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Menschheitsentwicklung: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Geistesforschung
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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
== DIE SIEBEN KULTUREPOCHEN ==
''Gibt es konkrete Lernschritte, die den einzelnen Entwicklungsepochen der Menschheit zuzuordnen sind?''
''Wie lassen sich die Kernaufgaben beschreiben?''
=== ''Lernschritte in der Menschheitsentwicklung'' ===
==== 1. Das Geheimnis des Abgrundes ====
Das erste Schwellengeheimnis, der erste Lernschritt, mit dem die Menschheit zu ringen hatte, war das „Geheimnis des Abgrundes“. Es geht zurück auf die urindische Kulturepoche, wo der Mensch aus seinem vollkommenen Geistbewusstsein herunter „gedimmt“ wurde durch die physische Konstitution, durch ein erstes Sich-Entwickeln der physischen Sinnesorgane. Die Sinnesorgane begannen den Geist, der hinter allem liegt, einzutrüben und zu verschleiern. Was in der Literatur der indischen Tradition „Maya“ genannt wird, der materielle Schein, der sich vor das betrachtende Bewusstsein schiebt, wurde damals als das „Geheimnis des Abgrundes“ erlebt, als würde der Mensch in den Abgrund der eigenen Existenz gestürzt. Man wusste plötzlich nicht mehr alles über sich und die Welt. Man erlebte sich in seiner Identität nicht mehr selbstverständlich als göttlichen Ursprungs. Die Möglichkeit, das Materielle zu erfassen, schob sich als ein Inhalt dazwischen, der eine Trübung des Bewusstseins bewirkte. „Maya“ machte die Grenze zwischen Stoff und Geist erfahrbar, denn die Menschheit musste lernen, geistige Schau und sinnliche Wahrnehmung zu unterscheiden.  
==== 2. Das Geheimnis der Zahl ====
In der persischen Kulturepoche wurde das geheimnisvolle „Schwellenerlebnis der Zahl“ möglich. Zahlen stehen für Ordnung und die Fähigkeit zu ordnen. Zum ersten Mal war das Denken so kompetent entwickelt, dass es als Regulativ erkannt wurde – im reinen Denken in Zahlen, in ganz klaren Gesetzmäßigkeiten. Dadurch erlebte der Mensch erstmals die Schwelle zwischen Denken und Sinnesanschauung, d.h. zwischen der Kraft, die das sinnlich Wahrgenommene zählt, ordnet und erläutert und den Sinnesanschauungen selbst. Es ging darum, geordnetes Denken und ungeordnete Lebenswirklichkeit unterscheiden zu können. Man begann in der Folge zwischen Licht und Finsternis zu unterscheiden, zwischen der Lichtwelt des Ahura Mazdao, der reinen Gedankenwelt, und der Welt der Finsternis, der Welt des Ahriman.
==== 3. Das Geheimnis der Alchemie ====
In der dritten Kulturepoche entstand als Folge der vorangegangenen wiederum eine völlig neue Bewusstseinslage: Erstmals traten Krankheitszustände auf. Aus den davor liegenden Kulturen und aus allem, was davon überliefert ist, kennen wir nur die Lehre von der Gesundheit. In der ägyptischen Kultur aber trat das so genannte „Schwellengeheimnis der Alchemie“ auf: Aus dieser Kulturepoche sind uns schon genaue Beschreibungen von Krankheiten und von Arzneimitteln, von Salben und Kräutern aus den Naturreichen überliefert. Der Name Alchemie stammt aus dem Arabischen, aus Ägypten. Es ist auch die Zeit des Sündenfalls und des Alten Testaments.
Zum ersten Mal erlebte der Mensch die Schwelle zwischen Krankheit und Gesundheit. Er erlebte die Ohnmacht angesichts der Krankheit, die er auch in ihrer spirituellen Bedeutung als ein Ereignis erfuhr, an dem er mit seinem Willen scheiterte. Er musste lernen hinzuhören, was ihm dieses schicksalhafte Ereignis offenbaren wollte. Aus dem Krankheitserleben ergab sich erstmals die Möglichkeit, individuelle Initiationserfahrungen zu machen; denn Krankheit wurde seit jeher auf sehr persönliche Art durchlebt, was bedeutend zur Individualisierung des Menschen beigetragen hat.
==== 4. Das Geheimnis des Todes ====
In der vierten Kulturepoche trat die Menschheit an die Todesschwelle. Mit dieser Kulturepoche dringt die Menschheit über die Entwicklung des „Todesbewusstseins“, des Bewusstseins ihrer Sterblichkeit, zum Ich-Kern vor – es ist die Zeit des Neuen Testaments. Christus bringt die Botschaft von der Auferstehung und versucht zu vermitteln, dass „richtig leben“ heißt, sich wieder seiner spirituellen Natur bewusst zu werden.
Durch das totale Unverständnis der Tatsache des Todes als ein Ereignis, das man spirituell nicht mehr wirklich durchschauen konnte, wurde das berühmte Wort formuliert:
''„Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt als ein König im Reich der Schatten.“''
Die Auseinandersetzung mit dem „Rätsel des Todes“ und dem, was danach kommt, beherrschte diese ganze Kulturepoche und hat ebenfalls entscheidend dazu beigetragen, dass das Bewusstsein der Menschen sich individualisierte.
Rudolf Steiners Impuls, über die alten Mysterien Vorträge zu halten, war mit der Hoffnung verbunden, dass uns von den Erfahrungen aus früheren Inkarnationen so viel wie möglich wieder ins Bewusstsein steigt, um uns zu unterstützen, wenn wir unter den heutigen Bedingungen den Initiationsweg beschreiten.
Heute sind Tod, Alchemie und Zahlen fester Bestandteil unserer Kultur – im Computerzeitalter ist alles digital, wird alles gezählt! Diese Themen sind keine Geheimnisse mehr, sondern allgemeines Kulturgut. Auch der „Abgrund des Seins“ ist eine selbstverständliche Erfahrung, schon für Kinder, wenn sie die Ohnmacht und das Eingeschlossen-Sein im „Kerker des Nicht-so-Könnens-wie-sie-wollen“ erleben. Dieser Abgrund ist überall zu spüren.
Diese Erfahrung gibt den Menschen heute nicht mehr den entscheidenden Anstoss, sich auf den Weg der inneren Schulung, der inneren Entwicklung, der Einweihung zu machen.
==== 5. Das Geheimnis des Bösen ====
In der fünften Kulturepoche fordert uns etwas anderes heraus: das „Geheimnis des Bösen“, das Geheimnis der Destruktivität. In dieser Kulturepoche befinden wir uns gerade. Sie hat das Böse und seine Bedeutung für die Entwicklung des Menschen zum Thema. Wir können ahnen, was auf uns als Menschheit zukommt, wenn nicht genügend Menschen am Bösen aufwachen für das Gute. Aufwachen hat immer mit Eigenaktivität und Anstrengung zu tun – das könnte uns als Wegweiser dienen.
Die Kräfte des Bösen mitsamt ihren Auswirkungen sind immer stärker zu erleben. Das ist ein Thema, an dem viele verzweifeln, weil sie es nicht verstehen und nicht verarbeiten können. Die Sprechstunden in unseren Therapiezentren sind voll von Menschen, die krank werden, weil sie mit dem Bösen in sich und in anderen, mit dem Destruktiven in der Wirtschaft, in der Politik und dem Zerstörerischen, das sich in der Umweltproblematik ausdrückt, nicht mehr zurechtkommen.
Wir brauchen eine Initiationswissenschaft vom Bösen – die Anthroposophie will eine mögliche Antwort sein, so wie im christlichen Kulturkreis die Apokalypse des Neuen Testaments als eine Vorschau auf Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Bösen verstanden werden kann. Rudolf Steiner sagte sinngemäß: ''„Das Böse ist nicht dazu da uns zu zermalmen, zu zerstören und zu zerbrechen; es ist das Schwellengeheimnis der modernen Menschheit und soll den Menschen auf den Weg der Initiation bringen“.''
In der medizinischen und therapeutischen Arbeit sind wir ganz unmittelbar aufgerufen, uns mit dem Mysterien-Geheimnis unserer Zeit auseinanderzusetzen. Dieses Bemühen stand hinter der Zusammenarbeit zwischen Rudolf Steiner und Ita Wegman: Sie bemühten sich, die Kräfte der Zerstörung, die sich in Krankheiten äußern, aber auch die Kräfte der Überwindung des Kränkenden und Krankmachenden wirklich zu verstehen. Es ging ihnen nicht um ein träumendes, atavistisches Heilwissen, sondern um ein voll bewusstes Begreifen der Zusammenhänge rund um die Frage, warum der Mensch erkrankt: dass der Mensch erkrankt, weil er das Böse als „Möglichkeit zum Irrtum“ in sich trägt.
Es gibt – und das ist für uns Ärzte sehr wichtig – noch zwei weitere Mysterien-Geheimnisse, die nächsten Kulturepochen, die sechste und die siebente, betreffend:
==== 6. Das Geheimnis des Wortes ====
Die sechste Kulturepoche wird sich laut Rudolf Steiner mit dem „Geheimnis des Wortes“ auseinandersetzen. Bereits heute können wir ahnen, was alles geschehen kann durch ein falsches Wort in der falschen Tonart oder ein Wort am richtigen Platz. Das Wort bekommt in dieser Epoche wieder Substanz und Gültigkeit, bekommt Gewicht. Worte werden wieder der Verständigung dienen, anders als heute, wo es selten vorkommt, dass Menschen einander auf Anhieb gut verstehen. Heutzutage sind Missverständnisse durch Worte die Regel.
Die Kommunikation zwischen Menschen jenseits aller digitalen Gewohnheiten wird sich in Zukunft als kulturbildend und kulturzerstörend auswirken. Die Auswirkungen unserer heutigen, immer anonymer werdenden Kommunikation können uns als Vorbereitung helfen, schon jetzt im Hinblick auf die sechste Kulturepoche neue Möglichkeiten zu sehen und zu veranlagen: eine Kommunikation, die direkt von Mensch zu Mensch stattfindet, bei der man magisch, d.h., ganz echt und wesenhaft-substanziell mit dem Wort umgeht, bei der man sich auf das zwischenmenschliche Wort verlassen kann. Dazu gehört auch das Wissen, dass Worte äußerlich gleich klingen mögen, aber je nachdem, wer sie sagt, wann sie gesagt werden und wo sie gesagt werden, vollkommen Verschiedenes bedeuten können. Es wird eine Sozialkultur sein, die auf die Kraft und Verbindlichkeit des Wortes aufgebaut sein wird.
==== 7. Das Geheimnis der Gottseligkeit ====
In der fernen Zukunft der siebten Kulturepoche, der so genannten „amerikanischen Kulturepoche“, geht es um das „Geheimnis der Gottseligkeit“, das in scharfem Kontrast stehen wird zu dem „Kampf aller gegen alle“. Gottseligkeit ist die einzige Möglichkeit, das zu überbrücken, was den „Kampf aller gegen alle“ bis dahin notwendig macht. Der tiefere Sinn dieses Kampfes besteht darin, dass jeder einzelne Mensch lernt, sich in Freiheit an das Menschheitsganze anzuschließen. Dem stehen größtmögliche Widerstände entgegen, doch daran wird die Menschheit erwachen für das Initiationsprinzip dieser siebten Kulturepoche. Dieses Prinzip lebt davon, dass der individuelle Mensch sich über sein höheres Ich und über die Kulturarbeit am Wort in den vorausgegangenen Epochen so vertikalisiert, dass er den bewussten Anschluss an die geistige Welt wieder findet und aus dieser Gottverbundenheit heraus allem gewachsen ist, was diese Kulturepoche an Problemen mit sich bringen wird. Der Mensch wird lernen, Gott wieder zu schauen – individuell und ganz bewusst.
Gottseligkeit heißt für mich auch, dass die göttliche Instanz sich freut, wenn wir sie erkennen. Die Freiheit kommt insofern ins Spiel, als es an uns als geistige Wesen liegt, inwieweit wir uns selbst entwickeln. Als Teil der Natur haben wir diese Wahl nicht – der Naturentwicklung wird quasi die Selbstentwicklung hinzugefügt. Wir brauchen und haben Zeit, uns dahin zu entwickeln.
''Vgl. Vortrag „Anthroposophische Medizin und ihre Wirkprinzipien“, 4. Okt. 2007''
== INDIVIDUALISIERUNG ALS ENTWICKLUNGSMOTIV ==
''Liegt der Menschheitsentwicklung ein zentrales Motiv zugrunde?''
=== ''Entwicklung als Herauslösen aus Vertrautem'' ===
Aus dem Geist der Entwicklung heraus hat ''Goethe'' den ''„Faust“'' geschrieben, der das Menschheitsdrama schildert für den 5. nachatlantischen Kulturzeitraum. Dieser begann gemäß Rudolf Steiners geisteswissenschaftlicher Forschung im Jahr 1413 und wird bis zum Jahre 3573 dauern. Ein Kulturzeitraum, in dem es um die Individualisierung des Menschen geht, um das allmähliche Herauslösen aus den vertrauten Gruppenzugehörigkeiten wie Volk, Religion, sozialen Wertesystemen, Familien- und Berufszusammenhängen.
Von Goethe stammt der epochale Satz: ''„Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.“[1]''
=== ''Evolution zwischen Saturn und Vulkan'' ===
Rudolf Steiner geht dabei noch weiter. Er spannt sein menschheitliches Bewusstsein aus von den Ursprüngen auf dem „alten Saturn“ bis „zum Vulkan“, der letzten Verkörperung unseres Erdenplaneten und seiner Bewohner. Mitten drinnen aber in dieser gewaltigen Evolution beschreibt er einen Kulturzusammenhang wie eine ''kosmische Uteruswand''.[2] Er schildert, wie das einzelne Menschenleben eingebettet ist in die Rhythmen des Sonnensystems. So atmet der Mensch ca. 18-mal pro Minute in Ruhe. Das heißt, er atmet in der Stunde 18 x 60 und in 24 Stunden 18 x 60 x 24 = 25 920-mal. Diese Zahl entspricht als berühmte „Platonische Zahl“ eines Weltenjahres der Dauer der Wanderung des Frühlingspunktes durch den ganzen Tierkreis. Es kennzeichnet diese Zahl im tiefsten Sinn das Geheimnis der Atmung, das auch das Geheimnis Raphaels ist.
Interessanterweise hat die Präzessionsbewegung der Erdachse in ihrem zeitlichen Ablauf, wie wir diese aus der modernen Astronomie kennen, ebenfalls mit dieser platonischen Zahl zu tun: Die Erde dreht sich in etwa 24 Stunden einmal um ihre eigene Achse. Im Zeitraum von 25 920 Jahren jedoch beschreibt die Erdachse dabei einen in sich geschlossenen Kreiskegel. Während also die Erdachse in ca. 25 920 Jahren auf einem Kegelmantel einmal herum wandert, hat sich die Erde dabei ca. 25 920-mal um die Sonne bewegt – und zwar in entgegengesetzter Richtung wie die Präzessionsbewegung.
=== ''Drei plus sieben Kulturepochen'' ===
Kulturgeschichtlich umfasst dieser Zeitraum von 25 920 Jahren zwölf Kulturepochen: fünf atlantische und sieben nachatlantische zu durchschnittlich je 2160 Jahren. Für die sieben nachatlantischen Epochen hat Rudolf Steiner in seinen frühen esoterischen Vorträgen[3] sieben Entwicklungsgeheimnisse bezeichnet:
* für die urindische Epoche das '''Geheimnis des Abgrunds''',
* für die urpersische Epoche das '''Geheimnis der Zahl''',
* für die ägyptisch-chaldäisch-babylonisch-assyrisch-hebräische Epoche das '''Geheimnis der Alchemie''',
* für die griechisch-lateinische Epoche das '''Geheimnis des Todes''',
* für die 5. Kulturepoche das '''Geheimnis des Bösen''',
* für die 6. Kulturepoche das '''Geheimnis des Wortes''',
* für die 7. Kulturepoche das '''Geheimnis der Gottseligkeit'''.
Lässt man die Abfolge dieser Entwicklungsgeheimnisse auf sich wirken, so kann man auch das gemeinsame Motiv darin erkennen: das Motiv der Individualisierung des Menschen.
''Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015''
----[1] Johann Wolfgang Goethe, ''West-östlicher Divan'', Berlin 1974.
[2] Rudolf Steiner, ''Das Zusammenwirken von Ärzten und Seelsorgern. Pastoral-Medizinischer Kurs'', GA 318, Dornach 1994, S. 138.
[3] Rudolf Steiner, ''Kosmogonie,'' GA 94, Dornach 2001, S. 111 ff.
== DER GÖTTLICHE WELTENPLAN ==
''Inwiefern gehören das Böse und das Christus-Prinzip zur Weltenentwicklung dazu?''
''Was hat die zweischneidige Ich-Natur des Menschen damit zu tun?''
''Was ist Ziel des göttlichen Weltenplanes?''
=== ''Das Böse und das Christus-Prinzip'' ===
Beim Lesen der Apokalypse erschüttern uns die ungeheuren Visionen des Bösen, die Schrecknisse bestialischer Ausbrüche der Menschennatur, die zunächst so unversöhnlich neben den Offenbarungen des Christus-Prinzips zu stehen scheinen. Und genau das weist auf die Mysterien des Willens hin. Denn der Wille basiert auf der Stoffwechseltätigkeit des Menschen, dem das Geheimnis des Kranken, der Zerstörung, des Bösen ebenso zu Grunde liegt, wie das Geheimnis der heilenden und aufbauenden Kräfte.
Es gehört zu den tiefsten Rätseln des Christentums, dass dem Mysterium von Golgatha der Passionsweg beigegeben ist. Das heißt, dass Folter, Martyrium und gewaltsamer Tod, begleitet von Hass, Hohn und Spott, als die Offenbarungen der bösen Möglichkeiten der menschlichen Natur, „dazugehören“. Dieses Rätsel lässt sich lösen, wenn wir in der Ich-Natur des Menschen dieses zweischneidige Schwert erkennen, von dem in der Apokalypse die Rede ist.[1] Diese Zweischneidigkeit hat mit der Freiheitsfähigkeit des Ich zu tun:
* Zum einen muss sich das Ich auf seinem Individualisierungsweg '''aus allem Vertrauten herauslösen''' und „es selbst“ werden.
* Zum anderen hat es die Möglichkeit, '''sich freiwillig wieder zu verbinden''', sich mit Gemeinschaften zu identi­fizieren.
=== ''Freie Entscheidung für den mittleren Weg'' ===
Der Mensch muss immer wieder neu und geistesgegenwärtig die für den Augenblick stimmige Ent­scheidung aus seinem Ich heraus treffen, sodass ein mittlerer Weg erlebbar und sichtbar werden kann. Dieser Weg führt zwischen Willkür und Zwang, Hochmut und Selbstaufgabe, Verschwendung und Geiz, Tollkühnheit und Feigheit, den eigenen Bedürfnissen und denen des sozialen Umkreises mitten hindurch. Es gibt nicht die Wahl zwischen Gut und Böse, sondern immerfort das Ringen um einen Gleichgewichtszustand zwischen zwei Extremen, dem luziferisch Bösen und dem ahrimanisch Bösen, die nur „böse“ wirken, solange sie keinen heilsamen Ausgleich erfahren.[2] So darf es auch nicht wundern, dass die Abirrungsmöglichkeiten und Schrecknisse, die infolge der Ich-Begabung im Laufe der Menschheitsentwicklung noch auftreten werden, bildhaft in diesen apokalyptischen Schilderungen vorweggenommen sind. Sie sollen gerade nicht dazu führen, uns verzagt zu machen, sondern vielmehr den Willen befeuern, das Gute zu wollen[3] – und entsprechend zu handeln.
=== ''Gemeinschaft freier Iche als Ziel'' ===
In seinem Vortrag vom 25. Juni 1908 im Zyklus „''Die Apokalypse des Johannes“[4]'' sagt Rudolf Steiner: ''„Die wahre anthroposophische Weltanschauung kann nur als Endziel die Gemeinschaft der selbständig und frei gewordenen Iche, der individuell gewordenen Iche hinstellen. Das ist ja gerade die Erdenmission, die sich durch die Liebe ausdrückt, dass das Ich dem Ich frei gegenüberzustehen lernt. Keine Liebe ist vollkommen, die hervorgeht aus Zwang, aus dem Zusammengekettetsein. Einzig und allein dann, wenn jedes Ich so frei und selbständig ist, dass es auch nicht lieben kann, ist seine Liebe eine völlig freie Gabe. Das ist sozusagen der göttliche Weltenplan, dieses Ich so selbständig zu machen, dass es aus Freiheit selbst dem Gott die Liebe als ein individuelles Wesen entgegenbringen kann. Es würde heißen, die Menschen an Fäden der Abhängigkeit zu führen, wenn sie irgendwie zur Liebe, wenn auch nur im Entferntesten, gezwungen werden könnten. So wird das Ich das Unterpfand sein des höchsten Zieles der Menschen. So ist es aber zu gleicher Zeit, wenn es nicht die Liebe findet, wenn es sich in sich verhärtet, der Verführer, der ihn in den Abgrund stürzt. Dann ist es dasjenige, was die Menschen voneinander trennt, was sie aufruft zum großen Krieg aller gegen alle, nicht nur zum Krieg der Völker gegen die Völker.''“[5]
=== ''Bewusstsein von der Schwelle zur geistigen Welt wecken'' ===
Was uns schützt vor dem Sturz in den Abgrund, ist das Ringen um Gleichgewicht, um den Mittelpunkt unseres Menschseins, den wir in der Christus-Wesenheit ahnen können. Dieses Mittelpunkt-Erlebnis ist dann zugleich die bewusste Schwellenerfahrung, das Erleben der Brücke zwischen der Sinnes- und Geisteswelt.
''„Das Höchste, das uns gegeben werden kann, ist die Botschaft von Christus Jesus. Wohl müssen wir sie aufnehmen, und nicht bloß mit dem Verstand. Wir müssen sie in unser Innerstes aufnehmen, wie man die Nahrung im physischen Leibe aufnimmt.“''[6]
Die große gemeinsame Aufgabe, die die Mitglieder verbindet in der anthroposophischen Gesellschaft seit der Weihnachtstagung, ist, das Bewusstsein von der Schwelle zur geistigen Welt in der gegenwärtigen Menschheit wecken zu helfen. Immer mehr einzelne Menschen sollen zu sich selbst finden und den Anschluss gewinnen an die großen Ziele und Aufgaben der Menschheitsentwicklung. Dabei möchte die Anthroposophie helfen.
Dazu ist es aber auch nötig, dass möglichst viele Menschen das soziale Bauwerk erkennen und ernst nehmen können, das Rudolf Steiner vor seinem Tode noch begründen konnte als „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ und „Freie Hochschule für Geisteswissenschaft“ mit ihren Sektionen. Dieses soziale Bauwerk bietet Übungsfelder, die helfen können, den Impuls der neuen Mysterien zu realisieren. Denn dieser kann überall da greifen, wo Gemeinschaftsbildung gelingt im Lichte der hier angedeuteten Zukunftsideale der Menschheit und ''„wenn sich viele zur rechten Stunde vereinigen''.“[7]
''Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015''
----[1] Neues Testament, ''Offenbarung des Johannes (Apokalypse),'' Kap. 1, 16.
[2] Rudolf Steiner, ''Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis,'' GA 191, 1989;
Rudolf Steiner, ''Aus der Akasha-Chronik'', GA 11, Dornach 1986.
In der Bibel wird von Diabolos (Luzifer) und Satanas (Ahriman) gesprochen.
[3] Peter Selg, ''Die «Wärme-Meditation». Geschichtlicher Hintergrund und ideelle Beziehungen'', Dornach 2005.
[4] Rudolf Steiner, ''Die Apokalypse des Johannes, 12 Vorträge 1908,'' GA 104.
[5] Rudolf Steiner, ''Die Apokalypse des Johannes'', GA 104, Dornach 1985, S. 162.
[6] Ebenda, S. 173.          
[7] Zitat aus Goethes Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie.
== INDIVIDUALISIERUNGSPROZESSE IN DER MENSCHHEITSENTWICKLUNG ==
''Welche Entwicklungen führten zur Individualisierung des Menschen?''
=== ''Entwicklungsepochen und Lernaufgaben'' ===
In der '''ersten''' Entwicklungsepoche der Menschheit, der ''urindischen Epoche,'' lernten die Menschen die Welt der Sinne als „Maya“-Welt von der ihnen vertrauten Welt des Geistes zu unterscheiden. Erstmals konnten sie bewusst und individuell ihre Sinne gebrauchen.
In der '''zweiten''' Entwicklungsepoche, der ''urpersischen Epoche'' individualisierte sich das Denken. Die Zahl als reinster Gedanke wurde entdeckt und ihre ordnende Kraft gehandhabt.
In der '''dritten''' Entwicklungsepoche, der ''ägyptischen Zeit'' der Pyramiden, entstand die Kunde von der kurativen Medizin, von der Alchemie als dem Geheimnis der Verwandlung der Substanzen und ihrer Heilkraft. Auf der seelischen Ebene individualisierte sich erstmals das Gefühlsleben – insbesondere durch das Erleben von persönlicher Schuld und Krankheit.
In der '''vierten''' Entwicklungsepoche, der ''griechisch-lateinischen Epoche,'' individualisierte sich der Wille angesichts des Todesrätsels: ''„Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergeh’n“'' – so lässt es Goethe Faust am Lebensende sagen. Faust hat – zu Beginn der Neuzeit – schon Gewissheit darüber, was Entwicklungsaufgabe der ''vierten Kulturepoche'' war: herauszufinden, was nach dem Tode bleibt. Erst wenn man mit seinen individuellen Taten verbunden bleiben will, für sie Verantwortung übernehmen will, ist die individuelle Kontinuität des Willens Bewusstseinstatsache geworden. Erst dann wird die Frage konkret, was mit demjenigen geschieht, der tätig war, wenn das Leben zu Ende ist. Der Tod des Christus auf Golgatha ist die menschheitliche Antwort auf diese Frage.
In der '''fünften''' Entwicklungsepoche der Menschheit – unserer gegenwärtig „neuzeitlichen“ – ''geht es um die Individualisierung des Ich'' – eben um die oben genannte Herauslösung aus allen Gruppenzusammenhängen von Familie, Volk, Tradition und Kultur.
=== ''Selbstbestimmung als heutige Aufgabe'' ===
Die kollektive Identität stiftende Tragekraft solcher Gruppenzugehörigkeiten ist stark. Daher ist es für den Einzelnen schwer, sich daraus wirklich zu befreien und selbst zu bestimmen, wo und wie man sich für bestimmte Aufgaben mit anderen verbinden will. Am schwierigsten ist aber die Umwandlung des durch gesellschaftliche Normen, Gesetze und Regeln erzogenen und kontrollierten Menschen. Denn wenn die Außensteuerung immer weniger greift, der Wille zur autonomen Selbstbestimmung jedoch noch nicht so weit ist, die Führung zu übernehmen, treten alle möglichen Varianten des Machtmissbrauchs und Irrtums auf. Diese sind die notwendigen Schatten der Entwicklung zum autonomen „Einzel-Ich“, die in der fünften Kulturepoche mit der Individualisierung des Individuums ihren entscheidenden Durchbruch erlebt. Das Auftreten der Neigungen zum Bösen ist damit Kulturgeheimnis der fünften, d.h. unserer jetzigen, Entwicklungsepoche. Daher geht es heute um die Frage:
''Wie lernt man angesichts des Bösen für das Gute zu erwachen?''
''Wie erkennt und überwindet man die bösen Neigungen in der eigenen Natur?''
''Wie kann dieser Entwicklungsprozess verständnisvoll und hilfreich begleitet werden?''
Dazu ist eine „raphaelische Kultur“ nötig, ein Zusammenschluss vieler Menschen, die den Willen haben, Orientierung zu geben, zu begleiten, zu helfen und Heilung zu vermitteln. Zu versuchen, die Mysterien des Heilens zu verstehen und sie im individuellen und sozialen Leben handhaben zu lernen, gehört daher zu den Kernaufgaben der fünften Kulturepoche.
=== ''Gemeinschaftsbildung aus Ich-Kraft als zukünftige Aufgabe'' ===
Die '''sechste''' Kulturepoche wird der ''Gemeinschaftsbildung aus der Kraft des Ich'' gewidmet sein. Das Instrument dafür ist ein neuer Umgang mit dem Wort. So Sprache und Wort gegenwärtig zur Information und zum Klären von Missverständnissen dient – oder solche verursacht –, wird es in Zukunft nicht sein. Die Art des Sprechens wird vielmehr die Intentionen des einen für den anderen erlebbar machen. Der Gebrauch des Wortes wird Ausdruck des individuellen Ich sein und Vertrauen von Mensch zu Mensch begründen.
In der '''siebten''' Epoche wird sich ''der Einzelne bewusst an das Ganze der Menschheit anschließen'' lernen und den Sinn der Schöpfung und der Menschheitsentwicklung begreifen. Dieses Verstehen und Bejahen durch den einzelnen Menschen, der dankbar ist dafür, sich entwickeln zu dürfen – das ist Seligkeit für Gott und seine Hierarchien: Gottseligkeit. Sie sehen ihr Werk „getan“ und lernen auch etwas Neues hinzu: die Erfahrungen der individuellen Menschen auf dem nicht einfachen Weg der „Ich“-Findung.
=== ''Sich verlieren, um sich neu zu finden'' ===
Gemeinsam ist diesen Entwicklungsepochen die Aufgabenstellung der Individualisierung. Sinneswahrnehmung, Denken, Fühlen und Wollen sind als Fähigkeiten von Natur aus veranlagt, sind Geschenke der Entwicklung. Um sie jedoch im Sinne Goethes zu ''„erwerben“, „um sie zu besitzen“,'' bedarf es ihrer individuellen Aneignung. Diese fällt am schwersten in Bezug auf das Ich, das eigentliche Selbst des Menschen.
''Wie kann der Mensch sein Ich „verlieren“, um es ganz aus sich selbst neu „zu finden“?''
In einer Meditation im Rahmen seiner Esoterischen Schule fasst Rudolf Steiner dieses Geheimnis in folgende Worte:
''Im Denken erwache: du bist im Geisteslichte der Welt.''
''Erlebe dich als leuchtend, das Leuchtende '''tastend'''.''
''Im Fühlen erwache: du bist in den Geistes-Taten der Welt.''
''Erlebe dich, die Geistes-Taten '''fühlend'''.''
''Im Wollen erwache: du bist in den Geistes-Wesen der Welt.''
''Erlebe dich, die Geisteswesen '''denkend.'''''
''Im Ich erwache: du bist in deinem eignen Geistes-Wesen.''
''Erlebe dich Sein von Göttern empfangend und '''dir selbst gebend'''.[1]''
=== ''Das Böse als Möglichkeit in jedem Menschen erkennen'' ===
Die Dramatik der gegenwärtigen Situation der Menschheitsentwicklung lässt die mit dieser Aufgabe verbundene Schwierigkeit als eine Art globaler Identitätskrise überdeutlich werden. Dabei ist besonders erschütternd, dass das Böse in der menschlichen Natur nicht berechenbar, vorhersehbar, aus der Entwicklung und Erziehung unmittelbar ableitbar auftritt – sondern „banal“, wie Hannah Arendt sagt,[2] in jedem Menschen potentiell anzutreffen ist. Es muss sich der Abgrund des Bösen in ''jedem'' Menschen als Möglichkeit auftun, mit allen Schrecknissen und Verlockungen des „Nicht-Ich“, damit wir uns Schritt für Schritt aus eigener Einsicht und Erfahrung, aus eigener Kraft, allein zur Wahrheit unseres Wesens hindurcharbeiten.
''Christian Morgenstern'' hat diese Aufgabenstellung der fünften Kulturepoche in einem seiner Gedichte zutreffend zum Ausdruck gebracht:
''Die zur Wahrheit wandern,''
''wandern allein,''
''keiner kann des andern''
''Wegbruder sein.''
''Eine Spanne gehn wir,''
''scheint es, im Chor...''
''bis zuletzt sich, sehn wir,''
''jeder verlor.''
''Selbst der Liebste ringet''
''irgendwo fern;''
''doch wer's ganz vollbringet,''
''siegt sich zum Stern,''
''schafft, sein selbst Durchchrister,''
''Neugottesgrund -''
''und ihn grüßt Geschwister''
''Ewiger Bund.[3]''
''Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015''
                                                                                                                       
----[1] Rudolf Steiner, ''Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule, 1904-1914'', GA 265, Dornach 1987, S. 463-465, 477.
[2] Hannah Arendt, ''Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen'', München 1986.
[3] Christian Morgenstern, ''Wir fanden einen Pfad'', Basel 2004.
== INDIVIDUALISIERUNG UND EINSAMKEIT ==
''Warum ist der Prozess der Individualisierung oft so schmerzhaft?''
=== ''Moderne Einsamkeit auf dem eigenen Weg'' ===
''Ignatius von Loyola'' stellte die Frage: ''„Weiß ich, wohin ich gehe und was mein Weg ist?“.'' Die Frage nach dem Weg ist sehr modern. Jetzt werden einige sagen: Aber das Tao (der Weg) der Chinesen ist 5000-7000 Jahre alt. Der „Camino“ ist natürlich so alt wie die Menschheit selbst.
Aber was ganz neu ist und was viele Menschen auch noch gar nicht aushalten, ist erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert möglich: Zu dieser Zeit begann man sich bewusst zu werden, dass der einzelne Mensch seinen Weg alleine gehen muss. Dieser „Einsamkeitsschock“ ist etwas Modernes: Man spürt, dass es einem nicht hilft, wenn der liebste Freund mit großer Sicherheit seinen Weg geht, wenn man selbst von Unsicherheit erfüllt ist. Man kann versuchen sich anzuklammern. Dann geht man aber nicht den eigenen Weg und irgendwann merkt man, dass das nicht funktioniert.
Allem voran muss ich auf dem Weg der Individualisierung die Einsamkeit bejahen. Es gibt ein berühmtes Gedicht von Christian Morgenstern:
''„Die zur Wahrheit wandern, wandern allein. Keiner kann des andern Wegbruder sein ...“[1]''
Aber das Schöne ist: Wenn viele Menschen einsam auf die Wahrheit zugehen, treffen sie sich in der Wahrheit. Wir machen deshalb die paradoxe Erfahrung: Je größer meine Bereitschaft ist alleine zu gehen, umso inniger wird die Geistgemeinschaft derer, die alleine gehen. Denn wenn ich weiß, meine liebsten Freunde sind auf ihrem Weg genau so allein wie ich, entsteht schon dadurch eine ganz neue spirituelle Verbindung.
=== ''Andere in ihrer Eigenheit unterstützen'' ===
Es gibt Menschen, die sich wundern, wenn jemand sie nicht versteht. Es ist aber eher ein Wunder, ''wenn'' man sich versteht. Denn das Normale ist, dass man sich nicht versteht. Die meisten Menschen sagen einem aus Nettigkeit nicht gleich, dass sie etwas nicht verstanden haben. Man denkt bloß, sie hätten verstanden, weil sie so nett sind zu lächeln. Einander zu verstehen ist ein Geschenk des Schicksals, das ist nicht das Normale.
Das zu erkennen, bringt uns in der Individualisierung einen Riesenschritt voran: zu wissen, die Wahrheit verbindet uns alle, sie muss aber individuell gesucht werden. Wenn ich das begreife, kann ich jeden Menschen auf seinem Weg in seiner Eigenständigkeit unterstützen. Das bewirkt das Gegenteil von Abhängigkeit.
Es gibt immer noch sehr viele Menschen, die die Abhängigkeit von anderen Menschen, Drogen, Medikamenten und Dingen dem Schmerz der Individualisierung vorziehen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 1986-1990 eine Statistik erstellt mit folgendem Ergebnis: Wenn die Drogen- und Medikamentenabhängigkeit und sonstige Abhängigkeiten in den nächsten 30 Jahren genauso ansteigen wie in den 30 Jahren vor 1990, also von 1960 an, dann wird im Jahr 2086 jeder zweite Mensch abhängig sein. Eine eindeutige Tendenz in Bezug auf die Abhängigkeit.
Man fragte sich daraufhin überall, was wir tun können, damit diese Vorhersage nicht eintritt. Sie wird eintreten, wenn wir das Mysterium der Individualisierung nicht begreifen. Wenn die Individualisierung nicht gefördert wird, sind Abhängigkeiten eine Folge davon.
Den inneren Weg zu beschreiten, ist immer auch eine Prävention gegen Abhängigkeit. Denn je selbstständiger ein Mensch wird, desto unabhängiger ist er.
''Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010''
----[1] Christian Morgenstern, ''Wir fanden einen Pfad'', Basel 2004.
== INDIVIDUALISIERUNG UND GEMEINSCHAFTSBILDUNG ==
''Wie spielen der Individualisierungsprozess und Gemeinschaftsbildung ineinander?''
''Welche Anforderungen stellen diese polaren Prozesse an den Menschen?''
=== ''Persönlichkeit versus Individualität'' ===
Rudolf Steiner sprach im Zusammenhang mit seinen geisteswissenschaftlichen Forschungen darüber, dass der Erzengel Michael bestimmten Seelen und geistigen Wesen während einer Unterweisung in der geistigen Welt die gesamte Mysteriengeschichte darlegte: von den ältesten atlantischen Zeiten bis zu den apokalyptischen Visionen des Neuen Testaments, den großen Übergang von den alten zu den neuen Mysterien, vom Abstieg der Menschheit auf den Pfaden der Weisheit, die zum Gebrauch der Intelligenz und zum Individualismus führten. In diesem Kontext verwendete er sinngemäß die Formulierung: ''„Die Menschheit baute ihre Kultur auf der Spitze der Persönlichkeit auf.“''
Dieser Spitze verdanken wir nicht nur unsere Kultur, sie ist auch schuld an der tiefen Verwundung unserer gegenwärtigen Menschheit und der damit verbundenen Kulturkrise. Denn die Persönlichkeit sticht zurück und führt zwangsläufig zum Kampf aller gegen alle, wenn es dem Menschen nicht gelingt, zum Bewusstsein seiner wahren Individualität, seiner Ichheit fortzuschreiten.
=== ''Zweischneidige Natur des Menschen'' ===
Jeder muss die zweischneidige Natur des Menschen in sich entdecken.
* Die eine Seite kann mit den Worten Heraklits charakterisiert werden: ''„Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“'' Der Krieg ist der Vater der '''individuellen Persönlichkeit''', die sich von der ganzen Welt absetzt und sich ihr gegenüber verteidigt. Krieg kann niemals der Vater des Friedens sein. Er kann auch nie der Vater von Gemeinschaftsbildung sein. Insofern ist er gar nicht Vater aller Dinge.
* Die andere Seite dieses zweischneidigen Schwertes entdeckt der Mensch, wenn ihm bewusstwird, dass er mit seinem Ich einen '''Bezug zur ganzen Menschheit''' und zur ganzen Welt hat.
Es gibt nichts in der gesamten Menschheitsentwicklung – und sei es in der fernsten Kultur, in China, bei den Maoris, bei irgendwelchen kleinen indianischen Naturvölkern – das nicht im einzelnen Menschen gewisse Qualitäten und Seiten zum Schwingen bringen kann. Jede neuentdeckte Facette des Ich trägt zu einem tieferen Selbstbewusstsein und zu einem umfassenderen Weltverständnis bei. Die menschliche Ichheit verwirklicht sich in dem Maß, in dem der große Menschheits- und Weltbezug entdeckt und bewusst hergestellt wird.
=== ''Weltumspannende Orientierung des gesunden Ich'' ===
Alles andere, was wir „ich“ nennen, ist sehr vorläufig. Wie Michael die kosmische Intelligenz inspiriert und verwaltet, den großen Bezug aller Dinge und Wesen untereinander, so ist die Ich-Natur des Menschen die Quelle menschlicher Intelligenz, menschlichen Verhaltens, menschlicher Beziehungsfähigkeit. Diese Ich-Natur wird erst rund und gesund, wenn das Ich sich weltumspannend orientiert und im Sinne der neuen Mysterien zur Gemeinschaftsbildung und zur Integration fähig wird.
* Das '''Leitmotiv der alten Mysterien''' lautete: ''„Erkenne dich selbst als Mensch“.''
* Das '''Leitwort der neuen Mysterien''' heißt ''„Gemeinschaftsbildung und Integration“.''
Das Motiv der Selbsterkenntnis ist Voraussetzung für die bewusste Bildung von Gemeinschaften aus mündigen „Ich-en“. Aber aus Selbsterkenntnis allein kann sich keine Gemeinschaftsbildung vollziehen.
Deshalb sprach Michael von der kulturellen Notwendigkeit der Integration, die zum Ende des ersten Jahrtausends nach Christus als Wende von den alten zu den neuen Mysterien verstanden werden müsste, die Mysterien des Zusammenwirkens aller großen Kulturimpulse und Menschheitsströmungen sind. Rudolf Steiner sagt dazu, Michael könne nur auf Erden wirken, wenn Menschen aus den verschiedensten Strömungen sich zu gemeinsamen geistigen Zielen und Aufgaben verbinden.
''Vgl. Vortrag „Aufgaben und Ziele heutiger Zweigarbeit“, Farrach, 25.08.1993''
== MAKROKOSMISCHES WELTENGEBET UND WELTENENTWICKLUNG ==
''Was ist das Makrokosmische Weltengebet?''
''Woher kommt es und wovon spricht es?''
=== ''Erklingen des Makrokosmischen Weltengebets'' ===
Am Abend des 20. September 1913 wurde in Dornach in der Schweiz ein Grundstein in die Erde gelegt in Anwesenheit nur weniger Menschen. Dort wurde ein Spruch von Rudolf Steiner gegeben, den er als „Makrokosmisches Weltengebet“ bezeichnet,[1] weil er bereits ''vor'' der Erdentwicklung – in der alten Monden-Epoche, als die Erde und die Menschheit noch in Vorbereitung waren – aus dem Makrokosmos, dem Bereich der göttlichen Wesen, erklang. Rudolf Steiner sagt, dieses Weltengebet, das auch den Sinn dieser Erdentwicklung enthüllt, werde bis zur nächsten Erdverkörperung, bis zum Jupiter, erklingen und die gesamte Erdenentwicklung wie ein tragischer Grundzug begleiten.
Das Makrokosmische Weltengebet handelt davon, dass es das Böse, das Destruktive, gibt und dass „die Übel“ auf der Erde zugelassen sind und dort walten. Wir haben auf der Erde Angst, weil
* es hier böse zugeht,
* wir uns gegenseitig verletzen,
* wir Probleme miteinander haben,
* und weil hier gigantische Machtspiele im Gange sind und man sich im Großen wie im Kleinen gegenseitig überwältigt.
Davon zeugt die gesamte Menschheitsgeschichte. Schon Kain bringt Abel um aus Neid und Eifersucht. Bis in die ältesten Mythologien ragt das „Fressen und Gefressen-Werden“ herein – davon zeugt auch der Sündenfall.
=== ''Warum das Böse gottgewollt ist'' ===
''Was ist nun der Ur-Grund dafür, dass gottgewollt ist, was uns so gottfern anmutet?''
Das Weltengebet hilft uns zu verstehen, dass alle Angst, alles Destruktive, alles Böse, aber auch die Inkarnation in einen verletzlichen, isolierten Körper, letztlich dem Heil-Werden der Menschheit dient, weil der einzelne in der Vereinzelung, die dadurch geschieht, bewusst lernen kann und darf, sich an das Ganze wieder anzuschließen – durch Wahrheitssuche, Liebe und Tun des Guten. Das wird in dem Grundsteinspruch, der hier im Boden einbetoniert wurde, zum Ausdruck gebracht:
''„Es walten die Übel,''
''Zeugen sich lösender Ichheit.“''
Dass es das Böse gibt, zeugt davon, dass die Iche sich individualisieren. Denn das Böse ist der Schattenwurf der Individualisierung.
''„AUM, Amen!''
''Es walten die Übel,''
''Zeugen sich lösender Ichheit,''
''von anderen erschuldete Sebstheitsschuld.“''
Wir sind alle gegenseitig verschuldet.
''„Erlebet im täglichen Brote,''
''in dem nicht waltet der Himmel Wille,''
''da der Mensch sich schied von eurem Reich''
''und vergaß eure Namen, ihr Väter in den Himmeln.“''
Das ist wie eine Art umgekehrtes Vaterunser, das die Gottheit spricht, die sieht, dass die Menschen eines Tages den göttlichen Namen vergessen und in einen gottfernen Materialismus verfallen werden. Sie werden sehr grausam miteinander umgehen, aber die Gottheit ist bei alledem DA und begleitet diesen Prozess in aller Sorgfalt und Liebe mit dem heiligen AUM, dem Amen (so ist es), um den Menschen beizustehen, wenn sie das Göttliche suchen und seinen Namen wieder kennenlernen und heiligen möchten, wie es im Vaterunser ausgedrückt wird, das der Christus in der Mitte der Erdentwicklung auf die Erde brachte.
=== ''Vaterunser als Hinführung zum Vater'' ===
„''Vater unser, geheiligt werde Dein Name.“''
Die Evangelien haben die Aufgabe, die Menschen wieder zum Vater hinzuführen. Sinn der Erdentwicklung ist es, dass jedes Individuum bewusst lernt, den Vater, den Sohn, den Geist – also Wahrheit, Liebe und Freiheit– auf der Erde zu entwickeln. Dafür wurde uns das Christusgebet, das Vaterunser, gegeben.
Um zu verstehen, warum das so schwer ist, wurde uns das Makrokosmische Weltengebet gegeben, das uns daran erinnert, warum die Übel walten ''müssen'': Weil es offensichtlich nötig ist, dass die Menschen den Namen der Gottheit vergessen und den Anschluss an das Göttliche verlieren, damit sie ihn jeder für sich auf individuelle Art und Weise wiederfinden können. Religion bedeutet ja auch Wiederverbinden, wieder Anknüpfen – aber jetzt durch die enge Pforte der Individualisierung.
Das ist eine Aufgabe, die schlicht Angst macht, weil man dabei alleine ist: „Die zur Wahrheit wandern, wandern allein.“[2]
''Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“,'' Vortrag auf der Schulärztetagung 2013
----[1] In: Rudolf Steiner, ''Mantrische Sprüche. Seelenübungen II.'' GA 268, S. 350.
[2] ''Die zur Wahrheit wandern.'' Gedicht von Christian Morgenstern (1871-1914) aus dem Gedichtzyklus ''Wir fanden einen Pfad.''

Aktuelle Version vom 7. April 2025, 10:27 Uhr

Menschheitsentwicklung – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

DIE SIEBEN KULTUREPOCHEN

Gibt es konkrete Lernschritte, die den einzelnen Entwicklungsepochen der Menschheit zuzuordnen sind?

Wie lassen sich die Kernaufgaben beschreiben?

Lernschritte in der Menschheitsentwicklung

1. Das Geheimnis des Abgrundes

Das erste Schwellengeheimnis, der erste Lernschritt, mit dem die Menschheit zu ringen hatte, war das „Geheimnis des Abgrundes“. Es geht zurück auf die urindische Kulturepoche, wo der Mensch aus seinem vollkommenen Geistbewusstsein herunter „gedimmt“ wurde durch die physische Konstitution, durch ein erstes Sich-Entwickeln der physischen Sinnesorgane. Die Sinnesorgane begannen den Geist, der hinter allem liegt, einzutrüben und zu verschleiern. Was in der Literatur der indischen Tradition „Maya“ genannt wird, der materielle Schein, der sich vor das betrachtende Bewusstsein schiebt, wurde damals als das „Geheimnis des Abgrundes“ erlebt, als würde der Mensch in den Abgrund der eigenen Existenz gestürzt. Man wusste plötzlich nicht mehr alles über sich und die Welt. Man erlebte sich in seiner Identität nicht mehr selbstverständlich als göttlichen Ursprungs. Die Möglichkeit, das Materielle zu erfassen, schob sich als ein Inhalt dazwischen, der eine Trübung des Bewusstseins bewirkte. „Maya“ machte die Grenze zwischen Stoff und Geist erfahrbar, denn die Menschheit musste lernen, geistige Schau und sinnliche Wahrnehmung zu unterscheiden.  

2. Das Geheimnis der Zahl

In der persischen Kulturepoche wurde das geheimnisvolle „Schwellenerlebnis der Zahl“ möglich. Zahlen stehen für Ordnung und die Fähigkeit zu ordnen. Zum ersten Mal war das Denken so kompetent entwickelt, dass es als Regulativ erkannt wurde – im reinen Denken in Zahlen, in ganz klaren Gesetzmäßigkeiten. Dadurch erlebte der Mensch erstmals die Schwelle zwischen Denken und Sinnesanschauung, d.h. zwischen der Kraft, die das sinnlich Wahrgenommene zählt, ordnet und erläutert und den Sinnesanschauungen selbst. Es ging darum, geordnetes Denken und ungeordnete Lebenswirklichkeit unterscheiden zu können. Man begann in der Folge zwischen Licht und Finsternis zu unterscheiden, zwischen der Lichtwelt des Ahura Mazdao, der reinen Gedankenwelt, und der Welt der Finsternis, der Welt des Ahriman.

3. Das Geheimnis der Alchemie

In der dritten Kulturepoche entstand als Folge der vorangegangenen wiederum eine völlig neue Bewusstseinslage: Erstmals traten Krankheitszustände auf. Aus den davor liegenden Kulturen und aus allem, was davon überliefert ist, kennen wir nur die Lehre von der Gesundheit. In der ägyptischen Kultur aber trat das so genannte „Schwellengeheimnis der Alchemie“ auf: Aus dieser Kulturepoche sind uns schon genaue Beschreibungen von Krankheiten und von Arzneimitteln, von Salben und Kräutern aus den Naturreichen überliefert. Der Name Alchemie stammt aus dem Arabischen, aus Ägypten. Es ist auch die Zeit des Sündenfalls und des Alten Testaments.

Zum ersten Mal erlebte der Mensch die Schwelle zwischen Krankheit und Gesundheit. Er erlebte die Ohnmacht angesichts der Krankheit, die er auch in ihrer spirituellen Bedeutung als ein Ereignis erfuhr, an dem er mit seinem Willen scheiterte. Er musste lernen hinzuhören, was ihm dieses schicksalhafte Ereignis offenbaren wollte. Aus dem Krankheitserleben ergab sich erstmals die Möglichkeit, individuelle Initiationserfahrungen zu machen; denn Krankheit wurde seit jeher auf sehr persönliche Art durchlebt, was bedeutend zur Individualisierung des Menschen beigetragen hat.

4. Das Geheimnis des Todes

In der vierten Kulturepoche trat die Menschheit an die Todesschwelle. Mit dieser Kulturepoche dringt die Menschheit über die Entwicklung des „Todesbewusstseins“, des Bewusstseins ihrer Sterblichkeit, zum Ich-Kern vor – es ist die Zeit des Neuen Testaments. Christus bringt die Botschaft von der Auferstehung und versucht zu vermitteln, dass „richtig leben“ heißt, sich wieder seiner spirituellen Natur bewusst zu werden.

Durch das totale Unverständnis der Tatsache des Todes als ein Ereignis, das man spirituell nicht mehr wirklich durchschauen konnte, wurde das berühmte Wort formuliert:

„Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt als ein König im Reich der Schatten.“

Die Auseinandersetzung mit dem „Rätsel des Todes“ und dem, was danach kommt, beherrschte diese ganze Kulturepoche und hat ebenfalls entscheidend dazu beigetragen, dass das Bewusstsein der Menschen sich individualisierte.

Rudolf Steiners Impuls, über die alten Mysterien Vorträge zu halten, war mit der Hoffnung verbunden, dass uns von den Erfahrungen aus früheren Inkarnationen so viel wie möglich wieder ins Bewusstsein steigt, um uns zu unterstützen, wenn wir unter den heutigen Bedingungen den Initiationsweg beschreiten.

Heute sind Tod, Alchemie und Zahlen fester Bestandteil unserer Kultur – im Computerzeitalter ist alles digital, wird alles gezählt! Diese Themen sind keine Geheimnisse mehr, sondern allgemeines Kulturgut. Auch der „Abgrund des Seins“ ist eine selbstverständliche Erfahrung, schon für Kinder, wenn sie die Ohnmacht und das Eingeschlossen-Sein im „Kerker des Nicht-so-Könnens-wie-sie-wollen“ erleben. Dieser Abgrund ist überall zu spüren.

Diese Erfahrung gibt den Menschen heute nicht mehr den entscheidenden Anstoss, sich auf den Weg der inneren Schulung, der inneren Entwicklung, der Einweihung zu machen.

5. Das Geheimnis des Bösen

In der fünften Kulturepoche fordert uns etwas anderes heraus: das „Geheimnis des Bösen“, das Geheimnis der Destruktivität. In dieser Kulturepoche befinden wir uns gerade. Sie hat das Böse und seine Bedeutung für die Entwicklung des Menschen zum Thema. Wir können ahnen, was auf uns als Menschheit zukommt, wenn nicht genügend Menschen am Bösen aufwachen für das Gute. Aufwachen hat immer mit Eigenaktivität und Anstrengung zu tun – das könnte uns als Wegweiser dienen.

Die Kräfte des Bösen mitsamt ihren Auswirkungen sind immer stärker zu erleben. Das ist ein Thema, an dem viele verzweifeln, weil sie es nicht verstehen und nicht verarbeiten können. Die Sprechstunden in unseren Therapiezentren sind voll von Menschen, die krank werden, weil sie mit dem Bösen in sich und in anderen, mit dem Destruktiven in der Wirtschaft, in der Politik und dem Zerstörerischen, das sich in der Umweltproblematik ausdrückt, nicht mehr zurechtkommen.

Wir brauchen eine Initiationswissenschaft vom Bösen – die Anthroposophie will eine mögliche Antwort sein, so wie im christlichen Kulturkreis die Apokalypse des Neuen Testaments als eine Vorschau auf Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit dem Bösen verstanden werden kann. Rudolf Steiner sagte sinngemäß: „Das Böse ist nicht dazu da uns zu zermalmen, zu zerstören und zu zerbrechen; es ist das Schwellengeheimnis der modernen Menschheit und soll den Menschen auf den Weg der Initiation bringen“.

In der medizinischen und therapeutischen Arbeit sind wir ganz unmittelbar aufgerufen, uns mit dem Mysterien-Geheimnis unserer Zeit auseinanderzusetzen. Dieses Bemühen stand hinter der Zusammenarbeit zwischen Rudolf Steiner und Ita Wegman: Sie bemühten sich, die Kräfte der Zerstörung, die sich in Krankheiten äußern, aber auch die Kräfte der Überwindung des Kränkenden und Krankmachenden wirklich zu verstehen. Es ging ihnen nicht um ein träumendes, atavistisches Heilwissen, sondern um ein voll bewusstes Begreifen der Zusammenhänge rund um die Frage, warum der Mensch erkrankt: dass der Mensch erkrankt, weil er das Böse als „Möglichkeit zum Irrtum“ in sich trägt.

Es gibt – und das ist für uns Ärzte sehr wichtig – noch zwei weitere Mysterien-Geheimnisse, die nächsten Kulturepochen, die sechste und die siebente, betreffend:

6. Das Geheimnis des Wortes

Die sechste Kulturepoche wird sich laut Rudolf Steiner mit dem „Geheimnis des Wortes“ auseinandersetzen. Bereits heute können wir ahnen, was alles geschehen kann durch ein falsches Wort in der falschen Tonart oder ein Wort am richtigen Platz. Das Wort bekommt in dieser Epoche wieder Substanz und Gültigkeit, bekommt Gewicht. Worte werden wieder der Verständigung dienen, anders als heute, wo es selten vorkommt, dass Menschen einander auf Anhieb gut verstehen. Heutzutage sind Missverständnisse durch Worte die Regel.

Die Kommunikation zwischen Menschen jenseits aller digitalen Gewohnheiten wird sich in Zukunft als kulturbildend und kulturzerstörend auswirken. Die Auswirkungen unserer heutigen, immer anonymer werdenden Kommunikation können uns als Vorbereitung helfen, schon jetzt im Hinblick auf die sechste Kulturepoche neue Möglichkeiten zu sehen und zu veranlagen: eine Kommunikation, die direkt von Mensch zu Mensch stattfindet, bei der man magisch, d.h., ganz echt und wesenhaft-substanziell mit dem Wort umgeht, bei der man sich auf das zwischenmenschliche Wort verlassen kann. Dazu gehört auch das Wissen, dass Worte äußerlich gleich klingen mögen, aber je nachdem, wer sie sagt, wann sie gesagt werden und wo sie gesagt werden, vollkommen Verschiedenes bedeuten können. Es wird eine Sozialkultur sein, die auf die Kraft und Verbindlichkeit des Wortes aufgebaut sein wird.

7. Das Geheimnis der Gottseligkeit

In der fernen Zukunft der siebten Kulturepoche, der so genannten „amerikanischen Kulturepoche“, geht es um das „Geheimnis der Gottseligkeit“, das in scharfem Kontrast stehen wird zu dem „Kampf aller gegen alle“. Gottseligkeit ist die einzige Möglichkeit, das zu überbrücken, was den „Kampf aller gegen alle“ bis dahin notwendig macht. Der tiefere Sinn dieses Kampfes besteht darin, dass jeder einzelne Mensch lernt, sich in Freiheit an das Menschheitsganze anzuschließen. Dem stehen größtmögliche Widerstände entgegen, doch daran wird die Menschheit erwachen für das Initiationsprinzip dieser siebten Kulturepoche. Dieses Prinzip lebt davon, dass der individuelle Mensch sich über sein höheres Ich und über die Kulturarbeit am Wort in den vorausgegangenen Epochen so vertikalisiert, dass er den bewussten Anschluss an die geistige Welt wieder findet und aus dieser Gottverbundenheit heraus allem gewachsen ist, was diese Kulturepoche an Problemen mit sich bringen wird. Der Mensch wird lernen, Gott wieder zu schauen – individuell und ganz bewusst.

Gottseligkeit heißt für mich auch, dass die göttliche Instanz sich freut, wenn wir sie erkennen. Die Freiheit kommt insofern ins Spiel, als es an uns als geistige Wesen liegt, inwieweit wir uns selbst entwickeln. Als Teil der Natur haben wir diese Wahl nicht – der Naturentwicklung wird quasi die Selbstentwicklung hinzugefügt. Wir brauchen und haben Zeit, uns dahin zu entwickeln.

Vgl. Vortrag „Anthroposophische Medizin und ihre Wirkprinzipien“, 4. Okt. 2007

INDIVIDUALISIERUNG ALS ENTWICKLUNGSMOTIV

Liegt der Menschheitsentwicklung ein zentrales Motiv zugrunde?

Entwicklung als Herauslösen aus Vertrautem

Aus dem Geist der Entwicklung heraus hat Goethe den „Faust“ geschrieben, der das Menschheitsdrama schildert für den 5. nachatlantischen Kulturzeitraum. Dieser begann gemäß Rudolf Steiners geisteswissenschaftlicher Forschung im Jahr 1413 und wird bis zum Jahre 3573 dauern. Ein Kulturzeitraum, in dem es um die Individualisierung des Menschen geht, um das allmähliche Herauslösen aus den vertrauten Gruppenzugehörigkeiten wie Volk, Religion, sozialen Wertesystemen, Familien- und Berufszusammenhängen.

Von Goethe stammt der epochale Satz: „Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.“[1]

Evolution zwischen Saturn und Vulkan

Rudolf Steiner geht dabei noch weiter. Er spannt sein menschheitliches Bewusstsein aus von den Ursprüngen auf dem „alten Saturn“ bis „zum Vulkan“, der letzten Verkörperung unseres Erdenplaneten und seiner Bewohner. Mitten drinnen aber in dieser gewaltigen Evolution beschreibt er einen Kulturzusammenhang wie eine kosmische Uteruswand.[2] Er schildert, wie das einzelne Menschenleben eingebettet ist in die Rhythmen des Sonnensystems. So atmet der Mensch ca. 18-mal pro Minute in Ruhe. Das heißt, er atmet in der Stunde 18 x 60 und in 24 Stunden 18 x 60 x 24 = 25 920-mal. Diese Zahl entspricht als berühmte „Platonische Zahl“ eines Weltenjahres der Dauer der Wanderung des Frühlingspunktes durch den ganzen Tierkreis. Es kennzeichnet diese Zahl im tiefsten Sinn das Geheimnis der Atmung, das auch das Geheimnis Raphaels ist.

Interessanterweise hat die Präzessionsbewegung der Erdachse in ihrem zeitlichen Ablauf, wie wir diese aus der modernen Astronomie kennen, ebenfalls mit dieser platonischen Zahl zu tun: Die Erde dreht sich in etwa 24 Stunden einmal um ihre eigene Achse. Im Zeitraum von 25 920 Jahren jedoch beschreibt die Erdachse dabei einen in sich geschlossenen Kreiskegel. Während also die Erdachse in ca. 25 920 Jahren auf einem Kegelmantel einmal herum wandert, hat sich die Erde dabei ca. 25 920-mal um die Sonne bewegt – und zwar in entgegengesetzter Richtung wie die Präzessionsbewegung.

Drei plus sieben Kulturepochen

Kulturgeschichtlich umfasst dieser Zeitraum von 25 920 Jahren zwölf Kulturepochen: fünf atlantische und sieben nachatlantische zu durchschnittlich je 2160 Jahren. Für die sieben nachatlantischen Epochen hat Rudolf Steiner in seinen frühen esoterischen Vorträgen[3] sieben Entwicklungsgeheimnisse bezeichnet:

  • für die urindische Epoche das Geheimnis des Abgrunds,
  • für die urpersische Epoche das Geheimnis der Zahl,
  • für die ägyptisch-chaldäisch-babylonisch-assyrisch-hebräische Epoche das Geheimnis der Alchemie,
  • für die griechisch-lateinische Epoche das Geheimnis des Todes,
  • für die 5. Kulturepoche das Geheimnis des Bösen,
  • für die 6. Kulturepoche das Geheimnis des Wortes,
  • für die 7. Kulturepoche das Geheimnis der Gottseligkeit.

Lässt man die Abfolge dieser Entwicklungsgeheimnisse auf sich wirken, so kann man auch das gemeinsame Motiv darin erkennen: das Motiv der Individualisierung des Menschen.

Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015


[1] Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan, Berlin 1974.

[2] Rudolf Steiner, Das Zusammenwirken von Ärzten und Seelsorgern. Pastoral-Medizinischer Kurs, GA 318, Dornach 1994, S. 138.

[3] Rudolf Steiner, Kosmogonie, GA 94, Dornach 2001, S. 111 ff.

DER GÖTTLICHE WELTENPLAN

Inwiefern gehören das Böse und das Christus-Prinzip zur Weltenentwicklung dazu?

Was hat die zweischneidige Ich-Natur des Menschen damit zu tun?

Was ist Ziel des göttlichen Weltenplanes?

Das Böse und das Christus-Prinzip

Beim Lesen der Apokalypse erschüttern uns die ungeheuren Visionen des Bösen, die Schrecknisse bestialischer Ausbrüche der Menschennatur, die zunächst so unversöhnlich neben den Offenbarungen des Christus-Prinzips zu stehen scheinen. Und genau das weist auf die Mysterien des Willens hin. Denn der Wille basiert auf der Stoffwechseltätigkeit des Menschen, dem das Geheimnis des Kranken, der Zerstörung, des Bösen ebenso zu Grunde liegt, wie das Geheimnis der heilenden und aufbauenden Kräfte.

Es gehört zu den tiefsten Rätseln des Christentums, dass dem Mysterium von Golgatha der Passionsweg beigegeben ist. Das heißt, dass Folter, Martyrium und gewaltsamer Tod, begleitet von Hass, Hohn und Spott, als die Offenbarungen der bösen Möglichkeiten der menschlichen Natur, „dazugehören“. Dieses Rätsel lässt sich lösen, wenn wir in der Ich-Natur des Menschen dieses zweischneidige Schwert erkennen, von dem in der Apokalypse die Rede ist.[1] Diese Zweischneidigkeit hat mit der Freiheitsfähigkeit des Ich zu tun:

  • Zum einen muss sich das Ich auf seinem Individualisierungsweg aus allem Vertrauten herauslösen und „es selbst“ werden.
  • Zum anderen hat es die Möglichkeit, sich freiwillig wieder zu verbinden, sich mit Gemeinschaften zu identi­fizieren.

Freie Entscheidung für den mittleren Weg

Der Mensch muss immer wieder neu und geistesgegenwärtig die für den Augenblick stimmige Ent­scheidung aus seinem Ich heraus treffen, sodass ein mittlerer Weg erlebbar und sichtbar werden kann. Dieser Weg führt zwischen Willkür und Zwang, Hochmut und Selbstaufgabe, Verschwendung und Geiz, Tollkühnheit und Feigheit, den eigenen Bedürfnissen und denen des sozialen Umkreises mitten hindurch. Es gibt nicht die Wahl zwischen Gut und Böse, sondern immerfort das Ringen um einen Gleichgewichtszustand zwischen zwei Extremen, dem luziferisch Bösen und dem ahrimanisch Bösen, die nur „böse“ wirken, solange sie keinen heilsamen Ausgleich erfahren.[2] So darf es auch nicht wundern, dass die Abirrungsmöglichkeiten und Schrecknisse, die infolge der Ich-Begabung im Laufe der Menschheitsentwicklung noch auftreten werden, bildhaft in diesen apokalyptischen Schilderungen vorweggenommen sind. Sie sollen gerade nicht dazu führen, uns verzagt zu machen, sondern vielmehr den Willen befeuern, das Gute zu wollen[3] – und entsprechend zu handeln.

Gemeinschaft freier Iche als Ziel

In seinem Vortrag vom 25. Juni 1908 im Zyklus „Die Apokalypse des Johannes“[4] sagt Rudolf Steiner: „Die wahre anthroposophische Weltanschauung kann nur als Endziel die Gemeinschaft der selbständig und frei gewordenen Iche, der individuell gewordenen Iche hinstellen. Das ist ja gerade die Erdenmission, die sich durch die Liebe ausdrückt, dass das Ich dem Ich frei gegenüberzustehen lernt. Keine Liebe ist vollkommen, die hervorgeht aus Zwang, aus dem Zusammengekettetsein. Einzig und allein dann, wenn jedes Ich so frei und selbständig ist, dass es auch nicht lieben kann, ist seine Liebe eine völlig freie Gabe. Das ist sozusagen der göttliche Weltenplan, dieses Ich so selbständig zu machen, dass es aus Freiheit selbst dem Gott die Liebe als ein individuelles Wesen entgegenbringen kann. Es würde heißen, die Menschen an Fäden der Abhängigkeit zu führen, wenn sie irgendwie zur Liebe, wenn auch nur im Entferntesten, gezwungen werden könnten. So wird das Ich das Unterpfand sein des höchsten Zieles der Menschen. So ist es aber zu gleicher Zeit, wenn es nicht die Liebe findet, wenn es sich in sich verhärtet, der Verführer, der ihn in den Abgrund stürzt. Dann ist es dasjenige, was die Menschen voneinander trennt, was sie aufruft zum großen Krieg aller gegen alle, nicht nur zum Krieg der Völker gegen die Völker.“[5]

Bewusstsein von der Schwelle zur geistigen Welt wecken

Was uns schützt vor dem Sturz in den Abgrund, ist das Ringen um Gleichgewicht, um den Mittelpunkt unseres Menschseins, den wir in der Christus-Wesenheit ahnen können. Dieses Mittelpunkt-Erlebnis ist dann zugleich die bewusste Schwellenerfahrung, das Erleben der Brücke zwischen der Sinnes- und Geisteswelt.

„Das Höchste, das uns gegeben werden kann, ist die Botschaft von Christus Jesus. Wohl müssen wir sie aufnehmen, und nicht bloß mit dem Verstand. Wir müssen sie in unser Innerstes aufnehmen, wie man die Nahrung im physischen Leibe aufnimmt.“[6]

Die große gemeinsame Aufgabe, die die Mitglieder verbindet in der anthroposophischen Gesellschaft seit der Weihnachtstagung, ist, das Bewusstsein von der Schwelle zur geistigen Welt in der gegenwärtigen Menschheit wecken zu helfen. Immer mehr einzelne Menschen sollen zu sich selbst finden und den Anschluss gewinnen an die großen Ziele und Aufgaben der Menschheitsentwicklung. Dabei möchte die Anthroposophie helfen.

Dazu ist es aber auch nötig, dass möglichst viele Menschen das soziale Bauwerk erkennen und ernst nehmen können, das Rudolf Steiner vor seinem Tode noch begründen konnte als „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ und „Freie Hochschule für Geisteswissenschaft“ mit ihren Sektionen. Dieses soziale Bauwerk bietet Übungsfelder, die helfen können, den Impuls der neuen Mysterien zu realisieren. Denn dieser kann überall da greifen, wo Gemeinschaftsbildung gelingt im Lichte der hier angedeuteten Zukunftsideale der Menschheit und „wenn sich viele zur rechten Stunde vereinigen.“[7]

Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015


[1] Neues Testament, Offenbarung des Johannes (Apokalypse), Kap. 1, 16.

[2] Rudolf Steiner, Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis, GA 191, 1989;

Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik, GA 11, Dornach 1986.

In der Bibel wird von Diabolos (Luzifer) und Satanas (Ahriman) gesprochen.

[3] Peter Selg, Die «Wärme-Meditation». Geschichtlicher Hintergrund und ideelle Beziehungen, Dornach 2005.

[4] Rudolf Steiner, Die Apokalypse des Johannes, 12 Vorträge 1908, GA 104.

[5] Rudolf Steiner, Die Apokalypse des Johannes, GA 104, Dornach 1985, S. 162.

[6] Ebenda, S. 173.          

[7] Zitat aus Goethes Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie.

INDIVIDUALISIERUNGSPROZESSE IN DER MENSCHHEITSENTWICKLUNG

Welche Entwicklungen führten zur Individualisierung des Menschen?

Entwicklungsepochen und Lernaufgaben

In der ersten Entwicklungsepoche der Menschheit, der urindischen Epoche, lernten die Menschen die Welt der Sinne als „Maya“-Welt von der ihnen vertrauten Welt des Geistes zu unterscheiden. Erstmals konnten sie bewusst und individuell ihre Sinne gebrauchen.

In der zweiten Entwicklungsepoche, der urpersischen Epoche individualisierte sich das Denken. Die Zahl als reinster Gedanke wurde entdeckt und ihre ordnende Kraft gehandhabt.

In der dritten Entwicklungsepoche, der ägyptischen Zeit der Pyramiden, entstand die Kunde von der kurativen Medizin, von der Alchemie als dem Geheimnis der Verwandlung der Substanzen und ihrer Heilkraft. Auf der seelischen Ebene individualisierte sich erstmals das Gefühlsleben – insbesondere durch das Erleben von persönlicher Schuld und Krankheit.

In der vierten Entwicklungsepoche, der griechisch-lateinischen Epoche, individualisierte sich der Wille angesichts des Todesrätsels: „Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergeh’n“ – so lässt es Goethe Faust am Lebensende sagen. Faust hat – zu Beginn der Neuzeit – schon Gewissheit darüber, was Entwicklungsaufgabe der vierten Kulturepoche war: herauszufinden, was nach dem Tode bleibt. Erst wenn man mit seinen individuellen Taten verbunden bleiben will, für sie Verantwortung übernehmen will, ist die individuelle Kontinuität des Willens Bewusstseinstatsache geworden. Erst dann wird die Frage konkret, was mit demjenigen geschieht, der tätig war, wenn das Leben zu Ende ist. Der Tod des Christus auf Golgatha ist die menschheitliche Antwort auf diese Frage.

In der fünften Entwicklungsepoche der Menschheit – unserer gegenwärtig „neuzeitlichen“ – geht es um die Individualisierung des Ich – eben um die oben genannte Herauslösung aus allen Gruppenzusammenhängen von Familie, Volk, Tradition und Kultur.

Selbstbestimmung als heutige Aufgabe

Die kollektive Identität stiftende Tragekraft solcher Gruppenzugehörigkeiten ist stark. Daher ist es für den Einzelnen schwer, sich daraus wirklich zu befreien und selbst zu bestimmen, wo und wie man sich für bestimmte Aufgaben mit anderen verbinden will. Am schwierigsten ist aber die Umwandlung des durch gesellschaftliche Normen, Gesetze und Regeln erzogenen und kontrollierten Menschen. Denn wenn die Außensteuerung immer weniger greift, der Wille zur autonomen Selbstbestimmung jedoch noch nicht so weit ist, die Führung zu übernehmen, treten alle möglichen Varianten des Machtmissbrauchs und Irrtums auf. Diese sind die notwendigen Schatten der Entwicklung zum autonomen „Einzel-Ich“, die in der fünften Kulturepoche mit der Individualisierung des Individuums ihren entscheidenden Durchbruch erlebt. Das Auftreten der Neigungen zum Bösen ist damit Kulturgeheimnis der fünften, d.h. unserer jetzigen, Entwicklungsepoche. Daher geht es heute um die Frage:

Wie lernt man angesichts des Bösen für das Gute zu erwachen?

Wie erkennt und überwindet man die bösen Neigungen in der eigenen Natur?

Wie kann dieser Entwicklungsprozess verständnisvoll und hilfreich begleitet werden?

Dazu ist eine „raphaelische Kultur“ nötig, ein Zusammenschluss vieler Menschen, die den Willen haben, Orientierung zu geben, zu begleiten, zu helfen und Heilung zu vermitteln. Zu versuchen, die Mysterien des Heilens zu verstehen und sie im individuellen und sozialen Leben handhaben zu lernen, gehört daher zu den Kernaufgaben der fünften Kulturepoche.

Gemeinschaftsbildung aus Ich-Kraft als zukünftige Aufgabe

Die sechste Kulturepoche wird der Gemeinschaftsbildung aus der Kraft des Ich gewidmet sein. Das Instrument dafür ist ein neuer Umgang mit dem Wort. So Sprache und Wort gegenwärtig zur Information und zum Klären von Missverständnissen dient – oder solche verursacht –, wird es in Zukunft nicht sein. Die Art des Sprechens wird vielmehr die Intentionen des einen für den anderen erlebbar machen. Der Gebrauch des Wortes wird Ausdruck des individuellen Ich sein und Vertrauen von Mensch zu Mensch begründen.

In der siebten Epoche wird sich der Einzelne bewusst an das Ganze der Menschheit anschließen lernen und den Sinn der Schöpfung und der Menschheitsentwicklung begreifen. Dieses Verstehen und Bejahen durch den einzelnen Menschen, der dankbar ist dafür, sich entwickeln zu dürfen – das ist Seligkeit für Gott und seine Hierarchien: Gottseligkeit. Sie sehen ihr Werk „getan“ und lernen auch etwas Neues hinzu: die Erfahrungen der individuellen Menschen auf dem nicht einfachen Weg der „Ich“-Findung.

Sich verlieren, um sich neu zu finden

Gemeinsam ist diesen Entwicklungsepochen die Aufgabenstellung der Individualisierung. Sinneswahrnehmung, Denken, Fühlen und Wollen sind als Fähigkeiten von Natur aus veranlagt, sind Geschenke der Entwicklung. Um sie jedoch im Sinne Goethes zu „erwerben“, „um sie zu besitzen“, bedarf es ihrer individuellen Aneignung. Diese fällt am schwersten in Bezug auf das Ich, das eigentliche Selbst des Menschen.

Wie kann der Mensch sein Ich „verlieren“, um es ganz aus sich selbst neu „zu finden“?

In einer Meditation im Rahmen seiner Esoterischen Schule fasst Rudolf Steiner dieses Geheimnis in folgende Worte:

Im Denken erwache: du bist im Geisteslichte der Welt.

Erlebe dich als leuchtend, das Leuchtende tastend.

Im Fühlen erwache: du bist in den Geistes-Taten der Welt.

Erlebe dich, die Geistes-Taten fühlend.

Im Wollen erwache: du bist in den Geistes-Wesen der Welt.

Erlebe dich, die Geisteswesen denkend.

Im Ich erwache: du bist in deinem eignen Geistes-Wesen.

Erlebe dich Sein von Göttern empfangend und dir selbst gebend.[1]

Das Böse als Möglichkeit in jedem Menschen erkennen

Die Dramatik der gegenwärtigen Situation der Menschheitsentwicklung lässt die mit dieser Aufgabe verbundene Schwierigkeit als eine Art globaler Identitätskrise überdeutlich werden. Dabei ist besonders erschütternd, dass das Böse in der menschlichen Natur nicht berechenbar, vorhersehbar, aus der Entwicklung und Erziehung unmittelbar ableitbar auftritt – sondern „banal“, wie Hannah Arendt sagt,[2] in jedem Menschen potentiell anzutreffen ist. Es muss sich der Abgrund des Bösen in jedem Menschen als Möglichkeit auftun, mit allen Schrecknissen und Verlockungen des „Nicht-Ich“, damit wir uns Schritt für Schritt aus eigener Einsicht und Erfahrung, aus eigener Kraft, allein zur Wahrheit unseres Wesens hindurcharbeiten.

Christian Morgenstern hat diese Aufgabenstellung der fünften Kulturepoche in einem seiner Gedichte zutreffend zum Ausdruck gebracht:

Die zur Wahrheit wandern,

wandern allein,

keiner kann des andern

Wegbruder sein.

Eine Spanne gehn wir,

scheint es, im Chor...

bis zuletzt sich, sehn wir,

jeder verlor.

Selbst der Liebste ringet

irgendwo fern;

doch wer's ganz vollbringet,

siegt sich zum Stern,

schafft, sein selbst Durchchrister,

Neugottesgrund -

und ihn grüßt Geschwister

Ewiger Bund.[3]

Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015

                                                                                                                       


[1] Rudolf Steiner, Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule, 1904-1914, GA 265, Dornach 1987, S. 463-465, 477.

[2] Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986.

[3] Christian Morgenstern, Wir fanden einen Pfad, Basel 2004.


INDIVIDUALISIERUNG UND EINSAMKEIT

Warum ist der Prozess der Individualisierung oft so schmerzhaft?

Moderne Einsamkeit auf dem eigenen Weg

Ignatius von Loyola stellte die Frage: „Weiß ich, wohin ich gehe und was mein Weg ist?“. Die Frage nach dem Weg ist sehr modern. Jetzt werden einige sagen: Aber das Tao (der Weg) der Chinesen ist 5000-7000 Jahre alt. Der „Camino“ ist natürlich so alt wie die Menschheit selbst.

Aber was ganz neu ist und was viele Menschen auch noch gar nicht aushalten, ist erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert möglich: Zu dieser Zeit begann man sich bewusst zu werden, dass der einzelne Mensch seinen Weg alleine gehen muss. Dieser „Einsamkeitsschock“ ist etwas Modernes: Man spürt, dass es einem nicht hilft, wenn der liebste Freund mit großer Sicherheit seinen Weg geht, wenn man selbst von Unsicherheit erfüllt ist. Man kann versuchen sich anzuklammern. Dann geht man aber nicht den eigenen Weg und irgendwann merkt man, dass das nicht funktioniert.

Allem voran muss ich auf dem Weg der Individualisierung die Einsamkeit bejahen. Es gibt ein berühmtes Gedicht von Christian Morgenstern:

„Die zur Wahrheit wandern, wandern allein. Keiner kann des andern Wegbruder sein ...“[1]

Aber das Schöne ist: Wenn viele Menschen einsam auf die Wahrheit zugehen, treffen sie sich in der Wahrheit. Wir machen deshalb die paradoxe Erfahrung: Je größer meine Bereitschaft ist alleine zu gehen, umso inniger wird die Geistgemeinschaft derer, die alleine gehen. Denn wenn ich weiß, meine liebsten Freunde sind auf ihrem Weg genau so allein wie ich, entsteht schon dadurch eine ganz neue spirituelle Verbindung.

Andere in ihrer Eigenheit unterstützen

Es gibt Menschen, die sich wundern, wenn jemand sie nicht versteht. Es ist aber eher ein Wunder, wenn man sich versteht. Denn das Normale ist, dass man sich nicht versteht. Die meisten Menschen sagen einem aus Nettigkeit nicht gleich, dass sie etwas nicht verstanden haben. Man denkt bloß, sie hätten verstanden, weil sie so nett sind zu lächeln. Einander zu verstehen ist ein Geschenk des Schicksals, das ist nicht das Normale.

Das zu erkennen, bringt uns in der Individualisierung einen Riesenschritt voran: zu wissen, die Wahrheit verbindet uns alle, sie muss aber individuell gesucht werden. Wenn ich das begreife, kann ich jeden Menschen auf seinem Weg in seiner Eigenständigkeit unterstützen. Das bewirkt das Gegenteil von Abhängigkeit.

Es gibt immer noch sehr viele Menschen, die die Abhängigkeit von anderen Menschen, Drogen, Medikamenten und Dingen dem Schmerz der Individualisierung vorziehen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 1986-1990 eine Statistik erstellt mit folgendem Ergebnis: Wenn die Drogen- und Medikamentenabhängigkeit und sonstige Abhängigkeiten in den nächsten 30 Jahren genauso ansteigen wie in den 30 Jahren vor 1990, also von 1960 an, dann wird im Jahr 2086 jeder zweite Mensch abhängig sein. Eine eindeutige Tendenz in Bezug auf die Abhängigkeit.

Man fragte sich daraufhin überall, was wir tun können, damit diese Vorhersage nicht eintritt. Sie wird eintreten, wenn wir das Mysterium der Individualisierung nicht begreifen. Wenn die Individualisierung nicht gefördert wird, sind Abhängigkeiten eine Folge davon.

Den inneren Weg zu beschreiten, ist immer auch eine Prävention gegen Abhängigkeit. Denn je selbstständiger ein Mensch wird, desto unabhängiger ist er.

Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010


[1] Christian Morgenstern, Wir fanden einen Pfad, Basel 2004.

INDIVIDUALISIERUNG UND GEMEINSCHAFTSBILDUNG

Wie spielen der Individualisierungsprozess und Gemeinschaftsbildung ineinander?

Welche Anforderungen stellen diese polaren Prozesse an den Menschen?

Persönlichkeit versus Individualität

Rudolf Steiner sprach im Zusammenhang mit seinen geisteswissenschaftlichen Forschungen darüber, dass der Erzengel Michael bestimmten Seelen und geistigen Wesen während einer Unterweisung in der geistigen Welt die gesamte Mysteriengeschichte darlegte: von den ältesten atlantischen Zeiten bis zu den apokalyptischen Visionen des Neuen Testaments, den großen Übergang von den alten zu den neuen Mysterien, vom Abstieg der Menschheit auf den Pfaden der Weisheit, die zum Gebrauch der Intelligenz und zum Individualismus führten. In diesem Kontext verwendete er sinngemäß die Formulierung: „Die Menschheit baute ihre Kultur auf der Spitze der Persönlichkeit auf.“

Dieser Spitze verdanken wir nicht nur unsere Kultur, sie ist auch schuld an der tiefen Verwundung unserer gegenwärtigen Menschheit und der damit verbundenen Kulturkrise. Denn die Persönlichkeit sticht zurück und führt zwangsläufig zum Kampf aller gegen alle, wenn es dem Menschen nicht gelingt, zum Bewusstsein seiner wahren Individualität, seiner Ichheit fortzuschreiten.

Zweischneidige Natur des Menschen

Jeder muss die zweischneidige Natur des Menschen in sich entdecken.

  • Die eine Seite kann mit den Worten Heraklits charakterisiert werden: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“ Der Krieg ist der Vater der individuellen Persönlichkeit, die sich von der ganzen Welt absetzt und sich ihr gegenüber verteidigt. Krieg kann niemals der Vater des Friedens sein. Er kann auch nie der Vater von Gemeinschaftsbildung sein. Insofern ist er gar nicht Vater aller Dinge.
  • Die andere Seite dieses zweischneidigen Schwertes entdeckt der Mensch, wenn ihm bewusstwird, dass er mit seinem Ich einen Bezug zur ganzen Menschheit und zur ganzen Welt hat.

Es gibt nichts in der gesamten Menschheitsentwicklung – und sei es in der fernsten Kultur, in China, bei den Maoris, bei irgendwelchen kleinen indianischen Naturvölkern – das nicht im einzelnen Menschen gewisse Qualitäten und Seiten zum Schwingen bringen kann. Jede neuentdeckte Facette des Ich trägt zu einem tieferen Selbstbewusstsein und zu einem umfassenderen Weltverständnis bei. Die menschliche Ichheit verwirklicht sich in dem Maß, in dem der große Menschheits- und Weltbezug entdeckt und bewusst hergestellt wird.

Weltumspannende Orientierung des gesunden Ich

Alles andere, was wir „ich“ nennen, ist sehr vorläufig. Wie Michael die kosmische Intelligenz inspiriert und verwaltet, den großen Bezug aller Dinge und Wesen untereinander, so ist die Ich-Natur des Menschen die Quelle menschlicher Intelligenz, menschlichen Verhaltens, menschlicher Beziehungsfähigkeit. Diese Ich-Natur wird erst rund und gesund, wenn das Ich sich weltumspannend orientiert und im Sinne der neuen Mysterien zur Gemeinschaftsbildung und zur Integration fähig wird.

  • Das Leitmotiv der alten Mysterien lautete: „Erkenne dich selbst als Mensch“.
  • Das Leitwort der neuen Mysterien heißt „Gemeinschaftsbildung und Integration“.

Das Motiv der Selbsterkenntnis ist Voraussetzung für die bewusste Bildung von Gemeinschaften aus mündigen „Ich-en“. Aber aus Selbsterkenntnis allein kann sich keine Gemeinschaftsbildung vollziehen.

Deshalb sprach Michael von der kulturellen Notwendigkeit der Integration, die zum Ende des ersten Jahrtausends nach Christus als Wende von den alten zu den neuen Mysterien verstanden werden müsste, die Mysterien des Zusammenwirkens aller großen Kulturimpulse und Menschheitsströmungen sind. Rudolf Steiner sagt dazu, Michael könne nur auf Erden wirken, wenn Menschen aus den verschiedensten Strömungen sich zu gemeinsamen geistigen Zielen und Aufgaben verbinden.

Vgl. Vortrag „Aufgaben und Ziele heutiger Zweigarbeit“, Farrach, 25.08.1993

MAKROKOSMISCHES WELTENGEBET UND WELTENENTWICKLUNG

Was ist das Makrokosmische Weltengebet?

Woher kommt es und wovon spricht es?

Erklingen des Makrokosmischen Weltengebets

Am Abend des 20. September 1913 wurde in Dornach in der Schweiz ein Grundstein in die Erde gelegt in Anwesenheit nur weniger Menschen. Dort wurde ein Spruch von Rudolf Steiner gegeben, den er als „Makrokosmisches Weltengebet“ bezeichnet,[1] weil er bereits vor der Erdentwicklung – in der alten Monden-Epoche, als die Erde und die Menschheit noch in Vorbereitung waren – aus dem Makrokosmos, dem Bereich der göttlichen Wesen, erklang. Rudolf Steiner sagt, dieses Weltengebet, das auch den Sinn dieser Erdentwicklung enthüllt, werde bis zur nächsten Erdverkörperung, bis zum Jupiter, erklingen und die gesamte Erdenentwicklung wie ein tragischer Grundzug begleiten.

Das Makrokosmische Weltengebet handelt davon, dass es das Böse, das Destruktive, gibt und dass „die Übel“ auf der Erde zugelassen sind und dort walten. Wir haben auf der Erde Angst, weil

  • es hier böse zugeht,
  • wir uns gegenseitig verletzen,
  • wir Probleme miteinander haben,
  • und weil hier gigantische Machtspiele im Gange sind und man sich im Großen wie im Kleinen gegenseitig überwältigt.

Davon zeugt die gesamte Menschheitsgeschichte. Schon Kain bringt Abel um aus Neid und Eifersucht. Bis in die ältesten Mythologien ragt das „Fressen und Gefressen-Werden“ herein – davon zeugt auch der Sündenfall.

Warum das Böse gottgewollt ist

Was ist nun der Ur-Grund dafür, dass gottgewollt ist, was uns so gottfern anmutet?

Das Weltengebet hilft uns zu verstehen, dass alle Angst, alles Destruktive, alles Böse, aber auch die Inkarnation in einen verletzlichen, isolierten Körper, letztlich dem Heil-Werden der Menschheit dient, weil der einzelne in der Vereinzelung, die dadurch geschieht, bewusst lernen kann und darf, sich an das Ganze wieder anzuschließen – durch Wahrheitssuche, Liebe und Tun des Guten. Das wird in dem Grundsteinspruch, der hier im Boden einbetoniert wurde, zum Ausdruck gebracht:

„Es walten die Übel,

Zeugen sich lösender Ichheit.“

Dass es das Böse gibt, zeugt davon, dass die Iche sich individualisieren. Denn das Böse ist der Schattenwurf der Individualisierung.

„AUM, Amen!

Es walten die Übel,

Zeugen sich lösender Ichheit,

von anderen erschuldete Sebstheitsschuld.“

Wir sind alle gegenseitig verschuldet.

„Erlebet im täglichen Brote,

in dem nicht waltet der Himmel Wille,

da der Mensch sich schied von eurem Reich

und vergaß eure Namen, ihr Väter in den Himmeln.“

Das ist wie eine Art umgekehrtes Vaterunser, das die Gottheit spricht, die sieht, dass die Menschen eines Tages den göttlichen Namen vergessen und in einen gottfernen Materialismus verfallen werden. Sie werden sehr grausam miteinander umgehen, aber die Gottheit ist bei alledem DA und begleitet diesen Prozess in aller Sorgfalt und Liebe mit dem heiligen AUM, dem Amen (so ist es), um den Menschen beizustehen, wenn sie das Göttliche suchen und seinen Namen wieder kennenlernen und heiligen möchten, wie es im Vaterunser ausgedrückt wird, das der Christus in der Mitte der Erdentwicklung auf die Erde brachte.

Vaterunser als Hinführung zum Vater

Vater unser, geheiligt werde Dein Name.“

Die Evangelien haben die Aufgabe, die Menschen wieder zum Vater hinzuführen. Sinn der Erdentwicklung ist es, dass jedes Individuum bewusst lernt, den Vater, den Sohn, den Geist – also Wahrheit, Liebe und Freiheit– auf der Erde zu entwickeln. Dafür wurde uns das Christusgebet, das Vaterunser, gegeben.

Um zu verstehen, warum das so schwer ist, wurde uns das Makrokosmische Weltengebet gegeben, das uns daran erinnert, warum die Übel walten müssen: Weil es offensichtlich nötig ist, dass die Menschen den Namen der Gottheit vergessen und den Anschluss an das Göttliche verlieren, damit sie ihn jeder für sich auf individuelle Art und Weise wiederfinden können. Religion bedeutet ja auch Wiederverbinden, wieder Anknüpfen – aber jetzt durch die enge Pforte der Individualisierung.

Das ist eine Aufgabe, die schlicht Angst macht, weil man dabei alleine ist: „Die zur Wahrheit wandern, wandern allein.“[2]

Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013


[1] In: Rudolf Steiner, Mantrische Sprüche. Seelenübungen II. GA 268, S. 350.

[2] Die zur Wahrheit wandern. Gedicht von Christian Morgenstern (1871-1914) aus dem Gedichtzyklus Wir fanden einen Pfad.