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Religion: Unterschied zwischen den Versionen
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== ZUKÜNFTIGE AUFGABEN DER RELIGION == | |||
''Was kann und soll Religion dem heutigen Menschen geben?'' | |||
''Was macht heute einen richtigen Christen aus?'' | |||
=== ''Bisherige Aufgaben von Religionsgemeinschaften'' === | |||
In dem Ausmaß, in dem sich Menschen individualisieren, fallen sie aus überlieferten Wertekomplexen und -gemeinschaften heraus. Da stellt sich dann die Frage, was an die Stelle des Überlieferten tritt. Vielfach ist es eine Religionszugehörigkeit, vor allem in christlichen, buddhistischen oder muslimischen Zusammenhängen, weil das Religionen sind, die ein volks- und familienübergreifendes Selbstverständnis haben. Die jüdische und die hinduistische Religion sind stark national begründet. Bei ihnen gelten noch Wertesysteme, die die Familien und Völker zusammenhalten. Wohingegen die christliche Religion, die buddhistischen Strömungen und auch der Islam übergreifende globale Weltbewegungen sind. Sie bieten religiöse Wege, vor allem in Form von Übungen und Gebeten, im Rahmen einer Geistgemeinschaft an. | |||
Die meisten Menschen halten die Isolation, die die Individualisierung mit sich bringt, noch gar nicht aus. Sie brauchen eine physische und/oder geistige Familie. Christliche, buddhistische und muslimische Religionen haben sehr viel für die Menschen getan, indem sie einen Übergang schufen zwischen der Zugehörigkeit zu den Volks- und Naturreligionen und dem Beschreiten eines individuellen Weges. Sie stehen in der Mitte zwischen diesen beiden Entwicklungspolen. | |||
=== ''Traditionelle große Religionen auf dem Prüfstand'' === | |||
Es ist interessant, dass vor allem junge Leute zunehmend Probleme haben mit den traditionellen großen Religionen. Dazu ein Beispiel: Ich wurde im September letzten Jahres zu einem Oberstufenprojekt eingeladen. Die ganze Oberstufe einer Schule machte eine Projektwoche zum Thema „Weltreligionen“, bei der Vertreter der großen Strömungen an einen runden Tisch gebeten worden waren. Es war ganz einfach, einen buddhistischen Tempelchef zu finden, einen jüdischen Rabbi, einem Moslem, der von der Genfer Synagoge kam, das war alles überhaupt kein Problem. Die Frage, wen sie stellvertretend fürs Christentum einladen sollten, stellte die jungen Leute jedoch vor ein großes Problem: | |||
''Sollten sie die Katholiken einladen?'' | |||
''Sollten sie die Protestanten einladen?'' | |||
''Sollten sie die Christengemeinschaft einladen?'' | |||
''Oder die Mormonen?'' | |||
''Die Baptisten?'' | |||
''Oder einen russisch-orthodoxen Priester?'' | |||
''Vor allem aber – was macht einen „richtigen Christen“ aus?'' | |||
Darüber konnten sie sich nicht einigen, obwohl fast alle Schüler Christen waren. Daraufhin entschieden sie sich mich einzuladen, weil ich keine der offiziellen Gruppierungen des Christentums vertrete. | |||
=== ''Wunsch nach einer globalen christlichen Ausrichtung'' === | |||
Im Laufe der Gespräche stellte sich heraus, dass gerade junge Christen keiner der genannten Konfessionen mehr angehören wollen. Sie suchen eine globale Religion, eine Religion, die sie nicht „in eine Schublade steckt“. Sie wollen sich nicht mehr binden (lassen). Daran wurde mir klar, wie weit die Individualisierung heute schon fortgeschritten ist: Die meisten jungen Leute suchen in einer religiösen Gemeinschaft keine Sicherheit mehr, sondern die spirituelle Ebene der Religion. Sie wollen sich mehr mit einer Gruppe verbinden, sondern mit dem Menschheitsganzen. Sie wünschen sich, einer allgemeinen christlichen spirituellen Ausrichtung anzugehören, wollen aber auch gerne Katholik, Protestant oder, was auch immer, bleiben. | |||
Die Kirchen werden in 500 Jahren in ihrer Entwicklung nicht mehr dort stehen, wo sie sich heute befinden. Entweder es gibt dann keine Kirchen mehr oder sie haben gelernt, den Menschen als Individuum auf seinem Weg zu unterstützen. Die Kirchen haben die große Aufgabe, sich heutigen und zukünftigen Anforderungen anzupassen und so wieder ein geistiges Zuhause zu werden für Individuen. In Bereichen, in denen die heutigen Menschen ihre Freiheit noch nicht aushalten, sollten sie in der Lage sein im herkömmlichen Sinne Orientierung zu bieten. Doch in Bereichen, in denen Menschen bereits mündig sind, sollten die Kirchen ihnen Partner sein beim Suchen und Finden ihres individuellen Weges. | |||
''Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010'' | |||
== ENTSTEHUNG UND VERWANDLUNG DES WORTES RELIGION == | |||
''Was ist heutzutage die Aufgabe der Religion?'' ''' ''' | |||
=== ''Interpretationen des Wortes Religion im Laufe der Geschichte'' === | |||
Das Wort Religion hat sich im Zusammenhang mit dem christlichen Kulturkreis eingebürgert. Religion (vom Lateinischen: religio) ist seit der römischen Antike bekannt und hat seither sehr unterschiedliche Interpretationen erfahren.[1] | |||
* So stand es '''in der Antike''' für die genaue Erfüllung von Pflichten. | |||
* '''Bei Cicero''' wird es für das ''„gewissenhafte Bedenken und Beachten dessen, was die Götter wollen"'' verwendet. | |||
* '''Im 4. Jh. n. Chr.''' benützte es '''Laktanz''' zur Beschreibung der Fessel der Frömmigkeit, durch die wir Gott verpflichtet und verbunden (religati) sind. | |||
* So wird es dann auch '''von Augustin''' verwendet, indem er sagt: ''„Streben wir zu dem einen Gott und bemühen uns, ihm allein ... unsere Seelen zu verbinden'' (''religantes animas nostras'')''."'' In seiner Schrift ''„De vera religione“'' verwendet er das Wort religio auch für die Eröffnung des Weges, auf dem Gott verehrt und in reinster Frömmigkeit als Grund aller Wesen erkannt wird. Damit ist für ihn religio auch eins mit der Philosophie als dem Streben nach Weisheit. Das Wort Religion steht auch für Kultus und sittliche Lebensbewältigung. | |||
* '''Im Mittelalter''' heißt religio vor allem „Orden" im Sinne der Ordnung des religiösen Lebens der Mönche. | |||
* '''Thomas von Aquin''' fügt in seiner theologischen Summa noch hinzu: ''„Ad religionem proprie pertinet sacrificium deo offere"'' (''zum Ordensleben gehört es, Gott Opfer darzubringen'')''.'' | |||
* '''Bei Luther''' lesen wir: ''„An Christus glauben und von Liebe gegen die Armen angeregt zu werden, das ist unsere christliche Religion. Wenn das Kreuz hinzukommt, so ist es die absolute christliche Religion."'' | |||
* '''Mit Beginn der Neuzeit''' wird zunehmend die Vereinbarkeit von Glauben und Wissen in Frage gestellt. Umso stärker wird die Erfüllung moralisch-sittlicher Pflichten in den Vordergrund gerückt und als die Aufgabe der Religion angesehen. | |||
* '''Zur Zeit der Aufklärung''' wird der Religionsbegriff auf die Verbindung von Vernunft und Moral gestützt, wobei der Name Lessing hier genannt sein möge für die Bedeutung einer umfassenden Toleranz, die der Religionsbegriff beinhalten muss, der Menschenverständnis fördern und für die Menschheit als Ganzes gelten soll.[2] | |||
* '''Für Herder''' ist Religion ''„überall zum Rat, Trost, Unterricht und, wenn ich sagen darf, zur äußersten Notwehr der Menschen erschaffen. Denn sie war's allein, die den armen, schwachen Sterblichen über das Unsichtbare, Allmächtige, Allwirkende, ja über das Zukünftige sogar in seiner dunkelsten Form belehren, trösten und ruhig machen wollte."'' | |||
* Erst '''bei Schiller''' taucht das Freiheitsmotiv in Bezug auf die Religion auf. Im Gegensatz zu Kant, für den Religion aufgrund strenger Gesetze („''das moralische Gesetz in mir''“) moralische Pflichterfüllung ist, betont er, dass die Religion der Weg zur Menschwerdung sei, den der Mensch jedoch nicht dem Pflichtgebot folgend beschreitet, sondern aus einer freien, inneren Neigung heraus. | |||
* '''Novalis''' greift das Freiheitsmotiv dergestalt auf, dass Religion zur Grundlage seines Wissenschaftsverständnisses wird und Moral, ethische Poesie, Kritik und Historie umfasst und mit allen anderen Wissenschaftszweigen in unmittelbarer Beziehung steht. | |||
* '''Ludwig Feuerbach''' reduziert dann Religion auf das Verhalten des Menschen zu sich selbst im Sinne eines Weges zur Selbsterkenntnis. | |||
* '''Karl Marx''' hingegen sieht Religion nur noch als Macht- und Manipulationsmittel für die Unmündigen an. Religion ist für ihn dem Selbstverständnis des Menschen geschuldet, ''„der sich entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat".'' | |||
* Diese Beispiele zeigen, in wie starkem Maß der jeweilige Religionsbegriff den Wandel der Bewusstseinsgeschichte des Menschen abbildet. Er führt von der Gotteserkenntnis zur Menschenerkenntnis, von der Erfüllung göttlicher Gebote und Gesetze zu dem Bestreben, sich von der Abhängigkeit von Gott zu lösen, um Freiheit zu üben und sich ausschließlich auf die Kräfte der eigenen Persönlichkeit berufen zu können. | |||
=== ''Lehre, religiöse Übung und Kultus'' === | |||
Das religiöse Leben gliedert sich in die drei Bereiche: Lehre, religiöse Übung sowie Teilnahme am Kultus und Empfang der Sakramente. | |||
Bei der Lehre geht es darum, das Verhältnis von Mensch, Welt und Gott gemäß Lebensalter und Situation darzustellen, d.h. das Sinnlich-Materielle und die Welt der Gedanken und des Geistes in ihrem Verhältnis zueinander so zu schildern, dass das Kind, der Jugendliche und der erwachsene Mensch erleben, dass ihre eigene innere (seelisch-geistige) und äußere (sinnlich-sichtbare) Natur dem entsprechen. Denn im Menschen durchdringen sich die geistige und die sinnliche Welt. Die reine Beobachtung sinnlich wahrnehmbarer Naturerscheinungen und die Gedanken, die sich Menschen darüber machen, klaffen dagegen weit auseinander. | |||
So hat jedes Religionsbekenntnis seine eigenen Wege zum Verständnis des Geistes in der Welt durch die davon kündende Lehre, die zwar den Zugang zur Religion eröffnet, jedoch nicht das eigentlich Religiöse ist. Das eigentlich Religiöse beginnt mit der Übung, mit dem, was von der Lehre in die Tat umgesetzt wird. | |||
=== ''Grundlegendes zum heutigen Religionsbegriff'' === | |||
Im 20. Jahrhundert, infolge der mit den beiden Weltkriegen verbundenen Ereignisse und der damit verbundenen Globalisierung, haben sich öffentlich und privat zwei Maximen durchgesetzt: | |||
# Die Akzeptanz, dass jeder Mensch auf religiösem Gebiet frei sein muss, seinem Gewissen zu folgen. | |||
# Die in der Menschenrechtsdeklaration der UNO (1948) und in den Grundgesetzen vieler Staaten zum Ausdruck gebrachte religiöse Toleranz, dass jeder nicht nur im Stillen seine Religion wählen darf, sondern auch das Recht hat, seine religiöse Überzeugung in Gemeinschaft mit anderen in der Öffentlichkeit, also durch ''„Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten“'' zu bekunden. | |||
Dabei stehen den etwa 1,5 Milliarden Christen etwa 1,2 Milliarden Atheisten gegenüber. Muslime sind in der Weltbevölkerung mit einer knappen Milliarde vertreten, Hindus mit etwa 700 Millionen und Buddhisten mit weniger als 500 Millionen. Alle anderen großen Religionen haben Gemeinschaften zwischen wenigen Millionen (z.B. Konfuzianer) und 200 Millionen (Taoisten). Im Sinne der drei genannten Elemente gehört jedoch der Atheismus ebenfalls zu den Religionen. Er leugnet zwar aktiv eine göttliche Offenbarung, setzt aber an deren Stelle den neuesten Stand der Wissenschaft und stellt damit auch die Wahrheits- und Machtfrage, die Kern jeder Religion ist. | |||
''Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
----[1] Die folgenden Zitate sind entnommen aus: Karlfried Gründer; Joachim Ritter (HG), ''Historisches Wörterbuch der Philosophie.'' Darmstadt 1971-2007, Bd. 8. | |||
[2] G. E. Lessing, ''Die Erziehung des Menschengeschlechts'', in: Ges. Werke. Berlin, Weimar 1975. | |||
== DAS LEIBLICH-RELIGIÖSE VERHALTEN DES KINDES == | |||
''Was ist unter leiblich-religiösem Verhalten zu verstehen?'' | |||
=== ''Kinder haben Religion'' === | |||
Goethe hat das berühmte Wort geprägt: ''„Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion."'' Wer wirklich wissend ist und ein künstlerisches Empfinden hat, der findet auch wie selbstverständlich Zugang zum Religiösen. | |||
Kinder sind in dem Sinne weder Wissenschaftler noch Künstler – für sie gilt die Fortsetzung des Goethewortes: ''„Wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion."'' Nur muss es beim Kind heißen: Es ''hat'' Religion. Dass das so ist, zeigen Kinder von Anfang an in ihrem ganzen Verhalten. | |||
Im ersten Lebensjahr stehen das Gehenlernen und die Anpassung des Stoffwechsels an die Nahrung im Vordergrund – ausgehend von der am besten verträglichen Muttermilch über viele Zwischenstufen bis hin zur normalen Ernährung. Doch auch beim Sprechenlernen im zweiten Lebensjahr und dem mit dem bewussten „Ich"-Sagen beginnenden Denkenlernen bis in die ersten Schuljahre hinein ist offensichtlich, dass die Stoffwechsel-Gliedmaßen-Tätigkeit im Zentrum der körperlichen Reifung steht. | |||
Kinder unter drei Jahren sind reine Willenswesen: Sie stecken alles in den Mund, was sie in die Finger bekommen, schlafen viel, auch noch während des Tages, und sind, wenn man sie lässt, am liebsten in Bewegung. Sie ahmen nach, was sie in ihrer Umgebung wahrnehmen und versuchen auch alles um sich her in Bewegung zu bringen: Sie ziehen an Tischdecken, drehen an Knöpfen und würden liebend gerne noch vieles machen, was den Erwachsenen gar nicht passt. Die Freude, etwas in den Mund zu stecken, etwas anfassen und untersuchen zu dürfen, sich auf etwas zuzubewegen, zeugt von einem tief eingeborenen „religiösen" Verhältnis zu ihrer Umgebung und steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems und dadurch auch mit der Willensentwicklung. Rudolf Steiner sagt, das Kind verhält sich im Vorschulalter ''leiblich-religiös''. | |||
=== ''Religiosität in vollendeter Form'' === | |||
Um gehen, sprechen und denken lernen zu können, brauchen Kinder das Vorbild der Erwachsenen. Ein Kind ahmt oft so tiefgreifend nach, dass es sogar zu hinken beginnt, wenn der geliebte Großvater hinkt. Nur im Kindesalter können wir eine solch vollständige Hingabe an die Umgebung, an die Nahrung, an das Spiel beobachten. Was der Erwachsene später seelisch-geistig an religiöser Hingabe aufzubringen versucht, indem er sich bemüht, sich nach bestimmten Grundsätzen für die Lebensgestaltung zu richten, quasi als Nachahmen des göttlichen Willens, hat nicht annähernd diese Intensität. Religiosität in dieser vollendeten Form können wir also nur auf der leiblichen Ebene an Kindern beobachten. | |||
Man kann sogar sagen: Wenn es kein Evangelium gäbe und vom Christentum nichts Schriftliches überliefert wäre, so könnte uns die Entwicklung der Kinder in den ersten drei Lebensjahren vollumfänglich lehren, was Menschwerdung im höchsten Sinne des Wortes bedeutet: | |||
* Das Erste, worum sich der Mensch aus eigenem Antrieb bemüht, noch bevor er zu sich „ich" sagt, ist, auf die eigenen Füße zu kommen und die ersten Schritte zu wagen. Er lernt, „seinen eigenen Weg" zu gehen, seine Schritte selbst zu lenken. | |||
* Dem folgt in einem zweiten großen Schritt der Spracherwerb. Das Kind ist in diesem zweiten Lebensjahr, in dem die Gedankentätigkeit noch unbewusst ist, nicht fähig zu lügen. Sprechenlernen bedeutet also immer, „nichts als die Wahrheit" zu sagen, unmittelbar die Beziehung zwischen sich und der Umwelt zum Ausdruck zu bringen. | |||
* Mit dem Denkenlernen entwickelt sich auch die Erinnerungsfähigkeit. Damit eröffnet sich dem Kind die Möglichkeit, sich rein geistig zu betätigen und ein ganz persönliches „Leben" in seinem Denken zu führen. Leiblich-seelisch vollzieht das Kind, was Christus im Johannes-Evangelium von sich selber sagt: ''„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Lehen".''[1] | |||
''Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
----[1] Neues Testament, Johannes 14, 6. | |||
== PFLEGE DES RELIGIÖSEN LEBENS IM KINDESALTER == | |||
''Wie kann die Pflege des religiösen Lebens in der frühen Kindheit aussehen?'' | |||
''Was bedeutet sie für das Vorschulkind?'' | |||
=== ''Elemente einer religiösen Lebensgestaltung'' === | |||
Die Kirchenväter und Gläubigen der alten Zeit haben noch instinktiv gewusst, dass das Bedürfnis nach dem Religiösen tief in der menschlichen Natur verankert ist und daher von Anfang an auch der Pflege bedarf. | |||
Die Elemente einer religiösen Lebensgestaltung umfassen alles, wozu ein Vorschulkind von sich aus begabt ist: | |||
* Es liebt '''Wiederholungen''', und das ist gerade das Wesen religiöser Übungen: Gebete vor dem Essen und vor dem Schlafengehen z.B. werden regelmäßig wiederholt. | |||
* Es liebt die '''Anwesenheit von Erwachsenen''' – und selten sind Eltern konzentrierter bei der Sache, als wenn sie mit ihrem Kind die Kerze vor einem Engelsbild anzünden, ein Dankeslied singen oder ein Schutzengelgebet sprechen. | |||
* Kinder lieben '''Ruhe und Geborgenheit''', in die sie immer wieder zurückkehren können, nachdem sie eine Zeit lang sich selber überlassen waren und alles Mögliche taten. Und es gibt keine schöneren Ruhemomente, als wenn Erwachsene gemütlich etwas erzählen oder vorlesen, was mit dem Leben, den Jahresfesten oder den zahllosen Wundern der Schöpfung zusammenhängt. | |||
=== ''Urvertrauen durch Wesensbegegnung'' === | |||
In keinem Lebensalter gehen Erfahrungen so tief und graben sich so unauslöschlich in die leiblich-seelisch-geistige Konstitution ein wie im Vorschulalter. Kann ein Kind Andacht, Freude, Erwartung, Anteilnahme, Interesse aneinander und die Verehrung eines Höheren in diesem Alter erleben, erlebt es eine tiefgreifende Selbsterfahrung und Selbstbestätigung. Denn es ist voll vertrauensvoller Hingabe, wenn es auf die Welt kommt, und es erwartet, dass sein Vertrauen Bestätigung findet. Auf diese Weise kann sich das oft beschriebene „Urvertrauen" festigen. | |||
Religiöses Üben kann schon unmittelbar nach der Geburt beginnen, wenn die Mutter sich über ihr eben geborenes Kind freut und es in die Arme schließt. Das ist die erste Wesensbegegnung auf der Erde, der Anfang einer starken Bindung zwischen zwei Menschen-Ichen. Diese Beziehung kann schon an der Wiege des Säuglings gepflegt werden, indem man morgens und abends ein Gebet spricht,[1] ein Lied singt und dabei die Stimmung der Verehrung und Dankbarkeit der göttlichen Welt gegenüber empfindet und zum Ausdruck bringt. Nicht Wissen und darüber Reden ist das Entscheidende am religiösen Leben, sondern das übende Tun, die Pflege der Wesensbeziehung zwischen Mensch und Gott. | |||
Je früher und selbstverständlicher der Erwachsene die wichtigsten Elemente der religiösen Übung, das Erleben von Andacht und Ehrfurcht im Gebet, mit dem Kind vollzieht, umso freudiger und selbstverständlicher wird es damit umgehen – selbst wenn es die Worte des Gebetes noch lange nicht versteht. Es nimmt jedoch die Zuwendung des Erwachsenen und die besondere Qualität der Gefühls- und Gemütsstimmung in sich auf und fühlt sich in dieser Atmosphäre geborgen, sicher und in sich bestätigt. Menschen- und Gottesliebe sind nah verwandt: Wer die geistige Welt liebt, kann nicht anders als auch die Menschen als geistige Wesen mit zu lieben. Und wer lernt, die Menschen zu lieben, hat damit eine Brücke zum Verständnis der Gottesliebe bzw. der Liebe zur Welt des Geistes. | |||
=== ''Rückschau auf den vergangenen Tag'' === | |||
Sobald die Sprachentwicklung der Kinder so weit ist, dass man sich mit ihnen unterhalten kann, gehört es zu den wichtigen Elementen der religiösen Übung, auf den vergangenen Tag zurückzublicken und sich zu fragen: | |||
''Was war besonders schön?'' | |||
''Wo war es schwierig?'' | |||
''Was konnten wir heute lernen?'' | |||
''Wie soll es morgen weitergehen?'' | |||
Die Ereignisse des Tages nochmals anzuschauen und dann für die Nacht zur Ruhe zu bringen – das bringt den Menschen zu sich und damit auch der geistigen Welt näher. | |||
Ist die Zeit der hingebungsvollen Nachahmungstätigkeit abgeklungen, ist eine derart tiefe Einprägung in die körperliche Konstitution nicht mehr möglich. Später ist es sehr schwer, dieses Defizit zu kompensieren und Existenzvertrauen und Daseinsfreude „zu lernen". Wenn religiöse Erziehung nicht bedeutet, Kindern „moralische Grundsätze" beizubringen, sondern wenn sie das gemeinsame Erleben der genannten religiösen Qualitäten wie Ruhe, Friede, Andacht, Ehrfurcht und Vertrauen ermöglicht, erleben die Kinder im späteren Leben inneren Halt und finden leichter zur inneren Ruhe. Selbst wenn der Jugendliche oder der Erwachsene sich noch zu keinem eigenen religiösen Weg entschlossen hat, trägt ihn die Erinnerung an die Erfahrungen der Kindheit und gibt ihm Kraft und Lebenssicherheit. | |||
=== ''Hingabe als allgemeine religiöse Erfahrung'' === | |||
Dabei spielt es keine wesentliche Rolle, welches Bekenntnis der religiösen Erziehung zugrunde liegt. Denn die religiösen Werte und Stimmungen, auf die es in der Kindheit ankommt, finden sich in allen Religionsbekenntnissen wieder. | |||
Welchem Glaubensbekenntnis man sich später zuwendet, sollte am Ende ernsthafter innerer Überlegungen und Auseinandersetzungen mit der Gottesfrage stehen. Man wird sich in jedem Fall dankbar an die kindlichen Erfahrungen religiöser Hingabe erinnern, denen die Erwachsenen mit schlichten Mitteln Raum gaben und so die kindliche Religiosität bestätigten. | |||
Der Einwand, dass man Kinder nicht im Rahmen eines bestimmten Religionsbekenntnisses oder überhaupt zum Religiösen erziehen dürfe, da die Entscheidung für ein religiöses Leben jedem völlig frei überlassen bleiben müsse, kann von der Tatsache der vielen Kirchenaustritte in den letzten Jahrzehnten entkräftet werden: Sie zeigt auf, dass viele Menschen im späteren Leben sich von der religiösen Anschauung ihres Elternhauses verabschieden und geistig ihre eigenen Wege gehen. | |||
''Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
----[1] Vgl. Rudolf Steiner, ''Gebete für Mütter und Kinder'', 7. Aufl. Dornach 1994; | |||
Brigitte Barz, ''Mit Kindern beten'', Stuttgart 1995. | |||
== RELIGIÖSE ERZIEHUNG ALS KONTAKTAUFNAHME ZUM HÖHEREN == | |||
''Welche Rolle spielt die (Schul-)Kinderhandlung bei der religiösen Entwicklung des Kindes?'' | |||
''Wie gestaltet sich die Suche nach IHM in den drei Jahrsiebten?'' | |||
=== ''„Ich will ihn suchen“ im Laufe der Entwicklung'' === | |||
Ich möchte hier ein paar Worte über die Bedeutung der Kinderhandlung für die religiöse Entwicklung des Kindes sagen. Eltern haben mir manchmal gesagt, dass sie die Worte der Kinderhandlung selbst nicht verstehen – warum also sollten sie ihr Kind dahin mitnehmen? Ich entgegnete immer: ''„Ihr Kind lernt doch gerade erst zu denken! Es wird dort einige sehr gute Gedanken aufnehmen und richtig schön gesprochene Worte hören. Vielleicht wird es nie mehr einen Erwachsenen so bewusst sprechen hören.“'' | |||
Um genau diese Erfahrung des Hörens erhabener Worte geht es: Je öfter das Kind sie machen darf, umso tiefer wird in der gesamten Konfiguration des Nervensystems etwas wie eine Schale vorgeprägt, für die es später selbstbestimmt und selbstverantwortlich den Inhalt suchen kann. Wenn aber diese Schale gar nicht vorhanden ist, die Suchbewegung nicht veranlagt, dann weiß das Kind nicht, dass es überhaupt suchen soll. | |||
==== '''·''' Im 1. Jahrsiebt – Christussuche über Gedanke und Wort ==== | |||
Durch religiöse Erziehung im 1. Jahrsiebt kommt die Verbindung über den Gedanken und das Wort zu dem wahren Ich zustande: ''„Ich will in suchen“'', sagt das Kind und es hört Worte über ihn, den es suchen soll. Würde man allerdings fragen – ''Weißt Du, wen Du da suchen sollst?'' – hätte es keine Ahnung. Das Suchen muss im 1. Jahrsiebt im Denken veranlagt werden durch die gesprochenen und gehörten Worte – auch wenn sie noch gar nicht verstanden werden. Das gilt für jedes Gebet: | |||
''Was versteht ein Kind oder ein Pubertierender schon vom Vaterunser?'' | |||
Deswegen ist es rührend, wenn man sagt, man verliert seinen Kinderglauben: Denn der kindliche Glauben ist ohnehin nicht sehr fest gegründet. Er besteht aus Worten, aus Stimmungen, aus Gefühlen für die man sich selbst noch kein echtes Verständnis erworben hat. Doch wäre dieser Kinderglaube nicht gewesen, wüsste man gar nicht, wie man suchen soll, hätte man keine Sehnsucht nach mehr. | |||
==== '''·''' Im 2. Jahrsiebt – Christussuche über das Gefühl ==== | |||
Im 2. Jahrsiebt geschieht dasselbe in Bezug auf das Gefühl: Jetzt nimmt man das Christuswesen, das Liebeprinzip, ins Gefühl auf und beginnt, den Christus gefühlsmäßig zu suchen. Wenn man keine Menschen lieben kann im 2. Jahrsiebt, ist man abgeschnitten vom Höheren Ich, kann man das Christuswesen nicht fühlen in der Liebe zu anderen Menschen. Dennoch weiß man immer noch nicht viel über die Liebe. Man muss schon sehr erwachsen sein, um einigermaßen mit der Liebe klarzukommen. | |||
==== '''·''' Im 3. Jahrsiebt – Christussuche über den Willen, das Tun ==== | |||
Im 3. Jahrsiebt wirkt sich der Wille auf die Christussuche aus. Man kann plötzlich sagen: ''Ich will mich auf diesen Weg begeben!'' Das geht in der Regel über einen bewusst gewählten meditativen Weg, über einen Schulungsweg oder über das bewusste Konvertieren zu einer anderen Religion, um herauszufinden, was geschieht, wenn man ein konsequentes religiöses Leben führt – und vice versa. Immer geht es um den dritten Schritt: Erst wenn der Wille im Denken aktiv wird, kann man selbst in Beziehung treten zu dem Höheren Selbst. Das ist eine echte Willensfrage. | |||
Dafür ist aber eine Vorbereitung nötig. Die drei Schulhandlungen begleiten diesen Prozess in meisterlicher Weise. | |||
''Vgl. „Ängste im Jugendalter und ihre Überwindung“,'' Vortrag auf der Schulärztetagung 2013 | |||
== RELIGIÖSES STREBEN UND MENSCHLICHER ORGANISMUS == | |||
''Wie hängt religiöses Streben mit dem menschlichen Organismus zusammen?'' | |||
''Zu welchem Funktionsbereich des menschlichen Organismus steht die religiöse Betätigung in primärer Beziehung?'' | |||
=== ''Religion und Denken, Fühlen und Wollen'' === | |||
Zweifellos hat das religiöse Streben mit Erkennen und Fühlen zu tun und damit auch mit dem Nerven-Sinnessystem und den rhythmischen Funktionen. Physiologisch gesehen ist es jedoch noch tiefer, direkter und unmittelbarer mit einem anderen Bereich verbunden als mit diesen bewusstseinsnahen Funktionen – mit dem dritten großen Organismus, dem Stoffwechsel-Gliedmaßensystem. Wir verdanken dem Tag und Nacht stattfindenden Stoffwechselgeschehen nicht nur die Nahrungsverarbeitung, den Auf- und Abbau unserer inneren Organe, das Erkranken- und auch wieder Gesunden-Können, sondern auch die Kraft für Bewegung. | |||
* So wie das '''Denken''' in enger Beziehung zu den ''Nerven-Sinnes-Funktionen'' steht | |||
* und das '''Fühlen''' mit den ''rhythmischen Funktionen'' korreliert, | |||
* so ist das gesamte '''Willensleben''' vorrangig an die ''Stoffwechselaktivität'' gebunden. | |||
Unsere Kraft und unser Willensvermögen sind von der Gesundheit des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems abhängig.[1] | |||
=== ''Stoffwechsel, Religion und Wille'' === | |||
Mit diesem tiefgründigen System, das allen anderen Funktionen bei Auf- und Abbau dient und das am allerwenigsten in unser Bewusstsein tritt, mit dieser Region des Willens und der Kraftentfaltung, ist das religiöse Leben innig verbunden. Denn das Wesentlichste an der Religion ist, dass man sie ausübt, sie tut. So gesehen ist auch verständlich, warum das zentrale Mysterium der christlichen Religion die Transsubstantiation (Stoffverwandlung) am Altar bei der Kommunion, die Aufnahme von Brot und Wein in den menschlichen Stoffwechsel ist. | |||
Diese Verbindung mit Stoffwechsel und Willensvermögen macht jedoch auch verständlich, warum es für viele Menschen heute so schwer ist, ein bewusstes, ehrliches Verhältnis zur Religion herzustellen – weil wir von unserem Willen so wenig wissen. Wenn wir etwas tun, so wissen wir davon nur, weil wir es auch bedenken, empfinden und anschauen können. Das Zustandekommen der eigentlichen Willenshandlung selbst entzieht sich vollständig unserem Bewusstsein. Aus direktem Erleben wissen wir nur wenig von den Stoffwechselvorgängen. Dagegen können wir unsere Herz- und Atmungstätigkeit und insbesondere unsere Sinnestätigkeit sehr stark erleben, wenn wir vom Stoffwechsel in diesen Organen absehen, der natürlich auch im Unbewussten verläuft. | |||
=== ''Die Welt der Nacht im menschlichen Organismus'' === | |||
Das Stoffwechselsystem gehört der „Welt der Nacht“ im menschlichen Organismus an, der Welt des Unbewussten, an die wir mit unserem wachen, wissenschaftlichen Tagesbewusstsein gar nicht herankommen. Und so fühlt sich die Seele manchmal bis zum Zerreißen aufgespannt zwischen der hellen Welt des Tagesbewusstseins mit ihrer Klarheit und Wachheit und der Welt der Nacht, des Schlafes, der Geborgenheit. | |||
Im Schlaf überfluten die Stoffwechselvorgänge den Organismus, und das bewusste Denken und Fühlen erlöschen, nur durchbrochen von Traumphasen, in denen etwas von den unbewussten Vorgängen des Leibes erahnt werden kann. Die gesunde Seele empfindet, wenn sie in den Schlaf geht, dass sie in eine Welt des Friedens, der Regeneration, der Hilfe und der Hoffnung kommt: Morgen sind wieder neue Kräfte vorhanden, morgen ist vielleicht alles ganz anders. Menschen, die nicht schlafen können, erleben sich wie hinausgeworfen aus dem Paradies, wie nicht mehr aufgenommen in diese Welt der Ruhe. Sie fühlen sich auf sich selbst zurückgeworfen, in die Einsamkeit ihrer täglichen Verrichtungen, in der sie für sich selbst stehen müssen. | |||
=== ''Unbewusste nächtliche Hingabe an die anderen'' === | |||
Die Welt der Nacht ist auch die Welt der Gemeinschaft, des Hingegeben-sein-Dürfens, die Welt des Sozialen, in der mitgetragen und einem geholfen wird. Während des Tages haben wir alle unsere eigene Meinung. Während der Nacht hingegen interessieren wir uns auch für das, was die anderen denken – dann sind wir unbewusst an die anderen hingegeben.[2] | |||
Rudolf Steiner berichtete wiederholt aus seiner Geistesforschung, dass wir während der Nacht, wenn wir uns mit unserem seelisch-geistigen Wesen außerhalb des Leibes befinden, vor allem die Nähe derjenigen Menschen suchen, mit denen wir Probleme haben oder denen wir feindlich gesinnt sind. Wir suchen nach etwas Gemeinsamen, nach etwas, das heilen und etwas Neues aufbauen helfen kann. | |||
''Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Von Seelenrätseln'', GA 21. | |||
[2] Vgl. Stefan Leber, ''Der Schlaf und seine Bedeutung'', Stuttgart 1996. | |||
== RELIGION UND WILLE == | |||
''Inwiefern ist besonders der Wille mit allem Religiösen verbunden?'' | |||
Alles Religiöse ist eng verbunden mit Erziehung, Selbsterziehung und moralischer Entwicklung. Denn es geht in erster Linie um die Erweckung des menschlichen Willens im Umgang mit der Welt und anderen Menschen. | |||
=== ''Der Weg vom Wissen zur Könnerschaft'' === | |||
Beim Erwerb von Fähigkeiten – egal, ob Leib, Seele oder Geist betreffend – müssen Widerstände überwunden werden, muss geübt und wiederholt werden. Oft meint das Denken, längst verstanden zu haben, worum es geht, und auch vom Gefühl her hat man keine Lust mehr weiterzumachen. Dann kann der Wille den entscheidenden Impuls zum Durchhalten geben, bis man eine Fähigkeit zu wirklichem Können entwickelt hat. Denn selbst wenn man ein Musikstück schon auswendig kann, heißt das noch lange nicht, dass man es auch schon so spielen kann, wie es dem Werk gebührt. Zwischen dem bloßen Wissen, wie etwas geht, bis zur wahren Könnerschaft liegt ein langer Weg. | |||
Das trifft auch auf das Neue Testament zu: Was hier an reinem Wissen gelernt werden kann, ist gar nicht so viel, ist nicht das Entscheidende: Entscheidend ist, dass derjenige, der Zugang zu den Evangelien sucht, darauf achtet, wie mittels der dargestellten Inhalte (Gleichnisse, Bilder, Gespräche, Taten) an seinen Willen appelliert wird. | |||
Selbst zu solchen Szenen und Gleichnissen, die dem intellektuellen Verständnis schwer zugänglich sind und die erst einer komplizierten Auslegung bedürfen – wie die Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana – haben der Wille und das ihm naheliegende, nicht vollwache, mehr träumende Gefühlsleben einen direkten Zugang: Der Leser kann empfinden, dass hier etwas in das soziale Geschehen bei der Hochzeit so eingreift, dass die versammelten Menschen sich gestärkt und erfrischt fühlen – es kommt zum unmittelbaren Erleben, dass Christus die Macht der Substanzverwandlung besitzt. | |||
=== ''Appell der Friedfertigkeit an den Willen'' === | |||
Besonders eindrücklich sind jedoch Stellen wie die Aufforderungen im Matthäus-Evangelium, die sich direkt an den Willen wenden: ''„Wenn du deine Gabe zum Altar bringst und dich daran erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen, gehe zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, dann komm und bringe deine Gabe."'' [1] | |||
Aufforderungen wie diese machen deutlich, dass man ein guter Mensch werden muss, wenn man mit vollem Bewusstsein die Welt des Unbewussten betreten will. | |||
Die Handlungen am Altar sprechen von der unbewussten Welt des Willens. Wer Zwist und Streit Nacht für Nacht mit in den Schlaf nimmt, kann von der Welt des Sozialen, in der auch Gottes Boten, die Engel, wirken, nicht so aufgenommen werden wie ein Mensch, der Zwist und Streit beigelegt und sich so auf diese Welt vorbereitet hat. | |||
=== ''Geheimnis des Willens – das Tun'' === | |||
Hier stoßen wir auf das Geheimnis des Willens: Wer nicht Frieden schließt, kann auch keinen Frieden erleben. Jedem geschieht in gerechter Weise nach seinem Wollen. Daher sind auch die meisten religiösen Anweisungen darauf ausgerichtet, uns zu helfen, den Tag so zu verbringen, dass wir nachts richtig schlafen und die Stoffwechselvorgänge sich in gesundender Weise vollziehen können. | |||
Dementsprechend war in alten Zeiten die Religion auch für Medizin und Gesundheit zuständig. Ratschläge in Bezug auf die Lebensführung, die Hygiene, die richtigen Ernte- und Aussaatzeiten, gute Ernährungsgewohnheiten und vieles mehr gehörten in den Bereich des Tempels und seiner Priester und Lehrer. Andererseits hatte die Religion in den alten Zeiten auch eine ganz andere Beziehung zu Kunst und Wissenschaft, als dies heute der Fall ist: | |||
* Das höchste Ideal der '''Wissenschaft''' war, zur Gotteserkenntnis und damit zur Erkenntnis des Guten im Sein, Handeln und Wollen aufzusteigen. | |||
* Über die '''Kunst''' versuchte man, diesem Bestreben zu dienen und es in der Tempelarchitektur durch entsprechend gestaltete Räume und die Gestaltung der heiligen Gegenstände, Gefäße, Gerätschaften und Götterstandbilder für die Augen der Menschen sichtbar zu machen. | |||
Religion ist eine Willensangelegenheit. Hier kommt es darauf an, das Gute und Schöne zu ''tun'', auch wenn die Umstände dagegensprechen. | |||
=== ''Positive Auseinandersetzung mit dem Schatten'' === | |||
Wer bewusst mit Idealen umgeht, weiß, wie wichtig es ist, sich auch mit dem Gegenteil der Ideale, dem Schattenwurf, den Hindernissen, positiv auseinanderzusetzen. Die Notwendigkeit, den guten Willen immer neu zu entfachen, ist letztlich das, worauf es in der religiösen Praxis ankommt – und genau das lieben Kinder: Denn sie selbst müssen auch noch vieles lernen und sind ständig mit dem Erlebnis ihres noch-nicht-Genügens und ihrer Unfähigkeit konfrontiert, so dass sie diesen guten Willen selbst ständig aufbringen müssen. Sie fühlen sich tief verstanden, wenn sie erleben, dass auch der Erwachsene Fehler macht, um sich und den anderen dann wieder eine Chance zu geben – dass er neu beginnt, um es besser zu machen: Religiöse Übung und Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins können sich so gegenseitig unterstützen. | |||
Religiöse Erziehung bedeutet Willenserziehung: Jede wiederholt durchgeführte Willenshandlung stärkt den Willen, und je regelmäßiger das geschieht, umso größer wird die Kraft. | |||
''Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
----[1] Neues Testament, ''Matthäus'' 5, 23-24, zitiert nach Emil Bock. | |||
== DIE NOTWENDIGE TRENNUNG VON WISSENSCHAFT, KUNST UND RELIGION == | |||
''Warum war es notwendig, dass Wissenschaft, Kunst und Religion sich trennten?'' | |||
Heute sind Wissenschaft, Kunst und Religion im Wesentlichen voneinander getrennte Gebiete, sodass wir uns die Frage stellen müssen, wie es zu dieser Trennung kam, was sie bedeutet und wie sie wieder überwunden werden kann. | |||
=== ''Notwendigkeit der Trennung'' === | |||
Denn so, wie im menschlichen Organismus Nerven-Sinnessystem, rhythmisches System und Stoffwechsel-Gliedmaßensystem zusammenwirken müssen, wenn der Mensch gesund bleiben will, so müssen auch die einzelnen Komponenten des geistig-kulturellen Lebens miteinander sinnvoll in Zusammenhang stehen. Das Auseinanderklaffen von Wissenschaft, Kunst und ethisch-moralischen Werten führt mit der Zeit zu unlösbaren sozialen Konflikten, die erst richtig bearbeitet werden können, wenn die drei Bereiche wieder miteinander in Beziehung treten. | |||
Schon ein oberflächlicher Blick auf das antike Priesterkönigtum, bei dem Wissenschaft, Kunst und Religion eng miteinander verbunden waren und damit auch ganz und gar vom religiösen Leben bestimmt wurden, macht deutlich, warum diese Lebensform im Zuge der Menschheitsentwicklung ein Ende finden musste. Denn in dieser Welt, in der das höchste Erkenntnisziel die Gotteserkenntnis war und das höchste Ideal der Kunst darin bestand, dem religiösen Leben entsprechende Ausdrucksformen zu geben, konnte sich zwar eine hohe menschliche Kultur entwickeln, nicht jedoch der freie Wille des Einzelnen. | |||
Und so standen sich in jenen alten Zeiten das unmündige Volk und wenige eingeweihte Herrscher gegenüber. Letztere hatten dank ihrer besonderen Erziehung und Schulung noch ein Bewusstsein von der Nachtseite des Daseins und konnten aus diesem Wissen heraus Impulse geben für Erziehung, Heilkunde und Kultur und damit für die Gestaltung des sozialen Lebens. | |||
=== ''Entwicklung von Bewusstsein durch Trennung'' === | |||
Die Notwendigkeit der Trennung von Wissenschaft, Kunst und Religion liegt so gesehen auf der Hand: Um ein individuelles Bewusstsein entwickeln und den Umgang mit seiner persönlichen Freiheit üben zu können, muss der Mensch lernen, für sein Handeln, und damit auch für seine religiöse Entwicklung, selbst die Verantwortung zu übernehmen. Dafür mussten jedoch erst die Voraussetzungen geschaffen werden. | |||
Und so vollzog sich mit Beginn der Neuzeit die Trennung von Glauben und Wissen, obwohl dies von den religiösen Instanzen selbst nie ernsthaft akzeptiert wurde, was sich darin zeigt, dass sie zum einen auch heute noch von „Offenbarungswissen“ sprechen und zum anderen Einfluss auf die moderne wissenschaftliche Entwicklung nehmen wollen. | |||
Von wissenschaftlicher Seite her wird dieser Anspruch nicht ernst genommen. Hier hat sich die materialistische Naturwissenschaft durchgesetzt, die alles Spirituelle als spekulativ ablehnt. Das wissenschaftliche Bewusstsein unserer Zeit erkennt zwar, dass die Religionen wichtige Funktionen rund um die Sinngebung im Leben und die persönliche Charakterbildung erfüllen – ihr eigentlicher spiritueller Gehalt wird indessen nicht im wissenschaftlichen Sinne verstanden und damit auch nicht anerkannt. | |||
Auch die Kunst wurde zu einem eigenständigen Bereich, der der wissenschaftlichen Erforschung wenig zugänglich ist. | |||
So führen diese drei Gebiete heute ein relativ starkes Eigenleben, wobei der Bereich der Forschung und Wissenschaft absolut dominiert. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben allgemeine Gültigkeit. So ist auch das Wirtschaftsleben und mit ihm die materielle Grundlage der Menschen ganz von ihr abhängig geworden. Religion wird dagegen als reine Privatsache angesehen. | |||
Die Wissenschaft hat sich in den letzten 200 Jahren als materialistische Wissenschaft ganz an die den Sinnen zugängliche Erfahrungswelt angeschlossen, an die reine Tagwelt. Das Wissen um die Nachtseite des Lebens ist aus dem wissenschaftlichen Denken verschwunden. | |||
=== ''Die Wahrheit selbst erkennen lernen'' === | |||
So tragisch sie erscheinen mag, so liegt doch gerade diese Entwicklung ganz in Richtung der Prophezeiung aus dem Johannes-Evangelium: ''„Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen".''[1] In diesen Worten liegt geradezu die Aufforderung an den einzelnen Menschen, zu lernen, sein Denken zunehmend zur Erkenntnis der Wahrheit zu gebrauchen bzw. es dahingehend zu entwickeln | |||
Uns erscheint diese Möglichkeit heute als selbstverständlich. Immer mehr Länder haben die allgemeine Schulpflicht eingeführt und schaffen damit die Voraussetzung, dass jeder am wissenschaftlichen Denken unserer Zeit Anteil nehmen kann. Die Menschen in der vorchristlichen Zeit – und zu großen Teilen bis ins Mittelalter hinein – waren dazu noch nicht in der Lage. So hatte die johanneische Prophezeiung durch viele Jahrhunderte hindurch einen sehr modernen revolutionären Einschlag. | |||
Damit ist aber auch eines deutlich: Der einzelne Mensch kann und konnte nur lernen, selbstständig seinen Erkenntnisweg zu gehen, weil die großen Menschheitsführer einer demokratischen Gesinnung gewichen sind, die sich gegen jede Form geistiger Bevormundung, sei es von Seiten des Staates, sei es von Seiten der Kirche, zur Wehr setzt. Diese geistige Emanzipation setzt jedoch die Fähigkeit zur selbstständigen Gestaltung des Berufs- und Alltagslebens voraus, die auf einem starken Selbstbewusstsein basiert und ausreichend persönliche Sicherheit gibt. So liegt die Entwicklung in Richtung Materialismus ganz im Zuge dieser christlich-johanneischen Prophezeiung: Nur mit Hilfe des wissenschaftlich-materialistischen Denkens und der reinen Alltagserkenntnis konnte der Mensch sich von Gott und von seinen Geboten, sprich von der Nähe der geistigen Welt, emanzipieren und sich wirklich als auf sich selbst gestellt erleben. Nur so konnte er Selbst- und Weltbewusstsein erlangen. | |||
Die Trennung von Wissenschaft, Kunst und Religion ist also ein durchaus notwendiger Prozess in der Menschheitsentwicklung. Freiheit wird nur erlangt, wenn man durch das Nadelöhr der Einsamkeit und Selbstständigkeit zu gehen bereit ist. | |||
''Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
----[1] Neues Testament, ''Johannes 8, 32.'' | |||
== ÜBERWINDUNG DER TRENNUNG VON KUNST, WISSENSCHAFT UND RELIGION == | |||
''Wie kann die Trennung von Kunst, Wissenschaft und Religion wieder aufgehoben werden?'' | |||
''Warum ist diese Entwicklung überhaupt nötig?'' | |||
=== ''Notwendige Neuverbindung'' === | |||
Heute stehen wir an einer Schwelle und erleben deutlich, dass diese Trennung wieder überwunden werden muss. Rudolf Steiner stellte sich in Anknüpfung an Goethe und den Deutschen Idealismus die Aufgabe, für die „gottlos" gewordene Wissenschaft einen Erkenntnisweg zu finden, der ihr Denken wieder an die geistige Welt und ihre Wesen – die Verstorbenen, die hierarchischen Engelwesen und den göttlichen Urgrund der Welt im Sinne der Trinität – anschließt. So kann heute jeder durch Selbsterziehung und Schulung des Denkens zur Realität des Geistes gelangen. | |||
Zur Erfüllung seines Zieles baute Rudolf Steiner das Goetheanum als internationales Zentrum zum Studium der von ihm begründeten Geisteswissenschaft. Es war und ist die Aufgabe dieses Goetheanum, an der Wiedervereinigung von Wissenschaft, Kunst und Religion zu arbeiten. Rudolf Steiner | |||
* gab wesentliche '''Anregungen zur Spiritualisierung der Wissenschaft''', | |||
* setzte '''neue Impulse für das künstlerische Schaffen''' | |||
* und regte die '''religiöse Erneuerung des kirchlichen Lebens''' an. | |||
=== ''Denken als Bindeglied'' === | |||
Diese drei Gebiete können sich nur vereinigen, wenn das Denken selbst einen Zugang zum Geist und damit zu dem bekommt, was Inhalt aller Religionen ist. Dann kann auch der sich zwischen Wissenschaft und Religion befindliche Bereich der Kunst einen neuen Einschlag erhalten. Das künstlerische Schaffen kann in Verbindung mit der Wissenschaft zum Erkenntnisweg werden in der Weise, wie Goethe es meisterlich vorgelebt hat. Auf der anderen Seite kann das künstlerische Umgehen mit den Vorgängen der Welt zum Verständnis des Wesens dieser Vorgänge führen und damit dem religiösen Ansatz nahekommen, dem es immer um das Real-Wesenhafte und um die Wesensbegegnung geht. | |||
Die Anthroposophie will demnach ein Weg sein, das Denken wieder an die geistige Wirklichkeit anzuschließen. Das ist zunächst ein rein wissenschaftliches Anliegen und hat mit Religion nichts zu tun. Wenn der Mensch im Denken den Anschluss an die geistige Wirklichkeit gefunden hat, kann er selbst den Weg zum Religiösen, das heißt zur Pflege der Beziehung zum Geistigen einschlagen. Dabei bleibt offen, ob die Pflege des Religiösen dann auch zur Gemeinschaftsbildung führt oder als Privatsache angesehen wird. Es bleibt auch offen, welche Religionsform man wählt, wenn man sich einer Gemeinschaft anschließen will. Denn die Geisterkenntnis durch das Denken eröffnet uns die Möglichkeit, den Sinn- und Wesensgehalt jeder Religion zu erfahren. | |||
''Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
== FORMEN SPIRITUELLER GEMEINSCHAFTSBILDUNG == | |||
''Was ist das Besondere einer spirituellen Gemeinschaftsbildung durch den Kultus?'' | |||
''Was ist unter dem „umgekehrten Kultus“ zu verstehen?'' | |||
Zunächst gibt es die Gemeinschaft der Priester, die sich durch Schulung und Ausbildung vorbereitet und die Priesterweihe empfangen haben, damit sie in der Lage sind, eine überpersönliche Gemeinschaft zu bilden, die zur Pflege des Kultus nötig ist. Auch wenn der einzelne Priester Schwächen hat und in seiner moralischen Entwicklung hinter so manchem Gemeindemitglied zurücksteht, so kann er doch gemeinsam mit den anderen mit besten Kräften daran arbeiten, dass der Kultus in der Priestergemeinschaft am Leben bleibt. | |||
=== ''Zugang zum kultischen Geschehen offen halten'' === | |||
Das ist notwendig, damit das kultische Geschehen für jeden Menschen in freier Weise zugänglich ist. Denn jeder, der am kultischen Geschehen teilnimmt, ist völlig frei, wie tief, wie oberflächlich, wie esoterisch, wie unverbindlich, wie nur ganz aus der Ferne er sich dem Geschehen nähern und anschließen möchte. Es kann sogar sein, dass jemand zufällig die Straße entlangkommt und das Schild „Die Christengemeinschaft“ sieht und sich spontan entschließt, den Raum zu betreten, in dem wenig später die Menschenweihehandlung beginnen soll. Nun sitzt er da – ohne jede Vorbereitung. Demokratischer und freilassender geht es nicht. Diese Möglichkeit ist wie eine Art Gegengewicht zur absoluten Verbindlichkeit, mit der die Priesterschaft diesen Kultus trägt, verantwortet und pflegt. | |||
Damit wird die Möglichkeit der Menschenweihe durch den Kultus an alle, die am kultischen Geschehen teilnehmen, herangetragen und es hängt nun vom Einzelnen ab, wie sehr er sich diesem Geschehen öffnen und von ihm verwandeln und Schritt für Schritt „weihen" lassen kann. Gemeinsam am Kultus teilzunehmen und innerhalb der Gemeinde voneinander zu wissen, dass man diesen Weg der Verwandlung und der Menschenweihe anstrebt, hat etwas tief Vertrauenerweckendes und Verbindendes. Und so unverbindlich die Teilnahme zu Beginn auch sein mag, im Laufe der Zeit kann sich die Beziehung zum kultischen Geschehen vertiefen und sich schließlich dahingehend entwickeln, dass der Betreffende immer mehr zum Mitvollzieher und Mitarbeiter dessen wird, was am Altar geschieht. | |||
=== ''Von oben gestiftete Gemeinschaft'' === | |||
Wir haben hier eine Form spiritueller Gemeinschaftsbildung, die gleichsam „von oben" gestiftet wird. Denn ein Kultus ist eine unmittelbare Offenbarung aus der geistigen Welt und muss von Menschen, die sich dafür vorbereitet haben, entsprechend empfangen und gepflegt werden. Daher hat eine solche Gemeinschaftsbildung auch eine hierarchische Form, mit dem Priester an der Spitze und der sich um ihn gruppierenden Gemeinde. Dabei bedeutet dieses An-der-Spitze-Stehen nur, dass man dem Priester verdankt, dass der Kultus für die Gemeinde zelebriert werden kann. Weiter geht die Autorität des Priesters nicht, es sei denn, er hätte auf irgendeinem Gebiet eine besondere Qualifikation, so dass man ihn zu Rate zieht in der gleichen Weise, wie man dies auch mit anderen Menschen tut, die sich für irgendeinen Lebensbereich qualifiziert haben. | |||
Je mehr in der Gemeinde erlebt wird, dass es der Kultus selbst ist, von dem die Kraft der Gemeinschaftsbildung ausgeht, und nicht der eine oder andere verehrte Mensch dahintersteht, umso mehr bekommt eine solche Gemeinde den Charakter einer echten spirituellen Gemeinschaft, zu der jeder sein Bestes beiträgt – brüderlich, unabhängig von der Hierarchie. Je hingebungsvoller und selbstloser der Kultus gepflegt und gefeiert wird, umso stärker sind die spirituellen Kräfte, die von ihm ausgehen können. | |||
=== ''Wunderbare Brotvermehrung'' === | |||
Das wirkt sich auf den Umkreis wie eine wunderbare Brotvermehrung aus. Denn Gedanken und Gefühle sind Realitäten, und je kraftvoller das Kultusgeschehen in der Seele jedes Einzelnen auflebt, umso kraftvoller ist dann auch das, was geistig von der Kirche ausströmen kann, wenn der Kultus in ihr gefeiert wird. Nicht nur diejenigen, die daran teilnehmen, haben etwas von dieser geistigen Nahrung, sondern weitaus mehr Menschen werden damit erreicht, auch wenn sie davon gar nichts wissen und nicht ahnen, woher ihnen in einer bestimmten Situation plötzlich ein so friedevoller, hilfreicher Gedanke gekommen ist. | |||
Kultuspflege bedeutet geistige Substanzbildung, Friedensarbeit, Arbeit an der Vermenschlichung der Lebensverhältnisse einer Stadt, der Gegend, in der die Gemeinde wirksam ist. | |||
=== ''Umgekehrter Kultus'' === | |||
Rudolf Steiner beschreibt auch den „umgekehrten Kultus", die spirituelle Gemeinschaftsbildung „von unten". Sie wird in dem Maße möglich, in dem eine Gruppe von Menschen sich in gemeinsamer Arbeit um Geisterkenntnis bemüht und dieses Bemühen gesegnet wird durch die Anwesenheit geistiger Wesen. Rudolf Steiner sagt hierzu: ''„Erst dann stehen wir wirklich im Ergreifen, im Erfassen des Spirituellen drinnen, wenn wir nicht nur die Idee dieses Spirituellen abstrakt haben und etwa sie theoretisch wiedergeben können [...], sondern wenn wir glauben können'' – ''aber glauben auf Grundlage eines beweisenden Glaubens'' – ''dass Geister im geistigen Erfassen geistige Gemeinschaft mit uns haben."[1]'' | |||
Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben im Hinblick auf das soziale Leben der Gegenwart, konkrete Wege zur spirituellen Gemeinschaftsbildung kennenzulernen und zu beschreiten. | |||
''Vgl. „Wie ist Entwicklung zur Selbständigkeit und Gemeinschaftsbildung vereinbar?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Anthroposophische Gemeinschaftsbildung'', GA 257, Vortrag vom 27.2.1923. | |||
== DIE BEDEUTUNG KULTISCHEN GESCHEHENS == | |||
''Welche Bedeutung hat der Kultus in religiösen Zusammenhängen?'' | |||
''Was zeichnet das kultische Geschehen aus?'' | |||
''Wie wirkt es sich in kindgemäßer Form auf Kinder aus?'' | |||
Ob der Kultus als ein selbstverständliches Element des religiösen Lebens erlebt und gewollt wird, hängt von dem Blick darauf ab. Es gibt Kirchen und Glaubensbekenntnisse, die eine ausgesprochen kultusablehnende Haltung haben, weil sie darin nur Anklänge an zwingende und nur schwer durchschaubare alte rituelle Gewohnheiten sehen, die es zu überwinden gilt. | |||
=== ''Wesensbegegnung durch Kultus'' === | |||
Wer sich jedoch mit dem Zusammenhang zwischen Religion und dem wahren Wesen des Göttlichen wie auch des Menschen auseinandersetzt, wird das kultische Geschehen in einem völlig anderen Licht sehen können: Denn beide, die religiöse Lehre und die religiöse Übung, wollen letztlich zu dem hinführen, was der Sinn allen religiösen Lebens ist: die Gottesbegegnung, die eine Wesensbegegnung ist. Wesensbegegnung aber ist Gnade. | |||
* Sie kann in die Lehre hereinleuchten, wenn man z.B. etwas bis dahin Unklares zu verstehen beginnt. | |||
* Sie kann sich bei der religiösen Übung als beglückendes Erlebnis manifestieren und Dankbarkeit und Frieden in der Seele zurücklassen. | |||
* Sie kann sich aber auch unverhüllt als immer gegenwärtig offenbaren durch die Wirklichkeit des kultischen Geschehens und der Sakramente. | |||
Im christlichen Kultus wird von der heiligen Trinität, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, gesprochen. Ihr Wesen und Wirken wird den Menschen durch Worte und Gedanken (Ideale) unmittelbar zu Gehör gebracht und vor Augen gestellt: Ein Mensch steht in festlicher Gewandung am Altar, dem Alltagsleben entrückt, und sucht durch Handlung, Wort und Gedanke die unmittelbare Berührung mit dem Göttlich-Wesenhaften. | |||
=== ''Kultus und Menschheitszukunft'' === | |||
Was sich im Kultus und durch die Sakramente vollzieht, ist idealistisch und real in einem: Es ist in vergleichbarer Weise Wirklichkeit, wie Ideale im Menschen ansatzweise verwirklicht sein können, wenn sie in der Seele eines Menschen leben und Kraft geben für jede kleine Alltagshandlung – und dennoch weiß der Betreffende genau, dass er noch viele Erdenleben brauchen wird, um dieses Ideal ganz zu verwirklichen. So ist es auch mit dem Kultus. Was sich in ihm vollzieht, was dabei gesagt wird, ist reinster Ausdruck der Menschheitszukunft und bringt das Werden des Menschen, seine Entwicklung, hin zum Erkennen seines wahren Selbst und seiner Gottebenbildlichkeit, hier und jetzt zur Erscheinung. | |||
Dem religiös Übenden begegnet im Kultus etwas Vollkommenes, an dem er sich orientieren und immer wieder neu Kraft schöpfen kann. Der Kultus ist deswegen so vollkommen und unantastbar, weil er eine unmittelbare Offenbarung aus der geistigen Welt in Wort, Gedanke und Handlung darstellt. Er darf daher auch nicht willkürlich verändert werden, so wenig wie ein Ideal veränderbar ist. | |||
In der Kirche der Christengemeinschaft heißt der Kultus „Menschenweihehandlung". Durch diesen Begriff wird das Ziel des Mensch-Seins, die Menschenweihe, die Einweihung in die Selbst- und Gotteserkenntnis, ausgedrückt. Das Wort Menschenweihehandlung weist aber auch auf einen weiteren Aspekt des Gottesdienstes hin: dass der Mensch sich selbst verwandeln muss, um die Weihe zu erlangen für den Eintritt in die geistige Welt. | |||
=== ''Gemeinschaft als Voraussetzung für den Kultus'' === | |||
Um ein kultisches Geschehen pflegen und vollziehen zu können, bedarf es einer Gemeinschaft. Denn in der Gemeinschaft kommt das Allgemein-Menschliche zur Erscheinung, während das Persönliche zurücktritt. Der Priester hat zur Aufgabe, sich auf den Dienst am Kultus vorzubereiten: Der Priesterweihe, die er gemeinsam mit anderen empfängt, liegt ein Entschluss zugrunde – die Bereitschaft, eine Kraft auszubilden, etwas zu tragen, das über das Vermögen eines einzelnen Menschen hinausgeht und das für alle Menschen da ist. | |||
Der Kultus hat seine Bedeutung jedoch nicht nur für den einzelnen Menschen oder für Menschengemeinschaften, sondern er wird in der christlichen Tradition vom Priester auch im Stillen zelebriert, wenn die Gemeinde nicht zugegen ist. Er kann auch nur für die Erde als Ort der Menschheitsentwicklung und für ihre Aufgabe im Weltganzen gefeiert werden und für die Verstorbenen und alle Menschen, die man gedanklich mit einbezieht. Wann immer der Kultus gefeiert wird, ob in Anwesenheit der Gemeinde oder im Stillen, er wirkt sich in der gleichen Realität aus, in der sich Gedanken, Gefühle und Handlungen in der Welt immer auswirken. | |||
=== ''Verwandlung durch Weihehandlung und religiöse Übung'' === | |||
''Inwiefern wirkt sich die Weihehandlung auf das religiöse Üben aus?'' | |||
Es gibt Menschen, die so tief berührt sind vom Geschehen der Weihehandlung, dass sie nichts anderes für ihre Entwicklung brauchen. | |||
Andere bemerken trotz intensiven Erlebens der Weihehandlung, dass sich wenig bei ihnen verändert. Dass sie immer wieder die gleichen Fehler machen, an ähnliche Hindernisse stoßen oder bei sich selbst wiederholt destruktive Gedanken und Gefühle bemerken, die sie gerne verwandeln möchten, die sich aber durch die bloße Teilnahme an der Weihehandlung nicht genügend verwandeln lassen. In dem Fall ist es hilfreich, zusätzliche Übungen und Methoden der Selbsterziehung anzuwenden. Das Großartige dabei ist, dass solche Bemühungen die Aufnahme- und Teilnahmefähigkeit an der Menschenweihehandlung in einer Weise verstärken, wie man das vorher nicht für möglich gehalten hätte. | |||
Welche Übungen für die Selbstschulung am geeignetsten sind, kann man herausfinden, indem man mit dieser Frage im Herzen beispielsweise das Schulungsbuch Rudolf Steiners ''„Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“'''[1]''''' liest. Man wird beim Lesen deutlich bemerken, welche Sätze oder Aufgabenstellungen für einen selbst von besonderer Wichtigkeit sind. Entscheidend ist, dass man mit wenig anfängt und sich nie mehr vornimmt, als man dann auch für die Zeit durchhalten kann, die man sich vorgenommen hat. Dabei kann es hilfreich sein, sich mit Menschen des Vertrauens über den eigenen Übungsweg zu unterhalten oder dies zum Gesprächsthema in vertrauten Arbeitskreisen innerhalb der Gemeinde zu machen oder aber auch sich persönlich damit an den Priester der Gemeinde zu wenden. | |||
=== ''Wirkung kultischen Geschehens auf Kinder'' === | |||
Haben Kinder das Glück, regelmäßig am Gottesdienst für Kinder in kultischer Form teilzunehmen, nehmen sie durch Gedanke, Wort und Handlung zunächst unbewusst, später jedoch immer bewusster, eine Beziehung zu Gott auf. Durch diese Beziehung, die sich gedanklich als Ideal fassen lässt, aber auch Gefühl und Willen ergreifen kann, nehmen sie die Erfahrung mit ins Leben, dass sie innerlich nie allein sind: Gedanken, Gefühle und Impulse des guten Willens gehen mit ihnen, die in jedem Lebensaugenblick in Erinnerung gerufen und befragt werden können. Das Kind wird auch später nie „von allen guten Geistern verlassen“ sein, weil ihm in bestimmten Augenblicken seines Lebens, in denen Zweifel oder auch Verzweiflung drohen, bestimmte Worte und Gedanken aus dem Gottesdienst „einfallen" werden und der Sache eine Wende zum Guten geben können, die sie abwarten, Geduld haben und nicht verzweifeln lassen. | |||
=== ''Das Ich im Ich'' === | |||
Durch die regelmäßige Teilnahme am Kultus bildet sich etwas im heranwachsenden Menschen, das wie eine zweite, höhere, gütige, milde Ich-Anwesenheit ist – wie ein Ich im Ich, ein größeres, umfassenderes Ich im Alltags-Ich. Von dieser höheren Instanz, die sich auch wie eine Gewissensstimme äußern kann, wird der Mensch begleitet und beraten. Es werden ihm Gedanken und Gefühle vermittelt, die anregen, etwas loszulassen oder auch zu ergreifen, und die dem Leben Sicherheit und Orientierung geben. Auch wenn man später über Jahre hinweg nicht dazu kommt, am Kultus teilzunehmen, geht diese Kraft, die aufgebaut wurde, nicht verloren. | |||
''Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?,'' GA 10. | |||
== DAS GEHEIMNIS VON VERDAUUNG UND TRANSSUBSTANTIATION == | |||
''Was ist das tiefe Geheimnis von Verdauung?'' | |||
''In welcher Verbindung steht der Verdauungsvorgang zur Transsubstantiation?'' | |||
=== ''Verwandlung durch Hingabe'' === | |||
Wer auf den Zusammenhang zwischen religiöser Hingabe, Willen und Stoffwechseltätigkeit aufmerksam geworden ist, hat damit den Schlüssel in der Hand zum Verständnis körperlicher, seelischer und geistiger Verwandlung. | |||
Wenn wir die Nahrungsaufnahme betrachten, ist es ganz offensichtlich, dass sich alle drei Naturreiche dem Menschen hingeben: | |||
* '''das Mineralreich''' in den ''Salzen und Spurenelementen'' wie Kupfer und Magnesium, | |||
* '''das Pflanzenreich''' in der ganzen Vielfalt von ''Obst, Getreide und Gemüse'', | |||
* '''das Tierreich''' in dem ''Fleisch, den Eiern und Milchprodukten'', die wir verzehren. | |||
So wie das Mineral die Lebensgrundlage der Pflanze ist und die Pflanze die des Tieres, so sind alle drei durch ihre Hingabe die Lebensgrundlage des Menschen. | |||
''Was aber ist diese Hingabe ihrem Wesen nach?'' | |||
Vollendete Religion! | |||
=== ''Natur wird Mensch'' === | |||
''Und was geschieht mit den Naturwesen, die sich als Mineral, Pflanze und Tier dem Menschen opfern?'' | |||
Sie werden in menschliche Substanz verwandelt, werden Mensch. Unbewusst lebt in der Natur eine tiefe Sehnsucht nach dem Menschen und dem Menschlichen und so ist alles darauf eingerichtet, dass der Mensch werden kann: dass er durch die Natur ernährt wird, dass er sie aber im Ernährt-Werden auch mitnimmt in das selbstbewusste menschliche Erleben. Der menschliche Stoffwechsel leistet unausgesetzt diese Verwandlungsarbeit. | |||
''Welche Sehnsucht lebt unbewusst, halbbewusst oder vollbewusst im Menschen?'' | |||
Goethe hat sie in wunderbarer Weise zum Ausdruck gebracht, als er sich im hohen Alter nochmals in inniger Liebe einem jungen Mädchen zuwandte und dann in der Marienbader Elegie folgenden Vers schrieb: | |||
''In unsers Busens Reine wohnt ein Streben,'' | |||
''Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten'' | |||
''Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,'' | |||
''Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;'' | |||
''Wir heißen's: fromm sein! - Solcher sel'gen Höhe'' | |||
''Fühl' ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.'' | |||
=== ''Hingabe an das höhere Reich der Gedankensphäre'' === | |||
Auch der Mensch möchte immer mehr Mensch werden: Er erlebt nur zu deutlich, wie viel ihm dazu noch fehlt. Um sich zur vollen Menschlichkeit hin entwickeln zu können, braucht der Mensch die Fähigkeit, die Mineral, Pflanze und Tier haben, wenn sie sich an das nächsthöhere Naturreich, und damit dem Menschen, hingeben: Er braucht die Fähigkeit der Hingabe an ein höheres „Reich", dem er sich „opfern" kann. | |||
Dieses höhere Reich erscheint jedoch nicht mehr in sinnlich sichtbarer Form als Naturreich, denn die Natur hat im Menschen ihren Abschluss, ihre Krönung gefunden. Dieses höhere Reich tritt in der Gedankensphäre in Erscheinung in Form von unsichtbaren, aber dafür denkbaren idealen Realitäten. Im Denken können wir die Ziele unserer Entwicklung, unserer Zukunft, erfassen. Wir können uns denkend daran orientieren und uns ihnen begeistert hingeben. | |||
Die religiösen Vorstellungen aller Religionen sind erfüllt von Bildern der Vollkommenheit, von Zukunftsperspektiven, Wandlungsmotiven und moralischen Werten. Auch das Motiv vom Opfer, das gebracht werden muss, wenn die Verwandlung in eine geistergebene, höhere menschliche Natur gelingen soll, ist immer von zentraler Bedeutung. | |||
=== ''Verdauung ist Transsubstantiation'' === | |||
Wie oben ausgeführt ist der im Leib sich vollziehende Verdauungsprozess bereits ein Transsubstantiationsprozess. Denn die aufgenommene Nahrung wird verflüssigt, in den ganzen Organismus aufgenommen und schließlich im Stoffwechsel-Verbrennungsprozess in Wärme verwandelt. Wärme ist aber bereits die Brücke zwischen dem Physischen und dem Geistigen. Physische Wärme ist schon nichts Stoffliches mehr, kann jedoch noch mit dem Thermometer gemessen werden. Wir kennen Wärme aber auch als rein seelische und geistige Wärme, als Begeisterung. Durch die Verdauung wird also die Substanz Träger der menschlichen Seelen- und Geisteswärme. | |||
Rudolf Steiner beschreibt den Zusammenhang der Wesensglieder mit den Elementen folgendermaßen: | |||
* Das '''Ich''', bzw. die Ich-Organisation mit ihren Gesetzen, ''korreliert mit der Wärme'', | |||
* der '''Astralleib''' mit den ''Luftprozessen des Organismus'', | |||
* der '''ätherische Leib''' ''mit den Flüssigkeiten'' | |||
* und der '''physische Leib''' ''mit den festen Substanzen''.[1] | |||
So gesehen vollzieht sich geistige Kommunion in jedem Menschen, wenn sich Substanz verwandelt und so dem menschlichen Ich dient. | |||
Rudolf Steiner sagt in ''„Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“'': ''„Das Wahrnehmen der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen."'' [2] | |||
=== ''Transsubstantiation innerhalb des Gottesdienstes'' === | |||
''Was vollzieht sich während der Transsubstantiation und Kommunion innerhalb des Gottesdienstes wie z.B. der Menschenweihehandlung?'' | |||
Dieser Prozess der Transsubstantiation wird im Geschehen am Altar allgemeinmenschlich-objektiv vollzogen und sichtbar und hörbar gemacht, indem Brot und Wein als Träger geistiger Wirkungen mit bestimmten Gedanken, Gefühlen und Handlungsimpulsen durchdrungen werden. Am Altar wird letztlich sichtbar gemacht, was das wahre Wesen der Verdauung ist: die Vergeistigung der Substanz zum Träger heiligster Gedanken, Gefühle und Taten. | |||
Nimmt der Mensch diese so vergeistigte Substanz durch die Kommunion in sich auf, bedeutet das eine Stärkung seiner eigenen Verwandlungsfähigkeit und seiner Verbundenheit mit dem Ziel menschlicher Entwicklung. | |||
''Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
----[1] z.B. Rudolf Steiner, ''Geisteswissenschaft und Medizin'', GA 312. | |||
[2] Rudolf Steiner, ''Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung''. GA 2. | |||
== BEDEUTUNG DER JAHRESFESTE == | |||
''Welche Bedeutung haben die Jahresfeste für Kinder und Erwachsene?'' | |||
=== ''Idealen sichtbaren Ausdruck verleihen'' === | |||
Jedem Jahresfest[1] liegen bestimmte Ideale zugrunde, denen man durch das Feiern sichtbaren Ausdruck verleihen kann. Da Kinder zunächst ganz und gar darauf angewiesen sind, das Geistige in sinnlich-sichtbarer Form zu erleben, und sie sich selbst ja auch leiblich-religiös – also sinnlich-sichtbar-religiös – verhalten, ist es wichtig, auf das Äußere großen Wert zu legen: | |||
* Ein ganz besonders sauber, schön und festlich gedeckter Tisch, | |||
* eine Ecke im Zimmer, die jahreszeitlich geschmückt wird, | |||
* oder als Familie gemeinsam bestimmte Naturerfahrungen zu machen – all das gehört zur Gestaltung der Jahresfeste. | |||
=== ''Jahresfeste und Sakramente'' === | |||
Wer den Aufbau des christlichen Kultus kennt – Verkündigung (Evangelienlesung) – Opferung – Wandlung – Kommunion – kann unschwer erkennen, dass diese Qualitäten jeweils einem der christlichen Jahresfeste seine Bedeutung geben: | |||
# '''Zur Adventszeit''' gehört die ''Verkündigung der Ankunft der Christuswesenheit'' auf der Erde, und '''Weihnachten''' bringt die frohe Botschaft seiner Geburt. | |||
# '''An Ostern''' vollzieht sich das ''Mysterium der Hingabe und der Opferung des Christus'' für die Menschheit. | |||
# '''Johanni''' ist das ''Fest der Gewissenserforschung, der Läuterung und Reinigung'', woran der beliebte Brauch des Sonnwendfeuers erinnert: Durch das Verbrennen des Niedrigen kann das Höhere im lodernden Feuer als etwas in Wärme und Licht Verwandeltes sichtbar werden. | |||
# '''Das Michaelsfest''' hingegen ist nicht nur ein Erntedankfest oder ein Fest des Mutes, weil hier der Drachenbesieger gefeiert wird, sondern es ist ''das hohe Fest der Gotteserkenntnis''. Michaels Blick schaut nicht den Drachen an, den er unter seine Füße zwingt, sondern die Christuswesenheit, der er dient. Sein Name bedeutet aus dem Hebräischen übersetzt: Wer ist wie Gott? (mi-ha-el, wobei mi das Fragewort ist und el die Abkürzung für Elohim/Gott). Diese Frage richtet sich an den Menschen. Schon im Alten Testament wird dieser Erzengel in besonderer Weise verehrt. Auch in der Apokalypse des Johannes tritt er an zentraler Stelle in Erscheinung. Michael will der Führer sein zur wahren Gotteserkenntnis und damit zur geistigen Kommunion. | |||
''Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997'' | |||
----[1] Brigitte Barz, ''Das Feiern der Jahresfeste mit Kindern'', 6. Aufl. Stuttgart 1996. | |||
== WIE WIR VERGEBEN UNSERN SCHULDIGERN == | |||
''Warum gibt es im Vaterunser die Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“?'' | |||
=== ''Bitte um Stärkung der Vaterkraft'' === | |||
Hinter dieser Bitte steht das Anliegen des Christus, die Vaterkraft, aus der wir stammen, in uns so stark zu machen, dass wir nicht in Versuchung geraten, Angst zu haben und das Böse zu tun. Gebet bedeutet ja, dass man etwas hereinbittet in die Seele, was noch nicht da ist. Dieser esoterische, überkonfessionelle Entwicklungsweg, das Ich bzw. den Geist im Menschen stärken zu wollen, ist mit jeder Religion kompatibel. Denn in jeder Religion wird gebetet, um etwas Höheres in die Seele hereinzurufen. | |||
Ich habe mich im Zusammenhang mit dem Vaterunser angesichts der vielen dort geäußerten Bitten oft gefragt, was wir Menschen im Gegenzug denn zu tun bereit sind. Diese Bitten klingen, als wollten wir nur „konsumieren“: Der Vater soll uns alles geben – vom Brot bis zur Erlösung... | |||
=== ''Unser notwendiges Versprechen im Vaterunser'' === | |||
An ''einer'' Stelle jedoch versprechen wir etwas, was mir von immenser Bedeutung erscheint. Denn die Worte – ''„…wie wir vergeben unseren Schuldigern“'' – sind das Tor, durch das der Vater erst Hilfe schicken kann: Indem wir all denen, die uns etwas schulden, die uns ärgern, die uns beleidigen, die uns etwas Gutes tun müssten, vergeben und im Gegenzug nichts von ihnen erwarten, entwickeln wir ein eigenständiges Verhältnis zum Bösen und fangen an, SEINE Mission auf der Erde zu verstehen. Dann beginnen wir auch zu verstehen, warum der Christus auf Erden litt: Er wollte das Böse aus tiefstem Gerechtigkeitsempfinden heraus am eigenen Leib erleben, weil er es seinen Geschöpfen, den Menschen, zugemutet hat. Er hätte uns auf Erden auch auf andere Art das Ich verleihen können, ohne selbst durch Folter und Martyrium gehen zu müssen. | |||
Er hat diesen Weg jedoch freiwillig gewählt, um den bitteren Kelch, den wir alle mehr oder weniger trinken, vollbewusst selbst zu kosten – und er leerte ihn, indem er am Kreuz bat: ''„Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“'' Christus gewährte dadurch totale Vergebung, wissend, dass kein Mensch vollbewusst Böses tut. Menschen tun Böses nur aus ihrem Erdenbewusstsein heraus mit allem, was ihnen zur Verfügung steht, weil sie von der göttlichen Welt abgeschnitten sind. Das sollten wir verstehen, weil wir alle selbst auch an der Überwindung unseres Abgeschnitten-Seins arbeiten – was uns alle zu Brüdern und Schwestern macht. | |||
''Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“,'' Vortrag auf der Schulärztetagung 2013 |
Aktuelle Version vom 8. April 2025, 16:06 Uhr
Religion – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
ZUKÜNFTIGE AUFGABEN DER RELIGION
Was kann und soll Religion dem heutigen Menschen geben?
Was macht heute einen richtigen Christen aus?
Bisherige Aufgaben von Religionsgemeinschaften
In dem Ausmaß, in dem sich Menschen individualisieren, fallen sie aus überlieferten Wertekomplexen und -gemeinschaften heraus. Da stellt sich dann die Frage, was an die Stelle des Überlieferten tritt. Vielfach ist es eine Religionszugehörigkeit, vor allem in christlichen, buddhistischen oder muslimischen Zusammenhängen, weil das Religionen sind, die ein volks- und familienübergreifendes Selbstverständnis haben. Die jüdische und die hinduistische Religion sind stark national begründet. Bei ihnen gelten noch Wertesysteme, die die Familien und Völker zusammenhalten. Wohingegen die christliche Religion, die buddhistischen Strömungen und auch der Islam übergreifende globale Weltbewegungen sind. Sie bieten religiöse Wege, vor allem in Form von Übungen und Gebeten, im Rahmen einer Geistgemeinschaft an.
Die meisten Menschen halten die Isolation, die die Individualisierung mit sich bringt, noch gar nicht aus. Sie brauchen eine physische und/oder geistige Familie. Christliche, buddhistische und muslimische Religionen haben sehr viel für die Menschen getan, indem sie einen Übergang schufen zwischen der Zugehörigkeit zu den Volks- und Naturreligionen und dem Beschreiten eines individuellen Weges. Sie stehen in der Mitte zwischen diesen beiden Entwicklungspolen.
Traditionelle große Religionen auf dem Prüfstand
Es ist interessant, dass vor allem junge Leute zunehmend Probleme haben mit den traditionellen großen Religionen. Dazu ein Beispiel: Ich wurde im September letzten Jahres zu einem Oberstufenprojekt eingeladen. Die ganze Oberstufe einer Schule machte eine Projektwoche zum Thema „Weltreligionen“, bei der Vertreter der großen Strömungen an einen runden Tisch gebeten worden waren. Es war ganz einfach, einen buddhistischen Tempelchef zu finden, einen jüdischen Rabbi, einem Moslem, der von der Genfer Synagoge kam, das war alles überhaupt kein Problem. Die Frage, wen sie stellvertretend fürs Christentum einladen sollten, stellte die jungen Leute jedoch vor ein großes Problem:
Sollten sie die Katholiken einladen?
Sollten sie die Protestanten einladen?
Sollten sie die Christengemeinschaft einladen?
Oder die Mormonen?
Die Baptisten?
Oder einen russisch-orthodoxen Priester?
Vor allem aber – was macht einen „richtigen Christen“ aus?
Darüber konnten sie sich nicht einigen, obwohl fast alle Schüler Christen waren. Daraufhin entschieden sie sich mich einzuladen, weil ich keine der offiziellen Gruppierungen des Christentums vertrete.
Wunsch nach einer globalen christlichen Ausrichtung
Im Laufe der Gespräche stellte sich heraus, dass gerade junge Christen keiner der genannten Konfessionen mehr angehören wollen. Sie suchen eine globale Religion, eine Religion, die sie nicht „in eine Schublade steckt“. Sie wollen sich nicht mehr binden (lassen). Daran wurde mir klar, wie weit die Individualisierung heute schon fortgeschritten ist: Die meisten jungen Leute suchen in einer religiösen Gemeinschaft keine Sicherheit mehr, sondern die spirituelle Ebene der Religion. Sie wollen sich mehr mit einer Gruppe verbinden, sondern mit dem Menschheitsganzen. Sie wünschen sich, einer allgemeinen christlichen spirituellen Ausrichtung anzugehören, wollen aber auch gerne Katholik, Protestant oder, was auch immer, bleiben.
Die Kirchen werden in 500 Jahren in ihrer Entwicklung nicht mehr dort stehen, wo sie sich heute befinden. Entweder es gibt dann keine Kirchen mehr oder sie haben gelernt, den Menschen als Individuum auf seinem Weg zu unterstützen. Die Kirchen haben die große Aufgabe, sich heutigen und zukünftigen Anforderungen anzupassen und so wieder ein geistiges Zuhause zu werden für Individuen. In Bereichen, in denen die heutigen Menschen ihre Freiheit noch nicht aushalten, sollten sie in der Lage sein im herkömmlichen Sinne Orientierung zu bieten. Doch in Bereichen, in denen Menschen bereits mündig sind, sollten die Kirchen ihnen Partner sein beim Suchen und Finden ihres individuellen Weges.
Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010
ENTSTEHUNG UND VERWANDLUNG DES WORTES RELIGION
Was ist heutzutage die Aufgabe der Religion?
Interpretationen des Wortes Religion im Laufe der Geschichte
Das Wort Religion hat sich im Zusammenhang mit dem christlichen Kulturkreis eingebürgert. Religion (vom Lateinischen: religio) ist seit der römischen Antike bekannt und hat seither sehr unterschiedliche Interpretationen erfahren.[1]
- So stand es in der Antike für die genaue Erfüllung von Pflichten.
- Bei Cicero wird es für das „gewissenhafte Bedenken und Beachten dessen, was die Götter wollen" verwendet.
- Im 4. Jh. n. Chr. benützte es Laktanz zur Beschreibung der Fessel der Frömmigkeit, durch die wir Gott verpflichtet und verbunden (religati) sind.
- So wird es dann auch von Augustin verwendet, indem er sagt: „Streben wir zu dem einen Gott und bemühen uns, ihm allein ... unsere Seelen zu verbinden (religantes animas nostras)." In seiner Schrift „De vera religione“ verwendet er das Wort religio auch für die Eröffnung des Weges, auf dem Gott verehrt und in reinster Frömmigkeit als Grund aller Wesen erkannt wird. Damit ist für ihn religio auch eins mit der Philosophie als dem Streben nach Weisheit. Das Wort Religion steht auch für Kultus und sittliche Lebensbewältigung.
- Im Mittelalter heißt religio vor allem „Orden" im Sinne der Ordnung des religiösen Lebens der Mönche.
- Thomas von Aquin fügt in seiner theologischen Summa noch hinzu: „Ad religionem proprie pertinet sacrificium deo offere" (zum Ordensleben gehört es, Gott Opfer darzubringen).
- Bei Luther lesen wir: „An Christus glauben und von Liebe gegen die Armen angeregt zu werden, das ist unsere christliche Religion. Wenn das Kreuz hinzukommt, so ist es die absolute christliche Religion."
- Mit Beginn der Neuzeit wird zunehmend die Vereinbarkeit von Glauben und Wissen in Frage gestellt. Umso stärker wird die Erfüllung moralisch-sittlicher Pflichten in den Vordergrund gerückt und als die Aufgabe der Religion angesehen.
- Zur Zeit der Aufklärung wird der Religionsbegriff auf die Verbindung von Vernunft und Moral gestützt, wobei der Name Lessing hier genannt sein möge für die Bedeutung einer umfassenden Toleranz, die der Religionsbegriff beinhalten muss, der Menschenverständnis fördern und für die Menschheit als Ganzes gelten soll.[2]
- Für Herder ist Religion „überall zum Rat, Trost, Unterricht und, wenn ich sagen darf, zur äußersten Notwehr der Menschen erschaffen. Denn sie war's allein, die den armen, schwachen Sterblichen über das Unsichtbare, Allmächtige, Allwirkende, ja über das Zukünftige sogar in seiner dunkelsten Form belehren, trösten und ruhig machen wollte."
- Erst bei Schiller taucht das Freiheitsmotiv in Bezug auf die Religion auf. Im Gegensatz zu Kant, für den Religion aufgrund strenger Gesetze („das moralische Gesetz in mir“) moralische Pflichterfüllung ist, betont er, dass die Religion der Weg zur Menschwerdung sei, den der Mensch jedoch nicht dem Pflichtgebot folgend beschreitet, sondern aus einer freien, inneren Neigung heraus.
- Novalis greift das Freiheitsmotiv dergestalt auf, dass Religion zur Grundlage seines Wissenschaftsverständnisses wird und Moral, ethische Poesie, Kritik und Historie umfasst und mit allen anderen Wissenschaftszweigen in unmittelbarer Beziehung steht.
- Ludwig Feuerbach reduziert dann Religion auf das Verhalten des Menschen zu sich selbst im Sinne eines Weges zur Selbsterkenntnis.
- Karl Marx hingegen sieht Religion nur noch als Macht- und Manipulationsmittel für die Unmündigen an. Religion ist für ihn dem Selbstverständnis des Menschen geschuldet, „der sich entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat".
- Diese Beispiele zeigen, in wie starkem Maß der jeweilige Religionsbegriff den Wandel der Bewusstseinsgeschichte des Menschen abbildet. Er führt von der Gotteserkenntnis zur Menschenerkenntnis, von der Erfüllung göttlicher Gebote und Gesetze zu dem Bestreben, sich von der Abhängigkeit von Gott zu lösen, um Freiheit zu üben und sich ausschließlich auf die Kräfte der eigenen Persönlichkeit berufen zu können.
Lehre, religiöse Übung und Kultus
Das religiöse Leben gliedert sich in die drei Bereiche: Lehre, religiöse Übung sowie Teilnahme am Kultus und Empfang der Sakramente.
Bei der Lehre geht es darum, das Verhältnis von Mensch, Welt und Gott gemäß Lebensalter und Situation darzustellen, d.h. das Sinnlich-Materielle und die Welt der Gedanken und des Geistes in ihrem Verhältnis zueinander so zu schildern, dass das Kind, der Jugendliche und der erwachsene Mensch erleben, dass ihre eigene innere (seelisch-geistige) und äußere (sinnlich-sichtbare) Natur dem entsprechen. Denn im Menschen durchdringen sich die geistige und die sinnliche Welt. Die reine Beobachtung sinnlich wahrnehmbarer Naturerscheinungen und die Gedanken, die sich Menschen darüber machen, klaffen dagegen weit auseinander.
So hat jedes Religionsbekenntnis seine eigenen Wege zum Verständnis des Geistes in der Welt durch die davon kündende Lehre, die zwar den Zugang zur Religion eröffnet, jedoch nicht das eigentlich Religiöse ist. Das eigentlich Religiöse beginnt mit der Übung, mit dem, was von der Lehre in die Tat umgesetzt wird.
Grundlegendes zum heutigen Religionsbegriff
Im 20. Jahrhundert, infolge der mit den beiden Weltkriegen verbundenen Ereignisse und der damit verbundenen Globalisierung, haben sich öffentlich und privat zwei Maximen durchgesetzt:
- Die Akzeptanz, dass jeder Mensch auf religiösem Gebiet frei sein muss, seinem Gewissen zu folgen.
- Die in der Menschenrechtsdeklaration der UNO (1948) und in den Grundgesetzen vieler Staaten zum Ausdruck gebrachte religiöse Toleranz, dass jeder nicht nur im Stillen seine Religion wählen darf, sondern auch das Recht hat, seine religiöse Überzeugung in Gemeinschaft mit anderen in der Öffentlichkeit, also durch „Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten“ zu bekunden.
Dabei stehen den etwa 1,5 Milliarden Christen etwa 1,2 Milliarden Atheisten gegenüber. Muslime sind in der Weltbevölkerung mit einer knappen Milliarde vertreten, Hindus mit etwa 700 Millionen und Buddhisten mit weniger als 500 Millionen. Alle anderen großen Religionen haben Gemeinschaften zwischen wenigen Millionen (z.B. Konfuzianer) und 200 Millionen (Taoisten). Im Sinne der drei genannten Elemente gehört jedoch der Atheismus ebenfalls zu den Religionen. Er leugnet zwar aktiv eine göttliche Offenbarung, setzt aber an deren Stelle den neuesten Stand der Wissenschaft und stellt damit auch die Wahrheits- und Machtfrage, die Kern jeder Religion ist.
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
[1] Die folgenden Zitate sind entnommen aus: Karlfried Gründer; Joachim Ritter (HG), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt 1971-2007, Bd. 8.
[2] G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: Ges. Werke. Berlin, Weimar 1975.
DAS LEIBLICH-RELIGIÖSE VERHALTEN DES KINDES
Was ist unter leiblich-religiösem Verhalten zu verstehen?
Kinder haben Religion
Goethe hat das berühmte Wort geprägt: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion." Wer wirklich wissend ist und ein künstlerisches Empfinden hat, der findet auch wie selbstverständlich Zugang zum Religiösen.
Kinder sind in dem Sinne weder Wissenschaftler noch Künstler – für sie gilt die Fortsetzung des Goethewortes: „Wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion." Nur muss es beim Kind heißen: Es hat Religion. Dass das so ist, zeigen Kinder von Anfang an in ihrem ganzen Verhalten.
Im ersten Lebensjahr stehen das Gehenlernen und die Anpassung des Stoffwechsels an die Nahrung im Vordergrund – ausgehend von der am besten verträglichen Muttermilch über viele Zwischenstufen bis hin zur normalen Ernährung. Doch auch beim Sprechenlernen im zweiten Lebensjahr und dem mit dem bewussten „Ich"-Sagen beginnenden Denkenlernen bis in die ersten Schuljahre hinein ist offensichtlich, dass die Stoffwechsel-Gliedmaßen-Tätigkeit im Zentrum der körperlichen Reifung steht.
Kinder unter drei Jahren sind reine Willenswesen: Sie stecken alles in den Mund, was sie in die Finger bekommen, schlafen viel, auch noch während des Tages, und sind, wenn man sie lässt, am liebsten in Bewegung. Sie ahmen nach, was sie in ihrer Umgebung wahrnehmen und versuchen auch alles um sich her in Bewegung zu bringen: Sie ziehen an Tischdecken, drehen an Knöpfen und würden liebend gerne noch vieles machen, was den Erwachsenen gar nicht passt. Die Freude, etwas in den Mund zu stecken, etwas anfassen und untersuchen zu dürfen, sich auf etwas zuzubewegen, zeugt von einem tief eingeborenen „religiösen" Verhältnis zu ihrer Umgebung und steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems und dadurch auch mit der Willensentwicklung. Rudolf Steiner sagt, das Kind verhält sich im Vorschulalter leiblich-religiös.
Religiosität in vollendeter Form
Um gehen, sprechen und denken lernen zu können, brauchen Kinder das Vorbild der Erwachsenen. Ein Kind ahmt oft so tiefgreifend nach, dass es sogar zu hinken beginnt, wenn der geliebte Großvater hinkt. Nur im Kindesalter können wir eine solch vollständige Hingabe an die Umgebung, an die Nahrung, an das Spiel beobachten. Was der Erwachsene später seelisch-geistig an religiöser Hingabe aufzubringen versucht, indem er sich bemüht, sich nach bestimmten Grundsätzen für die Lebensgestaltung zu richten, quasi als Nachahmen des göttlichen Willens, hat nicht annähernd diese Intensität. Religiosität in dieser vollendeten Form können wir also nur auf der leiblichen Ebene an Kindern beobachten.
Man kann sogar sagen: Wenn es kein Evangelium gäbe und vom Christentum nichts Schriftliches überliefert wäre, so könnte uns die Entwicklung der Kinder in den ersten drei Lebensjahren vollumfänglich lehren, was Menschwerdung im höchsten Sinne des Wortes bedeutet:
- Das Erste, worum sich der Mensch aus eigenem Antrieb bemüht, noch bevor er zu sich „ich" sagt, ist, auf die eigenen Füße zu kommen und die ersten Schritte zu wagen. Er lernt, „seinen eigenen Weg" zu gehen, seine Schritte selbst zu lenken.
- Dem folgt in einem zweiten großen Schritt der Spracherwerb. Das Kind ist in diesem zweiten Lebensjahr, in dem die Gedankentätigkeit noch unbewusst ist, nicht fähig zu lügen. Sprechenlernen bedeutet also immer, „nichts als die Wahrheit" zu sagen, unmittelbar die Beziehung zwischen sich und der Umwelt zum Ausdruck zu bringen.
- Mit dem Denkenlernen entwickelt sich auch die Erinnerungsfähigkeit. Damit eröffnet sich dem Kind die Möglichkeit, sich rein geistig zu betätigen und ein ganz persönliches „Leben" in seinem Denken zu führen. Leiblich-seelisch vollzieht das Kind, was Christus im Johannes-Evangelium von sich selber sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Lehen".[1]
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
[1] Neues Testament, Johannes 14, 6.
PFLEGE DES RELIGIÖSEN LEBENS IM KINDESALTER
Wie kann die Pflege des religiösen Lebens in der frühen Kindheit aussehen?
Was bedeutet sie für das Vorschulkind?
Elemente einer religiösen Lebensgestaltung
Die Kirchenväter und Gläubigen der alten Zeit haben noch instinktiv gewusst, dass das Bedürfnis nach dem Religiösen tief in der menschlichen Natur verankert ist und daher von Anfang an auch der Pflege bedarf.
Die Elemente einer religiösen Lebensgestaltung umfassen alles, wozu ein Vorschulkind von sich aus begabt ist:
- Es liebt Wiederholungen, und das ist gerade das Wesen religiöser Übungen: Gebete vor dem Essen und vor dem Schlafengehen z.B. werden regelmäßig wiederholt.
- Es liebt die Anwesenheit von Erwachsenen – und selten sind Eltern konzentrierter bei der Sache, als wenn sie mit ihrem Kind die Kerze vor einem Engelsbild anzünden, ein Dankeslied singen oder ein Schutzengelgebet sprechen.
- Kinder lieben Ruhe und Geborgenheit, in die sie immer wieder zurückkehren können, nachdem sie eine Zeit lang sich selber überlassen waren und alles Mögliche taten. Und es gibt keine schöneren Ruhemomente, als wenn Erwachsene gemütlich etwas erzählen oder vorlesen, was mit dem Leben, den Jahresfesten oder den zahllosen Wundern der Schöpfung zusammenhängt.
Urvertrauen durch Wesensbegegnung
In keinem Lebensalter gehen Erfahrungen so tief und graben sich so unauslöschlich in die leiblich-seelisch-geistige Konstitution ein wie im Vorschulalter. Kann ein Kind Andacht, Freude, Erwartung, Anteilnahme, Interesse aneinander und die Verehrung eines Höheren in diesem Alter erleben, erlebt es eine tiefgreifende Selbsterfahrung und Selbstbestätigung. Denn es ist voll vertrauensvoller Hingabe, wenn es auf die Welt kommt, und es erwartet, dass sein Vertrauen Bestätigung findet. Auf diese Weise kann sich das oft beschriebene „Urvertrauen" festigen.
Religiöses Üben kann schon unmittelbar nach der Geburt beginnen, wenn die Mutter sich über ihr eben geborenes Kind freut und es in die Arme schließt. Das ist die erste Wesensbegegnung auf der Erde, der Anfang einer starken Bindung zwischen zwei Menschen-Ichen. Diese Beziehung kann schon an der Wiege des Säuglings gepflegt werden, indem man morgens und abends ein Gebet spricht,[1] ein Lied singt und dabei die Stimmung der Verehrung und Dankbarkeit der göttlichen Welt gegenüber empfindet und zum Ausdruck bringt. Nicht Wissen und darüber Reden ist das Entscheidende am religiösen Leben, sondern das übende Tun, die Pflege der Wesensbeziehung zwischen Mensch und Gott.
Je früher und selbstverständlicher der Erwachsene die wichtigsten Elemente der religiösen Übung, das Erleben von Andacht und Ehrfurcht im Gebet, mit dem Kind vollzieht, umso freudiger und selbstverständlicher wird es damit umgehen – selbst wenn es die Worte des Gebetes noch lange nicht versteht. Es nimmt jedoch die Zuwendung des Erwachsenen und die besondere Qualität der Gefühls- und Gemütsstimmung in sich auf und fühlt sich in dieser Atmosphäre geborgen, sicher und in sich bestätigt. Menschen- und Gottesliebe sind nah verwandt: Wer die geistige Welt liebt, kann nicht anders als auch die Menschen als geistige Wesen mit zu lieben. Und wer lernt, die Menschen zu lieben, hat damit eine Brücke zum Verständnis der Gottesliebe bzw. der Liebe zur Welt des Geistes.
Rückschau auf den vergangenen Tag
Sobald die Sprachentwicklung der Kinder so weit ist, dass man sich mit ihnen unterhalten kann, gehört es zu den wichtigen Elementen der religiösen Übung, auf den vergangenen Tag zurückzublicken und sich zu fragen:
Was war besonders schön?
Wo war es schwierig?
Was konnten wir heute lernen?
Wie soll es morgen weitergehen?
Die Ereignisse des Tages nochmals anzuschauen und dann für die Nacht zur Ruhe zu bringen – das bringt den Menschen zu sich und damit auch der geistigen Welt näher.
Ist die Zeit der hingebungsvollen Nachahmungstätigkeit abgeklungen, ist eine derart tiefe Einprägung in die körperliche Konstitution nicht mehr möglich. Später ist es sehr schwer, dieses Defizit zu kompensieren und Existenzvertrauen und Daseinsfreude „zu lernen". Wenn religiöse Erziehung nicht bedeutet, Kindern „moralische Grundsätze" beizubringen, sondern wenn sie das gemeinsame Erleben der genannten religiösen Qualitäten wie Ruhe, Friede, Andacht, Ehrfurcht und Vertrauen ermöglicht, erleben die Kinder im späteren Leben inneren Halt und finden leichter zur inneren Ruhe. Selbst wenn der Jugendliche oder der Erwachsene sich noch zu keinem eigenen religiösen Weg entschlossen hat, trägt ihn die Erinnerung an die Erfahrungen der Kindheit und gibt ihm Kraft und Lebenssicherheit.
Hingabe als allgemeine religiöse Erfahrung
Dabei spielt es keine wesentliche Rolle, welches Bekenntnis der religiösen Erziehung zugrunde liegt. Denn die religiösen Werte und Stimmungen, auf die es in der Kindheit ankommt, finden sich in allen Religionsbekenntnissen wieder.
Welchem Glaubensbekenntnis man sich später zuwendet, sollte am Ende ernsthafter innerer Überlegungen und Auseinandersetzungen mit der Gottesfrage stehen. Man wird sich in jedem Fall dankbar an die kindlichen Erfahrungen religiöser Hingabe erinnern, denen die Erwachsenen mit schlichten Mitteln Raum gaben und so die kindliche Religiosität bestätigten.
Der Einwand, dass man Kinder nicht im Rahmen eines bestimmten Religionsbekenntnisses oder überhaupt zum Religiösen erziehen dürfe, da die Entscheidung für ein religiöses Leben jedem völlig frei überlassen bleiben müsse, kann von der Tatsache der vielen Kirchenaustritte in den letzten Jahrzehnten entkräftet werden: Sie zeigt auf, dass viele Menschen im späteren Leben sich von der religiösen Anschauung ihres Elternhauses verabschieden und geistig ihre eigenen Wege gehen.
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
[1] Vgl. Rudolf Steiner, Gebete für Mütter und Kinder, 7. Aufl. Dornach 1994;
Brigitte Barz, Mit Kindern beten, Stuttgart 1995.
RELIGIÖSE ERZIEHUNG ALS KONTAKTAUFNAHME ZUM HÖHEREN
Welche Rolle spielt die (Schul-)Kinderhandlung bei der religiösen Entwicklung des Kindes?
Wie gestaltet sich die Suche nach IHM in den drei Jahrsiebten?
„Ich will ihn suchen“ im Laufe der Entwicklung
Ich möchte hier ein paar Worte über die Bedeutung der Kinderhandlung für die religiöse Entwicklung des Kindes sagen. Eltern haben mir manchmal gesagt, dass sie die Worte der Kinderhandlung selbst nicht verstehen – warum also sollten sie ihr Kind dahin mitnehmen? Ich entgegnete immer: „Ihr Kind lernt doch gerade erst zu denken! Es wird dort einige sehr gute Gedanken aufnehmen und richtig schön gesprochene Worte hören. Vielleicht wird es nie mehr einen Erwachsenen so bewusst sprechen hören.“
Um genau diese Erfahrung des Hörens erhabener Worte geht es: Je öfter das Kind sie machen darf, umso tiefer wird in der gesamten Konfiguration des Nervensystems etwas wie eine Schale vorgeprägt, für die es später selbstbestimmt und selbstverantwortlich den Inhalt suchen kann. Wenn aber diese Schale gar nicht vorhanden ist, die Suchbewegung nicht veranlagt, dann weiß das Kind nicht, dass es überhaupt suchen soll.
· Im 1. Jahrsiebt – Christussuche über Gedanke und Wort
Durch religiöse Erziehung im 1. Jahrsiebt kommt die Verbindung über den Gedanken und das Wort zu dem wahren Ich zustande: „Ich will in suchen“, sagt das Kind und es hört Worte über ihn, den es suchen soll. Würde man allerdings fragen – Weißt Du, wen Du da suchen sollst? – hätte es keine Ahnung. Das Suchen muss im 1. Jahrsiebt im Denken veranlagt werden durch die gesprochenen und gehörten Worte – auch wenn sie noch gar nicht verstanden werden. Das gilt für jedes Gebet:
Was versteht ein Kind oder ein Pubertierender schon vom Vaterunser?
Deswegen ist es rührend, wenn man sagt, man verliert seinen Kinderglauben: Denn der kindliche Glauben ist ohnehin nicht sehr fest gegründet. Er besteht aus Worten, aus Stimmungen, aus Gefühlen für die man sich selbst noch kein echtes Verständnis erworben hat. Doch wäre dieser Kinderglaube nicht gewesen, wüsste man gar nicht, wie man suchen soll, hätte man keine Sehnsucht nach mehr.
· Im 2. Jahrsiebt – Christussuche über das Gefühl
Im 2. Jahrsiebt geschieht dasselbe in Bezug auf das Gefühl: Jetzt nimmt man das Christuswesen, das Liebeprinzip, ins Gefühl auf und beginnt, den Christus gefühlsmäßig zu suchen. Wenn man keine Menschen lieben kann im 2. Jahrsiebt, ist man abgeschnitten vom Höheren Ich, kann man das Christuswesen nicht fühlen in der Liebe zu anderen Menschen. Dennoch weiß man immer noch nicht viel über die Liebe. Man muss schon sehr erwachsen sein, um einigermaßen mit der Liebe klarzukommen.
· Im 3. Jahrsiebt – Christussuche über den Willen, das Tun
Im 3. Jahrsiebt wirkt sich der Wille auf die Christussuche aus. Man kann plötzlich sagen: Ich will mich auf diesen Weg begeben! Das geht in der Regel über einen bewusst gewählten meditativen Weg, über einen Schulungsweg oder über das bewusste Konvertieren zu einer anderen Religion, um herauszufinden, was geschieht, wenn man ein konsequentes religiöses Leben führt – und vice versa. Immer geht es um den dritten Schritt: Erst wenn der Wille im Denken aktiv wird, kann man selbst in Beziehung treten zu dem Höheren Selbst. Das ist eine echte Willensfrage.
Dafür ist aber eine Vorbereitung nötig. Die drei Schulhandlungen begleiten diesen Prozess in meisterlicher Weise.
Vgl. „Ängste im Jugendalter und ihre Überwindung“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013
RELIGIÖSES STREBEN UND MENSCHLICHER ORGANISMUS
Wie hängt religiöses Streben mit dem menschlichen Organismus zusammen?
Zu welchem Funktionsbereich des menschlichen Organismus steht die religiöse Betätigung in primärer Beziehung?
Religion und Denken, Fühlen und Wollen
Zweifellos hat das religiöse Streben mit Erkennen und Fühlen zu tun und damit auch mit dem Nerven-Sinnessystem und den rhythmischen Funktionen. Physiologisch gesehen ist es jedoch noch tiefer, direkter und unmittelbarer mit einem anderen Bereich verbunden als mit diesen bewusstseinsnahen Funktionen – mit dem dritten großen Organismus, dem Stoffwechsel-Gliedmaßensystem. Wir verdanken dem Tag und Nacht stattfindenden Stoffwechselgeschehen nicht nur die Nahrungsverarbeitung, den Auf- und Abbau unserer inneren Organe, das Erkranken- und auch wieder Gesunden-Können, sondern auch die Kraft für Bewegung.
- So wie das Denken in enger Beziehung zu den Nerven-Sinnes-Funktionen steht
- und das Fühlen mit den rhythmischen Funktionen korreliert,
- so ist das gesamte Willensleben vorrangig an die Stoffwechselaktivität gebunden.
Unsere Kraft und unser Willensvermögen sind von der Gesundheit des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems abhängig.[1]
Stoffwechsel, Religion und Wille
Mit diesem tiefgründigen System, das allen anderen Funktionen bei Auf- und Abbau dient und das am allerwenigsten in unser Bewusstsein tritt, mit dieser Region des Willens und der Kraftentfaltung, ist das religiöse Leben innig verbunden. Denn das Wesentlichste an der Religion ist, dass man sie ausübt, sie tut. So gesehen ist auch verständlich, warum das zentrale Mysterium der christlichen Religion die Transsubstantiation (Stoffverwandlung) am Altar bei der Kommunion, die Aufnahme von Brot und Wein in den menschlichen Stoffwechsel ist.
Diese Verbindung mit Stoffwechsel und Willensvermögen macht jedoch auch verständlich, warum es für viele Menschen heute so schwer ist, ein bewusstes, ehrliches Verhältnis zur Religion herzustellen – weil wir von unserem Willen so wenig wissen. Wenn wir etwas tun, so wissen wir davon nur, weil wir es auch bedenken, empfinden und anschauen können. Das Zustandekommen der eigentlichen Willenshandlung selbst entzieht sich vollständig unserem Bewusstsein. Aus direktem Erleben wissen wir nur wenig von den Stoffwechselvorgängen. Dagegen können wir unsere Herz- und Atmungstätigkeit und insbesondere unsere Sinnestätigkeit sehr stark erleben, wenn wir vom Stoffwechsel in diesen Organen absehen, der natürlich auch im Unbewussten verläuft.
Die Welt der Nacht im menschlichen Organismus
Das Stoffwechselsystem gehört der „Welt der Nacht“ im menschlichen Organismus an, der Welt des Unbewussten, an die wir mit unserem wachen, wissenschaftlichen Tagesbewusstsein gar nicht herankommen. Und so fühlt sich die Seele manchmal bis zum Zerreißen aufgespannt zwischen der hellen Welt des Tagesbewusstseins mit ihrer Klarheit und Wachheit und der Welt der Nacht, des Schlafes, der Geborgenheit.
Im Schlaf überfluten die Stoffwechselvorgänge den Organismus, und das bewusste Denken und Fühlen erlöschen, nur durchbrochen von Traumphasen, in denen etwas von den unbewussten Vorgängen des Leibes erahnt werden kann. Die gesunde Seele empfindet, wenn sie in den Schlaf geht, dass sie in eine Welt des Friedens, der Regeneration, der Hilfe und der Hoffnung kommt: Morgen sind wieder neue Kräfte vorhanden, morgen ist vielleicht alles ganz anders. Menschen, die nicht schlafen können, erleben sich wie hinausgeworfen aus dem Paradies, wie nicht mehr aufgenommen in diese Welt der Ruhe. Sie fühlen sich auf sich selbst zurückgeworfen, in die Einsamkeit ihrer täglichen Verrichtungen, in der sie für sich selbst stehen müssen.
Unbewusste nächtliche Hingabe an die anderen
Die Welt der Nacht ist auch die Welt der Gemeinschaft, des Hingegeben-sein-Dürfens, die Welt des Sozialen, in der mitgetragen und einem geholfen wird. Während des Tages haben wir alle unsere eigene Meinung. Während der Nacht hingegen interessieren wir uns auch für das, was die anderen denken – dann sind wir unbewusst an die anderen hingegeben.[2]
Rudolf Steiner berichtete wiederholt aus seiner Geistesforschung, dass wir während der Nacht, wenn wir uns mit unserem seelisch-geistigen Wesen außerhalb des Leibes befinden, vor allem die Nähe derjenigen Menschen suchen, mit denen wir Probleme haben oder denen wir feindlich gesinnt sind. Wir suchen nach etwas Gemeinsamen, nach etwas, das heilen und etwas Neues aufbauen helfen kann.
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
[1] Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln, GA 21.
[2] Vgl. Stefan Leber, Der Schlaf und seine Bedeutung, Stuttgart 1996.
RELIGION UND WILLE
Inwiefern ist besonders der Wille mit allem Religiösen verbunden?
Alles Religiöse ist eng verbunden mit Erziehung, Selbsterziehung und moralischer Entwicklung. Denn es geht in erster Linie um die Erweckung des menschlichen Willens im Umgang mit der Welt und anderen Menschen.
Der Weg vom Wissen zur Könnerschaft
Beim Erwerb von Fähigkeiten – egal, ob Leib, Seele oder Geist betreffend – müssen Widerstände überwunden werden, muss geübt und wiederholt werden. Oft meint das Denken, längst verstanden zu haben, worum es geht, und auch vom Gefühl her hat man keine Lust mehr weiterzumachen. Dann kann der Wille den entscheidenden Impuls zum Durchhalten geben, bis man eine Fähigkeit zu wirklichem Können entwickelt hat. Denn selbst wenn man ein Musikstück schon auswendig kann, heißt das noch lange nicht, dass man es auch schon so spielen kann, wie es dem Werk gebührt. Zwischen dem bloßen Wissen, wie etwas geht, bis zur wahren Könnerschaft liegt ein langer Weg.
Das trifft auch auf das Neue Testament zu: Was hier an reinem Wissen gelernt werden kann, ist gar nicht so viel, ist nicht das Entscheidende: Entscheidend ist, dass derjenige, der Zugang zu den Evangelien sucht, darauf achtet, wie mittels der dargestellten Inhalte (Gleichnisse, Bilder, Gespräche, Taten) an seinen Willen appelliert wird.
Selbst zu solchen Szenen und Gleichnissen, die dem intellektuellen Verständnis schwer zugänglich sind und die erst einer komplizierten Auslegung bedürfen – wie die Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana – haben der Wille und das ihm naheliegende, nicht vollwache, mehr träumende Gefühlsleben einen direkten Zugang: Der Leser kann empfinden, dass hier etwas in das soziale Geschehen bei der Hochzeit so eingreift, dass die versammelten Menschen sich gestärkt und erfrischt fühlen – es kommt zum unmittelbaren Erleben, dass Christus die Macht der Substanzverwandlung besitzt.
Appell der Friedfertigkeit an den Willen
Besonders eindrücklich sind jedoch Stellen wie die Aufforderungen im Matthäus-Evangelium, die sich direkt an den Willen wenden: „Wenn du deine Gabe zum Altar bringst und dich daran erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen, gehe zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, dann komm und bringe deine Gabe." [1]
Aufforderungen wie diese machen deutlich, dass man ein guter Mensch werden muss, wenn man mit vollem Bewusstsein die Welt des Unbewussten betreten will.
Die Handlungen am Altar sprechen von der unbewussten Welt des Willens. Wer Zwist und Streit Nacht für Nacht mit in den Schlaf nimmt, kann von der Welt des Sozialen, in der auch Gottes Boten, die Engel, wirken, nicht so aufgenommen werden wie ein Mensch, der Zwist und Streit beigelegt und sich so auf diese Welt vorbereitet hat.
Geheimnis des Willens – das Tun
Hier stoßen wir auf das Geheimnis des Willens: Wer nicht Frieden schließt, kann auch keinen Frieden erleben. Jedem geschieht in gerechter Weise nach seinem Wollen. Daher sind auch die meisten religiösen Anweisungen darauf ausgerichtet, uns zu helfen, den Tag so zu verbringen, dass wir nachts richtig schlafen und die Stoffwechselvorgänge sich in gesundender Weise vollziehen können.
Dementsprechend war in alten Zeiten die Religion auch für Medizin und Gesundheit zuständig. Ratschläge in Bezug auf die Lebensführung, die Hygiene, die richtigen Ernte- und Aussaatzeiten, gute Ernährungsgewohnheiten und vieles mehr gehörten in den Bereich des Tempels und seiner Priester und Lehrer. Andererseits hatte die Religion in den alten Zeiten auch eine ganz andere Beziehung zu Kunst und Wissenschaft, als dies heute der Fall ist:
- Das höchste Ideal der Wissenschaft war, zur Gotteserkenntnis und damit zur Erkenntnis des Guten im Sein, Handeln und Wollen aufzusteigen.
- Über die Kunst versuchte man, diesem Bestreben zu dienen und es in der Tempelarchitektur durch entsprechend gestaltete Räume und die Gestaltung der heiligen Gegenstände, Gefäße, Gerätschaften und Götterstandbilder für die Augen der Menschen sichtbar zu machen.
Religion ist eine Willensangelegenheit. Hier kommt es darauf an, das Gute und Schöne zu tun, auch wenn die Umstände dagegensprechen.
Positive Auseinandersetzung mit dem Schatten
Wer bewusst mit Idealen umgeht, weiß, wie wichtig es ist, sich auch mit dem Gegenteil der Ideale, dem Schattenwurf, den Hindernissen, positiv auseinanderzusetzen. Die Notwendigkeit, den guten Willen immer neu zu entfachen, ist letztlich das, worauf es in der religiösen Praxis ankommt – und genau das lieben Kinder: Denn sie selbst müssen auch noch vieles lernen und sind ständig mit dem Erlebnis ihres noch-nicht-Genügens und ihrer Unfähigkeit konfrontiert, so dass sie diesen guten Willen selbst ständig aufbringen müssen. Sie fühlen sich tief verstanden, wenn sie erleben, dass auch der Erwachsene Fehler macht, um sich und den anderen dann wieder eine Chance zu geben – dass er neu beginnt, um es besser zu machen: Religiöse Übung und Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins können sich so gegenseitig unterstützen.
Religiöse Erziehung bedeutet Willenserziehung: Jede wiederholt durchgeführte Willenshandlung stärkt den Willen, und je regelmäßiger das geschieht, umso größer wird die Kraft.
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
[1] Neues Testament, Matthäus 5, 23-24, zitiert nach Emil Bock.
DIE NOTWENDIGE TRENNUNG VON WISSENSCHAFT, KUNST UND RELIGION
Warum war es notwendig, dass Wissenschaft, Kunst und Religion sich trennten?
Heute sind Wissenschaft, Kunst und Religion im Wesentlichen voneinander getrennte Gebiete, sodass wir uns die Frage stellen müssen, wie es zu dieser Trennung kam, was sie bedeutet und wie sie wieder überwunden werden kann.
Notwendigkeit der Trennung
Denn so, wie im menschlichen Organismus Nerven-Sinnessystem, rhythmisches System und Stoffwechsel-Gliedmaßensystem zusammenwirken müssen, wenn der Mensch gesund bleiben will, so müssen auch die einzelnen Komponenten des geistig-kulturellen Lebens miteinander sinnvoll in Zusammenhang stehen. Das Auseinanderklaffen von Wissenschaft, Kunst und ethisch-moralischen Werten führt mit der Zeit zu unlösbaren sozialen Konflikten, die erst richtig bearbeitet werden können, wenn die drei Bereiche wieder miteinander in Beziehung treten.
Schon ein oberflächlicher Blick auf das antike Priesterkönigtum, bei dem Wissenschaft, Kunst und Religion eng miteinander verbunden waren und damit auch ganz und gar vom religiösen Leben bestimmt wurden, macht deutlich, warum diese Lebensform im Zuge der Menschheitsentwicklung ein Ende finden musste. Denn in dieser Welt, in der das höchste Erkenntnisziel die Gotteserkenntnis war und das höchste Ideal der Kunst darin bestand, dem religiösen Leben entsprechende Ausdrucksformen zu geben, konnte sich zwar eine hohe menschliche Kultur entwickeln, nicht jedoch der freie Wille des Einzelnen.
Und so standen sich in jenen alten Zeiten das unmündige Volk und wenige eingeweihte Herrscher gegenüber. Letztere hatten dank ihrer besonderen Erziehung und Schulung noch ein Bewusstsein von der Nachtseite des Daseins und konnten aus diesem Wissen heraus Impulse geben für Erziehung, Heilkunde und Kultur und damit für die Gestaltung des sozialen Lebens.
Entwicklung von Bewusstsein durch Trennung
Die Notwendigkeit der Trennung von Wissenschaft, Kunst und Religion liegt so gesehen auf der Hand: Um ein individuelles Bewusstsein entwickeln und den Umgang mit seiner persönlichen Freiheit üben zu können, muss der Mensch lernen, für sein Handeln, und damit auch für seine religiöse Entwicklung, selbst die Verantwortung zu übernehmen. Dafür mussten jedoch erst die Voraussetzungen geschaffen werden.
Und so vollzog sich mit Beginn der Neuzeit die Trennung von Glauben und Wissen, obwohl dies von den religiösen Instanzen selbst nie ernsthaft akzeptiert wurde, was sich darin zeigt, dass sie zum einen auch heute noch von „Offenbarungswissen“ sprechen und zum anderen Einfluss auf die moderne wissenschaftliche Entwicklung nehmen wollen.
Von wissenschaftlicher Seite her wird dieser Anspruch nicht ernst genommen. Hier hat sich die materialistische Naturwissenschaft durchgesetzt, die alles Spirituelle als spekulativ ablehnt. Das wissenschaftliche Bewusstsein unserer Zeit erkennt zwar, dass die Religionen wichtige Funktionen rund um die Sinngebung im Leben und die persönliche Charakterbildung erfüllen – ihr eigentlicher spiritueller Gehalt wird indessen nicht im wissenschaftlichen Sinne verstanden und damit auch nicht anerkannt.
Auch die Kunst wurde zu einem eigenständigen Bereich, der der wissenschaftlichen Erforschung wenig zugänglich ist.
So führen diese drei Gebiete heute ein relativ starkes Eigenleben, wobei der Bereich der Forschung und Wissenschaft absolut dominiert. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben allgemeine Gültigkeit. So ist auch das Wirtschaftsleben und mit ihm die materielle Grundlage der Menschen ganz von ihr abhängig geworden. Religion wird dagegen als reine Privatsache angesehen.
Die Wissenschaft hat sich in den letzten 200 Jahren als materialistische Wissenschaft ganz an die den Sinnen zugängliche Erfahrungswelt angeschlossen, an die reine Tagwelt. Das Wissen um die Nachtseite des Lebens ist aus dem wissenschaftlichen Denken verschwunden.
Die Wahrheit selbst erkennen lernen
So tragisch sie erscheinen mag, so liegt doch gerade diese Entwicklung ganz in Richtung der Prophezeiung aus dem Johannes-Evangelium: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen".[1] In diesen Worten liegt geradezu die Aufforderung an den einzelnen Menschen, zu lernen, sein Denken zunehmend zur Erkenntnis der Wahrheit zu gebrauchen bzw. es dahingehend zu entwickeln
Uns erscheint diese Möglichkeit heute als selbstverständlich. Immer mehr Länder haben die allgemeine Schulpflicht eingeführt und schaffen damit die Voraussetzung, dass jeder am wissenschaftlichen Denken unserer Zeit Anteil nehmen kann. Die Menschen in der vorchristlichen Zeit – und zu großen Teilen bis ins Mittelalter hinein – waren dazu noch nicht in der Lage. So hatte die johanneische Prophezeiung durch viele Jahrhunderte hindurch einen sehr modernen revolutionären Einschlag.
Damit ist aber auch eines deutlich: Der einzelne Mensch kann und konnte nur lernen, selbstständig seinen Erkenntnisweg zu gehen, weil die großen Menschheitsführer einer demokratischen Gesinnung gewichen sind, die sich gegen jede Form geistiger Bevormundung, sei es von Seiten des Staates, sei es von Seiten der Kirche, zur Wehr setzt. Diese geistige Emanzipation setzt jedoch die Fähigkeit zur selbstständigen Gestaltung des Berufs- und Alltagslebens voraus, die auf einem starken Selbstbewusstsein basiert und ausreichend persönliche Sicherheit gibt. So liegt die Entwicklung in Richtung Materialismus ganz im Zuge dieser christlich-johanneischen Prophezeiung: Nur mit Hilfe des wissenschaftlich-materialistischen Denkens und der reinen Alltagserkenntnis konnte der Mensch sich von Gott und von seinen Geboten, sprich von der Nähe der geistigen Welt, emanzipieren und sich wirklich als auf sich selbst gestellt erleben. Nur so konnte er Selbst- und Weltbewusstsein erlangen.
Die Trennung von Wissenschaft, Kunst und Religion ist also ein durchaus notwendiger Prozess in der Menschheitsentwicklung. Freiheit wird nur erlangt, wenn man durch das Nadelöhr der Einsamkeit und Selbstständigkeit zu gehen bereit ist.
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
[1] Neues Testament, Johannes 8, 32.
ÜBERWINDUNG DER TRENNUNG VON KUNST, WISSENSCHAFT UND RELIGION
Wie kann die Trennung von Kunst, Wissenschaft und Religion wieder aufgehoben werden?
Warum ist diese Entwicklung überhaupt nötig?
Notwendige Neuverbindung
Heute stehen wir an einer Schwelle und erleben deutlich, dass diese Trennung wieder überwunden werden muss. Rudolf Steiner stellte sich in Anknüpfung an Goethe und den Deutschen Idealismus die Aufgabe, für die „gottlos" gewordene Wissenschaft einen Erkenntnisweg zu finden, der ihr Denken wieder an die geistige Welt und ihre Wesen – die Verstorbenen, die hierarchischen Engelwesen und den göttlichen Urgrund der Welt im Sinne der Trinität – anschließt. So kann heute jeder durch Selbsterziehung und Schulung des Denkens zur Realität des Geistes gelangen.
Zur Erfüllung seines Zieles baute Rudolf Steiner das Goetheanum als internationales Zentrum zum Studium der von ihm begründeten Geisteswissenschaft. Es war und ist die Aufgabe dieses Goetheanum, an der Wiedervereinigung von Wissenschaft, Kunst und Religion zu arbeiten. Rudolf Steiner
- gab wesentliche Anregungen zur Spiritualisierung der Wissenschaft,
- setzte neue Impulse für das künstlerische Schaffen
- und regte die religiöse Erneuerung des kirchlichen Lebens an.
Denken als Bindeglied
Diese drei Gebiete können sich nur vereinigen, wenn das Denken selbst einen Zugang zum Geist und damit zu dem bekommt, was Inhalt aller Religionen ist. Dann kann auch der sich zwischen Wissenschaft und Religion befindliche Bereich der Kunst einen neuen Einschlag erhalten. Das künstlerische Schaffen kann in Verbindung mit der Wissenschaft zum Erkenntnisweg werden in der Weise, wie Goethe es meisterlich vorgelebt hat. Auf der anderen Seite kann das künstlerische Umgehen mit den Vorgängen der Welt zum Verständnis des Wesens dieser Vorgänge führen und damit dem religiösen Ansatz nahekommen, dem es immer um das Real-Wesenhafte und um die Wesensbegegnung geht.
Die Anthroposophie will demnach ein Weg sein, das Denken wieder an die geistige Wirklichkeit anzuschließen. Das ist zunächst ein rein wissenschaftliches Anliegen und hat mit Religion nichts zu tun. Wenn der Mensch im Denken den Anschluss an die geistige Wirklichkeit gefunden hat, kann er selbst den Weg zum Religiösen, das heißt zur Pflege der Beziehung zum Geistigen einschlagen. Dabei bleibt offen, ob die Pflege des Religiösen dann auch zur Gemeinschaftsbildung führt oder als Privatsache angesehen wird. Es bleibt auch offen, welche Religionsform man wählt, wenn man sich einer Gemeinschaft anschließen will. Denn die Geisterkenntnis durch das Denken eröffnet uns die Möglichkeit, den Sinn- und Wesensgehalt jeder Religion zu erfahren.
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
FORMEN SPIRITUELLER GEMEINSCHAFTSBILDUNG
Was ist das Besondere einer spirituellen Gemeinschaftsbildung durch den Kultus?
Was ist unter dem „umgekehrten Kultus“ zu verstehen?
Zunächst gibt es die Gemeinschaft der Priester, die sich durch Schulung und Ausbildung vorbereitet und die Priesterweihe empfangen haben, damit sie in der Lage sind, eine überpersönliche Gemeinschaft zu bilden, die zur Pflege des Kultus nötig ist. Auch wenn der einzelne Priester Schwächen hat und in seiner moralischen Entwicklung hinter so manchem Gemeindemitglied zurücksteht, so kann er doch gemeinsam mit den anderen mit besten Kräften daran arbeiten, dass der Kultus in der Priestergemeinschaft am Leben bleibt.
Zugang zum kultischen Geschehen offen halten
Das ist notwendig, damit das kultische Geschehen für jeden Menschen in freier Weise zugänglich ist. Denn jeder, der am kultischen Geschehen teilnimmt, ist völlig frei, wie tief, wie oberflächlich, wie esoterisch, wie unverbindlich, wie nur ganz aus der Ferne er sich dem Geschehen nähern und anschließen möchte. Es kann sogar sein, dass jemand zufällig die Straße entlangkommt und das Schild „Die Christengemeinschaft“ sieht und sich spontan entschließt, den Raum zu betreten, in dem wenig später die Menschenweihehandlung beginnen soll. Nun sitzt er da – ohne jede Vorbereitung. Demokratischer und freilassender geht es nicht. Diese Möglichkeit ist wie eine Art Gegengewicht zur absoluten Verbindlichkeit, mit der die Priesterschaft diesen Kultus trägt, verantwortet und pflegt.
Damit wird die Möglichkeit der Menschenweihe durch den Kultus an alle, die am kultischen Geschehen teilnehmen, herangetragen und es hängt nun vom Einzelnen ab, wie sehr er sich diesem Geschehen öffnen und von ihm verwandeln und Schritt für Schritt „weihen" lassen kann. Gemeinsam am Kultus teilzunehmen und innerhalb der Gemeinde voneinander zu wissen, dass man diesen Weg der Verwandlung und der Menschenweihe anstrebt, hat etwas tief Vertrauenerweckendes und Verbindendes. Und so unverbindlich die Teilnahme zu Beginn auch sein mag, im Laufe der Zeit kann sich die Beziehung zum kultischen Geschehen vertiefen und sich schließlich dahingehend entwickeln, dass der Betreffende immer mehr zum Mitvollzieher und Mitarbeiter dessen wird, was am Altar geschieht.
Von oben gestiftete Gemeinschaft
Wir haben hier eine Form spiritueller Gemeinschaftsbildung, die gleichsam „von oben" gestiftet wird. Denn ein Kultus ist eine unmittelbare Offenbarung aus der geistigen Welt und muss von Menschen, die sich dafür vorbereitet haben, entsprechend empfangen und gepflegt werden. Daher hat eine solche Gemeinschaftsbildung auch eine hierarchische Form, mit dem Priester an der Spitze und der sich um ihn gruppierenden Gemeinde. Dabei bedeutet dieses An-der-Spitze-Stehen nur, dass man dem Priester verdankt, dass der Kultus für die Gemeinde zelebriert werden kann. Weiter geht die Autorität des Priesters nicht, es sei denn, er hätte auf irgendeinem Gebiet eine besondere Qualifikation, so dass man ihn zu Rate zieht in der gleichen Weise, wie man dies auch mit anderen Menschen tut, die sich für irgendeinen Lebensbereich qualifiziert haben.
Je mehr in der Gemeinde erlebt wird, dass es der Kultus selbst ist, von dem die Kraft der Gemeinschaftsbildung ausgeht, und nicht der eine oder andere verehrte Mensch dahintersteht, umso mehr bekommt eine solche Gemeinde den Charakter einer echten spirituellen Gemeinschaft, zu der jeder sein Bestes beiträgt – brüderlich, unabhängig von der Hierarchie. Je hingebungsvoller und selbstloser der Kultus gepflegt und gefeiert wird, umso stärker sind die spirituellen Kräfte, die von ihm ausgehen können.
Wunderbare Brotvermehrung
Das wirkt sich auf den Umkreis wie eine wunderbare Brotvermehrung aus. Denn Gedanken und Gefühle sind Realitäten, und je kraftvoller das Kultusgeschehen in der Seele jedes Einzelnen auflebt, umso kraftvoller ist dann auch das, was geistig von der Kirche ausströmen kann, wenn der Kultus in ihr gefeiert wird. Nicht nur diejenigen, die daran teilnehmen, haben etwas von dieser geistigen Nahrung, sondern weitaus mehr Menschen werden damit erreicht, auch wenn sie davon gar nichts wissen und nicht ahnen, woher ihnen in einer bestimmten Situation plötzlich ein so friedevoller, hilfreicher Gedanke gekommen ist.
Kultuspflege bedeutet geistige Substanzbildung, Friedensarbeit, Arbeit an der Vermenschlichung der Lebensverhältnisse einer Stadt, der Gegend, in der die Gemeinde wirksam ist.
Umgekehrter Kultus
Rudolf Steiner beschreibt auch den „umgekehrten Kultus", die spirituelle Gemeinschaftsbildung „von unten". Sie wird in dem Maße möglich, in dem eine Gruppe von Menschen sich in gemeinsamer Arbeit um Geisterkenntnis bemüht und dieses Bemühen gesegnet wird durch die Anwesenheit geistiger Wesen. Rudolf Steiner sagt hierzu: „Erst dann stehen wir wirklich im Ergreifen, im Erfassen des Spirituellen drinnen, wenn wir nicht nur die Idee dieses Spirituellen abstrakt haben und etwa sie theoretisch wiedergeben können [...], sondern wenn wir glauben können – aber glauben auf Grundlage eines beweisenden Glaubens – dass Geister im geistigen Erfassen geistige Gemeinschaft mit uns haben."[1]
Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben im Hinblick auf das soziale Leben der Gegenwart, konkrete Wege zur spirituellen Gemeinschaftsbildung kennenzulernen und zu beschreiten.
Vgl. „Wie ist Entwicklung zur Selbständigkeit und Gemeinschaftsbildung vereinbar?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
[1] Rudolf Steiner, Anthroposophische Gemeinschaftsbildung, GA 257, Vortrag vom 27.2.1923.
DIE BEDEUTUNG KULTISCHEN GESCHEHENS
Welche Bedeutung hat der Kultus in religiösen Zusammenhängen?
Was zeichnet das kultische Geschehen aus?
Wie wirkt es sich in kindgemäßer Form auf Kinder aus?
Ob der Kultus als ein selbstverständliches Element des religiösen Lebens erlebt und gewollt wird, hängt von dem Blick darauf ab. Es gibt Kirchen und Glaubensbekenntnisse, die eine ausgesprochen kultusablehnende Haltung haben, weil sie darin nur Anklänge an zwingende und nur schwer durchschaubare alte rituelle Gewohnheiten sehen, die es zu überwinden gilt.
Wesensbegegnung durch Kultus
Wer sich jedoch mit dem Zusammenhang zwischen Religion und dem wahren Wesen des Göttlichen wie auch des Menschen auseinandersetzt, wird das kultische Geschehen in einem völlig anderen Licht sehen können: Denn beide, die religiöse Lehre und die religiöse Übung, wollen letztlich zu dem hinführen, was der Sinn allen religiösen Lebens ist: die Gottesbegegnung, die eine Wesensbegegnung ist. Wesensbegegnung aber ist Gnade.
- Sie kann in die Lehre hereinleuchten, wenn man z.B. etwas bis dahin Unklares zu verstehen beginnt.
- Sie kann sich bei der religiösen Übung als beglückendes Erlebnis manifestieren und Dankbarkeit und Frieden in der Seele zurücklassen.
- Sie kann sich aber auch unverhüllt als immer gegenwärtig offenbaren durch die Wirklichkeit des kultischen Geschehens und der Sakramente.
Im christlichen Kultus wird von der heiligen Trinität, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, gesprochen. Ihr Wesen und Wirken wird den Menschen durch Worte und Gedanken (Ideale) unmittelbar zu Gehör gebracht und vor Augen gestellt: Ein Mensch steht in festlicher Gewandung am Altar, dem Alltagsleben entrückt, und sucht durch Handlung, Wort und Gedanke die unmittelbare Berührung mit dem Göttlich-Wesenhaften.
Kultus und Menschheitszukunft
Was sich im Kultus und durch die Sakramente vollzieht, ist idealistisch und real in einem: Es ist in vergleichbarer Weise Wirklichkeit, wie Ideale im Menschen ansatzweise verwirklicht sein können, wenn sie in der Seele eines Menschen leben und Kraft geben für jede kleine Alltagshandlung – und dennoch weiß der Betreffende genau, dass er noch viele Erdenleben brauchen wird, um dieses Ideal ganz zu verwirklichen. So ist es auch mit dem Kultus. Was sich in ihm vollzieht, was dabei gesagt wird, ist reinster Ausdruck der Menschheitszukunft und bringt das Werden des Menschen, seine Entwicklung, hin zum Erkennen seines wahren Selbst und seiner Gottebenbildlichkeit, hier und jetzt zur Erscheinung.
Dem religiös Übenden begegnet im Kultus etwas Vollkommenes, an dem er sich orientieren und immer wieder neu Kraft schöpfen kann. Der Kultus ist deswegen so vollkommen und unantastbar, weil er eine unmittelbare Offenbarung aus der geistigen Welt in Wort, Gedanke und Handlung darstellt. Er darf daher auch nicht willkürlich verändert werden, so wenig wie ein Ideal veränderbar ist.
In der Kirche der Christengemeinschaft heißt der Kultus „Menschenweihehandlung". Durch diesen Begriff wird das Ziel des Mensch-Seins, die Menschenweihe, die Einweihung in die Selbst- und Gotteserkenntnis, ausgedrückt. Das Wort Menschenweihehandlung weist aber auch auf einen weiteren Aspekt des Gottesdienstes hin: dass der Mensch sich selbst verwandeln muss, um die Weihe zu erlangen für den Eintritt in die geistige Welt.
Gemeinschaft als Voraussetzung für den Kultus
Um ein kultisches Geschehen pflegen und vollziehen zu können, bedarf es einer Gemeinschaft. Denn in der Gemeinschaft kommt das Allgemein-Menschliche zur Erscheinung, während das Persönliche zurücktritt. Der Priester hat zur Aufgabe, sich auf den Dienst am Kultus vorzubereiten: Der Priesterweihe, die er gemeinsam mit anderen empfängt, liegt ein Entschluss zugrunde – die Bereitschaft, eine Kraft auszubilden, etwas zu tragen, das über das Vermögen eines einzelnen Menschen hinausgeht und das für alle Menschen da ist.
Der Kultus hat seine Bedeutung jedoch nicht nur für den einzelnen Menschen oder für Menschengemeinschaften, sondern er wird in der christlichen Tradition vom Priester auch im Stillen zelebriert, wenn die Gemeinde nicht zugegen ist. Er kann auch nur für die Erde als Ort der Menschheitsentwicklung und für ihre Aufgabe im Weltganzen gefeiert werden und für die Verstorbenen und alle Menschen, die man gedanklich mit einbezieht. Wann immer der Kultus gefeiert wird, ob in Anwesenheit der Gemeinde oder im Stillen, er wirkt sich in der gleichen Realität aus, in der sich Gedanken, Gefühle und Handlungen in der Welt immer auswirken.
Verwandlung durch Weihehandlung und religiöse Übung
Inwiefern wirkt sich die Weihehandlung auf das religiöse Üben aus?
Es gibt Menschen, die so tief berührt sind vom Geschehen der Weihehandlung, dass sie nichts anderes für ihre Entwicklung brauchen.
Andere bemerken trotz intensiven Erlebens der Weihehandlung, dass sich wenig bei ihnen verändert. Dass sie immer wieder die gleichen Fehler machen, an ähnliche Hindernisse stoßen oder bei sich selbst wiederholt destruktive Gedanken und Gefühle bemerken, die sie gerne verwandeln möchten, die sich aber durch die bloße Teilnahme an der Weihehandlung nicht genügend verwandeln lassen. In dem Fall ist es hilfreich, zusätzliche Übungen und Methoden der Selbsterziehung anzuwenden. Das Großartige dabei ist, dass solche Bemühungen die Aufnahme- und Teilnahmefähigkeit an der Menschenweihehandlung in einer Weise verstärken, wie man das vorher nicht für möglich gehalten hätte.
Welche Übungen für die Selbstschulung am geeignetsten sind, kann man herausfinden, indem man mit dieser Frage im Herzen beispielsweise das Schulungsbuch Rudolf Steiners „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“[1] liest. Man wird beim Lesen deutlich bemerken, welche Sätze oder Aufgabenstellungen für einen selbst von besonderer Wichtigkeit sind. Entscheidend ist, dass man mit wenig anfängt und sich nie mehr vornimmt, als man dann auch für die Zeit durchhalten kann, die man sich vorgenommen hat. Dabei kann es hilfreich sein, sich mit Menschen des Vertrauens über den eigenen Übungsweg zu unterhalten oder dies zum Gesprächsthema in vertrauten Arbeitskreisen innerhalb der Gemeinde zu machen oder aber auch sich persönlich damit an den Priester der Gemeinde zu wenden.
Wirkung kultischen Geschehens auf Kinder
Haben Kinder das Glück, regelmäßig am Gottesdienst für Kinder in kultischer Form teilzunehmen, nehmen sie durch Gedanke, Wort und Handlung zunächst unbewusst, später jedoch immer bewusster, eine Beziehung zu Gott auf. Durch diese Beziehung, die sich gedanklich als Ideal fassen lässt, aber auch Gefühl und Willen ergreifen kann, nehmen sie die Erfahrung mit ins Leben, dass sie innerlich nie allein sind: Gedanken, Gefühle und Impulse des guten Willens gehen mit ihnen, die in jedem Lebensaugenblick in Erinnerung gerufen und befragt werden können. Das Kind wird auch später nie „von allen guten Geistern verlassen“ sein, weil ihm in bestimmten Augenblicken seines Lebens, in denen Zweifel oder auch Verzweiflung drohen, bestimmte Worte und Gedanken aus dem Gottesdienst „einfallen" werden und der Sache eine Wende zum Guten geben können, die sie abwarten, Geduld haben und nicht verzweifeln lassen.
Das Ich im Ich
Durch die regelmäßige Teilnahme am Kultus bildet sich etwas im heranwachsenden Menschen, das wie eine zweite, höhere, gütige, milde Ich-Anwesenheit ist – wie ein Ich im Ich, ein größeres, umfassenderes Ich im Alltags-Ich. Von dieser höheren Instanz, die sich auch wie eine Gewissensstimme äußern kann, wird der Mensch begleitet und beraten. Es werden ihm Gedanken und Gefühle vermittelt, die anregen, etwas loszulassen oder auch zu ergreifen, und die dem Leben Sicherheit und Orientierung geben. Auch wenn man später über Jahre hinweg nicht dazu kommt, am Kultus teilzunehmen, geht diese Kraft, die aufgebaut wurde, nicht verloren.
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.
DAS GEHEIMNIS VON VERDAUUNG UND TRANSSUBSTANTIATION
Was ist das tiefe Geheimnis von Verdauung?
In welcher Verbindung steht der Verdauungsvorgang zur Transsubstantiation?
Verwandlung durch Hingabe
Wer auf den Zusammenhang zwischen religiöser Hingabe, Willen und Stoffwechseltätigkeit aufmerksam geworden ist, hat damit den Schlüssel in der Hand zum Verständnis körperlicher, seelischer und geistiger Verwandlung.
Wenn wir die Nahrungsaufnahme betrachten, ist es ganz offensichtlich, dass sich alle drei Naturreiche dem Menschen hingeben:
- das Mineralreich in den Salzen und Spurenelementen wie Kupfer und Magnesium,
- das Pflanzenreich in der ganzen Vielfalt von Obst, Getreide und Gemüse,
- das Tierreich in dem Fleisch, den Eiern und Milchprodukten, die wir verzehren.
So wie das Mineral die Lebensgrundlage der Pflanze ist und die Pflanze die des Tieres, so sind alle drei durch ihre Hingabe die Lebensgrundlage des Menschen.
Was aber ist diese Hingabe ihrem Wesen nach?
Vollendete Religion!
Natur wird Mensch
Und was geschieht mit den Naturwesen, die sich als Mineral, Pflanze und Tier dem Menschen opfern?
Sie werden in menschliche Substanz verwandelt, werden Mensch. Unbewusst lebt in der Natur eine tiefe Sehnsucht nach dem Menschen und dem Menschlichen und so ist alles darauf eingerichtet, dass der Mensch werden kann: dass er durch die Natur ernährt wird, dass er sie aber im Ernährt-Werden auch mitnimmt in das selbstbewusste menschliche Erleben. Der menschliche Stoffwechsel leistet unausgesetzt diese Verwandlungsarbeit.
Welche Sehnsucht lebt unbewusst, halbbewusst oder vollbewusst im Menschen?
Goethe hat sie in wunderbarer Weise zum Ausdruck gebracht, als er sich im hohen Alter nochmals in inniger Liebe einem jungen Mädchen zuwandte und dann in der Marienbader Elegie folgenden Vers schrieb:
In unsers Busens Reine wohnt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;
Wir heißen's: fromm sein! - Solcher sel'gen Höhe
Fühl' ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.
Hingabe an das höhere Reich der Gedankensphäre
Auch der Mensch möchte immer mehr Mensch werden: Er erlebt nur zu deutlich, wie viel ihm dazu noch fehlt. Um sich zur vollen Menschlichkeit hin entwickeln zu können, braucht der Mensch die Fähigkeit, die Mineral, Pflanze und Tier haben, wenn sie sich an das nächsthöhere Naturreich, und damit dem Menschen, hingeben: Er braucht die Fähigkeit der Hingabe an ein höheres „Reich", dem er sich „opfern" kann.
Dieses höhere Reich erscheint jedoch nicht mehr in sinnlich sichtbarer Form als Naturreich, denn die Natur hat im Menschen ihren Abschluss, ihre Krönung gefunden. Dieses höhere Reich tritt in der Gedankensphäre in Erscheinung in Form von unsichtbaren, aber dafür denkbaren idealen Realitäten. Im Denken können wir die Ziele unserer Entwicklung, unserer Zukunft, erfassen. Wir können uns denkend daran orientieren und uns ihnen begeistert hingeben.
Die religiösen Vorstellungen aller Religionen sind erfüllt von Bildern der Vollkommenheit, von Zukunftsperspektiven, Wandlungsmotiven und moralischen Werten. Auch das Motiv vom Opfer, das gebracht werden muss, wenn die Verwandlung in eine geistergebene, höhere menschliche Natur gelingen soll, ist immer von zentraler Bedeutung.
Verdauung ist Transsubstantiation
Wie oben ausgeführt ist der im Leib sich vollziehende Verdauungsprozess bereits ein Transsubstantiationsprozess. Denn die aufgenommene Nahrung wird verflüssigt, in den ganzen Organismus aufgenommen und schließlich im Stoffwechsel-Verbrennungsprozess in Wärme verwandelt. Wärme ist aber bereits die Brücke zwischen dem Physischen und dem Geistigen. Physische Wärme ist schon nichts Stoffliches mehr, kann jedoch noch mit dem Thermometer gemessen werden. Wir kennen Wärme aber auch als rein seelische und geistige Wärme, als Begeisterung. Durch die Verdauung wird also die Substanz Träger der menschlichen Seelen- und Geisteswärme.
Rudolf Steiner beschreibt den Zusammenhang der Wesensglieder mit den Elementen folgendermaßen:
- Das Ich, bzw. die Ich-Organisation mit ihren Gesetzen, korreliert mit der Wärme,
- der Astralleib mit den Luftprozessen des Organismus,
- der ätherische Leib mit den Flüssigkeiten
- und der physische Leib mit den festen Substanzen.[1]
So gesehen vollzieht sich geistige Kommunion in jedem Menschen, wenn sich Substanz verwandelt und so dem menschlichen Ich dient.
Rudolf Steiner sagt in „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“: „Das Wahrnehmen der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen." [2]
Transsubstantiation innerhalb des Gottesdienstes
Was vollzieht sich während der Transsubstantiation und Kommunion innerhalb des Gottesdienstes wie z.B. der Menschenweihehandlung?
Dieser Prozess der Transsubstantiation wird im Geschehen am Altar allgemeinmenschlich-objektiv vollzogen und sichtbar und hörbar gemacht, indem Brot und Wein als Träger geistiger Wirkungen mit bestimmten Gedanken, Gefühlen und Handlungsimpulsen durchdrungen werden. Am Altar wird letztlich sichtbar gemacht, was das wahre Wesen der Verdauung ist: die Vergeistigung der Substanz zum Träger heiligster Gedanken, Gefühle und Taten.
Nimmt der Mensch diese so vergeistigte Substanz durch die Kommunion in sich auf, bedeutet das eine Stärkung seiner eigenen Verwandlungsfähigkeit und seiner Verbundenheit mit dem Ziel menschlicher Entwicklung.
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
[1] z.B. Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin, GA 312.
[2] Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. GA 2.
BEDEUTUNG DER JAHRESFESTE
Welche Bedeutung haben die Jahresfeste für Kinder und Erwachsene?
Idealen sichtbaren Ausdruck verleihen
Jedem Jahresfest[1] liegen bestimmte Ideale zugrunde, denen man durch das Feiern sichtbaren Ausdruck verleihen kann. Da Kinder zunächst ganz und gar darauf angewiesen sind, das Geistige in sinnlich-sichtbarer Form zu erleben, und sie sich selbst ja auch leiblich-religiös – also sinnlich-sichtbar-religiös – verhalten, ist es wichtig, auf das Äußere großen Wert zu legen:
- Ein ganz besonders sauber, schön und festlich gedeckter Tisch,
- eine Ecke im Zimmer, die jahreszeitlich geschmückt wird,
- oder als Familie gemeinsam bestimmte Naturerfahrungen zu machen – all das gehört zur Gestaltung der Jahresfeste.
Jahresfeste und Sakramente
Wer den Aufbau des christlichen Kultus kennt – Verkündigung (Evangelienlesung) – Opferung – Wandlung – Kommunion – kann unschwer erkennen, dass diese Qualitäten jeweils einem der christlichen Jahresfeste seine Bedeutung geben:
- Zur Adventszeit gehört die Verkündigung der Ankunft der Christuswesenheit auf der Erde, und Weihnachten bringt die frohe Botschaft seiner Geburt.
- An Ostern vollzieht sich das Mysterium der Hingabe und der Opferung des Christus für die Menschheit.
- Johanni ist das Fest der Gewissenserforschung, der Läuterung und Reinigung, woran der beliebte Brauch des Sonnwendfeuers erinnert: Durch das Verbrennen des Niedrigen kann das Höhere im lodernden Feuer als etwas in Wärme und Licht Verwandeltes sichtbar werden.
- Das Michaelsfest hingegen ist nicht nur ein Erntedankfest oder ein Fest des Mutes, weil hier der Drachenbesieger gefeiert wird, sondern es ist das hohe Fest der Gotteserkenntnis. Michaels Blick schaut nicht den Drachen an, den er unter seine Füße zwingt, sondern die Christuswesenheit, der er dient. Sein Name bedeutet aus dem Hebräischen übersetzt: Wer ist wie Gott? (mi-ha-el, wobei mi das Fragewort ist und el die Abkürzung für Elohim/Gott). Diese Frage richtet sich an den Menschen. Schon im Alten Testament wird dieser Erzengel in besonderer Weise verehrt. Auch in der Apokalypse des Johannes tritt er an zentraler Stelle in Erscheinung. Michael will der Führer sein zur wahren Gotteserkenntnis und damit zur geistigen Kommunion.
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
[1] Brigitte Barz, Das Feiern der Jahresfeste mit Kindern, 6. Aufl. Stuttgart 1996.
WIE WIR VERGEBEN UNSERN SCHULDIGERN
Warum gibt es im Vaterunser die Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“?
Bitte um Stärkung der Vaterkraft
Hinter dieser Bitte steht das Anliegen des Christus, die Vaterkraft, aus der wir stammen, in uns so stark zu machen, dass wir nicht in Versuchung geraten, Angst zu haben und das Böse zu tun. Gebet bedeutet ja, dass man etwas hereinbittet in die Seele, was noch nicht da ist. Dieser esoterische, überkonfessionelle Entwicklungsweg, das Ich bzw. den Geist im Menschen stärken zu wollen, ist mit jeder Religion kompatibel. Denn in jeder Religion wird gebetet, um etwas Höheres in die Seele hereinzurufen.
Ich habe mich im Zusammenhang mit dem Vaterunser angesichts der vielen dort geäußerten Bitten oft gefragt, was wir Menschen im Gegenzug denn zu tun bereit sind. Diese Bitten klingen, als wollten wir nur „konsumieren“: Der Vater soll uns alles geben – vom Brot bis zur Erlösung...
Unser notwendiges Versprechen im Vaterunser
An einer Stelle jedoch versprechen wir etwas, was mir von immenser Bedeutung erscheint. Denn die Worte – „…wie wir vergeben unseren Schuldigern“ – sind das Tor, durch das der Vater erst Hilfe schicken kann: Indem wir all denen, die uns etwas schulden, die uns ärgern, die uns beleidigen, die uns etwas Gutes tun müssten, vergeben und im Gegenzug nichts von ihnen erwarten, entwickeln wir ein eigenständiges Verhältnis zum Bösen und fangen an, SEINE Mission auf der Erde zu verstehen. Dann beginnen wir auch zu verstehen, warum der Christus auf Erden litt: Er wollte das Böse aus tiefstem Gerechtigkeitsempfinden heraus am eigenen Leib erleben, weil er es seinen Geschöpfen, den Menschen, zugemutet hat. Er hätte uns auf Erden auch auf andere Art das Ich verleihen können, ohne selbst durch Folter und Martyrium gehen zu müssen.
Er hat diesen Weg jedoch freiwillig gewählt, um den bitteren Kelch, den wir alle mehr oder weniger trinken, vollbewusst selbst zu kosten – und er leerte ihn, indem er am Kreuz bat: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Christus gewährte dadurch totale Vergebung, wissend, dass kein Mensch vollbewusst Böses tut. Menschen tun Böses nur aus ihrem Erdenbewusstsein heraus mit allem, was ihnen zur Verfügung steht, weil sie von der göttlichen Welt abgeschnitten sind. Das sollten wir verstehen, weil wir alle selbst auch an der Überwindung unseres Abgeschnitten-Seins arbeiten – was uns alle zu Brüdern und Schwestern macht.
Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013