste ich Farben und Formen ab?
Wo ertaste ich Klangqualitäten?
Deshalb sagte Steiner: Alles Sinnliche an sich sei ein Tasten. Deshalb gebe es den Tastsinn als eigenen Sinn eigentlich nicht. Dennoch ordnet er dem Tastsinn zusammen mit dem Ich-Sinn später einen Ort zu. Damals war noch nicht erforscht, wie komplex der gesamte Sinneszusammenhang ist: Wie eng der Wärmesinn und die anderen Sinne miteinander verflochten sind und dass es keine klare Zuordnung gibt in Form von Wärmetastkörperchen, sondern dass die anderen Nervenendigungen an der Wärmewahrnehmung mit beteiligt sind.
Tastsinn als Ur-Sinn
Unsere Körperoberfläche, die Haut, ist eine Art Ur-Sinn. Schon am Ende des zweiten Monats in der Embryonalentwicklung ist die Haut ein voll funktionsfähiges Tastorgan. Bereits der Embryo tastet schon alles nach innen und nach außen ab. Auch die Oberflächen unserer inneren Organe, die Schleimhaut wie auch die äußere Haut sind tastfähig. Sie bilden ein einziges großes Sinnesorgan zum Tasten, zum Wahrnehmen von Grenzen im Prozess des ständigen Sich-Weiterbildens, Weitergestaltens an der Grenze.
Der Tastsinn kann als Prototyp eines Sinnesorgans gesehen werden. Denn lange bevor Auge und Ohr sich bilden, ist dieses Tasten bei Mensch und Tier schon aktiv aufgrund der Tatsache, dass jede Zelloberfläche sensibel ist: Das Wesen der Oberfläche ist Sensibilität. Deshalb kann bereits ein Einzeller die Umgebung durch die sensible Zelloberfläche wahrnehmen und kann auf mechanischen und auf chemischen Druck sowie auf Berührungsreize reagieren. Genau das tut auch schon die Eizelle: Erst im Zuge des Wachstums bilden sich spezielle Organe für die Wahrnehmung – die Nerven. Man kann sagen: Am Anfang war die Sensibilität, die sensible Zelle, der Sinn für die Grenze, das Tasten.
Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
[1] Rudolf Steiner, Anthroposophie – Ein Fragment, GA 45, II. Der Mensch als Sinnesorganismus, S. 33.
[2] Ein unspezifischer Reiz liegt z.B. vor, wenn man einen Schlag auf den Kopf bekommt. Da reagiert man mit Schmerz und „sieht Sterne“, was jedoch mit einem echten Sinneseindruck nichts zu tun hat.
[3] Siehe Fußnote 1.
PROBLEM DER VERNETZTHEIT DER SINNE
Warum forschte Rudolf Steiner bis zuletzt an den Sinnen?
Womit hängen die Schwierigkeiten, die Sinne den entsprechenden Erfahrungsfeldern zuzuordnen, zusammen?
Was sagt die anthroposophische Sinneslehre diesbezüglich?
Komplexe Sinneslehre als Herausforderung
Die Sinnesfelder werden fast alle zehn Jahre etwas anders benannt und beschrieben. Auch die heutige Physiologie beschränkt sich längst nicht mehr auf fünf Sinne: Man spricht von einem Kraftsinn, einem Lagesinn – alle möglichen Sinne werden wie „erfunden“ – was mit der hochgradigen Vernetzung der Sinnesfelder zusammenhängt. Das kann helfen, Rudolf Steiner besser zu verstehen:
· Er sagte zu Anfang seiner geisteswissenschaftlichen Forschungen zu den Sinnen, die Haut wäre eine ganz peripher gelegene Sinnessphäre, ein riesengroßes Sinnesorgan, und deshalb wäre der Tastsinn mit allen anderen Sinnen vernetzt.
· Später betonte er, es sei wichtig, dass wir in der anthroposophischen Sinneslehre die eigentlichen spezifischen zwölf Sinnesfelder klar zu bestimmen und zu unterscheiden lernen: Denn sie stellen unterschiedliche Erfahrungsfelder dar, die eng mit dem Makrokosmos und dem Tierkreis zusammenhängen.
Und weil es auch für Rudolf Steiner nicht einfach war, diese Zusammenhänge erkenntnismäßig zu durchdringen, hat er bis zuletzt an der Sinneslehre gearbeitet. Er machte z.B. drei verschiedene Anläufe, die Sinne dem Tierkreis zuzuordnen: einmal unter dem Aspekt von Tag und Nacht, dann wieder unter dem Aspekt von Makrokosmos und Mikrokosmos. In seinem Notizbuch findet man Stellen, wo er einen Sinn durchstrich, einen anderen drüberschrieb. Das zeigt, wie er sich dem Thema immer wieder unter unterschiedlichen Aspekten näherte.
Zusammenarbeit der Sinne
Steiner erkannte auch, dass es keine Sinneserfahrung gibt, bei der nicht mehrere Sinne zusammenwirken. Denn um ein Berührungserlebnis richtig interpretieren zu können, muss man schon bei den feinsten Bewegungen zusätzlich zum Tastsinn den Bewegungssinn, den Lebenssinn und den Gleichgewichtssinn betätigen. Laut Rudolf Steiner entspreche es dem Wesen des Urteilens, Erlebnisse immer durch das Zusammenspiel von mehreren Sinneserfahrungen, die sich gegenseitig erklären, zu beurteilen – nur dass dieser Vorgang im Falle der Sinneswahrnehmung weitgehend unbewusst und schnell abläuft, dass man sich dessen normalerweise nicht bewusst ist.
Die Zusammenarbeit aller Sinne zeigt sich z.B. auch, wenn wir stolpern: Da arbeiten Gleichgewichtssinn, Bewegungssinn, Lebenssinn und Tastsinn unwillkürlich zusammen. Dass man nur ganz selten hinfällt, wenn man stolpert, liegt auch daran, dass im Kleinhirn das Stolpern bereits wahrgenommen wird und die Flucht-, Regulations- und Kompensationsmöglichkeiten der unteren Sinne greifen, bevor man überhaupt merkt, dass man gestolpert ist. Das ist die Gnade des Unbewussten. Es ist unser Glück, dass die Reize im unbewussten Kleinhirn landen und nicht an der Hirnrinde, wo wir erst nachdenken müssten und erst viel zu spät reagieren würden! Nein, hier spüren wir unmittelbar, dass das Leben bedroht ist: Der Gleichgewichtssinn sagt der Muskulatur, wie sie gegensteuern muss, damit man nicht stürzt, sondern sich wieder fängt. Eine fantastische überaus intelligente Kooperation!
Kompensation einzelner Sinne
Wenn andererseits Bereiche z.B. des Tastsinnes ausfallen oder wenn das Bogengangsystem krank ist oder zerstört wird durch einen Unfall bzw. wenn Gleichgewichtssinn oder Tastsinn geschädigt sind, dann übernehmen Auge und Ohr die entscheidenden Funktionen der ausgefallenen Sinne.
- Das Ohr kann über das Richtungs- und Entfernungshören die Gleichgewichtsfunktion übernehmen und feststellen, ob sich etwas hinter einem befindet.
- Ähnlich kann das stereotaktische Sehen genützt werden. Räumliches Sehen wird ja gelernt, da hilft der Tastsinn dem Auge und das Auge dem Tastsinn.
Eine gar nicht so einfache Gleichgewichtsübung aus der Eurythmie ist das U mit Gegenbewegung: Während ich die Arme parallel in der U-Geste nach unten führe, gehe ich zugleich langsam auf die Zehenspitzen: Während ich mich mit den Füßen immer höher und höher stemme, führe ich das U mit den Armen immer mehr in die Tiefe. Dann senke ich mein Gewicht langsam auf die Fersen, während die Arme parallel nach oben wandern. Mit offenen Augen kann das fast jeder ohne zu wackeln ausführen. Mit geschlossenen Augen kann man erleben, in wie hohem Maß das Sehen den Gleichgewichtssinn ersetzt, kompensiert und ergänzt. Denn mit geschlossenen Augen kann diese Übung nur ausführen, wer über einen gesund entwickelten Gleichgewichtssinn verfügt.
Sinne als Erlebnisfelder erkennen
Einen anderen Blick auf die Komplexität des Themas Sinne gewinnen wir, wenn wir uns die Frage stellen, welche Gebiete des Daseins uns die einzelnen Sinne erschließen sollen oder wollen. Denn wir leben mit unserem Bewusstsein, mit unserem Denken, Fühlen und Wollen, dort, wofür wir einen Sinn (entwickelt) haben. Und wofür wir keinen Sinn haben, das erschließt sich uns auch nicht als Erlebnis. Und so ist es eben ein Unterschied, ob ich von einem Tastsinn, Bewegungssinn und Lebenssinn spreche, also von Tasten, Leben und Bewegen, oder ob ich von einem Kraftsinn spreche. Kraft ist etwas rein Übersinnliches. Kraft kann man nicht wahrnehmen, nur indirekt darauf zurückschließen. Wir müssen unterscheiden, dass wir andere Dinge sinnlich wahrnehmen, auf Kraft aber rückschließen, weil wir über Geisteskraft verfügen, die sich im Sinnlichen betätigt – und damit im Bereich der Interpretation landen. Allein das zeigt, dass ein großer Gesprächsbedarf zwischen anthroposophischen Ärzten und Vertretern der heutigen Physiologie besteht.
Bis heute liegt noch keine wirklich vollständige anthroposophische Sinneslehre vor – trotz der schönen Ansätze von Wolfgang Michael Auer[1] und anderen. Eine anthroposophische Sinneslehre müsste zwölf Bände füllen! Für jeden Sinn müsste es einen Band geben, weil die ganzen Experimente und Forschungen bis hin zu den exakten Angaben, an welchen Tieren was exemplifiziert wurde, miteinbezogen werden müssten. Das ist ein riesen Forschungsgebiet für die Zukunft.
Vgl. Vortrag „Der Bewegungssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
[1] Wolfgang-M. Auer, Sinnes-Welten, Kösel-Verlag 2007.
AUFGABE DER SINNE
Welche Aufgabe haben die Sinne aus geisteswissenschaftlicher Sicht?
In „Anthroposophie – ein Fragment“[1] ist zu lesen: „In anthroposophischer Beleuchtung darf alles dasjenige ein menschlicher Sinn genannt werden, was den Menschen dazu veranlasst, das Dasein eines Gegenstandes, Wesens oder Vorganges so anzuerkennen, dass er dieses Dasein in die physische Welt zu versetzen berechtigt ist.“
Sinne als Schwelle zwischen physisch und geistig
Diese Worte Rudolf Steiners besagen, dass es um das Dasein, um das Wesen, um Vorgänge in der sinnlichen, der physischen Welt geht. Die Sinne sind gleichsam die Schwelle für das Ich, an der es zwischen der Sinneswelt und der Geisteswelt steht und an der es ganz klar unterscheiden lernt zwischen dem, was der physischen Welt und dem, was dem Seelisch-Geistigen angehört. Das heißt, die Sinnesorgane geben dem Ich die Möglichkeit, die Schwelle zur geistigen Welt als Schwelle überhaupt erst zu realisieren. Das muss so deutlich gesagt werden, weil unser Erleben als solches geistig-seelischer Natur ist:
- Unsere Gedanken sind reine ätherische Kraft, sind übersinnlich. Noch kein Mensch – auch nicht der raffinierteste Sinnesphysiologe – konnte einen Gedanken sinnlich sichtbar machen.
- Auch unsere Gefühle sind nicht sinnlicher Natur. Man behauptet ja, sie werden im Nervensystem, im limbischen System, durch Hormone und das, was die Hormone mit den Nerven machen, erzeugt. Das lässt sich jedoch nicht zeigen.
Sinne als Werkzeuge der Verortung im Physischen
Einzig die Sinne sagen uns Menschen, ob eine Erfahrung in dieser Welt stattfindet oder ob wir uns im Übersinnlichen befinden. Sie sind die Organe, durch die dem Kind im Laufe von Wachstum und Reifung klar wird: Ich bin auf der Erde, ich bin nicht mehr in der geistigen Welt. In den ersten Lebensjahren wächst das Kind langsam aus der vorgeburtlichen Welt heraus und lernt die Dinge, Wesen und Vorgänge, die es eigentlich in sich erlebt, als in der physischen Welt befindlich zu erkennen. Alle kleinen Kinder sind hellsichtig, sie können nur nicht darüber sprechen. Aber man merkt es, wenn man sie beobachtet.
Die Möglichkeit, Mensch zu werden, ein Wesen zu sein, das lernt sich selbst zu erkennen, sich selbst zu bestimmen und sich selbst zu entwickeln, verdanken wir der Sinneswelt, die uns dazu zwingt, Abstand zu nehmen vom Geist. Der Materialismus – hoch sei er gepriesen! – schneidet uns vom spontanen Wissen um den Geist ab. Die Sinne helfen uns, uns in dieser Welt der Objekte zu verorten und uns als verletzliches physisches Werkzeug zu erleben, das vergessen hat, dass es einen geistigen Ursprung hat.
Geistige Erfahrung im Sinnlichen
Die Anthroposophie stützt sich auf die Sinnesfelder und ihre Erlebnisformen, um aufzuzeigen, dass wir es hier mit Realitäten, mit geistiger Erfahrung im Sinnlichen, zu tun haben – weswegen Rudolf Steiner die Sinneslehre das erste Kapitel der Anthroposophie nennt. Auf diesem Gebiet zeigt sich die Interpretationsschwäche des Materialismus in seiner „geistigen Dummheit“ besonders deutlich. Der Materialismus als Weltanschauung ist zwar sehr gut dafür geeignet, die in der physischen Welt stattfindende Destruktivität, Manipulation, aber auch Ursachen und Wirkmechanismen von Abhängigkeiten in einem sehr eng gesteckten Rahmen genau zu erforschen. Da gibt es nichts Besseres.
Aber in dem Moment, in dem man etwas in einem größeren Zusammenhang verstehen will, kommt diese Weltanschauung sehr schnell an ihre Grenzen. Insofern kann uns die Vertiefung in die anthroposophische Sinneslehre als Werkzeug dienen, als Hebel für die eigene Erfahrung, die wir zur Annäherung an die geistige Realität brauchen.
Alle Sinne sind reine Ich- und damit Willenstätigkeit. Die Sinnessphäre ist die wache Ich-Sphäre:
- Ich nehme das Ich des anderen wahr.
- Ich nehme die Gedanken des anderen wahr.
- Ich nehme die Worte, die Ausdrucksweisen, die Körpersprache eines anderen Menschen wahr. Ich höre, ich sehe und erlebe Wärme usw.
- Ich, ich, ich…
Doch sind neben der Sinneserfahrung noch andere Interpretations- und Gedankenformen vonnöten, damit man sich als Individuum überhaupt in dieser Welt – nicht nur physisch, sondern auch seelisch und geistig – beheimaten kann.
Denken als Sinn für Geistiges
In der geistigen Welt sind wir getragen von und geborgen in den Hierarchien. Wir leben zwischen Tod und Geburt ein Leben ohne Selbstverantwortung. Wir sind in der Verantwortungssphäre der höheren Hierarchien und können nur in dem Maß an der Vorbereitung unserer nächsten Biographie mitgestalten, in dem wir uns im letzten und im vorletzten Leben befähigt haben, die Hierarchien wahrzunehmen und uns ihnen erlebend gegenüberzustellen. Dazu müssen wir geistige Sinne für geistige Wesen entwickelt haben.
Der schlichteste Sinn für Geistiges ist unser Denken, denn es ist bereits ein geistiges Tastorgan. Ein guter Gedanke beglückt mich, weil er mein Ich als geistige Wirklichkeit berührt. Gedanken sind wie sensible Zelloberflächen gegenüber der geistigen Welt. Das Ätherische (des Gedankenlebens) ist die Berührfläche zu dem, was sich geistig bis ins Ätherische herein offenbaren kann als Vision, als Imagination.
Ein Sinn offenbart uns geisteswissenschaftlich gesehen den Geist von außen: Die ganze Schöpfung, die Taten Gottes, der Hierarchien, der Elementarwesen, sehen wir dank der Sinne von der materiellen Außenseite her. Und wenn ich den Sinnen vertrauen gelernt habe und mein Verstand mich wach erhält, kann ich erkennen, dass das, was seelisch-geistig in mir lebt und das, was mir über die Sinne von außen sichtbar wird, ein und dasselbe ist. Welterkenntnis wird zu Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis wird zu Welterkenntnis.
Sinnesschulung aus anthroposophischer Sicht
Sinnesschulung unter dem definitorischen Diktum, was in anthroposophischer Beleuchtung ein Sinn ist, würde bedeuten, dass wir folgenden Gang antreten: vom Ich über die Seele (Astralleib) über das Leben (Ätherleib) zum Sinn (physischer Leib) und dadurch in die Begegnung mit etwas Sinnlichem: mit Farbe, Form, Klang, Geschmack, Geruch. Wir können ja sämtliche Sinne an der Farbe, am Ton etc. aktivieren. Das möchte ich am Beispiel des Tastens ausführen:
Was ertaste ich, bis ich zu der scheinbar materiellen Außenwelt komme?
Über Farbe und Licht wird etwas offenbar, was mit der Seele Verwandtschaft hat. Im Johannes-Prolog heißt es sinngemäß: Wenn sich das Ich inkarniert, kommt es in sein Eigentum. Das Licht scheint in die Finsternis – in die Sinnlichkeit – und wenn es aufgenommen wird von dieser Sinnlichkeit, dann kann das Geistige, das sich in Licht, Farbe und Form im materiellen Dasein schaffend offenbart, sich wieder mit dem Seelisch-Geistigen im Menschen vereinigen. Der Mensch kann an der Außenwelt das Seeleninnere erkennen und kann mit dem so geweckten Seeleninneren dem Außen mit mehr Dankbarkeit, Freude, Respekt und Wachheit u.a.m. begegnen.
Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
[1] Rudolf Steiner, Anthroposophie – ein Fragment, GA 45, II. Der Mensch als Sinnesorganismus, S.31.
KÖRPERORIENTIERTE SINNE
Welches sind unsere körperorientierten Sinne?
Welche Möglichkeiten der Pflege und der Schädigung gibt es?
Die unteren Sinne
Die ersten vier Sinne, auch untere Sinne genannt, sind stark mit dem Körper und seinen Funktionen verknüpft. Die Wahrnehmung ist stark körperabhängig.
1. Der Tastsinn
Der wichtigste Sinn, vor allem in der ersten Lebenszeit, ist der Tastsinn. Sein Organ ist die Gesamtheit der inneren und äußeren Haut.
Welche Art von Selbsterfahrung verdanken wir dem Sinn, der uns unsere Körperperipherie bewusst macht?
Der die Grenzbestimmung des Leibes schlechthin ist?
Durch den wir uns überhaupt erst als ein von der Umwelt abgegrenztes Selbst erleben können?
Der Tastsinn ist die Grundlage für unser Selbstbewusstsein. Denn solange man nicht spürt, dass man Grenzen hat, kann man sich nicht als autonomes Selbst erkennen. Wenn ich z.B. meine Handflächen aneinander lege, kommt es bei mir zu einer verstärkten Selbstwahrnehmung. Solange ich mich nicht berühre, bin ich mit meiner Aufmerksamkeit ganz bei Ihnen und habe nur eine sehr geringe Selbstwahrnehmung. Indem ich mich aber selbst anfasse, spüre ich mich selbst stärker und ziehe sofort meine Aufmerksamkeit von Ihnen ab. Der Tastsinn verstärkt die Selbstwahrnehmung, ermöglicht uns aber auch das unglaublich schöne Erlebnis, mit den Füßen den Boden zu ertasten und zu erfahren, dass der Boden uns stützt.
Der Tastsinn vermittelt uns: Ich werde getragen, werde gestützt, bin geborgen. Ich habe eine Umwelt, die mich aufnimmt. Ich bin zwar isoliert innerhalb meiner Grenzen, aber ich bin zugleich auch geborgen. Ich bin als ein einzelnes Wesen aufgenommen in ein Ganzes. Das Gefühl, das aus dieser Selbsterfahrung durch den Tastsinn resultiert, ist Vertrauen in das Selbst, in die Existenz, in das Dasein, in die Existenzerfahrung schlechthin.
Wenn mit dieser Tasterfahrung, wie im Falle der Kindsmisshandlung oder des sexuellen Missbrauchs, Unrechtserlebnisse und Grenzüberschreitungen zustande kommen, wird die Selbsterfahrung empfindlich gestört, sodass das Kind das, was es erlebt, tief ablehnen muss und kein Vertrauen daran entwickeln kann. Das führt bei der Entwicklung des späteren Selbstbewusstseins zu Uneinigkeit mit sich selbst und tiefer Verunsicherung.
Zur Pflege dieses Sinnes ist es wichtig, dass ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt wird zwischen Geborgenheit und das Sich-selbst-überlassen-Sein. Wenn ich Kinder zu lange nur mit mir herum trage, haben sie es später schwerer, die für die Selbstständigkeit nötigen Einsamkeitserlebnisse zu machen. Wenn ich das Kind zu früh sich selbst überlasse, wird es sich ungeborgen fühlen. Ich muss also wechseln in einem möglichst angenehmen Rhythmus, damit das Neue sich immer angenehm erfrischend und belebend auf das erwachende Selbstbewusstsein auswirkt.
2. Der Lebenssinn
Der Lebens- oder Vitalitätssinn ist ebenfalls ganz stark mit dem Körper verbunden durch sein Organ, das vegetative Nervensystem. Es nimmt wahr, wie die Organe im Organismus zusammenarbeiten. Arbeiten sie harmonisch zusammen, ist das Erleben von körperlicher Harmonie und Übereinstimmung die Folge, körperliches Wohlbefinden. Arbeiten die Organe unregelmäßig oder liegt Hunger vor oder irgendein Mangel, dann meldet der Lebenssinn Unbehagen, Disharmonie, fehlende Übereinstimmung im Körper. Zur Pflege dieses Sinnes, die außerordentlich wichtig ist, sollte auf einen guten Wechsel zwischen Hunger und Sättigung geachtet und weder das eine noch das andere übertrieben werden.
Durch den Lebenssinn kann der Mensch auf tiefgreifende Weise Harmonie erleben. So wie ihm durch den Tastsinn die Tatsache seiner Existenz erlebbar wird, so erlebt er durch den Lebenssinn, dass er eine in sich stimmige und harmonisch zusammenstimmende Ganzheit ist. Auch dieser Sinn hat eine weitreichende soziale Komponente. Der Lebenssinn hat nicht nur mit dem körperlichen Harmonieempfinden zu tun. Das Kind nimmt durch die tiefe körperliche Wahrnehmungsfähigkeit des Lebenssinns auch alle Unstimmigkeiten und Disharmonien in der Umgebung wahr. Ist der Lebenssinn nur mangelhaft entwickelt, leidet der Betroffene daran, nur mangelhaft mit sich und der Welt in Übereinstimmung kommen zu können. Je regelmäßiger und besser aufeinander abgestimmt der Tagesablauf ist, je harmonischer die Menschen im Umfeld des Kindes zusammenarbeiten und die Vorgänge ineinander greifen, umso aufbauender wirkt sich das auf die Selbsterfahrung des Kindes aus.
Menschen, die von klein auf einen gut entwickelten Lebenssinn haben, bei denen ein gesundes Harmonieempfinden Teil ihres Selbstbewusstseins ist, können später in Bereichen arbeiten, in denen es um Ausgleich und Heilung geht. Sie haben die Fähigkeit, für ausgewogene Verhältnisse zu sorgen, haben einen feinen Sinn dafür, wo etwas fehlt und wie es ergänzt werden kann. Ärzte und Therapeuten brauchen einen gut entwickelten Lebenssinn. Wenn sie ihn nicht haben, müssen sie ihn entwickeln, um therapeutisch arbeiten zu können. Das Schöne ist ja, dass man durch Selbsterziehung vieles nachreifen lassen kann, was in der Entwicklung verabsäumt wurde.
3. Der Bewegungssinn
Der so genannte Bewegungssinn ist auch noch stark körperorientiert. Er stützt sich als Eigenbewegungssinn auf die Muskelspindeln, die Rezeptoren in den Muskeln. Mit ihm kann man die Qualität einer Bewegung im Raum unmittelbar wahrnehmen.
Der Bewegungssinn bildet die Grundlage für die Ausbildung dessen, was später unser Freiheitssinn ist, ist die körperliche Verankerung dafür. Er ermöglicht die Erfahrung, dass der Mensch ein freies Wesen ist. Freiheit ist mehr als ein Wort. Bei der Beschreibung des Gelenksstatus spricht man von Freiheitsgraden, je nach Ausmaß der Beweglichkeit, ob es sich um ein Kugelgelenk oder um ein Scharniergelenk handelt. Schon Krabbelkinder gehen mit einem unbändigen Freiheits- und Untersuchungsdrang auf alles und jedes zu und reagieren total frustriert, wenn die Erwachsenen sie wegziehen, weil sie an irgendetwas geraten sind, das sie kaputt machen könnten. An ihrer Reaktion lässt sich ablesen, wie sehr sich das Durchkreuzen des freien Bewegungsimpulses des Kindes auf sein Selbstbewusstsein auswirkt.
Wenn man heute Anamnesen der frühen Kindheit macht, zeigt sich oft ein großer Mangel an Sinneserfahrungen. Man muss aufpassen, dass man Eltern nicht zu sehr verstört, wenn die Nachfrage ergibt, dass enorme Defizite in Bezug auf die Lebenssinn- und Bewegungssinnpflege vorliegen. Vieles, was später an Zwanghaftem auftaucht, aber auch der Umstand, dass jemand nichts Rechtes mit sich anzufangen weiß, sind auf solche Defizite zurückzuführen, weil sich das Freiheitsgefühl nie richtig entwickeln konnte und die Betroffenen nie wirklich erleben durften: „Ich kann, was ich will“. Es erfordert im späteren Leben viel Arbeit an sich selbst, diesen Sinn nachreifen zu lassen.
4. Der Gleichgewichtssinn
Das Organ für den Gleichgewichtssinn liegt im Innenohr und hat die Aufgabe, die Lage im Raum zu bestimmen. Darüber hinaus ermöglicht der Gleichgewichtssinn die Erfahrung, dass es bei allen Bewegungen und Lageveränderungen im Raum auch einen Ruhepunkt gibt, in dem Gleichgewicht herrscht und von dem aus Veränderungen wahrgenommen werden können. Diese wichtige Selbsterfahrungskomponente bildet die Grundlage dafür, dass der Mensch später ein meditatives Leben führen kann oder jemanden anderen zur Ruhe zu bringen oder in Hypnose zu versetzen vermag.
Kindern, die mit Stelzen laufen, wippen oder balancieren, oder auf Rillen zwischen den Pflastersteinen zu laufen versuchen, merkt man einen instinktiven Drang an, den Gleichgewichtssinn auszubilden. Sie wollen den Schwerpunkt finden, den Mittelpunkt des körperlichen Selbstbewusstseins. Sie machen beim Üben die Erfahrung: „Ich kann meinen Körper im Ruhepunkt halten, ich bin in mir zentriert.“ Menschen, die ständig die Tendenz haben, ihre Sinne zu stimulieren, vermeiden genau diese Erfahrung, die sie nicht kennen, vor der sie Angst haben wie vor einem Abgrund. Vieles an dieser Nervosität und Unruhe, an dem Drang sich ständig irgendwelchen Pseudobeschäftigungen auszusetzen, kommt daher, dass Kinder heutzutage immer weniger Möglichkeiten haben, den Gleichgewichtssinn ausgiebig zu schulen, insbesondere in den ersten drei Jahren, aber leider auch in Kindergarten und Schule.
Mit den unteren Sinnen verbundene Fähigkeiten
Die vier besprochenen körperorientierten Sinne sind die Grundlage für Eigenschaften, die sehr hohe spirituelle Qualitäten darstellen:
- Existenzvertrauen,
- Harmonie, Einklang mit dem Kosmos des eigenen Leibes, aber auch mit der Umwelt,
- Freiheitsfähigkeit
- und innere Ruhe.
Das sind potenzielle Fähigkeiten des Ich, derer man sich bewusst werden muss, um sie bewusst verstärken zu können. Je mehr man von sich weiß, je tiefer man diese Eigenschaften in sich erlebt, umso stärker wird das eigene Selbst-Gefühl. Durch Sinnesschulung kann man eine Selbst-Stärkung erreichen, die weit über ein „gutes“ Selbstbewusstsein hinausgeht.
Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997
SEELENORIENTIERTE SINNE
Welches sind unsere seelenorientierten Sinne?
Welche Möglichkeiten der Pflege und der Schädigung gibt es?
Die mittleren Sinne
Die seelenorientierten Sinne, auch mittlere Sinne genannt, wirken sich mehr auf das Seelische, und darüber hinaus auch auf das soziale Miteinander und den Umgang mit der Welt, aus. Seelisches spielt sich immer zwischen den Polen von Sympathie und Antipathie ab.
1. Der Geruchssinn
Der Geruchssinn vermittelt uns auf existentielle Art Erlebnisse von Ekel und Wohlgefühl. Der Mensch kann geschüttelt werden bis zum Erbrechen, wenn er etwas Ekelhaftes riecht. Beim Riechen erlebt man eine Art Kommunion mit dem Geruchsstoff. Denn die Geruchswahrnehmung ist ein molekulares Sich-Verbinden: Die Duftstoffe gehen eine echte Verbindung mit den Rezeptoren ein. Das bedeutet eine echte Kommunion auf substantieller Ebene, an der das Gefühl ganz tief beteiligt ist.
Unser Selbst macht die Erfahrung: Ich bin kommunionsfähig. Ich kann zerfließen, zusammenfließen mit dem Sein dieser Welt. Ich bin mit der Welt wesensmäßig verbunden. Mein eigenes Wesen, mein Körper ist im Erleben unmittelbar angeschlossen an das materielle Dasein meiner Umgebung. Die Kommunion vollzieht sich nicht nur mit dem Geist, sondern auch mit der Materie, mit allem. Das macht die Kommunionsfähigkeit des Ich erlebbar, die Wesensverbundenheit mit der Welt.
2. Der Geschmackssinn
Durch den Geschmackssinn, dessen Organ die verschiedenen Geschmacksknospen sind, wird das Sympathie-Antipathie-Erleben als wichtige Selbsterfahrung in sehr differenzierter Weise möglich und zunehmend verfeinert: Das Ich schmeckt, wo es sich mit der Welt vereinigen will und sagt daraufhin „ja“ zu dem Angebotenen und es schmeckt, wo es sich abgrenzen will und sagt deshalb „nein“.
Wir verwenden in unserem Sprachgebrauch die Worte „schmecken“ und „riechen“ manchmal auch für soziale Erfahrungen, für Kommunionserfahrungen mit anderen Leuten: „Den oder die kann ich nicht riechen.“ Oder: „Das schmeckt mir nicht.“ Man meint damit eine soziale Situation, die einem nicht ganz geheuer ist, der man nicht ganz traut. Um seelisches Erleben auszudrücken, wird oft ein Begriff aus der Geschmacksphysiologie herangezogen. Ein differenziertes Geschmacksvermögen befähigt die Menschen im sozialen Miteinander dazu, sehr genau zu spüren, was sie mögen, was ihnen bekommt und was nicht. So seltsam das klingen mag – der Geschmacksinn ist der Vorbereiter für einen späteren sensiblen, geschmackvollen Umgang miteinander, für die Fähigkeit, Dinge und Situationen und Vorgänge sozial-ästhetisch zu beurteilen.
Wenn Eltern sich oft aus Zeit- und Kraftmangel, vor allem in der frühen Kindheit, nur noch an dem orientieren, was ihre Kinder gerne essen, bilden sich dadurch sehr einseitige Nahrungsgewohnheiten heraus: Nudeln und rote Soße, Schokolade, eine bestimmte Sorte Kekse und roter Saft – einfachste Dinge, die es immer und ständig gibt. Dadurch kann sich keine breite Geschmackspalette oder eine differenzierte Sympathie-Antipathie-Erlebnisfähigkeit entwickeln. Was daran besonders schlimm ist: Kinder lernen nicht mehr ihre Antipathie-Erlebnisse zu bearbeiten und zu überwinden. Wenn bei dem, was ihnen „nicht unter die Nase geht“, wenn mit den Worten „Das will ich nicht, das mag ich nicht, das kann ich nicht“, immer sofort Schluss ist und keine weitere Auseinandersetzung mit dem Abgelehnten stattfindet, lernen sie nicht, wie man etwas Unangenehmes, eine Speise oder ein Problem, im wahrsten Sinne des Wortes „auskosten“ und „verdauen“ kann.
Unangenehmes ist wichtig für die Selbsterfahrung
Für uns Menschen ist es wichtig, auch das Erleben von unangenehmen Qualitäten als eine wesentliche Form der Selbsterfahrung an der Welt anzunehmen. Durch Antipathie-Erlebnisse, durch das, was uns zunächst abstößt, wird gerade durch das Abstoßen unser Bewusstsein für Grenzen erhöht, werden wir uns unserer selbst mehr bewusst. An unseren unangenehmen antipathischen Erlebnissen erwachen wir, an den sympathischen Erlebnissen werden wir in uns selbst bestätigt. Aus ihnen lernen wir nichts Neues, sie geben uns aber Kraft, tun uns gut. Wir brauchen beides: die Wachheit, die durch verarbeitete Antipathie-Erlebnisse entsteht und die Kraft durch genossene Sympathie-Erlebnisse. Die Fähigkeit, beides zuzulassen, hängt direkt mit der ernährungsbedingten Geschmackserziehung zusammen, die unbedingt in den ersten Jahren der Gesamtprägung des Nervensystems und der Sinnesorgane stattfinden muss. Danach ist nur noch wenig nachzuholen, nur noch durch Verarbeiten im übertragenen Sinne. Denn in späteren Jahren lässt sich die Funktionsdynamik auf der körperlichen Ebene nur noch sehr schwer beeinflussen.
Rudolf Steiner benutzte den Ausdruck „Anti-Appetite“: Man solle den Kindern helfen, ihre Anti-Appetite zu überwinden. Es kann hilfreich sein, die Regel einzuführen, dass das Kind auch von dem, was es nicht mag, zwei bis drei kleine Löffel essen muss. Wir hatten zuhause extrakleine Kaffeelöffel, die wir Kinder zum Essen mitnahmen, und haben mit ihnen unsere Pflicht-Löffel zu uns genommen. Es ist wunderbar, wenn Eltern ihren Kindern so etwas zugestehen. Alle wissen, worum es geht, die Kinder essen die geforderten drei Löffel voll und lernen alles zu verdauen. Das ist wichtig. Die ganze Angelegenheit mit Humor zu nehmen, ist ebenso wichtig und trägt zu einem guten Selbstbewusstsein bei.
Im Johannesevangelium heißt es: „Ich bin die Tür“. Diese Worte sind ein Bild für eine bestimmte Form der Ich-Erfahrung: dass man als Mensch auf- und zumachen kann. Dass man sich bewusst zwischen Öffnen und Schließen zu bewegen vermag. Dass man beides beherrschen sollte. Wer nur den Umgang mit Sympathie-Erlebnissen pflegt, ist keine Tür, ist nicht souverän in beiden Richtungen, geht in der eigenen Führung nicht auf und zu.
3. Der Wärmesinn
Dieser Sinn, dessen Reize über die Haut wahrgenommen werden, hängt ebenfalls sehr stark mit dem Gefühl zusammen. Er lässt uns Temperaturdifferenzen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch sehr unterschiedlich empfinden. Auch der Wärmesinn wird heutzutage vielfach vernachlässigt, weil wir es mit einer kalten Kultur zu tun haben. Oft sagte ein Kind zu mir: „Nein, mir ist nicht kalt.“ Wenn ich daraufhin seine Hand anfasste, war sie kalt. Als Erklärung kam dann: „Das ist bei mir so. So fühle ich mich wohl. Ich mag es nicht, wenn Hände und Füße warm sind.“ Es ist manchmal sehr schwer, an diesem Empfinden etwas zu verändern: Wärme überhaupt ertragen zu lernen, Wärme als Qualität wieder schön finden zu können.
Vor allem geht es darum, dass des Menschen Ich sich nicht „erkältet“. Wir sind als Ich-Wesen Wärmewesen. Unser Selbst ist seiner Natur nach warm. Wenn wir begeistert sind, „brennen“ wir für eine Sache, einen Menschen, eine Idee. Wer sein Ich nur in seiner Kühle, in seiner Fähigkeit, sich zu distanzieren erlebt, dessen Selbsterfahrung bleibt sehr einseitig. Unsere heutige Kälteerziehung fördert das Sich-abheben-Wollen von anderen, das Sich-Distanzieren, fördert die intellektuelle Entwicklung, die überall Kritik übt und dabei auf Distanz bleibt. Über die Sinnespflege können wir viel zur Überwindung dieser intellektuellen Kultur beitragen, in der Distanz, Antipathie und Kritiksucht in einseitiger Weise vorherrschen. Wir brauchen all die genannten Eigenschaften, aber in einem gesunden Maß. Wenn der Wärmesinn durch Einseitigkeit so gestört ist, dass er im Grunde genommen zu einem „Kältesinn“ verkommen ist, haben wir ein echtes Problem.
Wärme und Kälte werden beide vom Wärmesinn erfasst. Wir nehmen damit Temperaturdifferenzen wahr und damit auch Kälte. Durch das Kultivieren unseres Wärmesinnes entdecken wir unsere Fähigkeit zu Wärmeäußerungen. Bäder, Einreibungen und Massagen können sehr dabei behilflich sein, nachträglich ein warmes behagliches Körperempfinden hervorzurufen. Dadurch kann der Mensch an sich selbst erleben: „Ich bin ein Wesen, das zur Wärme fähig ist.“ Wir verfügen über körperliche, seelische und geistige Wärme, die dem menschlichen Selbst entspringt, dem Ich, das sich körperlich, seelisch und geistig verwirklicht. Körperlich erreichen wir das Ich über die Wärme, seelisch über Liebe und Sympathie, geistig über Themen, die uns begeistern, die das Ich unmittelbar ansprechen.
4. Der Hörsinn
Das Organ für den Hörsinn ist im Innenohr gelegen. Hören ist eine stark seelenorientierte Sinneserfahrung. Sie wird allerdings oft als solche verkannt, weil wir meinen, das Wichtige daran wären die Inhalte – die Musik, die Sprache, das Plätschern von Wasser, das Sausen des Windes, die ganzen Maschinengeräusche. Zu glauben, der Inhalt der Erfahrung wäre wichtiger als die Erfahrung an sich, ist ein Problem im Hinblick auf jede Sinneserfahrung.
Wir müssen uns die Frage nach der Selbsterfahrung stellen, die durch das Grenzerleben des Hörens auftritt und durch unsere absichtsvolle Eigenaktivität beim Hören, um der tieferen Bedeutung dieses Sinnes für den Menschen auf die Spur zu kommen. Mir ist diese Bedeutung erst aufgegangen, als ich taubstumme Kinder zu behandeln begann. Ein taubstummes oder schwer hörbehindertes Kind ist bezüglich seiner Welterfahrung, bezüglich seines Selbsterlebens an der Welt, unverhältnismäßig stark auf das Auge angewiesen, das immer an der Oberfläche bleibt. In seiner seelisch-sinnlichen Selbsterfahrungsdimension hat ein taubes Kind dadurch ein Defizit – es kann mit seiner Wahrnehmung nicht in die Tiefe dringen. Für diese Kinder ist es sehr schwer, in ihrem seelischen Erleben Tiefe zu entwickeln.
Wenn wir intensiv hören wollen oder müde sind und uns trotzdem konzentrieren wollen, schließen wir die Augen. Dabei kann man besonders deutlich erleben, dass man beim Hören in einen inneren Hörraum gelangt, dass das Hören diesen Raum eröffnet – man wird sich dabei seines seelischen Innenraumes gewahr. Dieses Tiefenerlebnis, das Erleben dieser Innendimension, ist ein Geschenk des Gehörs: Der herankommende Schall wird tatsächlich in die Tiefe geleitet und nicht wie beim Auge bloß reflektiert, also an der Oberfläche gespiegelt. Die Seele wird durch den Hörsinn als autonomer Bereich, als Innenraum, der sich verengen und weiten kann, erlebbar. Er vermittelt uns auf eindrückliche Weise die Selbsterfahrung, dass wir mit unserem Ich in einem seelischen Raum wohnen, in einem Bewusstseinsraum.
Damit ist dieser Sinn, wie auch der benachbarte Gleichgewichtssinn, ein wesentlicher Grundsinn, um später meditativ arbeiten zu können, weil man sich dabei in diesem Seelenraum bewegt.
Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997
ERKENNTNISORIENTIERTE SINNE
Welches sind unsere erkenntnisorientierten Sinne?
In welchem Zusammenhang stehen sie zu den unteren Sinnen?
Die oberen Sinne
Es gibt noch vier weitere Sinne, auch obere Sinne genannt, die im Physischen höhere Wahrnehmungsfunktionen ermöglichen. Es sind die vier erkenntnisorientierten Sinne.
1. Der Sehsinn
Der Sehsinn wird den erkenntnisorientierten Sinnen zugerechnet, da unser ganzes Vorstellungsvermögen auf äußeren Eindrücken basiert und von ihnen genährt wird. Mit dem Auge nehmen wir die Welt um uns optisch wahr. Die Wahrnehmungen durch das Auge bleiben immer an der Oberfläche. Auch wenn wir perspektivisch sehen, sehen wir nur die Oberflächen.
Der Sehsinn steht unserem Seelischen, unserem Gefühl, aber auch sehr nahe insofern, als wir nicht nur Formen und Bilder, sondern auch Licht und Farben wahrnehmen. Am äußeren Licht wird sich der Mensch seiner inneren seelisch-geistigen Lichtnatur bewusst.
2. Der Ich-Sinn
Der Ich-Sinn kann die Anwesenheit eines seelisch-geistigen Wesens, wie z.B. ein anderes Ich, im Physischen wahrnehmen. Dieser Sinn vermittelt dem Menschen, ob er ein Wesen vor sich hat, und gibt ihm auch Aufschluss darüber, welcher Art dieses Wesen ist. Dabei handelt es sich um eine sehr unmittelbare intuitive Sinneswahrnehmung.
Das Sinnesorgan des Ich-Sinns ist zentralnervös oder sensorisch gesehen ganz eng mit dem Tastsinn verbunden. Denn der Ich-Sinn entwickelt sich als Organ, indem das Kind in den ersten Jahren Tasterfahrungen macht: Es ertastet durch die physische Grenzerfahrung hindurch die Mutter, den Vater, die Substanzen, die Dinge, die Materialien in seiner Umgebung. Das Kind erlebt dabei aber nicht nur die Beschaffenheit der äußeren Materie, sondern es erkennt durch den Tastsinn das Wesen der Dinge.
Je intensiver ein Kind diese Wesenserfahrung machen kann, desto stärker ist auch die Erfahrung des eigenen Selbst am Wesen des anderen, die sich dem kindlichen Nervensystem einprägt. Diese Prägung wird später zum Wahrnehmungsorgan für das Wesensgefüge eines anderen Menschen. Man muss dann nicht mehr jeden umarmen, um ihn eindeutig als Wesen „ertasten“ zu können, obwohl das Umarmen in manchen Ländern üblich ist. Keine Umarmung kann so innig sein, dass man das Wesen eines anderen durch die Berührung allein erfassen könnte. Dazu hat man den Ich-Sinn.
3. Der Gedankensinn
Der dritte erkenntnisorientierte Sinn ist der Gedankensinn. Er macht es möglich, dass man, wenn gesprochen oder gelesen wird, das Sinngefüge von Worten sofort erkennen kann. Durch ihn bekommt der Mensch Zugang zum Sinn seiner eigenen Existenz. Dieser Sinn entwickelt sich an den Erfahrungen des Zusammenstimmens von ineinandergreifenden Funktionen und komplexen Prozessen durch den Lebenssinn, der darüber hinaus ja auch zuständig ist für das Erkennen von Sinnzusammenhängen in der äußeren Umgebung.
Wie dieser Gedankensinn funktioniert, begriff ich erst richtig, als ich anfing Vorträge auf Englisch zu halten, in einer Sprache also, die ich nicht besonders gut beherrsche. Ich litt anfangs furchtbar darunter, komplizierte Gedanken in einfachen und, wie mir schien, nicht adäquaten Worten wiedergeben zu müssen. Ich war deshalb erstaunt, dass meine Zuhörer meinen Ausführungen meist trotzdem gut folgen konnten. Eine mit der Anthroposophie vertraute Kollegin sagte zu mir: „Du brauchst dich gar nicht so aufzuregen. Bei uns kannst du ziemlich alles sagen. Hauptsache, du verbindest mit dem, was du sagst, einen sinnvollen Gedanken. Denn wir haben einen gut ausgebildeten Gedankensinn. Wir kriegen mit, was du sagen willst, sogar wenn du die falschen Worte benützt.“
Die Engländer lieben es, ihre Vorträge ohne Übersetzung von radebrechenden Referenten zu hören. Das liegt daran, dass das rationale Element in den romanischen Sprachen viel mehr durch die Grammatik und äußerst geschliffene Worte und Wendungen zum Ausdruck kommt, während es im Englischen nicht so stark an der Sprache haftet. Das hängt auch mit der englischen Sprache selbst zusammen, die sehr einfach strukturiert ist und über die man trotzdem hoch komplizierte Gedanken aussprechen kann. Das gibt einem die Möglichkeit, direkt durch Lautgestalten hindurch das Sinnhafte, den übersprachlichen, stimmigen Gedankenzusammenhang, zu erfassen.
In romanischen Ländern ist das grundsätzlich anders. Ich probierte dasselbe in Frankreich und Spanien, weil ich auch Französisch und Spanisch spreche, und machte die Erfahrung, dass man mir dort viel schlechter folgen konnte. Nach dem ersten Vortrag wurde ich ganz liebenswürdig gefragt, ob nicht doch eine Übersetzung angeboten werden könnte.
4. Der Wortsinn
Der Wortsinn, der vierte erkenntnisorientierte Sinn, erfasst das ganz Individuelle, das über eine bestimmte Lautgestalt, die spezifische Physiognomie des Wortes, transportiert wird. Mithilfe des Wortsinns können wir den Sinn und die Aussage einer individuellen Lautphysiognomie, einer Bewegungsgestalt oder einer kleinen Bewegung in Form eines Wortes erfassen. Die Basis für die Entwicklung des Wortsinns bildet der Bewegungssinn. Das Erlernen differenzierter Bewegungen, z.B. von Gesten, aber auch von Mikrobewegungen beim Sprechen, bei der Lautbildung, führt zu Prägungen in den nervösen Strukturen, aus denen sich später der Wortsinn bildet.
Der Wortsinn ist nicht nur an das gesprochene Wort gebunden. Er meldet mir, dass das Wort „love“ eine andere Qualität von Liebe vermittelt als „Liebe“, „amour“, „amore“. Diese Begriffe bezeichnen den gleichen Gedanken, aber was ich empfinde, wenn ich sie höre oder spreche, ist sehr unterschiedlich. Über den Lautsinn merken wir, dass die Übersetzungen von „Liebe“ unterschiedliche geistig-seelische Qualitäten benennen, dass in anderen Sprachen von anderen Seiten des gleichen Begriffs gesprochen wird. Engländer, Franzosen und Spanier sprechen von etwas ganz anderem, wenn sie von der Liebe reden. Ihre Empfindungsgrundlage ist eine andere: Liebe in der AU-Stimmung zu erleben, ist etwas völlig anderes, als in der IE-Stimmung wie die Deutschen.
Der Wortsinn wird auch „Physiognomie-Sinn“ genannt, weil er sich auch auf das Erfassen von Zeichensprache und Mimik erstreckt. Er ist eine Art Individualitätssinn, der den Menschen befähigt, das ganz Spezifische von Worten und Bewegungen zu erfassen. Eurythmie kann als Bewegungsausdruck unmittelbar verstanden werden, weil der Wortsinn und der Gedankensinn ineinander greifend zusammenarbeiten.
Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997
ZWÖLF SINNESTÄTIGKEITEN – SINNESPFLEGE
Den im Folgenden zusammengestellten 12 Sinnestätigkeiten mit ihren wichtigsten Fördermöglichkeiten bzw. schädigenden Einflüssen liegt die Steiner‘sche Sinneslehre zugrunde:[1]
SINNE, DIE VORZUGSWEISE DEN KÖRPER IN DIE SELBSTERFAHRUNG BRINGEN:
1. DER TASTSINN
Sein Organ:
Tastkörperchen und freie Nervenendigungen
Er vermittelt:
Selbsterleben an der Körpergrenze durch Berührung, Geborgenheit durch Körperkontakt, Existenzvertrauen
Hinweise zur Pflege:
- Wechsel zwischen Alleinsein und Geborgenheit, zärtlichem Köperkontakt und ruhigem sich selbst Überlassen-Sein: Loslassen-Können ist genauso wichtig wie In-den-Arm-Nehmen.
- Insbesondere im Säuglings- und Kleinkindalter: Spielräume schaffen, wo das Kind tasten, untersuchen, entdecken kann
Schädigende Einflüsse:
- Äußere Versorgung ohne wirkliches inneres Annehmen des Kindes
- Zu viel Geborgenheit oder zu viel Alleingelassen-Sein
- Berühren als Übergriff ohne Respekt vor der leiblich-seelischen Integrität des Kindes
2. DER LEBENSSINN
Sein Organ:
Vegetatives Nervensystem
Er vermittelt:
Behaglichkeit, Harmonie-Erleben, Empfinden, dass die Vorgänge zusammenstimmen
Hinweise zur Pflege:
- Rhythmischer Tagesablauf
- Zuversichtliche Lebensstimmung
- Erleben von richtigem Maß und richtigem Zeitpunkt, d.h. von Ordnungen, die stimmig sind
- Freudige Stimmung beim Essen
Schädigende Einflüsse:
- Streit, Gewalt, Ängstigung, Hetze, Schreck, Unzufriedenheit, Maßlosigkeit, Nervosität;
- Beziehungslosigkeit der Handlungsabläufe zueinander
3. DER EIGENBEWEGUNGSSINN
Sein Organ:
Die Muskelspindeln
Er vermittelt:
Wahrnehmung der eigenen Bewegung, Freiheitserlebnis und Gefühl der Selbstbeherrschung infolge der Beherrschung des Bewegungsspiels
Hinweise zur Pflege:
- Kinder selber tätig werden lassen
- Das Kinderzimmer so einrichten, dass alles angefasst werden kann und freies Spiel möglich ist
- Sinnvolle Bewegungsabläufe
Schädigende Einflüsse:
- Kinder auf Schritt und Tritt mit bestimmten Regeln oder Verboten verfolgen
- Fehlende Anregung zum Tätig-Werden durch Passivität oder Abwesenheit von Vorbildern Bewegungsstau vor dem Bildschirm
- Umgang mit automatischem Spielzeug, das die Kinder zu Zuschauern macht
4. DER GLEICHGEWICHTSSINN
Sein Organ:
Bogengangsystem in der Nähe des Innenohrs
Er vermittelt:
Erleben von Gleichgewicht, Ausgleich, Ruhepunkte, Selbstvertrauen
Hinweise zur Pflege:
- Bewegungsspiele, Wippen, Stelzenlaufen, Springen, Laufen etc.; Ruhe und Sicherheit im Umgang mit dem Kind
- Streben nach innerem Gleichgewicht seitens des Erwachsenen
Schädigende Einflüsse:
- Bewegungsarmut
- Innere Unruhe, Ruhelosigkeit
- Depression, Resignation, Lebensüberdruss
- Innere Zerrissenheit
SINNE, DIE VORZUGSWEISE DAS SEELISCHE ERLEBEN AN DER UMWELT IN DIE SELBSTERFAHRUNG BRINGEN:
5. DER GERUCHSSINN
Sein Organ:
Riechschleimhaut in der Nasenwurzel
Er vermittelt:
Verbundenheit mit dem Duftstoff
Hinweise zur Pflege:
Differenzierte Geruchserlebnisse aufsuchen an Pflanzen, Nahrungsmitteln, in Stadt und Land
Schädigende Einflüsse:
- Schlecht belüftete Räume
- Geruchsbelästigungen
- Ekelerregende Eindrücke und Verhaltensweisen
6. DER GESCHMACKSSINN
Sein Organ:
Geschmacksknospen in der Zungenschleimhaut
Er vermittelt:
Zusammen mit dem Geruchssinn differenzierte Geschmackskompositionen aus süß, sauer, salzig, bitter
Hinweise zur Pflege:
- Eigengeschmack der Nahrungsmittel durch Art der Zubereitung hervortreten lassen
- „Geschmackvolle" Beurteilung von Menschen und Dingen
- Ästhetische Gestaltung der Umgebung
Schädigende Einflüsse:
- Geschmacksverstärker, künstliche Aromen, „Ketchup-Missbrauch": Alles schmeckt ähnlich
- Geschmacklose Bemerkungen
- Taktlosigkeit
- Unästhetische Umgebung
7. DER SEHSINN
Sein Organ:
Auge
Er vermittelt:
Licht- und Farberleben
Hinweise zur Pflege:
- Aufmerksam machen auf die feinen Farbunterschiede in der Natur
- Das Vorbild des eigenen Interesses daran
- Harmonische Farbzusammenstellung bei der Bekleidung und Wohnungseinrichtung
Schädigende Einflüsse:
- Fixierung durch destruktive oder „dumme" Bilder
- Grelle Farben
- Fernseh- und Computer-Abusus
- Düstere Stimmung
- Interesselosigkeit
- Farblos-triste Umgebung
8. DER WÄRMESINN
Sein Organ:
Wärme- und Kälte-Rezeptoren
Er vermittelt:
Wärme- und Kälte-Erleben
Hinweise zur Pflege:
- Pflege des Wärmeorganismus durch altersentsprechende Bekleidung
- Verbreitung seelischer und geistiger Wärme
Schädigende Einflüsse:
- Übertriebene Abhärtungsmaßnahmen
- Überheizte Räume
- Unzureichende Bekleidung
- Kalte, unpersönliche Atmosphäre
- Übertriebene oder unechte „Herzlichkeit"
SINNE, DIE DER SEELISCH-GEISTIGEN WAHRNEHMUNG UND SELBSTERFAHRUNG DIENEN:
9. DER HÖRSINN
Sein Organ:
Ohren
Er vermittelt:
Tonerlebnisse; Erschließen des seelischen Innenraumes
Hinweise zur Pflege:
- Singen
- Klassische Musik hören, spielen, insbesondere Bach, Händel, Haydn, Mozart (live, wenn irgend möglich)
- Beim Erzählen und Vorlesen von Geschichten die Geschwindigkeit des Sprechens der Aufnahmefähigkeit der Kinder anpassen
- Warten, damit innere Bilder, Tongedächtnis und Wortklänge entstehen können
Schädigende Einflüsse:
- Akustische Überforderung insbesondere durch Medien (zu laut, zu schnell, zu lang, nicht persönlich-menschlich)
- Oberflächliches Daherreden
- Unmenschlicher Tonfall
10. DER WORTSINN
Sein Organ:
Bildet sich infolge der Wahrnehmung von Bewegungsabläufen und Sprachwahrnehmungs-Prozessen als Sinn für Wahrnehmung von Ganzheiten
Er vermittelt:
- Gestalt- und Physiognomie-Erleben (Gestaltsinn)
- Erfassen von Körpersprache und Lautgestaltung eines Wortes
Hinweise zur Pflege:
- Warmer, herzlicher Tonfall
- Auf Gesten und Körpersprache achten
- Inneres Erleben in Übereinstimmung bringen mit den Äußerungen, da sonst unwahre Eindrücke entstehen
- Sinn für individuellen Ausdruck haben
Schädigende Einflüsse:
- Mangelndes Übereinstimmen von Wort und Handlung
- Kühles, neutrales Verhalten, bei dem das Kind nie recht weiß, ob die Eltern fröhlich, traurig, zugewandt oder in Wirklichkeit abwesend sind
- Doppelbödiges Reden, bei dem Inneres und Äußeres nicht zur Deckung kommen
11. DER GEDANKENSINN
Sein Organ:
Bildet sich infolge der komplexen Wahrnehmung der Lebensvorgänge, der „Stimmigkeiten" und „Unstimmigkeiten" in der Umgebung
Er vermittelt:
Unmittelbares Sinnerfassen eines Gedankenzusammenhanges
Hinweise zur Pflege:
- Pflege der Wahrhaftigkeit und Stimmigkeit
- In Bezug bringen der Dinge und Vorgänge zueinander
- Erleben von Sinnzusammenhängen in der Umgebung
Schädigende Einflüsse:
- Sinnlose Handlungen
- Verworrenes, unkoordiniertes Denken
- Stimmungsabhängiges Verdrehen von Sinnzusammenhängen
12. DER ICH-SINN
Sein Organ:
Bildet sich infolge der Tast- und Berührungswahrnehmung an der eigenen Körpergrenze als Organ zur Gesamtwahrnehmung der Kraftgestalt des anderen
Er vermittelt:
Wesenserfahrung, unmittelbares Erleben und Erkennen des anderen Menschen als „Ich"
Hinweise zur Pflege:
- Frühes Ertasten und Erleben der liebevollen Bezugsperson
- Liebe der Erwachsenen untereinander und zum Kind
- Begegnungs- und Besuchskultur
- Den anderen wirklich wahrnehmen (das „Du" Martin Bubers)
Schädigende Einflüsse:
- Desinteresse, Nichtachtung, in Abwesenheit schlecht über andere reden
- Medienkonsum und Umgang mit virtuellen Realitäten, bei denen keine reale Wesenserfahrung gemacht werden kann
- Materialistische Vorstellungen vom Menschen
Vgl. 1. Kapitel, „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband, Verlag am Goetheanum, derzeit vergriffen
[1] Christoph Lindenberg, Rudolf Steiner, Themen aus dem Gesamtwerk (TB Nr. 3) - Zur Sinneslehre, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004.
ZWÖLF QUALITÄTEN DER SELBSTERFAHRUNG
Wie lassen sich die zwölf Sinnesqualitäten beschreiben?
Welche Nachreifungsmöglichkeiten gibt es?
Welcher Sinn wozu befähigt
Alle Sinne zusammengenommen, ermöglichen zwölf Qualitäten der Selbsterfahrung. Im Folgenden werden sie, beginnend mit dem zwölften Sinn, kurz charakterisiert:
- Bewusstwerdung der eigenen Individualität, der eigenen, ganz spezifisch geformten Physiognomie durch den Wortsinn
- Erkennen von Sinn und Stimmigkeit in mir, von meinem Platz in der Welt durch den Gedankensinn
- Erkennen der eigenen Wesenhaftigkeit durch den Ich-Sinn
- Bewusstwerdung der eigenen Lichtnatur, des eigenen inneren Lichtes, durch den Sehsinn
- Erleben der Wärmenatur des Ich, der inneren Wärme, durch den Wärmesinn
- Erleben des eigenen Seelenraumes durch den Hörsinn
- Erleben der Fähigkeit „Ja“ und „Nein“ zu sagen durch den Geschmackssinn
- Erleben der eigenen Kommunionsfähigkeit mit der Welt durch den Geruchssinn
- Spätere Entwicklung von innerer Ruhe durch den Gleichgewichtssinn
- Spätere Befähigung zur Freiheit durch den Bewegungssinn
- Spätere Fähigkeit, Harmonie zu erleben, durch den Lebenssinn
- Spätere Entwicklung von Existenzvertrauen durch den Tastsinn
Nachreifungsmöglichkeiten auf drei Ebenen
Bei Beratungen ist es wichtig herauszufinden, wie umfassend das Selbstbewusstsein eines Menschen ausgebildet ist, bzw. versuchen zu hören, wo es im Bereich der körperorientierten Sinne Mängel und Defizite geben könnte. Beim Vergleichen des Mitgeteilten mit den genannten zwölf Qualitäten kann man deutlich erkennen, in welchen Bereichen Mangelzustände vorliegen. Neben allem, was man sonst therapeutisch unternimmt, besteht die schöne Möglichkeit, mit dem Klienten oder den Eltern eines Kindes gemeinsam zu überlegen, wie man die fehlende(n) Qualität(en) durch Eigentätigkeit, sprich durch spezifische Sinneserfahrungen, erwecken kann. Dass dabei die künstlerischen Therapien eine Riesenrolle spielen, liegt auf der Hand. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, mangelhaft ausgebildete Sinnesqualitäten in der künstlerischen Arbeit zu erüben.
Auch die Eurythmie bietet wunderbare Schulungsmöglichkeiten. Man betätigt bei der Ausübung alle zwölf Sinne, der ganze Mensch bewegt sich selbst und erlebt andere Menschen, die sich mitbewegen, man tastet bestimmte Formen ab und allem, was man macht, liegt ein sinnvoller Gedanke zugrunde, der durch eine individuelle Lautgestalt zum Ausdruck kommt, egal ob es sich um Laut- oder Toneurythmie handelt.
Die erkenntnisorientierten Sinne kann man in der meditativen Arbeit entwickeln und verfeinern in Verbindung mit der Schulung der körperorientierten Sinne.
Die seelenorientierten Sinne kann der Mensch im Gespräch im Rahmen einer Familientherapie oder einer Unternehmensberatung nachschulen, wo er lernt, taktvoll auf den anderen zu achten. Es gibt viele soziale Übungsprogramme, die helfen, Mängel im Bereich der mittleren Sinne nachträglich auszugleichen. Nur wenige Erwachsene erwerben heutzutage noch die benötigte Reife in der Kindheit. Deshalb brauchen wir die Möglichkeiten von Supervision, Systemische Therapie und Unternehmensberatung in allen Bereichen bis in Familien- und Klassenstrukturen hinein.
Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997
GRUNDLEGENDES ZUM TASTSINN
Wozu befähigt uns der Tastsinn?
Was ist seine Aufgabe im Zuge der Entwicklung?
Tastsinn zur inneren Wahrnehmung des Ich
Vorab ein Zitat von Rudolf Steiner zum Tastsinn: „Dieser Tastsinn ist eigentlich dazu bestimmt, dass wir unser Ich, ganz geistig gefasst, das vierte Glied unseres Organismus, geistig ausstrecken durch unsern ganzen Körper. Und die Organe, welche die Organe des Tastsinns sind, geben uns eigentlich ursprünglich im inneren Erleben unser Ich-Gefühl, unsere innerliche Ich-Wahrnehmung.“[1]
Vor dem Sündenfall, in der vorlemurischen Sonnenzeit, vor der luziferischen Versuchung, war der Tastsinn dazu bestimmt, uns über die Organe, als Organe des Tastsinns, im inneren Erleben unser Ich-Gefühl, eine innere Wahrnehmung von unserem Ich, zu ermöglichen, das sich geistig über den ganzen Körper ausstreckte. Durch die luziferische Versuchung wurde der Tastsinn zum Sinn, der uns hilft, unseren physischen Leib in seiner Verbundenheit mit der Sinneswelt wahrzunehmen, sodass wir uns vergessen und für die Welt erwachen. Dadurch erwerben wir ein individuelles Bewusstsein an der Welt. Mit der geschilderten Ur-Veranlagung hängt zusammen, dass der Ich-Sinn, die Ich-Wahrnehmung des anderen, eine Metamorphose des Tastsinns ist.
Arten und Funktion der Tastkörperchen
Das Tastsinnorgan wird seit etwa 100, 150 Jahren erforscht – die ganze Wissenschaft ist noch nicht älter. D.h. zu Rudolf Steiners Lebzeiten begann sich die Forschung auf diesem Gebiet gerade erst zu entwickeln. Besonders vier Forscher sind zu erwähnen: Merkel, Ruffini, Vater Pacini und Meissner. Die von ihnen entdeckten Tastkörperchen ermöglichen unterschiedliche Tastempfindungen:
- So reagieren die Merkelschen Scheiben auf Druckintensität von genau lokalisierten Berührungen
- Ruffini-Körperchen auf Dehnungsreize
- Vater-Pacini-Lamellenkörperchen auf Vibration
- Die Meissner-Körperchen reagieren auf Druckveränderungen
Durch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Berührungs- und Druckrezeptoren können Intensität, Dauer und Bereich der jeweiligen Berührung genau bestimmt werden. Wärmerezeptoren und Kälterezeptoren ermöglichen die Temperaturempfindung. Die freien Nervenendigungen empfangen Berührungs- und Schmerzreize.
Dazu gibt es eine schöne Zahl: Man schätzt, dass wir zwischen drei und sechshundert Millionen Tastkörperchen in der Haut haben. Das entspricht der Zahl der derzeit in der EU lebenden Bürger, inkl. Flüchtlinge. Man kann das alles nicht sehen, es ist untersinnlich, aber man kann sich vorstellen, was für eine unendliche Fülle das ist!
Rätsel der Tasterfahrung
In höchstem Maße unverständlich ist jedoch die elementare Tatsache, dass und wie aus solchen Scheiben, kleinen Körperchen und freien Nervenendigungen die ganze Fülle unserer Tasterfahrungen wird. Dass Blinde mithilfe dieser vier Arten von Tastkörperchen genauso schnell lesen können wie wir, ist schwer nachvollziehbar.
Am Beispiel des Tastsinns erkennen wir deutlich, dass die Sinneslehre ein Gebiet ist, bei dem wir die Brücke zwischen dem Reiz, was wir als Tastorgan, als Nervenendigung, speziell geformt für den adäquaten Reiz, kennen und dem Reichtum an Sinneserfahrungen als seelischem Erlebnis nicht schlagen können. In der Physiologie nennt man diese nicht bekannte Brücke „Black Box“. In dieser Black Box, für die man hypothetisch ein materielles Substrat annimmt, sollen aus den adäquaten Reizen für die Sinnesorgane die seelischen Bewusstseinserlebnisse werden. Allein wenn man sich überlegt, dass wir uns nicht von jedem Menschen streicheln lassen wollen: Der Tastsinn vermittelt uns beim einen den siebten Himmel und beim anderen Ekel und Abscheu. Den Unterschied aber vermittelt uns nicht das Sinnesorgan! Die Sinne ermöglichen uns nur die Gewissheit, dass ein Erlebnis in der Sinneswelt stattfindet. Das Erlebnis selber aber resultiert aus bzw. basiert auf einer übersinnlichen Verbundenheit mit etwas in der Welt.
Der Heidelberger Neurophysiologe und Neuropsychologe Thomas Fuchs beschreibt in seinem Buch „Das Gehirn ein Beziehungsorgan“[2], dass sich die Hirnreifung beim Kind dank der Sinne über die Beziehung zur Welt und zum eigenen Körper vollzieht, dass sich daran erst das Gehirn bildet. Sprich: Das Gehirn ist Ergebnis unserer Sensorik. Es ermöglicht sie, „macht“ sie aber nicht. Es wird durch unsere Erlebnisse geprägt, formt sie aber nicht, obgleich durch seine Tätigkeit ein Spiegelbewusstsein, eine „Reflexion“ davon entsteht.
Brücken zwischen Geist und Materie
Wir sollten uns die Brücken zwischen Geist und Materie noch einmal neu vergegenwärtigen:
- Wärme ist die sinnlich erfahrbare Brücke,
- die rein übersinnliche Brücke ist das Denken.
Das Ätherische zeigt sich so als „Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen“, wie dies Rudolf Steiner in der GA 202 darstellt.[3] Ich habe die vier Äther erwähnt – ich vermute, dass man die vier bekannten Tastkörperchen eines Tages auch noch spezifischer diesen vier Äthern und vier Elementen wird zuordnen können.
In Bezug auf die Wärme gelingt das jetzt schon, auch die Empfindung von Bewegung und Vibration ist zum Teil erforscht, wird aber nicht klar bei einem der vier verortet. Viele Tastwahrnehmungen vollziehen sich über feine Eigen- oder Fremdbewegungen und dann gibt es noch die Druckempfindung. Immer geht es um die Qualitäten fest, flüssig-beweglich, luftig-vibrierend und die Wärme. Diese vier Qualitäten der Materie sind die adäquaten Reize für unsere Tastorgane. Sie werden über die genannten vier Arten von Nervenendigungen wahrgenommen.
Zusammenhang von Tastsinn und Wärme
In der Schule wird oft ein Experiment gemacht. Die Schüler tauchen ihre Hand in Eiswasser und müssen dann Stecknadeln ohne Köpfe aus einem Töpfchen holen. Mit einer ganz kalten Hand ist das praktisch nicht hinzubekommen, weil man nichts spürt. Nun kann man schauen, wer sich am schnellsten aufwärmt, wer den sensibelsten Tastsinn hat. Dieses Experiment zeigt eindrücklich, wie stark wärmeabhängig unser Tastvermögen ist. Es gibt kein Tasterlebnis ohne Wärmempfinden, d.h. wenn man ganz kalt ist, kann man nichts wahrnehmen. Die Tiefensensibilität ist dann noch vorhanden – was sich als Schmerz und Muskelzittern äußert – aber die Oberflächensensibilität ist einer Taubheit gewichen.
An dieser Stelle wird die ganze Komplexität und Problematik des Sinneslebens deutlich: Es ist im Grunde nicht möglich, einen Sinn, nicht einmal den Tastsinn an der äußersten Körperperipherie, streng isoliert zu betrachten. Vieles ist dabei noch unerforscht, weil man es schlicht nicht erforschen kann bzw. weil keine Objekte für diese Art Forschung zur Verfügung stehen. Wir weichen auf Tiere aus und übertragen die Ergebnisse auf den Menschen, da Tiere natürlich auch sinnlich sind und Mensch und Tier so nah verwandt sind.[4]
Sensorischer Homunculus
Wenn uns jemand berührt oder mit dem Fuß anstößt, bemerken wir das sofort. Denn den Tastsinnerfahrungen sind – im Gegensatz zum Schmerz- und Wärmeempfinden – ganz bestimmte cortikale Gehirnareale zugeordnet:
Der sensorische Homunculus zeigt, dass die größten Repräsentationsflächen im und am Cortex dem Gesicht, der Zunge und der Hand zuzuordnen sind. Den Fortpflanzungsorganen, den Füßen, den Beinen und dem übrigen Körper sind verhältnismäßig kleine Areale zugeordnet, die Hand ist jedoch ganz groß, riesig das Gesicht, groß die Zunge. Die inneren Organe und die Tiefensensibilität nehmen wieder wenig cortikalen Raum ein.
Der Homunculus zeigt: Unser Tastsinn ist vor allem an Gesicht, Hand und Zunge gekoppelt. In unserer Haut haben wir dort die größte Dichte der vier verschiedenen Tastkörperchen. Oft haben wir auch das Gefühl, dass unsere Hände wie „Tastaugen“ sind. Aber auch unser Gesicht bemerkt jeden Luftzug, jede Temperaturschwankung. Über die Sensorik unserer Gesichtshaut sind wir ein feines Tastorgan für das Klima, die Stimmung, für das Wetter. Wir empfangen vieles darüber, obwohl wir uns dies nicht immer bewusst machen.
Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
[1] Rudolf Steiner, Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte. GA 170.
[2] Thomas Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Kohlhammer, Stuttgart 2007.
[3] Rudolf Steiner, Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physische des Menschen, GA 202, Dornach 1993.
[4] Ein weiterer Grund, warum wir vom menschlichen Sinnessystem noch so relativ wenig wissen, hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass unsere gesamte Sinnesphysiologie an Fischen und Fröschen bis max. hin zu Meerschweinchen durch Tierversuche, schlimmster, grausigster Art erforscht wurde und wird. Man kann ja solche Versuche nicht an Menschen machen, das würde sich keiner gefallen lassen. Und wenn im Gefängnis Versuche an Gefangenen gemacht werden, wird das ja international geächtet. (In Klammern muss ich sagen, dass leider vieles, vieles von dem wenigen, was wir über die menschlichen Sinne wissen, aus den grausamen Menschenversuchen des Nationalsozialismus stammt. Dennoch verdanken diesen ganzen Versuchen, vor allem den Kälte- und Gefrierversuchen, wichtigste Kenntnisse…)
GRUNDLEGENDES ZUM LEBENSSINN
Wozu befähigt uns der Lebenssinn?
Was ist seine Aufgabe im Zuge der Entwicklung?
Lebenssinn zum Erspüren von Harmonie und Zusammenklang
Der Lebenssinn ist ein Harmonie-Sinn. Sein Organ ist unser vegetatives Nervensystem, bestehend aus sympathischem und parasympathischem Nervengeflecht, über das jedes Organ mit jedem Organ in Beziehung steht. Alle kommunizieren miteinander, nicht nur die Zelloberflächen, die dafür keine Nerven brauchen – alles nimmt sich gegenseitig wahr, ist eingebettet in eine rhythmische Ordnung, einen Zusammenklang. Und wenn man das fühlt, fühlt man sich wohl und sagt: „Ich bin gut drauf.“ Unsere Organe, die alle im Dienst des Ganzen stehen, nehmen alles wahr.
Ein Organismus ist umso gesünder, je selbstloser und freudiger jedes Organ seinen Beitrag zum Ganzen leistet. Der Lebenssinn ist demnach auch ein Sinn für Vollkommenheit, für Komplexität, für den ganz großen Zusammenhang, für die Ganzheit, die Schönheit, die Güte, die Harmonie des Ganzen.
Rhythmusgetragenes Leben
Im Grundsteinspruch[1] der Anthroposophischen Gesellschaft heißt es: „Es waltet der Christuswille im Umkreis, in den Weltenrhythmen, seelenbegnadend“. Auf die berühmte Frage Rudolf Hauschkas – „Was ist Leben?“ – gab Rudolf Steiner dem Biochemiker und Chemiker die Antwort: „Studieren Sie die Rhythmen, Rhythmus trägt Leben.“ Alles Leben ist durch und durch rhythmusgetragen. Denn Rhythmen sind Gesetze, Gesetze sind Gedanken, Gedanken sind geistiger Natur. Der geistige Urgrund des Lebens ist also eine komplexe kosmisch-rhythmische, makro-mikrokosmische Gesetzlichkeit.
Das gilt auch für uns Menschen: Der 24-Stunden-Rhythmus unserer biologischen inneren Uhr ist in rhythmischem Einklang mit dem Sonnenrhythmus. Der weibliche Monatszyklus ist ein Mondenrhythmus. Die Jahreszeiten sind eingebettet in einen Jahresrhythmus. All das zeigt: Auch wir sind rhythmische Wesen. Und je rhythmischer wir unser Leben gestalten, desto gesünder ist das für uns. Jeder von uns lebt sehr individuell, führt ein hoch spezifisches Leben, ringt jeden Tag neu um den Erhalt seiner Gesundheit, steht vor neuen Herausforderungen. Jeden Tag geschieht etwas anderes – und doch leiden wir immer wieder auch an zu viel Routine und Wiederholung…
Das Besondere am Rhythmus ist, dass das ganze Leben hindurch keine zwei Atemzüge gleich lang sind, keine zwei Herzschläge genau gleich. Wir atmen in 24 Stunden im Durchschnitt 25.920 mal – ein platonisches Atem-Jahr – und keine zwei Atemzüge sind dabei ganz genau gleich. Keine zwei Blätter an einem Baum sind gleich. Das ist Leben: immer anders und doch identisch, immer besonders und sich doch ähnlich.
Inkarnation als Anpassung an den Umkreis
Rudolf Steiner sagt an einer Stelle:[2],[3] „Die Lebensvorgänge gestalten sich nach der Gesetzmäßigkeit der Sinnesorgane.“ Das ist äußerst rätselhaft, wenn man sich das konkret vorzustellen versucht. Alle Sinnesorgane sind Öffnungen zur Welt. Und unser Leben verhält sich gegenüber einer außen befindlichen großen makrokosmischen Welt wie ein Mikrokosmos. Wenn ein Kind geboren wird, muss es sich anpassen und muss gleichzeitig ein selbständiges Individuum werden, ein souveränes Lebewesen in seiner Umwelt. Dass das möglich ist, bewirken die Sinnesorgane, insbesondere die Willenssinne. In ihnen lebt das vorgeburtliche Wesen, ausgegossen in den Umkreis, eingebettet in das makrokosmische Leben.
Daher können die Sinne unserem vorgeburtlichen Willenswesen auch die Möglichkeit geben, sich mit ihrer Hilfe an den eigenen Leib als neue mikrokosmische Umwelt anzupassen. So entsteht ein neues Zuhause für das sich jetzt individualisierende Seelisch-Geistige, so dass man für dieses Leben sagen kann: Das ist mein lebendiger Leib! Da sind meine Seele und mein Geist zu Hause. Dieser Verleiblichungsprozess wird traditionellerweise Inkarnation genannt.
Das vegetative Nervensystem
Das Lebenssinnorgan umfasst die ganzen Organe mit ihrer Beziehung zum vegetativen Nervensystem. Wenn man sich mit den Funktionen dieses Nervensystems befasst, studiert man damit auch wieder die Gesetze des Lebendigen insofern, als alles miteinander in Resonanz ist bzw. in einer Wechselwirkung steht. Das gesamte sympathische und parasympathische Geflecht gehört zum Organ des Lebenssinns. Ganz grob kann man sagen, der Parasympathikus ist der „Schlafnerv“, zuständig für Ernährung, Erholung und Schlaf, während der Sympathikus der „Stressnerv“ ist und zuständig für alle Aktivität. Phasen der Aktivität und Ruhe müssen in der Balance sein – dafür sorgen diese polaren Nervenstrukturen. Sympathikus und Parasympathikus wirken auf die einzelnen Organe, über Kontraktion und Zusammenziehung, gefäßverengend, mal ein bisschen mehr, mal ein bisschen weniger.
Über das Rückenmark werden die lebensprozess-relevanten Informationen in die verschiedenen Schichten des Gehirns weitergeleitet, wo die vitalen Funktionsbereiche ihre Repräsentationszonen haben. Im Mittelhirn befinden sich u.a. die Repräsentationszonen von Atem-Zentrum, Herzkreislauf-Zentrum.
Eigene nervöse Versorgung des Darmes
Der Darm hat ein eigenes Darmnervensystem, eine besondere Eigenregulation, die sich ganz stark im Unbewussten vollzieht und eine Art Sonderstellung in der sympathisch-parasympathischen Innervation einnimmt. Das ist ein Thema für sich.
Rudolf Steiner erstellte eine Zuordnung der einzelnen Organe zum Kosmos. Dabei ordnete er den Darm, bzw. unseren gesamten Verdauungsapparat, dem Planet Erde zu und nannte ihn „die innere Erde“: Wie die Erde im Makrokosmos hat auch der Darm im Kosmos des menschlichen Organismus eine Sonderstellung inne, bis in die nervöse Versorgung hinein.
Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
[1] Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a, Dornach 1987.
[2] „Die Sinnesorgane in ihrer Gesetzmäßigkeit werden von den Lebensvorgängen vorausgesetzt. Die Lebensvorgänge von den Seelenvorgängen, die Seelenvorgänge vom Ich, das Ich wird sich bewusst an den Seelenvorgängen. Das Ich lebt in der Seele und dann wird es sich seiner selbst bewusst. Das Ich wird sich bewusst an den Seelenvorgängen, die Seelenvorgänge werden erlebt durch die Lebensvorgänge, die Lebensvorgänge gestalten sich nach der Gesetzmäßigkeit der Sinnesorgane.“
[3] Rudolf Steiner, Lucifer-Gnosis, GA 34, Dornach 1971, S 16.
GRUNDLEGENDES ZUM BEWEGUNGSSINN
Wozu befähigt uns der Bewegungssinn?
Was wird durch ihn erlebbar?
Das Organ des Bewegungssinnes umfasst eine ganze Reihe von bestimmten besonders geformten Nervenendigungen, die sogenannten Muskelspindeln, die eine Zwischenform zwischen Nerv und Muskel sind. Muskulatur und Nerven sind sich insofern ähnlich, als beide kaum zur Zellneubildung fähig sind: Muskelzellen können durch Training zwar an Dicke und Kraft zunehmen, es entstehen dabei jedoch keine neuen Nervenzellen.
Die schematische Darstellung des motorischen Cortex an der Hirnrinde ist ähnlich aufgebaut wie die des sensiblen, sensorischen Cortex.
Zusammenspiel der Sinne beim Bewegen
Für den Bewegungssinn ist die Wahrnehmung der Körpergewebe, allem voran der Muskulatur über die Muskelspindeln, entscheidend. Propriozeption (propio = eigen, zeption = Wahrnehmung), die Wahrnehmung des eigenen Körpers, erfolgt über Tastsinn und Lebenssinn und bildet die Voraussetzung für alle Bewegung. Denn wir können nur bewegen, was wir auch wahrnehmen.
Ich versuche immer zu vermitteln, wie schwer es ist, einen einzelnen Sinn isoliert zu beschreiben. Im Grunde kann kein Sinn ohne den anderen funktionieren – obwohl es beim Bewegungssinn nur um Bewegung geht, setzt das bereits vieles voraus. Das zeigen die folgenden Fragen und Antworten:
- Wer soll denn bewegt werden? Natürlich der Körper!
- Wo soll er denn bewegt werden? Natürlich im Raum!
Folgerichtig muss man den Raum und seine Richtungen sowie ein Ziel wahrnehmen können. Dazu braucht man Auge, Ohr und Gleichgewichtssinn.
Man kann aber auch im Bett liegen, die Augen zumachen, nichts hören – und ist in der Lage Eigenbewegung im Finger wahrzunehmen. Dennoch muss man die Intention haben, das zu machen, muss also das Hirn „einschalten“. Das zeigt die Komplexität des Lebens: Leben ist eben auch Bewegung und Bewegung ist das, was einen am Leben hält.
Leben braucht Bewegung
Das spüren alte Menschen, die sterben wollen, instinktiv. Sie legen sich einfach ins Bett und bewegen sich nicht mehr. Sie vermitteln ihren Angehörigen: Mit mir geht es jetzt zu Ende, ich habe keinen Appetit mehr, will nichts mehr und warte jetzt, bis Gott mich ruft. Meist geht es dann ziemlich schnell bergab mit ihnen. Das ist der normale Alterstod, bei dem man, wie es im Märchen heißt, fühlt, dass man sterben soll.
Gesunde Kinder trainieren ihre Sinne ganz von selbst, wenn man sie lässt und sie die passende Umgebung dafür haben. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich hatte das Glück in einer Zeit aufzuwachsen, wo es noch nicht allgemein üblich war, dass Kinder in den Kindergarten gingen. In unserer Nachbarschaft gab es ein traditionell erzogenes Mädchen, das viele Lieder, Singspiele, Ringelrein und Singverse kannte. Ein ganzer Kindertrupp hat stundenlang auf der Straße Lieder gesungen, z.B. das Lied: „14 Engel fahren…“ Wir balancierten, hüpften auf den Pflastersteinen, malten Kurven, deren Linien wir nachliefen. Wir trainierten ständig, den ganzen Tag lang die unteren Sinne. Das war normale, spontane Kinderkultur. Heute muss man das alles pädagogisch ermöglichen bzw. therapeutisch nachholen.
Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik Und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
GRUNDLEGENDES ZUM GLEICHGEWICHTSSINN
Wozu befähigt uns der Gleichgewichtssinn?
Aufbau des Gleichgewichtsorganes
Das Gleichgewichtsorgan befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Gehörschnecke hinter dem Ohr im Felsenbein: Hören und Gleichgewicht-Halten haben viel miteinander zu tun. Das Gleichgewichtsorgan besteht aus drei senkrecht aufeinander stehenden Bögen – wie eine Zimmerecke. Da, wo sie zusammenkommen, sind noch mal zwei Ausbuchtungen, die Sacculus und Utriculus heißen. Sie sind ausgekleidet mit 76tausend feinsten Haarzellen, auf denen winzige Calciumcarbonat-Kriställchen liegen, die empfindlich auf Druck, Schwere sowie Lageverschiebungen im Raum reagieren. Über sie nehmen wir das Schwerefeld der Erde wahr, auch wenn man den genauen Mechanismus immer noch nicht versteht.
In jedem der drei Bogengänge befinden sich ebenfalls feine Tasthaare. Diese Bogengänge sind aber mit Endolymphe gefüllt, einer gallerteartigen Flüssigkeit. Das feste und das flüssige Element sind nötig, um uns in der Welt des Festen und des Flüssigen im Gleichgewicht halten zu können. Mithilfe der feinen Kriställchen können wir Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen unterscheiden, indem diese winzigen Steinchen bei der linearen Beschleunigung bewegt werden. Bei horizontalen, vertikalen und schrägen Bewegungen zirkuliert die Endolymphe. Und weil Flüssigkeit immer träger ist als die Bewegung in der Luft, werden die sich mitbewegenden Härchen in den Bogengängen durch die träge Flüssigkeit entgegengesetzt zur Bewegung verbogen. An diese fünf Gleichgewichtssinnesorgane schließt sich das eigentliche cortische Organ, die Gehörschnecke (Cochlea), an.
Zur Entwicklung des Gleichgewichtsorganes
Das Gleichgewichtsorgan beginnt sich am Anfang des zweiten Monats zu bilden und misst dann 4, 3 mm. Bereits am Anfang des dritten Monats, also im Laufe eines Monats, hat sich das ganze 30 mm große Organ gebildet. Zu diesem Zeitpunkt misst der gesamte Embryo nur 4, 4 mm vom Scheitel bis zum Steiß. Und in diesem winzigen Embryo hat sich das noch viel winzigere Gleichgewichtsorgan in dieser Vollkommenheit ausgebildet.
Das Felsenbein ist unser härtester Knochen, der schon im Mutterleib voll zu verknöchern beginnt. Bereits ab dem dritten Lebensjahr bleibt er, wie er ist, baut er sich nicht mehr um, ist wirklich ein Fels, ähnlich den Zähnen – das ist etwas ganz Besonderes:[1] An dieser Stelle tragen wir die Sklerose durchs Leben. Das Felsenbein ist so gut geschützt, dass wir es – anders als unsere Zahnschmelzkronen – nicht schädigen können. Und darin eingebaut ist unser Gleichgewichtsorgan.
Repräsentation im Gehirn
Die zum Gleichgewichtssinn gehörenden Nervenleitungsbahnen führen zum Kleinhirn, wo die Verarbeitung der Reize stattfindet. Gott sei Dank führen keine Nervenbahnen zum Großhirn, sondern münden in den Hirnstamm. In diesem Bereich hängt der Tastsinn eng mit dem Gleichgewichtssinn zusammen, der auch unbewusst arbeitet: Über unsere Tasterfahrungen erhalten wir Auskunft darüber, dass hier vorne und dort hinten ist usw. Im Dazwischen nehmen wir tastend die inneren Organe wahr: Hier ist die Leber, hier ist das Herz. Das sind alles unterbewusste bzw. ganz leicht bewusste Tastwahrnehmungen, die uns ein dumpfes Existenz- und Daseinsgefühl geben. Beide zusammen vermitteln uns so in jedem Moment die Verortung im Raum, die wir für ein erfülltes Selbsterleben brauchen.
Die Nervenbahnen, die diese Informationen über Lage, Geschwindigkeit, Bewegung im Raum und unser eigenes Existenzgefühl weiterleiten, treffen sich im Rautenhirn, einem Teil vom Hirnstamm, und im Kleinhirn. Von dort aus werden die nicht willkürlich gesteuerten Bewegungen koordiniert, die unserem willkürlichen Zugriff weitestgehend entzogen sind. Nur wenn wir Schwindel empfinden bzw. erst wenn pathologische Verhältnisse eintreten oder Schmerz auftritt, dann rückt dieser Bereich ins Bewusstsein.
An der Aufrichte beteiligte Sinne
Auch die moderne Sinnesphysiologie sagt etwas Wunderschönes: Wir verdanken den aufrechten Gang beiden, Tastsinn und Gleichgewichtssinn. Ohne diese beiden Sinne könnte der Mensch sich nicht aufrichten. Bereits im Mutterleib sorgt der Tastsinn dafür, dass jedes Organ an den richtigen Ort kommt im Oben, Unten, Rechts, Links, Vorne, Hinten des intrauterinen Kosmos. Die Organanordnung ist demnach Ergebnis von intrauterinen Tasterlebnissen. Wenn das Kind dann geboren ist, wird diese Tasterfahrung zusammen mit den Gleichgewichtserfahrungen im gesamten Aufrichte-Prozess miteinander „verschaltet“. Natürlich sind auch noch viele andere Faktoren beteiligt, aber man ist sich in der Sinnesphysiologie einig, dass jede Tasterfahrung schon eine Gleichgewichtserfahrung ist und jede Gleichgewichtserfahrung auch eine Tasterfahrung. Beide dienen der Verortung im Raum und machen den Menschen zu einem aufrechten Wesen.
Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
[1] Der normale Knochen weist einen regen Knochenstoffwechsel auf, weswegen die Knochen entkalken, wenn man sie ruhigstellt. Astronauten müssen mit dem Problem umgehen, dass der Kalk aus den Knochen geht, wenn sie in der Schwerelosigkeit verweilen. Unsere Knochen sind ständig im Ab- und Umbau begriffen. Wenn wir an einer besseren Haltung arbeiten, verändert sich zugleich auch unser Skelettsystem. Diese Plastizität unserer Knochen ist heute bewiesen durch die Schulmedizin, durch die Orthopädie usw.
LEBENSSINN, SCHÖNHEIT UND STIMMIGKEIT
Warum empfinden wir etwas als schön und stimmig?
Warum tut es uns gut, Schönes zu betrachten und Stimmiges zu erleben?
Wahrnehmung von Schönheit durch den Lebenssinn
Wenn man sich die liebevoll schraffierten Bilder von den Säulenmotiven des ersten Goetheanum anschaut, kann man sich fragen, was uns daran so berührt. Für mich ist es eine reale „Lebenssinn-Wahrnehmung“, im übertragenen Sinn, die mit dem Lebenssinn zusammenhängt. Rudolf Steiner sagte: Schön ist etwas, das sich ganz offenbaren kann. Wenn das Wesen von etwas ganz zum Ausdruck kommt, erleben wir das als schön. Etwas Schönes bildet immer eine Ganzheit – und es gibt keine vollkommenere Ganzheit als das Leben. Deswegen ist das Leben schön.
Schiller lässt seinen Marquis Posa, den Freiheitshelden im Don Carlos, der Königin von Spanien sagen: „Königin – oh Gott, das Leben ist doch schön!“. Er ruft ihr diesen Satz nach, als sie in einem Augenblick größtmöglicher Verzweiflung stumm abgeht.
Solange ein Mensch das Leben noch schön finden kann, können wir sicher sein, er ist psychisch gesund. In dem Moment, wo man das Leben nicht mehr schön finden kann, stimmt etwas ganz Entscheidendes nicht mehr. Das ist so, weil im Leben alles miteinander zusammenhängt.
Gesund ist ein Organismus dann, wenn alles zusammenstimmt, wahrhaftig in Resonanz miteinander ist, wenn jedes Organ dem anderen zeigt, wie es ihm geht. Wenn man sich gegenseitig wahrnimmt. Was wir soziale Kompetenz nennen, ist nichts anderes als Lebensgemäßheit. Ein gesundes soziales Leben beinhaltet, dass man die Bedürfnisse des anderen wahrnimmt und angemessen darauf reagiert; und wenn man das nicht kann, dass man sich wenigstens entschuldigt und der andere spürt, man würde gern anders reagieren, man kann es nur nicht. Alles soziale Leben baut auf gegenseitiger Wahrnehmung auf.
Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
LEBEN, SEELE, ICH UND SINNE
Wie hängen die Prozesse des Lebens, der Seele und des Ichs mit den Sinnen zusammen?
Zusammenspiel von Sinnen und Leben
Die Sinne und die Lebensprozesse gehören nach Steiner eng zusammen.[1] Das sagt auch die moderne Nervenlehre. Ohne die Lebensprozesse machen die Sinne gar keinen Sinn, denn Leben ist sensibel, ist Berührung, ist Beziehung, ist Sensorik. Leben ist immer die Verbindung zwischen etwas und seinem Umkreis, braucht einen Umkreis. Totes dagegen braucht keinen Umkreis. Und um den Umkreis erleben zu können, sind die Sinne nötig. Die Sinnesorgane in ihrer Gesetzmäßigkeit bilden sich auf der Grundlage der Lebensvorgänge, gestalten sich an der Begegnung, an der Berührung. Demnach ist das Leben die Vorbedingung für die Ausbildung der Sinnesorgane, die sich an der Umwelt für die Umwelt bilden. Oder wie Goethe vom Auge sagt, dass es sich „am Licht für das Licht“ bildet.
„Die Sinnesorgane in ihrer Gesetzmäßigkeit werden von den Lebensvorgängen vorausgesetzt. Die Lebensvorgänge von den Seelenvorgängen, die Seelenvorgänge vom Ich, das Ich wird sich bewusst an den Seelenvorgängen.“[2]
Die Sinnesorgane in ihrer Gesetzmäßigkeit haben also Lebensvorgänge als Voraussetzung und diese wiederum Seelenvorgänge, die ihrerseits Ich-Tätigkeit als Voraussetzung haben: Wenn ich nichts erleben will, erlebe ich auch nichts, dann verkümmern meine Sinnesorgane. Im Zuge der Sinnesschulung sind wir bemüht, neue Erlebnisse zu „erzeugen“ – bei uns selbst oder beim anderen – wollen wir die Seele erregen, ihr neues Leben einhauchen, sie beleben, damit sie ihrerseits, lebendiger geworden, die Sinnesorgane aktiviert.
Wie oft steht im Evangelium, dass Menschen Augen haben, aber nicht sehen, Ohren haben, aber nicht hören. Im Grundsteinspruch[3] heißt es: „Menschen mögen es hören!“ Warum ist das so? Wenn wir uns seelisch nicht bewegen, uns für nichts interessieren, erlahmt die Lust, Neues zu erleben, denn wir kennen alles ja schon… Dann wird es langweilig, dann wird die Seele immer grauer, immer trüber, immer unbeweglicher. Als Folge degenerieren die Sinnesorgane und zum Schluss weiß man nicht mal mehr, ob es einem warm oder kalt ist.
Ich und Sinneserfahrung
Das Ich lebt in den Sinnen, wach und bewusst. Da startet es sozusagen durch bis in die Außenwelt: Das Ich bringt den Erlebnisraum „Seele“ in Resonanz mit seiner Umwelt, entwickelt Interesse daran, bewegt sich in die Umwelt hinein. Dadurch entsteht eine lebendige Beziehung zur Umwelt, kommt es zu Sinnes-, Begegnungs-, Berührungsreizen. Und nun kehrt sich das Ganze wieder um: Es kommt zu einem Sinneseindruck, der dann mit allem möglichen Begleiterfahrungen und -umständen „angereichert“ im Großhirn landet und dort wach und bewusst mit Hilfe des Denkens verarbeitet wird.
Wir können also sagen, der Tastsinn in seiner Gesetzmäßigkeit wird von den Lebensvorgängen bedingt: Am Anfang war die sensible Zelloberfläche, die den Lebensvorgängen geschuldet war und diese den Seelenvorgängen, dem Interesse an der Umwelt, das wiederum vom Ich abhängt, von der Art, wie jemand von Ich zu Ich dem anderen begegnet.
Das Ich ist also der eine „Chef“.
Das Ich wird sich umgekehrt seiner selbst bewusst an den Seelenvorgängen, die ihrerseits erlebt werden durch die Lebensvorgänge. Diese und das damit zusammenhängende Lebensgefühl gestalten sich wiederum nach der Gesetzmäßigkeit der Sinnesorgane, werden von ihnen beeindruckt und beeinflusst: Durch das, was wir sehen und erleben, wird unser ganzes Lebensgefühl verändert, verwandelt.
Die Sinnesorgane mit ihrer physischen Beeindruckbarkeit sind der andere „Chef“.
Jetzt geht es wieder zurück bis zum Ich…
Den Sinnen hast du dann zu trauen…
Goethe sagt in seinem Gedicht „Vermächtnis“:
„Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.“
Alle Sinnestäuschungen sind im Grunde „Gedankentäuschungen“. Sinnestäuschungen an sich gibt es nicht, nur Fehlinterpretationen von Sinneseindrücken. Denn die Sinneseindrücke sind das Ergebnis einer Begegnungskultur, die wahr ist. Wer sich in der goetheanistischen Betrachtungsweise übt, merkt, wie er sich gedanklich umerziehen muss, um Sinneseindrücke adäquat zu verarbeiten, damit die Sinne einen nichts Falsches lehren: Z.B. ist die Theorie, dass der Mensch dem Urknall entstammt und dem Wärmetod entgegengeht eine falsche Interpretation von richtigen Sinneserfahrungen. Der ganze Materialismus ist eine einseitige – und damit eine Fehlinterpretation – unserer sinnlichen Erfahrungswelt.
Zweierlei Impulse für Weiterentwicklung
- Vom Ich geht die Intention aus, etwas zu erleben, und die Art und Weise, wie es verarbeitet wird: Wenn wir meditativ arbeiten, führt das zu seelisch geistiger Weiterentwicklung.
- Von den Sinnen kommt die Fülle neuer Erlebnisse, die den Leib weiter und weiter bilden und gestalten. Und so ist die Sinnesbegegnung mit der Welt die Fortsetzung der physischen Schöpfung, bringt physische Weiterentwicklung bis ins höchste Alter.
Goethe, der Meister der Sinnesentwicklung und was sie dem Geiste zurückgibt, und Rudolf Steiner, der Meister der Geistesentwicklung und was diese für die Sinneskultur bedeutet, sind beide zusammen die Initiatoren der Bewusstseinsseele, die ja eine Seelenkultur an den Sinnesgrenzen, am Physischen, ist.
Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
[1] Rudolf Steiner, Das Rätsel des Menschen, die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte, GA 170.
[2] Rudolf Steiner, Lucifer-Gnosis, GA 34, (1971), S 16.
[3] Rudolf Steiner: Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24, GA 260 (1994).
LUZIFERISCH-AHRIMANISCHE UMGESTALTUNG DER SINNE
Was ist unter luziferisch-ahrimanischer Umgestaltung der Sinne zu verstehen?
Welche Sinne sind davon betroffen?
Luziferischer und ahrimanischer Einschlag
Rudolf Steiner spricht von einem luziferischen Einschlag und einem ahrimanischen Einschlag im Zuge der Sinnesentwicklung der Menschheit.[1]
- Die luziferischen Umgestaltungen betreffen unsere Inkarnationssinne, unsere Willenssinne, also Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn. Luzifer hat unsere Willenssinne verführt, dass wir Eigenwillen entwickeln, anderes wollen als die Götter. Er hat uns eigenwillig gemacht. Damit hat er die Voraussetzung für Freiheit geschaffen.
- Nur der Gleichgewichtssinn ist nicht betroffen von der luziferischen Verführung.
- Ich-Sinn, Gedankensinn und Sprachsinn sind hingegen von Ahriman verführt worden, sodass wir etwas falsch verarbeiten, falsch hören und missverstehen können. Wenn man sich missversteht, kann man sicher sein, Ahriman war zu Besuch… Denn Ahriman ist der Großmeister des Sich-gegenseitig-Missverstehens.
Nur der Hörsinn ist nicht betroffen von der ahrimanischen Verführung.
Ahriman als Meister des Missverstehens
Im Grunde haben wird die Sprache bekommen, um uns zu verstehen.
Wieso verstehen wir uns dann ständig falsch?
Inzwischen begreife ich, warum es Sinn macht, noch einmal zu wiederholen, was man gehört bzw. gelesen hat. Weil man dann merkt, dass man oft etwas ganz anderes denken möchte, als was man gehört hat oder was an einer bestimmten Stelle geschrieben steht.
Dazu noch ein Beispiel, das unter uns leider immer wieder vorkommt: Wenn jemand eifrig bemüht ist zu erklären, was Rudolf Steiner eigentlich gemeint hat, was die wirkliche Anthroposophie ist, merkt man sofort den ahrimanischen Zug, die anderen beherrschen zu wollen kraft des eigenen Ich bzw. der eigenen Gedankenmacht, über Sprachgewalt Macht ausüben zu wollen. Das bewirkt Ahriman. Über Missverständnisse und Interpretationen kann man streiten, aber auch geschickt manipulieren. Je intelligenter jemand ist, desto besser kann er Menschen lahmlegen mit seinen einzig wahren Interpretationen. Dadurch wird das Selber-Denken der anderen wie erstickt und sie werden Teil eines beherrschenden Kollektivs.
Die ahrimanische Umgestaltung betrifft drei der oberen Sinne, die luziferische drei der unteren, der Willenssinne. Umso berührender ist es, sich klar zu machen, wie sie miteinander zusammenhängen. Rudolf Steiner sagt dazu sinngemäß: „Was im Tastsinn unbewusst lebt, wird offenbar im Ich-Sinn. Was im Lebenssinn unbewusst da ist, wird offenbar im Denksinn, was im Bewegungssinn unbewusst sich bewegt, wird offenbar und bewusst im Sprachsinn.“
Untere Sinne als Nervengrundlage für die oberen Sinne
Wenn man nun fragt, was die Organe, die Nervengrundlage, für die oberen Sinne sind, kann, darf und muss man auf den Zusammenhang mit den unteren Sinnen von Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn und Gleichgewichtssinn verweisen. Man muss sich die folgenden Fragen und Antworten darauf buchstäblich vorstellen:
- Wer bewegt sich? Ich selbst bin es.
- Wer sucht nach Gleichgewicht? Ich tue es.
- Wer lebt? Ich lebe.
- Wer tastet? Ich taste.
Immer ist es das Ich, das sich verkörpert und durch die Sinne mit der Welt in Kontakt tritt. Diese Ich-Tätigkeit hinterlässt Spuren, wird an verschiedenen Stellen im Körper wie eingeprägt. Diese Spuren im eigenen Nervensystem von allem, was ich getan, gelebt, gesucht, gemacht habe, diese Stempelabdrücke im Nervensystem, vor allem im Großhirn, werden nach einer gewissen Zeit des Waltens und Wirkens zu den Wahrnehmungsorganen, den Sinnesorganen für das Ich des Anderen, für das Denken des Anderen, die Sprache des Anderen. Denn wenn das Ich nicht in einem eigenen Körper Fuß gefasst hätte und nicht wüsste, wie es ist, sich im eigenen Körper zu ertasten, so wäre es nicht in der Lage, ein anderes Ich zu ertasten, sprich: wahrzunehmen.
Vom Ich zum Du
So wie sich das Auge „am Licht für das Licht“ bildet, so entwickeln sich die höheren Sinne in dem Maße, wie man sich die Wahrnehmungsfähigkeit dazu aufgrund der eigenen Ichtätigkeit im Ertasten seiner selbst, in seiner Lebenstätigkeit und im Bewegungsausdruck seiner selbst gebildet hat.
- Dadurch, dass ich mich selber ertastet habe, weiß ich, wie man andere ertastet.
- Dadurch, dass ich selber lebe, und mein Ätherleib das Wesensglied ist, das mir die Bildung von Gedanken ermöglicht und ich selbst zu denken gelernt habe, kann ich jetzt Gedanken anderer wahrnehmen.
- Dadurch, dass ich mich selber bewegt habe und weiß, was Bewegung ist, auch die bewusste Bewegung der Sprache, ist mein ganzes Nervensystem durch diese Ich-Tätigkeit in der Bewegung so geprägt, dass ich jetzt dadurch auch wahrnehmen kann, wenn andere sich bewegen bzw. sprechen und etwas zum Ausdruck bringen.
In anderen Worten:
- Was verborgen ist im Tastsinn, wird offenbar im Ich-Sinn.
- Was verborgen ist im Lebenssinn, wird offenbar im Gedankensinn.
- Was verborgen ist im Bewegungssinn wird offenbar im Sprachsinn.
Mittlere Sinne als christliche Sinne der Harmonie
Die mittleren Sinne sind die Sinne, die uns helfen, den notwendigen Einklang zwischen uns und der Welt herzustellen. Da überwiegt weder das luziferische Eigene, noch das ahrimanisch Weltbeherrschende. Es herrscht vielmehr Harmonie zwischen beidem. Deswegen sind das die „christlichen Sinne“. Das beginnt mit dem Gleichgewichtssinn, umfasst die mittleren Sinne und endet mit dem Hörsinn. Ersterer und Letzterer gehören auch zusammen: Ohne inneres Gleichgewicht kann man nicht gut hören bzw. zuhören. Unter diesem Aspekt ist Musik die christlichste Kunst.
Selbstverständlich können alle Künste luziferisch oder ahrimanisch entarten, auch die Musik. Wenn der jeweilige Sinn für Gleichgewicht, für inneres Hören, für Wärme, für Licht und Finsternis, für Geschmack und Geruch, für Qualität und Ästhetik, unterentwickelt ist, entartet jede Kunst. Dann kippt sie sozusagen aus dem Schönen, aus dem Ästhetischen, aus dem Harmonischen heraus.
Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
[1] Rudolf Steiner, Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte. GA 170.
RINGEN DES ICH UM SELBSTLOSIGKEIT
Warum ist das Ringen um Selbstlosigkeit so wichtig?
Wie und wodurch kann es gelingen?
Mikrokosmos des Ich begegnet über die Sinne dem Makrokosmos der Welt
Einzig in unserem Ich haben wir Menschen die Selbstlosigkeit noch nicht errungen. Warum nicht? Weil der Christus selbst zwar dieses Ich-Opfer der Selbstlosigkeit gebracht hat, es für jeden einzelnen aber erst wie „in Kraft tritt“, wenn sich jeder einzelne von uns selbst auch übend darum bemüht. Das ist das einzige Opfer, von dem wir nicht zwangsläufig bzw. konstitutionell etwas haben. Ob wir eigensüchtig bleiben wollen oder nicht, ist einzig und allein unsere Entscheidung.
Über die zwölf Sinne, die Rudolf Steiner so sorgfältig differenziert und charakterisiert, kann unser um Selbstlosigkeit ringendes Ich an zwölf Orten das selbstlose Zusammenwirken von Leib und Umwelt erleben. Das Ich steht an der Schwelle und erkennt, wie Selbst und Welt zusammenhängen. Und: Es ist in diesen zwölf Sinnessphären zugegen, wenn Leib und Welt sich begegnen, und erkennt: Wir sind von derselben Wesenheit. Ich bin der Mikrokosmos, du bist der Makrokosmos. Jedes Sinnesorgan ist ein Ort, an dem das Ich sich durch die Sinnestätigkeit seiner selbst und der Beschaffenheit der Welt innewerden kann. Es lernt zu unterscheiden: Das ist das Selbst, das ist die Welt; das ist innerhalb von mir, das ist außerhalb. Es lernt aber auch die beiden zusammenzubringen.
Jede Sinneserfahrung ist interpretationsbedürftig
Im Folgenden ein Beispiel, um zu zeigen, wie komplex dieses Geschehen ist: Mein Finger berührt diese Kante und gibt meinem Ich, meinem reinen Willen, so die Gelegenheit, diesen Berührungsakt in unterschiedlicher Hinsicht zu begreifen: In der Berührung findet eine Begegnung zwischen meiner Hautbegrenzung und der Holzoberfläche statt, „…sodass ich mich als Ich erleben kann, unterscheidend mein Eigenwesen…“ und dass mir gegenüber offensichtlich ein anderes Wesen ist. Darüber hinaus erfahre ich etwas über die jeweilige Oberfläche, die ich berühre.
Doch nicht der Sinn selbst gibt mir die Botschaft, ob etwas weich, trocken, hart, spitzig oder stumpf ist – nein: Ich erlebe unterschiedlich geformte Grenzen und mache mir selbst klar, was das bedeutet. Deswegen sind die Tast-Endorgane nicht spezifisch mit einem Erlebnis bzw. einer Repräsentationszone im Gehirn verbunden, sondern jede Sinneserfahrung ist interpretationsbedürftig: Jeder Sinnesort gibt dem Ich die Möglichkeit, sich dort wahrnehmend und urteilend zu betätigen.
Zwischen sinnlicher und übersinnlicher Wahrnehmung unterscheiden
Es ist wichtig zu unterscheiden, wann wir sinnlich wahrnehmen und wann wir bereits hellsichtig und hellfühlig sind.
- Nur die rein sinnliche Wahrnehmung sowie die Unterscheidung zwischen Innen und Außen können Sinneswahrnehmung genannt werden.
- Alles, was wir anhand einer Sinneserfahrung im Inneren erleben, alles seelische Fühlen, ist bereits übersinnliches Erleben.
Wir sollen anhand der Sinneslehre klar erkennen lernen, dass Hellsichtigkeit bzw. Hellfühligkeit bereits im ganz normalen Seelenleben beginnen. Um uns wissen zu lassen, wie man diese Fähigkeiten weiterentwickelt, hat Rudolf Steiner „Wie erlangt man Erkenntnisse...“[1] geschrieben.
In anderen Sprachen ist es äußerst schwer zu sagen, was eine Sinnesempfindung ist. Es gibt in der Regel kein Wort dafür. Gefühl ist nicht Empfindung! Rudolf Steiner unterscheidet sogar noch den Empfindungsleib als Grenze zwischen der physischen Sinneswahrnehmung und der Empfindung derselben in der Seele bzw. als Ort, an dem das Ich steht und merkt: Das ist mein Leib und das ist außerhalb davon. Das tut es mithilfe des Empfindungsleibes, der das Sich-in-seinem-Leib-Empfinden, das Anstoßen daran, ermöglicht. Die Empfindung am Leib ist Sinnesempfindung.
Freiheit von sich selbst als Selbstlosigkeit
Es ist wichtig, das zu unterscheiden, weil genau an dieser Stelle die Kultivierung des Ich beginnt, die Arbeit, das eigene Ich selbstlos zu machen. Der Schulungsweg der Anthroposophie, aber auch alle Schulungselemente, die wir aus Kunst und Lebenspraxis kennen, arbeiten nach demselben Prinzip: Das Ich dahin zu bringen, sich des vollen Umfangs seiner Erlebnismöglichkeiten bewusster zu werden und es zu schulen, sich diesen Erlebnismöglichkeiten frei gegenüberzustellen, sie frei zu handhaben, nicht abhängig davon zu sein. Ein selbstloses Ich zu erringen bedeutet, dass das Ich lernt, Erlebtes nicht zum Selbstgenuss zu missbrauchen, indem es in den damit verbundenen Wohlgefühlen schwelgt und abhängig davon wird. Das Ich muss vielmehr lernen, sich selbst loszulassen und sich frei gegenüberzustehen.
Selbstlosigkeit bedeutet ja nicht Selbstaufgabe, sondern ein neues losgelöstes Verhältnis zu sich selbst. Die höchste Freiheit des Menschen nennt Steiner die Freiheit von sich selbst: Dass man nichts mehr muss, nicht mehr meint, sich nicht so oder so verhalten zu müssen. Nur dann kann ich mich mir selbst frei gegenüberstellen, kann loslassen oder mich verbinden. Die Voraussetzung dafür ist das Vertrauen, sich dabei nicht zu verlieren. Glaube ist im Grunde das tiefe Vertrauen, dass das Ich Bestand hat.
Sinnesempfindung bewusst erfassen
Die Lektion, sich selbst als ein Fremder gegenüberzustehen, beginnt mit der Sinnesempfindung. Steiner sagt, die einzige Aufgabe der Erziehung bestehe darin zu ermöglichen, dass sich das Gefühlsleben des Kindes von seiner Verhaftung mit dem physischen Leib loslöst und an das Denken anschließt. Alles dreht sich um die Art, wie das Kind sich und die Welt fühlt – und dient im besten Fall dem vorhin erwähnten vierten Christusopfer, der Selbstlosigkeit des Ich.
Die wichtigste Übung, um das zu erreichen, besteht darin, tief zu empfinden, was man erlebt, genau zu sehen, was man sieht, aufmerksam zu hören, was man hört – in der Sinnessphäre detaillierte genaue Wahrnehmungen zu machen. Warum? Weil man eine Empfindung bewusst erfassen muss, um sie, wie Rudolf Steiner es in der Theosophie[2] beschreibt, zum Gefühl verdichten zu können.
Sinn aller Erziehung und auch zentraler Auftrag jeder Selbstschulung und Therapie ist es, sich selbst bzw. dem Kind oder Klienten zu ermöglichen,
- einen Sinneseindruck bewusst zu empfinden,
- die Empfindung zu einem Gefühl zu verdichten,
- sich über das Gefühlte klar zu werden
- und zuletzt einen Ausdruck mit künstlerischen Mitteln dafür zu finden: über Klang, Form, Farbe, Bewegung.
Dabei geht es darum, einen selbstlosen Ausdruck zu finden für das Wahrgenommene als etwas, das einem gegeben wurde; nicht im Genuss hängenzubleiben, sondern den Genuss als Mittel zu nützen, etwas objektiv zu erkennen.
- Zuletzt soll man sein Werk selbstlos von sich ablösen und es z.B. vor sich hinstellen bzw. es gemeinsam mit jemandem anderen anschauen: Wie siehst du es? Das hilft einem wieder ganz davon zurücktreten.
Dieser Prozess ist eine Schulung in Selbstlosigkeit.
Vgl. Vortrag „Der Bewegungssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse Höherer Welten?, GA 10.
[2] Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.
SCHMERZ- UND WÄRMEEMPFINDEN
Wie hängen Schmerz und Wärmeempfinden mit unseren Sinnen bzw. mit der Repräsentationszone im Gehirn zusammen?
Wie lässt sich das individuelle Empfinden von Schmerz und Wärme erklären?
Hinten tastempfindlich, vorne schmerzempfindlich
Das Rückenmark hat eine Vorderseite und eine Rückseite. Zur Vorderseite hin werden Schmerz- und Wärmeempfindungen geleitet und zur Hinterseite hin die eigentliche Tastwahrnehmung:
- Am Rücken sind wir besonders tastempfindlich,
- während wir zum Bauch hin eher schmerzempfindlich sind.
Das ist insgesamt stimmig, die Rückenmarksleitung ist völlig sinngerecht nach vorne und hinten angeordnet, denn
- nach vorne hin sind wir auch seelisch und bewusstseinsmäßig offener,
- nach hinten schirmen wir uns seelisch eher ab, bilden wir vom Bewusstsein her eine spürbare Grenze.
Das Interessante ist nun, dass die Schmerz- und Wärmewahrnehmung keine besondere Repräsentationszone am Cortex, an unserer Großhirnrinde, hat. D.h. dort, wo unser Bewusstsein entsteht, enden diese Sinnesreiz-Leitungsbahnen diffus. Wärme strahlt also auf unspezifische Art ins Gehirn aus. Wenn Nervenleitungsbahnen in die Großhirnrinde münden, können wir die entsprechenden Sinneserlebnisse voll bewusst modifizieren und erfassen. Münden sie in die tiefer liegenden Hirnareale, läuft das Ganze mehr träumend, unterhalb des wachen, gedankennahen Vorstellungslebens, ab. Daher werden Wärme und Schmerz auch so individuell unterschiedlich erlebt und können über das Bewusstsein so stark modifiziert und beeinflusst werden. So haben Menschen, die wir untersuchen, oft auch kalte Hände und Füße oder auch kalte Beine und merken es nicht. Sie halten dies für normal und sagen: „Das ist bei mir so!“ Die Tatsache, dass sie leicht frieren, gelangt nicht in ihr Wachbewusstsein.
Wärmeempfinden bewusst machen
Ich dachte früher immer, dass man die Kälte doch spürt, weil sie unangenehm ist. Die physiologischen Tatsachen zeigen jedoch, dass die Kälteempfindungen aufgrund ihrer diffusen Ausstrahlung im Großhirn bewusst modifiziert werden (können) und es deshalb zu sehr unterschiedlichen Wahrnehmungsintensitäten kommt. Rudolf Steiner hat immer wieder empfohlen, den Ätherleib mit seiner Wärmeäther-Qualität durch eine Kopfbedeckung zu unterstützen – was viele Menschen jedoch nicht beherzigen. Eine Kopfbedeckung hilft uns, Wärme bewusster zu empfinden. Denn im Kopfbereich haben wir über die vielen Haare nicht nur eine sehr starke Sensorik, sondern dort ist auch unser Sinn für Wärme besonders stark.
Der Hinweis von Rudolf Steiner, das Wärmemilieu des Kopfes „zu behüten“ – was von den Priestern der Christengemeinschaft am konsequentesten befolgt wird –, sehe ich darin begründet, dass man dadurch wärmeempfindlicher und wärmeempfänglicher wird und die gesunde Wärmeregulation unterstützt. Die Wärme ist aber auch die Brücke zur geistigen Welt: Unser Ich lebt in der Wärme, die geistige Wärme geht über in seelische Wärme und diese in körperliche Wärme. Das ist ein Wärmestrom, der nicht physisch ist und deshalb keine Grenzen hat, denn auch physische Wärme hat keine Substanz, strahlt unbegrenzt aus.
Vgl. Vortrag „Tastsinn und Gleichgewichtssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 7. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
WILLENSVERWANDTE, GEFÜHLSVERWANDTE UND VORSTELLUNGSVERWANDTE SINNE
Welche Bezeichnungen finden wir bei Rudolf Steiner noch zur Unterscheidung der dreimal vier Sinne?
Wie kann man sie in aller Kürze charakterisieren?
Drei Sinnesgruppen
1. Willensverwandte Sinne
Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn: Steiner nennt sie willensverwandt. Inkarnations-Störungen sind primäre Störungen dieser vier leiborientierten, unteren Sinne. Diese eher unbewussten Sinne bezeichnet Steiner zudem als ausgesprochen innere Sinne.
2. Gefühlsverwandte Sinne
Die Gruppe der mittleren Sinne bilden Geruchssinn, Geschmackssinn, Sehsinn, Wärmesinn, die Rudolf Steiner gefühlsverwandt nennt, bzw. bezeichnet er sie auch als äußerlich-innerlich:
- Alles, was ich schmecke, wird zu einem Teil von mir.
- Andererseits schmecke ich eine Substanz, wie das Salz, das ich als etwas Objektives zu mir nehme.
Das betrifft auch unser Sehen, Riechen und Wärmeempfinden. Diese „mystischen Sinne“ ermöglichen ein Mystisches Eins-Sein mit der Welt. Alle mystischen Erlebnisse haben da ihren Urgrund.
3. Vorstellungsverwandte Sinne
Die Gruppe der oberen Sinne, Gehörsinn, Wortsinn, Gedankensinn, Ich-Sinn nennt Steiner vorstellungsverwandt und bezeichnet sie zugleich als ausgesprochen äußere Sinne. Wir nehmen damit etwas wahr, was ganz außerhalb von uns ist: ein anderes Ich-Wesen, eine andere Art zu denken, eine andere Sprache, fremde Melodien, uns von außen Zukommendes.
Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
LEIBLICH, SEELISCH UND GEISTIG ORIENTIERTE SINNE
Was ist unter geistig, seelisch und leiblich orientierten Sinnen zu verstehen?
Warum ist Sinnesschulung für Heranwachsende heute so wichtig?
Zusammenspiel von geistigen und leiblichen Sinnen
Wir verfügen über zwölf Sinne, die sich in drei Hauptgruppen einteilen lassen. Auf der einen Seite gibt es die Gruppe der leiblich orientierten Sinne – Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn – und auf der anderen Seite die geistig orientierten Sinne – Hörsinn, Sprach- bzw. Wortsinn, Gedankensinn und Ich-Sinn; dazwischen liegen die seelisch orientierten Sinne – Geruchsinn, Geschmacksinn, Sehsinn und Wärmesinn. Alle diese Sinne wirken nicht einzeln für sich, sondern hängen miteinander zusammen; das gilt insbesondere für die Beziehung zwischen den leiblichen und den geistigen Sinnen.
· Zusammenhang zwischen Hör- und Gleichgewichtssinn
Der Hör- und der Gleichgewichtssinn sind eng miteinander verbunden: Wer seelisch nicht im Gleichgewicht ist, kann schwer zuhören; denn er ist ganz mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Man braucht inneres Gleichgewicht, das sich in Form von innerer Ruhe zeigt, um ganz offen sein zu können. Die Fähigkeit, im Inneren Ruhe herzustellen und sich dem Außen zu öffnen, verdanken wir den Erfahrungen des Gleichgewichtssinns. Das heißt – und das ist jetzt entscheidend – unser Ich, unser Selbst, erlebt sich selbst in der Sinnesaktivität. Es ist die Aufgabe, ja sogar der Sinn des Lebens auf der Erde, dass sich der Geist, das Ich, im Anstoßen an die physische Welt als Individuum erlebt. Dieses Selbsterleben ist deshalb möglich, weil die genannten zwölf Sinne eine Schöpfung Gottes sind, so wie wir als ganzer Mensch gottgewollt sind.
· Zusammenhang zwischen Wort-/Sprachsinn und Bewegungssinn
Bewegungssinn und Wort-/Sprachsinn hängen insofern zusammen, als jede Bewegung, die das Kind lernt, einen Sinn-, Wort-, Sprachzusammenhang darstellt: Jede Geste, jeder physiognomische Ausdruck ist Sprache, jede Bewegung ist Ausdruck von etwas. Das spätere Wort- und Sinnerleben wird durch die Bewegungsentwicklung in den ersten Lebensjahren entscheidend veranlagt. Dem Bewegungssinn verdanken wir unser Freiheitsgefühl. Je freier ein Mensch sich fühlt, desto freier kann er auch mit Sprache umgehen. Ein unfreier Mensch kann sich nicht ausdrücken. Man kann einen unfreien Menschen geradezu daran erkennen, dass er sich immer überlegt, was er wem wann und wo sagen will, dass er unsicher ist und unter allen möglichen Zwängen steht. Der Unfreie geht auch kein Risiko ein, er sichert sich gerne ab. Bewegungsfreiheit verwandelt sich in Ausdrucksfreiheit. Durch die Bewegungsfreiheit erleben wir, dass wir als Mensch überhaupt zur Freiheit veranlagt sind. Nur durch den Bewegungssinn kann Freiheit zur eigenen Erfahrung werden.
· Zusammenhang zwischen Lebenssinn und Gedankensinn
Entsprechendes gilt für die Lebensvorgänge und das Denken. Eine gesunde Ernährung, ein guter Lebensrhythmus, die Pflege der Lebenskräfte sind die beste Intelligenzförderung, die beste Förderung für das Wahrnehmen von Gedanken und Lebensvorgängen anderer. Der Lebenssinn bringt mich in Harmonie mit mir selbst, denn er meldet mir durch Hunger, Durst und Missbehagen, dass mir etwas fehlt. Ist das Bedürfnis gestillt, bin ich zufrieden und in Einklang mit mir selbst. Die Aufgabe des Gedankensinns, durch Gedankenarbeit in Einklang mit der Umwelt zu kommen, wird durch den Lebenssinn veranlagt. Menschen, die ein gewisses Ausmaß an Selbstzufriedenheit und Harmonie erlebt haben, bei denen dieses Erleben konstitutionell zur Gewohnheit werden konnte, haben das Bedürfnis, auch in ihrem Umkreis für Harmonie zu sorgen. Wer jedoch an Disharmonie gewöhnt ist, nimmt sie gar nicht als Problem wahr. Solche Menschen können unter Umständen taktlos „dreinhauen“, ohne zu merken, dass sie die Atmosphäre verletzen und damit Zusammenhänge stören. Lebenssinn und Gedankensinn sind ganz bedeutende soziale Sinne. Selbstverständlich stellen Harmoniesüchtigkeit und Überempfindlichkeit ein ebenso problematisches anderes Extrem dar. Aber insgesamt kann man sagen: Die Fähigkeit, uns als integres, harmoniebedürftiges und harmoniefähiges Wesen zu erleben, verdanken wir individuell und sozial gesehen diesen beiden Sinnen.
· Zusammenhang zwischen Tastsinn und Ichsinn
Nun der Zusammenhang zwischen Tastsinn und Ichsinn: Die wichtigste Selbsterfahrung, die der Säugling macht, erfolgt über die Oberflächen- und Tiefensensibilität; dadurch, dass das Kind seine Grenzen spürt, erlebt es, wenn auch noch dumpf und unbewusst: Ich bin. Wir verdanken dem Tastsinn unser Existenzerlebnis, das die Grundlage für ein gesundes Selbstbewusstsein ist, das von keinem Zweifel an der eigenen Existenz unterminiert wird. Wenn ich von meiner eigenen Existenz überzeugt bin, kann ich auch einen Sinn dafür entwickeln, andere Existenzen wahrzunehmen. Wer sich selbst nicht wahrnimmt, kann auch andere nicht wahrnehmen. Nur wenn sich der Ichsinn, also die Wahrnehmung des anderen Ich, ungestört entwickelt, kann später Sozialkompetenz entstehen.
Da das Kind erst einmal sich selbst erleben muss, stehen im ersten Jahr die leiborientierten Sinne – Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungs- und Gleichgewichtssinn – ganz im Vordergrund. Die sozialen Sinne – Ichsinn, Gedankensinn, Wortsinn und Hörsinn – sind beim kleinen Kind noch eng mit den leiborientierten Sinnen verbunden. Rudolf Steiner bemerkt hierzu: Was verborgen ist im Tastsinn, wird später offenbar im Ichsinn; das gilt entsprechend für die anderen Sinnespaare. So ertastet das kleine Kind, wenn es die Mutter oder die Tagesmutter oder einen anderen Menschen betastet, zugleich auch deren Ich, deren innerstes Wesen. Es erlebt Gedanken und Wort in den harmonischen oder unharmonischen Lebensumständen sowie in den Gesten und Bewegungen im Umkreis.
Die mittleren, seelisch orientierten Sinne
Nun zu den oben schon genannten mittleren Sinnen: Sie lassen uns Wärme, Licht, Klang, Farben, Finsternis, Geschmacksarten, Gerüche wahrnehmen.
- Der Sehsinn lässt uns Licht und Finsternis unterscheiden; ihm verdanken wir die optische Orientierung.
- Der Geruchsinn macht es möglich, dass wir uns ganz und gar mit einem anderen Wesen vereinigen; denn was wir riechen, nehmen wir ganz in uns auf.
- Der Geschmackssinn befähigt uns, nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch uns selbst oder eine Situation „abzuschmecken”; er ist die Erlebnisgrundlage für das spätere seelische Taktgefühl.
- Der Wärmesinn dient uns zur Regulierung der Körpertemperatur; er liegt aber auch unserer späteren Fähigkeit, uns für etwas zu erwärmen, uns dafür zu begeistern zugrunde.
Die Entwicklung all dieser Sinne geht sehr schnell vor sich. Wenn sie im ersten Lebensjahr gestört wird, in dem alle Organe, vor allem aber das Nervensystem, die stärkste Prägung erfahren, wird für das gesunde Erwachen im Leib eine mehr oder weniger große Behinderung veranlagt.
Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Persephone, Kongressband Nr. 2
EINBETTUNG DER SINNE IN DIE HIERARCHISCHE WELT
Was ist mit Einbettung der Sinne in die hierarchische Welt gemeint?
Inwieweit verdanken wir unsere Sinneserfahrung unseren eigenen höheren Wesensanteilen?
Wo sind wir auf das Einwirken seitens der Hierarchien angewiesen?
1. Die unteren Sinne aus geisteswissenschaftlicher Betrachtung
In Bezug auf die unteren Sinne führt Rudolf Steiner in verschiedenen Zusammenhängen aus, dass wir die Umwelt mit unseren heutigen Wesensgliedern sinnlich gar nicht in selbstloser Weise wahrnehmen können, weil unser Ich noch viel zu unerzogen ist und sich noch viel zu wenig selbst erkannt und verwandelt hat.
Unsere physische Sinneserfahrung an sich ist jedoch bereits vollkommen selbstlos. Man kann sagen, sie ist viel besser als wir. Das sei laut Rudolf Steiner so, weil die Wesensanteile des Zukunftsmenschen – wie Atman, der Geistesmensch, Buddhi, der Lebensgeist und Manas, das Geistselbst – uns von außen wie aus der Zukunft entgegenkommen und unsere heutigen Wesensglieder durchdringen und bearbeiten. Ihnen verdanken wir Sinneserlebnisse unserer unteren Sinne. Darauf möchte ich im Folgenden näher eingehen.
· Der Lebenssinn und das Wirken von Atman
Das Wohlgefühl, das durch den Lebenssinn entsteht, ist laut Rudolf Steiner einem großen astralen Überschuss geschuldet. Dieser astrale Überschuss sei der Tatsache zu verdanken, dass die physisch-ätherische Konstitution den Astralleib wie auspresst dadurch, dass Atman, der Geistesmensch, der vollkommen vergeistigte physische Leib, unseren Ätherleib ganz und gar mit Strukturkraft durchsetzt. Der Ätherleib müsse sich dieser physisch vollendeten Geistgestalt fügen und sich in deren Form begeben. Das würde im Ätherleib wie eine feine Verkrampfung im Sinne einer Zusammenziehung bewirken und würde den Astralleib auspressen und für das schöne Gefühl durch unsere Lebenssinn-Wahrnehmung sorgen.
· Der Bewegungssinn und das Wirken von Buddhi
Buddhi, der Lebensgeist, der vollkommen vom Ich durchgearbeitete Ätherleib, würde uns das Bewegungssinnerlebnis ermöglichen, indem er den Ätherleib in ein wunderbar harmonisches Gleichmaß mit sich selbst bringt und der Astralleib dadurch in der Lage wäre, ganz frei immer die Gegenbewegung zu unserer Eigenbewegung zu machen. Anhand dieser Gegenbewegung würden wir uns des Bewegungssinn-Erlebnisses bewusst.
· Der Gleichgewichtssinn und das Wirken von Manas
Manas, das Geistselbst, der vollkommen vom Ich beherrschter Astralleib, würde uns Gleichgewichtssinn-Erlebnisse ermöglichen, indem er ausdehnend auf den Ätherleib wirkt, ihn sozusagen in die eigene Ausdehnung mitnimmt. Dadurch würde Manas den Ätherleib insofern vergeistigen, als dadurch im Physischen ein Freiraum entstünde. Der Ätherleib würde gleichsam Platz machen, damit sich das dreidimensionale Gleichgewichtsorgangebilde in Form von drei halbzirkelförmigen Kanälen wie von außen als wunderbar strukturiertes Gebilde hereinwölben und ganz frei ausbilden könne, bevor es schlussendlich „eingemauert“ wird im Felsenbein.
Das ist die sehr interessante, gar nicht einfach nachzuvollziehende, aber geisteswissenschaftlich ganz exakte Erklärung, wie es zur besonderen Formung der Sinnesorgane kommt und wodurch wir sie erleben können.
2. Die mittleren Sinne aus geisteswissenschaftlicher Betrachtung
Unsere mittleren Sinne, Geruchssinn, Geschmackssinn, Wärmesinn und Hörsinn, können laut Steiners Ausführungen überhaupt nur dank der als Ideal veranlagten Wesensglieder – Empfindungsleib, Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewusstseinsseele – wirken. Und damit sind die im Menschen selbst liegenden Möglichkeiten ausgeschöpft.
3. Die oberen Sinne aus geisteswissenschaftlicher Betrachtung
Unsere oberen Sinne, Sehsinn, Gedankensinn und Wortsinn, können nur durch die Mitwirkung von Engel und Erzengel funktionieren:
- Die Erzengel ermöglichen uns über den Sprachsinn das Hören.
- Der im Ätherischen lebende Christus ermöglicht uns über den Gedankensinn das individuelle Wahrnehmen von Gedanken.
Man sieht hier die Anknüpfung an die Christus-Opfer, dass Engel und Erzengel dem Christus dienen, damit in den höheren Sinnen die in diesen Organen notwendige Selbstlosigkeit vorhanden ist. Da wir mithilfe unserer oberen Sinne unsere Meinung am stärksten, gewaltsamsten und inkompetentesten vertreten, brauchen wir hier die Hilfe der Erzengel, die ja Gruppenengel sind, damit wir überhaupt verstehen können, was der andere sagt.
Deswegen ist die Sphäre der oberen Sinne auch so anfällig für dämonische Gruppenwesen, die über Parolen und Musik das Ich wie auslöschen. Wenn Engel, Erzengel und die Christus-Präsenz wie ausgeschaltet werden, können wir nicht mehr richtig wahrnehmen.
Alle Sinne unter dem Schutz der Hierarchien
- Der Bereich der mittleren und unteren Sinne, wo unser Zukunftsmensch – sozusagen die ursprüngliche Menschenidee – zu Hause ist, steht unter dem Schutz des Vatergottes.
- Ich-Sinn und Tastsinn lässt Rudolf Steiner hier aus. Diese beiden Felder stehen in direktem Zusammenhang mit der vatergöttlichen (Tastsinn) und der geistgöttlichen (Ich-Sinn) Instanz.
- Die anderen oberen Sinne sind mit der Christussphäre verbunden.
Über die Sinnessphäre erfährt der Mensch eine vollkommene Einbettung in die hierarchische Welt, die schon am Zukunftsmenschen schafft, wenn wir entsprechend mitmachen. Auf dieser Grundlage kann man dann auch verstehen, wieso gerade das Wahrnehmen mit den unteren Sinnen, wenn wirklich empfunden und erlebt wird, was diese uns seelisch geben, die höchste menschliche Eigenschaft darstellt.
Vgl. Vortrag „Der Bewegungssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
FRAGEN UND ANTWORTEN ZU DEN SINNEN
FRAGE: Warum plastizierte Rudolf Steiner das Gleichgewichtsorgan am Treppenaufgang zum ersten Goetheanum?
ANTWORT: Diese wunderbare Säule ist wie eine kleine Kolumne, auf der das Gleichgewichtsorgan sitzt. Dieses Abbild der Aufrechte und des eigenen Gleichgewichtsorgans gibt, indem man es anschauend unbewusst nachahmt, bevor man die Treppe hinaufgeht, einen Gleichgewichtsimpuls. Es ist eine schöne künstlerische Geste, das Gleichgewichtsorgan vor den Treppen zu positionieren, da das Treppensteigen bei vielen ein sehr unharmonisches Gehen bewirkt – weil man dabei Mühe mit dem Gleichgewicht-Herstellen hat.
Karmische Ursache für „organische Unordnung“
FRAGE: Dann eine Frage zur karmischen Ursache für „organische Unordnung bei Neugeborenen“, wenn Organe am falschen Ort sind oder noch in die Nabelschnur verlagert sind, nicht richtig im Körper drin sind.
ANTWORT: Das sind Störungen, die jetzt nicht primär mit der Sinnesentwicklung zu tun haben, sondern tief karmische Ursachen haben. Das gehört in eine andere Domäne, denn die Ursache für sogenannte Missbildungen oder Organ-Irrtümer liegen in Taten in einem früheren Leben, die sozusagen „am falschen Platz“ waren, die aus dem Leben herausgefallen waren, die den Lebenszusammenhang geschädigt haben. Die Ursachen dafür können einerseits im eigenen Schicksal, in der Vergangenheit, liegen. Oder aber man hat ganz bewusst geplant, lebenslang mit so einem Widerstand zu ringen, weil man eine ganz bestimmte Heiltat in einem zukünftigen Leben vorhat, für die man Überschusskräfte braucht, um dann etwas wirklich Böses zu überwinden. D.h. Kräfte dort zum Einsatz zu bringen, wo sie Gutes bewirken.
Das Schöne an der anthroposophischen Schicksalslehre ist, dass man nie mit einer normalen, bürgerlichen Moral auskommt, sondern bestens beraten ist, wenn man ganz am Phänomen bleibt und merkt: Hier will jemand etwas ganz Bestimmtes lernen und schafft sich deswegen ganz besondere Umstände, bestimmte Bedingungen, unter denen er oder sie das dann bewerkstelligen kann. Dann bleibt man „in der Mitte“ mit seiner Diagnostik, das ist zumindest meine Erfahrung, und übergibt die Verantwortung – bzw. die Deutungshoheit über das Geschehen – den Menschen, die von diesem Schicksal betroffen sind. Natürlich will der Mensch wissen, was mit ihm geschieht und warum.
Jesus im Evangelium sagte sinngemäß: Du musst es sagen. Du musst es wissen, es ist dein Leben, dein Schicksal: Was willst du daraus machen? Wie willst du werden? Was willst du, dass ich dir tun soll? Sage es – dann kann ich handeln! Ich will und kann dich nicht entmündigen. Diese Haltung ist für uns Therapeuten sehr wichtig – weswegen wir uns auch hüten sollten, selber einem Guru anzuhängen, dessen Wissen man konsumieren kann, sodass man sich nicht mehr selbst anstrengen muss Antworten zu finden. Das führt uns vom Pfad ab.
Sinnespflege in Todesnähe
FRAGE: Wie geht man mit der Sinnespflege um in Todesnähe, in der Palliativ-Medizin?
ANTWORT: Mit sterbenskranken Menschen haben wir die größten Erfolge mit der Musiktherapie, aber auch mit der Maltherapie, wenn die Betroffenen noch sehen können, manchmal auch nur, indem man ihnen ein schönes Bild aufhängt, das sie dann stundenlang ansehen können. Wie sich die ganze Mimik eines Menschen verändert, wenn er plötzlich etwas Schönes sehen darf oder etwas, was ihn an ein wesentliches Moment in der Biographie erinnert! Kennt der Therapeut den Erkrankten gut, so kann er für ihn auch ein therapeutisch wirksames Bild malen.
Aber jetzt zu den Willenssinnen. Wenn man eine/n Sterbende/n begleitet und sie/ihn fragt – Was würdest du denn gerne noch einmal machen? Hast du einen besonderen Wunsch? – dann wünschen sich manche, noch einmal in der Badewanne liegen zu dürfen. In dem Fall sollte man sich die Mühe geben, das hinzukriegen – mit einem schönen Badezusatz, alles so, wie derjenige es am liebsten hat. Und dann geht es wieder ins Bett. Manchmal kann diese Sinnesfreude, diese letzte volle Lebensbejahung, der entscheidende Impuls zum Loslassen und Sterben-Können sein. Meiner Erfahrung nach besteht die beste Sterbebegleitung darin, Freude am Leben zu ermöglichen: dass der betroffene Mensch das Leben noch mal liebgewinnt und genießt. Über kleine Dinge lächeln kann: Ein Stück weiches Fell tasten zu dürfen, eine Bienenwachs-Kugel in die Hand zu nehmen und zu erleben, wie sie langsam warm wird und zu duften beginnt. Es sind oft einfache Dinge – wir müssen nur daran denken. Kinder und alte Menschen haben Freude am Einfachen.
Genießen im Alter lenkt wohltuend ab
Manche haben jedoch im Laufe des Lebens verlernt sich zu freuen, zu genießen. Sie sind vielleicht verbittert und haben dann in den letzten Monaten auf der Palliativ-Station noch einmal die Möglichkeit, mit Hilfe von Kunsttherapeuten und wirklich gut ausgebildeten Pflegenden, die Sinneswelt in ihrer Sinnhaftigkeit zu erleben. Zu erleben, wie Schmerz in den Hintergrund tritt durch schöne Tasterfahrungen, durch rhythmische Massage evtl. durch eine Abwaschung, durch eine Öl-Einreibung, eine Auflage, einen guten Tee. Diese Sinnesanregungen sind für mein Empfinden das Allerwichtigste, was man für die Betroffenen tun kann. Dadurch bekommen sie Zuwendung, die durch die Ablenkung von der eigenen Schmerzzone sogar auch eine Reduktion von Schmerzmitteln bewirken kann.
Erinnert euch, die Schmerzbahnen gehen nicht bis zum Großhirn. Sie enden unterhalb und in der Mitte des Gehirns, diffus verteilt. Wenn man also das Bewusstsein, die Großhirn-Wachheit, ablenkt und auf etwas anderes richtet, auf angenehme Sinneseindrücke wie wohliges Empfinden, ein gutes Gespräch oder eine passende Musik, dann hat der Astralleib „Besseres zu tun“ und empfindet den Schmerz nicht mehr so.
Nicht mein, sondern dein Wille geschehe
FRAGE: Wenn man bei jemand, einem Kind oder einem Erwachsenen, der heilpädagogisch zu betreuen ist, die Hand führt bei Formenzeichnen – ist das gut, darf man das? Oder soll man denjenigen nicht lieber selbst kritzeln lassen?
ANTWORT: Das ist zu hundert Prozent eine Frage des Wie. Ich darf es, wenn ich es mit der Haltung tue: Ich ersetzte dir die Ich-Funktionen, die du derzeit nicht handhaben kannst. Ich bin jetzt du, ich diene ganz und gar dir. Ich ersetzte dir etwas, was du im Moment nicht handhaben kannst. Das ist das eine. Zweitens muss erlebbar sein, dass der andere es will. In einem dritten Schritt ist dann wichtig, das Werk mit dem Betreffenden so anzuschauen, dass er spürt, dass es eine Gemeinschaftsleistung ist, dass er einbezogen ist. Es geht hier vor allem um das soziale Erleben: Wir haben das gemeinsam getan, haben überhaupt etwas getan! Dann ist so eine Maßnahme sehr gut. Wenn ich mich hingegen als Boss aufspiele und das Kind meine Übermacht fühlen lasse, ist das kontraproduktiv.
Die Ethik der Anthroposophischen Medizin ist unter diesem Aspekt wie inspiriert von der Szene im Garten Gethsemane, wo Jesus zu seinem Vater betet: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“[1] Wir instrumentalisieren unsere Kompetenzen, stellen sie in den Dienst des Kranken – hoffend, dass er ein Stückchen weiterkommt. Das ist im Sinne der Lebensprozesse: Wachstum und Reproduktion. Wenn ich etwas übrighabe und es in den Dienst eines anderen stellen kann, so arbeite ich heilend und Leben fördernd.
Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
[1] Neues Testament, Lukas 22:42.