Herzlich Willkommen!

Schwellenerfahrung: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Geistesforschung
(Die Seite wurde neu angelegt: „= Schwellenerfahrung – von Michaela Glöckler = Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/“)
 
(Übertragen von Inhalten von Anthroposophie-lebensnah)
 
Zeile 1: Zeile 1:
= Schwellenerfahrung – von Michaela Glöckler =
= Schwellenerfahrung – von Michaela Glöckler =
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
== DIE SCHWELLE ZUR GEISTIGEN WELT ==
''Was kann man unter Schwelle zur geistigen Welt verstehen?''
''Wie kann man sich ihrer bewusst werden?''
=== ''Dreifaches Schwellenerlebnis'' ===
Die Schwelle zur geistigen Welt[1] zeigt sich schon für das gewöhnliche, nicht unmittelbar hellsehende Bewusstsein in dreifacher Weise:
# Sie geht durch jedes Menschenherz. Hier trifft die seelisch-geistige Innenwelt der Gedanken, Gefühle und Willensimpulse zusammen mit dem, was durch die Sinne von der Außenwelt und dem mit ihr verbundenen physischen Leib bewusst wird.
# Dieselbe Schwelle ist jedoch auch bei jeder Erkennt­nisbemühung erlebbar, wenn wir bestrebt sind, Wahrnehmung und Begriff, das heißt ein sinnlich Gegebenes und ein übersinnlich Gegebenes, wahr­heitsgemäß aufeinander zu beziehen.
# Beim zeitlichen Werden und Vergehen des Menschen durch Geburt und Tod, seinem Erscheinen und Verschwinden im Reich der Sichtbarkeit, begegnen wir wiederum dieser Schwelle.
Auch im medizinischen Bereich begegnet uns diese dreifache Schwel­lensituation täglich – selbst wenn die Betroffenen sich dessen nur wenig oder gar nicht bewusst sind.
=== ''Schwellenerlebnis als zentrale Ich-Erfahrung'' ===
''Welche Kraft ist es aber, die uns an die Schwelle führt und uns diese Schwelle mehr oder weniger bewusst überschreiten lässt?''
Es ist das menschliche Wesen selbst, der Kern der Persönlichkeit, unsere Ich-Natur.
* Ad 1. Das Ich verbindet Wahrnehmung und Begriff im Wahrheitserleben.
* Ad 2. Das Ich ist es auch, das Menschen wesenhaft verbindet und in der Gewissensstimme des Herzens seiner höheren Natur folgt.
* Ad 3. Und es ist das Ich, das sich mit seinen We­sensgliedern[2] umkleidet oder sich von ihnen löst beim Geborenwerden und Sterben.
So gehört das Schwellenerlebnis als solches zu den ganz zentralen Ich-Erfahrungen des Menschen, auch wenn es ungezählte Menschen gibt, die sich dieser Tatsache nicht bewusst sind.
In früheren Zeiten wussten nur wenige um dieses Schwellengeheimnis. Es war den Eingeweihten in den Mysterienschulen und Tempeleinrichtungen vorbehalten. Das war notwendig, weil zum bewussten Erleben und Ertragen-Können des Schwellenübergangs eine strenge Schulung und Vorbereitung gehört. Denn an der Schwelle wird offenbar, was den Men­schen noch trennt vom bewussten Erfassen seiner wahren We­senheit, seines höheren Selbst. Jede Form von Egoismus – von der klein­sten Lüge über diverse Spielarten der Lieblosigkeit bis hin zu Willens­impulsen, über deren Ursprung und Ziel nicht genügend Klarheit besteht – trennt den Menschen von seinem göttlichen Ursprung, der seiner wahren Wesenheit entspricht. Er stürzt ihn in den Abgrund, der sich zwischen der göttlichen und der irdischen Welt auftut, in die er sich als sich ent­wickelndes Wesen hineingestellt hat.
=== ''Allen zugängliches Eingeweihten-Wissen'' ===
Erst in unserem Jahrhundert ist das Wissen der Eingeweihten aus alter und neuer Zeit der ganzen Menschheit zugänglich.[3] Erst in unserem Jahrhundert ist der Mensch in seiner Entwick­lung so weit gekommen, dass er die Trennung zwischen der geistigen und der Sinneswelt in vollem Ausmaß fühlen kann – er bringt sie weltweit zur Darstellung in der vorwiegend materialistisch-technischen Kultur. Der heutige Mensch erlebt keine Geistgewissheit mehr, die ihn instinktiv trägt. Auch der Kirchenglaube wird zunehmend bewusst hinterfragt.
Es ist also eine Notwendigkeit unserer Zeit, diese menschheitliche Situation des am Abgrund-Stehens zwischen der Sinnes- und der Geisteswelt zu erkennen und das unbewusste Schwellenerleben in ein tätiges bewusstes Erleben umzuwan­deln.
Das gilt ganz besonders für die Medizin, da sie, wie keine andere Wissen­schaft sonst, täglich mit allen drei Schwellenaspekten der menschlichen Existenz umzugehen hat. Sie kann nur dann die physischen, seelischen und geistigen Heilmittel menschenwürdig einsetzen, wenn es aus umfassender Einsicht geschieht.
''Vgl. 1. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993''
----[1] Rudolf Steiner, ''Die Schwelle der geistigen Welt,'' GA 17.
Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?'', GA 10, 1982.
[2] Vgl. Rudolf Steiner, ''Theosophie,'' GA 9.
[3] Siehe zum Beispiel Rudolf Steiner, ''Die Geheimwissenschaft im Umriß.'' GA 13.
== SCHWELLENBEWUSSTSEIN IM SOZIALEN LEBEN ==
''Inwiefern wirken Schwellenerfahrungen als Augenöffner im sozialen Miteinander?''
''Was meint Rudolf Steiner mit „Gemeingesellschaft“?''
''Welche Herausforderungen für den einzelnen, aber auch für die Gemeinschaft, sind damit verbunden?''
Macht- und Führungsfragen rühren an den Lebensnerv vieler Menschen. Denn sie sind in ihrer Entwicklung direkt davon betroffen und haben Mühe, innerlich und/oder äußerlich damit zurechtzukommen. Da kann es helfen, sich klar zu machen, dass die alte Machtgesellschaft mit ihrer hierarchisch-pyramidalen Struktur und die heute so geliebte Demokratiegesellschaft Formen sind, zu deren Handhabung gewisse persönliche Fähigkeiten und gute Spielregeln genügt haben und genügen.
=== ''Freiwilliger Dienst in der Gemeingesellschaft als Herausforderung'' ===
Dies ändert sich bei dem Schritt zur bewussten Mitarbeit in einer Einrichtung oder einer Gemeinschaft von Menschen im Sinne der echten Dienstleistungsgesellschaft, von Rudolf Steiner ''Gemeingesellschaft'' genannt.[1] Dieser Schritt ist nur möglich, wenn der Einzelne bereit ist, seinen Arbeitswillen ''freiwillig'' in den Dienst z.B. des Leitbildes der Einrichtung zu stellen. Dies aber bedarf immer wieder der Selbstüberwindung, wie sie geübt werden muss, wenn man das Betreten der „Schwelle zur geistigen Welt“ nicht scheut. Sie ist auch nötig, um sich nicht nur dem Arbeitgeber, den Kollegen und seiner Arbeit gegenüber verpflichtet zu fühlen, sondern auch gegenüber der geistigen Zielsetzung, der die Einrichtung dient.
Zugleich kann die Gefahr deutlich werden, die von einer derart idealistischen Einstellung ausgeht, wenn diese als moralischer Imperativ quasi von den Mitarbeitern als „selbstloser Einsatz“ erwartet oder gar gefordert wird. Dieser Gefahr kann nur dann wirksam begegnet werden, wenn das entscheidende Grundprinzip des Stehens an der Schwelle und damit auch der Führung im Sinne der Gemeingesellschaft beachtet wird: dass hier ''jeder einzelne nur für sich'' ''entscheiden'' kann. In Strukturen, die Machtausübung im Sinne des alten hierarchischen Systems ermöglichen, oder auch in der Demokratie, die Mitbestimmung ermöglicht, kann man vieles einrichten, organisieren und mit äußeren Mitteln durchsetzen.
Diese Werkzeuge der Macht im Rahmen einer Gemeingesellschaft anzuwenden ist nicht zulässig. „Von außen“ organisieren und „durchsetzen“ seitens der Führung lässt sich diese Art von Gemeinschaft nicht. Einem solchen Unterfangen steht der Wille jedes einzelnen Mitarbeiters so lange entgegen, als dieser sich nicht individuell und freiwillig entschieden hat, im Sinne einer solchen Struktur mitzuarbeiten.
Daher bedeutet Führung und Mitarbeit im Sinne der Gemeingesellschaft nicht primär das Einrichten und Akzeptieren bestimmter Sozialstrukturen, sondern das ''Leben einer bestimmten Haltung der Arbeit und den Kollegen gegenüber.''
=== ''Verwandlung an der Todesschwelle'' ===
Von Menschen, die dem Tode nahe waren oder schon einmal eine außerkörperliche Erfahrung gemacht haben, wird berichtet, dass sie sehr häufig als Verwandelte ins Leben zurückkehren. Verwandelt in dem Sinne, dass sie von nun an jeden Lebensaugenblick als Kostbarkeit empfinden können, dass sie ganz andere Wertmaßstäbe anlegen an Menschenbegegnungen sowie Ziele und Aufgabenstellungen des Lebens. Sie können mit einem Mal von sich absehen und mit größtem Interesse auf andere blicken. Sie haben einen Eindruck von dem gewonnen, was jenseits der Todesschwelle liegt, und können im Lichte dieser Erfahrung das Leben und seine Sinnhaftigkeit würdigen.
Spannend ist folgendes Gedankenexperiment, bei dem man sich fragt:
''Wie würde ich den heutigen Tag durchleben, wenn ich schon gestorben wäre und noch einmal für diesen Tag in das Leben zurückkehren dürfte?''
''Worauf würde ich achten, was wäre mir wesentlich, was würde ich noch in Ordnung bringen?''
Wer das ernsthaft tut, wird sofort bemerken, wie sich Perspektiven und Gewichtungen ändern gegenüber dem, wie man zuvor ganz selbstverständlich gelebt und empfunden hat.
=== ''Es fängt bei jedem Einzelnen an'' ===
So fängt die Arbeit an der zukunftsorientierten Verwirklichung der Gemeingesellschaft ganz im Stillen bei jedem Einzelnen an, der die Notwendigkeit einer solchen Sozialstruktur eingesehen hat und an ihrer Verwirklichung mitarbeiten möchte. Unabhängig von äußerer Stellung und äußerem Rang, unabhängig von der aktuell herrschenden Sozial- bzw. Führungsstruktur in einer Einrichtung, kann man sich im Sinne der Gemeingesellschaft verhalten und wird aufgrund dieses Verhaltens einen heilsamen Einfluss auf seine soziale Umgebung ausüben.
Sogar die globalen Probleme und Konflikte, von denen die Menschheit heute betroffen ist und an denen man angesichts der Geschwindigkeit, mit der bestimmte negative Entwicklungen ökologischer und wirtschaftlicher Art vonstattengehen, verzweifeln könnte, werden auf unerwartete Weise und schnell zu lösen sein, wenn eine genügend große Anzahl von Menschen beginnt, das soziale Leben aus innerer Einsicht und Antrieb heraus im Sinne der Gemeingesellschaft zu gestalten.
Menschen, die sich dazu entschließen, arbeiten an der heute so dringend notwendigen Verwandlung der ganz auf den Egoismus gebauten gesellschaftlichen Werte, um eine Kultur der Mitmenschlichkeit, der Brüderlichkeit und der Liebe zur Erde mit ihren Naturreichen und Entwicklungsbedingungen an ihre Stelle zu setzen. Sie engagieren sich nicht nur für ihr persönliches und berufliches Leben, sondern allem voran für das „Unternehmen Menschheitsentwicklung im einundzwanzigsten Jahrhundert“.[2]
''Vgl. 18. Kapitel von „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband 2006, Verlag am Goetheanum, derzeit vergriffen''
----[1] Rudolf Steiner, ''Soziale Zukunft'', GA 332a, Vortrag vom 29.10.1919.
[2] Siehe auch: M. Glöckler, ''Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung.'' Johannes Mayer Verlag, Stuttgart 2001.
== SYMPTOME DES UNBEWUSSTEN SCHWELLENÜBERTRITTS ==
''Woran kann man unbewusste Schwellenerlebnisse erkennen?''
''Welches sind die Zeichen, die Symptome, an denen diese Tatsache abzulesen ist?''
=== ''Gesteigertes Bewusstsein erwerben               '''                                            ''''' ===
Am 1. Mai 1919 spricht Rudolf Steiner erstmals ausführlich über den unbewussten Schwellenübergang der Menschheit.[1] Aus den Schilderun­gen des Einweihungsweges in dem Buche ''„Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“''[2] kennen wir als bedeutsames Zeichen für den Schwellenübertritt die Lockerung von Denken, Fühlen und Wollen aus der Herrschaft des Ich im physischen Leib. Beim Überschreiten der Schwelle haben die Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens das Bestreben, sich voneinander zu trennen, so dass es starker Anstrengungen seitens des Ich bedarf, diese Seelenkräfte jenseits der Schwelle vom Ich aus neu und rein geistig zusammenzuhalten. Diese Anstrengung ist jedes Mal notwendig, wenn der Mensch bewusst auf dem Erkenntnisweg in die übersinnliche Welt eingetreten ist.
„Ja, das ist das bedeutsame innere Aktivitätserlebnis, das wir haben müssen nach dem Überschreiten der Schwelle: dieses Sich-Hineinfinden in höchster Aktivität des Ich, in höch­ster Betätigung des Ich, um die getrennten Seelenkräfte, Denken, Fühlen und Wollen, zusammenzuhalten. Das ist auch zunächst die Furcht, die der heutige schwachmütige Mensch hat: die Furcht vor wirklich übersinnlichen Erkenntnissen, diese Furcht vor innerer Seelenbetätigung höchsten Stiles. Der Mensch möchte heute eigentlich alle seine Betätigung so verlaufen lassen, dass sie von der Außenwelt hervorgerufen wird und in der Außenwelt erfolgt. Innere Aktivität liegt dem heutigen Menschen noch nicht, muß sich aber gerade für den heutigen Menschen immer mehr und mehr gegen die Zukunft hin entwickeln. (...) Ein gesteigertes Bewusstsein ist es, in dem man die Schwelle überschreitet und in dem man die innere Dreigliederung der menschlichen Seelenwesenheit in der übersinnlichen Welt wahrnimmt.
Etwas Ähnliches, aber jetzt naturgemäß von selbst, nicht bewusst, macht im heutigen Zeitalter als ein kosmisches geschichtliches Ereignis die gan­ze Menschheit durch. Man merkt es nicht, wenn man nicht den unbewussten Vorgang, der sich für die ganze Menschheit abspielt, geisteswissenschaft­lich bewusst studiert. (...) Das ist es, was im Unbewussten der ganzen Menschheit sich heute abspielt, was man bloßlegen muß durch die Geistes­wissenschaft, was aber auch beweist, wie notwendig dieser heutigen Menschheit die Geisteswissenschaft ist. Denn dieses Überschreiten der Schwelle darf eigentlich nicht im Unbewussten bleiben.“'''[3]'''
=== ''Neuen Zusammenhalt von Denken, Fühlen und Wollen erarbeiten'' ===
Diese von Rudolf Steiner geschilderte geisteswissenschaftliche Tatsa­che, dass die Menschheit unbewusst die Schwelle zur geistigen Welt über­schritten hat, geht mit einer in der Menschheit heute überall sichtbaren Symptomatik einher, die nur verstanden werden kann, wenn das Schwellenerlebnis bewusst durchgemacht wird: die Trennung von Denken, Fühlen und Wollen – und die daraus erwachsende Notwendigkeit, neu den Zusam­menhalt zu erarbeiten.
Denn genau das ist der Hauptcharakterzug des wissenschaftlichen Lebens unseres Jahrhunderts: Die Wis­senschaft ist stolz darauf, dass sie von Fühlen und Wollen getrennt, d.h. „intersubjektiv“ bzw. „objektiv“ ist. Hier hat sich also längst – ohne dass man es bewusst erlebt hätte in seiner ungeheuren Bedeu­tsamkeit – eine Trennung des Denkens vom Fühlen vollzogen.
Auf der anderen Seite ist dieses Jahrhundert Zeuge geworden von verhee­renden Weltkriegen und unvorstellbaren Ausbrüchen menschlicher Grau­samkeit und Bestialität. In diesen Fällen hat sich der Wille vom Fühlen gelöst und folgt – unbeherrscht vom Denken und Fühlen – den leibgebundenen Trieb- und Begierdekräften. Die großen Probleme der Gegenwart – eine Wissenschaft ohne Verantwortung und wachsende Lieblosigkeit im Sozia­len – sind nichts anderes als  Symptome für die Trennung von Denken, Fühlen und Wollen und die Unfähigkeit der Menschheit, mit die­ser Tatsache zurechtzukommen. So erwächst dem einzelnen Menschen aus dieser menschheitlichen Gesamtsituation heraus die notwendige Aufgabe, sich die Tatsache des unbewussten Schwellenübergangs bewusst zu ma­chen und sich auf den Wegen der Selbsterziehung auf den bewussten Schwellenübertritt vorzubereiten. Dies bedeutet aber zugleich, ''„den Tod in seiner Bedeutung für das gesamte Leben des Menschen zu erkennen“.''[4]
Die Herausforderung unserer Zeit, das unbewusste Stehen an der Schwelle und das Überschreiten der Schwelle willentlich anzunehmen und die eigene Entwicklung in entsprechende Bahnen zu lenken, ist die wichtigste Aufgabe der heutigen Menschheit.
''Vgl. 5. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993''
----[1] Rudolf Steiner'', Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen''. GA 192, 1991, Vortrag vom 1.Mai 1919 in Stuttgart.
[2] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?'' GA 10, 1982.
[3] Frits Wilmar, ''Vorgeburtliche Menschwerdung''. Stuttgart 1991, Seite 127.
[4] Ebenda.

Aktuelle Version vom 8. April 2025, 16:38 Uhr

Schwellenerfahrung – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

DIE SCHWELLE ZUR GEISTIGEN WELT

Was kann man unter Schwelle zur geistigen Welt verstehen?

Wie kann man sich ihrer bewusst werden?

Dreifaches Schwellenerlebnis

Die Schwelle zur geistigen Welt[1] zeigt sich schon für das gewöhnliche, nicht unmittelbar hellsehende Bewusstsein in dreifacher Weise:

  1. Sie geht durch jedes Menschenherz. Hier trifft die seelisch-geistige Innenwelt der Gedanken, Gefühle und Willensimpulse zusammen mit dem, was durch die Sinne von der Außenwelt und dem mit ihr verbundenen physischen Leib bewusst wird.
  2. Dieselbe Schwelle ist jedoch auch bei jeder Erkennt­nisbemühung erlebbar, wenn wir bestrebt sind, Wahrnehmung und Begriff, das heißt ein sinnlich Gegebenes und ein übersinnlich Gegebenes, wahr­heitsgemäß aufeinander zu beziehen.
  3. Beim zeitlichen Werden und Vergehen des Menschen durch Geburt und Tod, seinem Erscheinen und Verschwinden im Reich der Sichtbarkeit, begegnen wir wiederum dieser Schwelle.

Auch im medizinischen Bereich begegnet uns diese dreifache Schwel­lensituation täglich – selbst wenn die Betroffenen sich dessen nur wenig oder gar nicht bewusst sind.

Schwellenerlebnis als zentrale Ich-Erfahrung

Welche Kraft ist es aber, die uns an die Schwelle führt und uns diese Schwelle mehr oder weniger bewusst überschreiten lässt?

Es ist das menschliche Wesen selbst, der Kern der Persönlichkeit, unsere Ich-Natur.

  • Ad 1. Das Ich verbindet Wahrnehmung und Begriff im Wahrheitserleben.
  • Ad 2. Das Ich ist es auch, das Menschen wesenhaft verbindet und in der Gewissensstimme des Herzens seiner höheren Natur folgt.
  • Ad 3. Und es ist das Ich, das sich mit seinen We­sensgliedern[2] umkleidet oder sich von ihnen löst beim Geborenwerden und Sterben.

So gehört das Schwellenerlebnis als solches zu den ganz zentralen Ich-Erfahrungen des Menschen, auch wenn es ungezählte Menschen gibt, die sich dieser Tatsache nicht bewusst sind.

In früheren Zeiten wussten nur wenige um dieses Schwellengeheimnis. Es war den Eingeweihten in den Mysterienschulen und Tempeleinrichtungen vorbehalten. Das war notwendig, weil zum bewussten Erleben und Ertragen-Können des Schwellenübergangs eine strenge Schulung und Vorbereitung gehört. Denn an der Schwelle wird offenbar, was den Men­schen noch trennt vom bewussten Erfassen seiner wahren We­senheit, seines höheren Selbst. Jede Form von Egoismus – von der klein­sten Lüge über diverse Spielarten der Lieblosigkeit bis hin zu Willens­impulsen, über deren Ursprung und Ziel nicht genügend Klarheit besteht – trennt den Menschen von seinem göttlichen Ursprung, der seiner wahren Wesenheit entspricht. Er stürzt ihn in den Abgrund, der sich zwischen der göttlichen und der irdischen Welt auftut, in die er sich als sich ent­wickelndes Wesen hineingestellt hat.

Allen zugängliches Eingeweihten-Wissen

Erst in unserem Jahrhundert ist das Wissen der Eingeweihten aus alter und neuer Zeit der ganzen Menschheit zugänglich.[3] Erst in unserem Jahrhundert ist der Mensch in seiner Entwick­lung so weit gekommen, dass er die Trennung zwischen der geistigen und der Sinneswelt in vollem Ausmaß fühlen kann – er bringt sie weltweit zur Darstellung in der vorwiegend materialistisch-technischen Kultur. Der heutige Mensch erlebt keine Geistgewissheit mehr, die ihn instinktiv trägt. Auch der Kirchenglaube wird zunehmend bewusst hinterfragt.

Es ist also eine Notwendigkeit unserer Zeit, diese menschheitliche Situation des am Abgrund-Stehens zwischen der Sinnes- und der Geisteswelt zu erkennen und das unbewusste Schwellenerleben in ein tätiges bewusstes Erleben umzuwan­deln.

Das gilt ganz besonders für die Medizin, da sie, wie keine andere Wissen­schaft sonst, täglich mit allen drei Schwellenaspekten der menschlichen Existenz umzugehen hat. Sie kann nur dann die physischen, seelischen und geistigen Heilmittel menschenwürdig einsetzen, wenn es aus umfassender Einsicht geschieht.

Vgl. 1. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993


[1] Rudolf Steiner, Die Schwelle der geistigen Welt, GA 17.

Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10, 1982.

[2] Vgl. Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.

[3] Siehe zum Beispiel Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriß. GA 13.

SCHWELLENBEWUSSTSEIN IM SOZIALEN LEBEN

Inwiefern wirken Schwellenerfahrungen als Augenöffner im sozialen Miteinander?

Was meint Rudolf Steiner mit „Gemeingesellschaft“?

Welche Herausforderungen für den einzelnen, aber auch für die Gemeinschaft, sind damit verbunden?

Macht- und Führungsfragen rühren an den Lebensnerv vieler Menschen. Denn sie sind in ihrer Entwicklung direkt davon betroffen und haben Mühe, innerlich und/oder äußerlich damit zurechtzukommen. Da kann es helfen, sich klar zu machen, dass die alte Machtgesellschaft mit ihrer hierarchisch-pyramidalen Struktur und die heute so geliebte Demokratiegesellschaft Formen sind, zu deren Handhabung gewisse persönliche Fähigkeiten und gute Spielregeln genügt haben und genügen.

Freiwilliger Dienst in der Gemeingesellschaft als Herausforderung

Dies ändert sich bei dem Schritt zur bewussten Mitarbeit in einer Einrichtung oder einer Gemeinschaft von Menschen im Sinne der echten Dienstleistungsgesellschaft, von Rudolf Steiner Gemeingesellschaft genannt.[1] Dieser Schritt ist nur möglich, wenn der Einzelne bereit ist, seinen Arbeitswillen freiwillig in den Dienst z.B. des Leitbildes der Einrichtung zu stellen. Dies aber bedarf immer wieder der Selbstüberwindung, wie sie geübt werden muss, wenn man das Betreten der „Schwelle zur geistigen Welt“ nicht scheut. Sie ist auch nötig, um sich nicht nur dem Arbeitgeber, den Kollegen und seiner Arbeit gegenüber verpflichtet zu fühlen, sondern auch gegenüber der geistigen Zielsetzung, der die Einrichtung dient.

Zugleich kann die Gefahr deutlich werden, die von einer derart idealistischen Einstellung ausgeht, wenn diese als moralischer Imperativ quasi von den Mitarbeitern als „selbstloser Einsatz“ erwartet oder gar gefordert wird. Dieser Gefahr kann nur dann wirksam begegnet werden, wenn das entscheidende Grundprinzip des Stehens an der Schwelle und damit auch der Führung im Sinne der Gemeingesellschaft beachtet wird: dass hier jeder einzelne nur für sich entscheiden kann. In Strukturen, die Machtausübung im Sinne des alten hierarchischen Systems ermöglichen, oder auch in der Demokratie, die Mitbestimmung ermöglicht, kann man vieles einrichten, organisieren und mit äußeren Mitteln durchsetzen.

Diese Werkzeuge der Macht im Rahmen einer Gemeingesellschaft anzuwenden ist nicht zulässig. „Von außen“ organisieren und „durchsetzen“ seitens der Führung lässt sich diese Art von Gemeinschaft nicht. Einem solchen Unterfangen steht der Wille jedes einzelnen Mitarbeiters so lange entgegen, als dieser sich nicht individuell und freiwillig entschieden hat, im Sinne einer solchen Struktur mitzuarbeiten.

Daher bedeutet Führung und Mitarbeit im Sinne der Gemeingesellschaft nicht primär das Einrichten und Akzeptieren bestimmter Sozialstrukturen, sondern das Leben einer bestimmten Haltung der Arbeit und den Kollegen gegenüber.

Verwandlung an der Todesschwelle

Von Menschen, die dem Tode nahe waren oder schon einmal eine außerkörperliche Erfahrung gemacht haben, wird berichtet, dass sie sehr häufig als Verwandelte ins Leben zurückkehren. Verwandelt in dem Sinne, dass sie von nun an jeden Lebensaugenblick als Kostbarkeit empfinden können, dass sie ganz andere Wertmaßstäbe anlegen an Menschenbegegnungen sowie Ziele und Aufgabenstellungen des Lebens. Sie können mit einem Mal von sich absehen und mit größtem Interesse auf andere blicken. Sie haben einen Eindruck von dem gewonnen, was jenseits der Todesschwelle liegt, und können im Lichte dieser Erfahrung das Leben und seine Sinnhaftigkeit würdigen.

Spannend ist folgendes Gedankenexperiment, bei dem man sich fragt:

Wie würde ich den heutigen Tag durchleben, wenn ich schon gestorben wäre und noch einmal für diesen Tag in das Leben zurückkehren dürfte?

Worauf würde ich achten, was wäre mir wesentlich, was würde ich noch in Ordnung bringen?

Wer das ernsthaft tut, wird sofort bemerken, wie sich Perspektiven und Gewichtungen ändern gegenüber dem, wie man zuvor ganz selbstverständlich gelebt und empfunden hat.

Es fängt bei jedem Einzelnen an

So fängt die Arbeit an der zukunftsorientierten Verwirklichung der Gemeingesellschaft ganz im Stillen bei jedem Einzelnen an, der die Notwendigkeit einer solchen Sozialstruktur eingesehen hat und an ihrer Verwirklichung mitarbeiten möchte. Unabhängig von äußerer Stellung und äußerem Rang, unabhängig von der aktuell herrschenden Sozial- bzw. Führungsstruktur in einer Einrichtung, kann man sich im Sinne der Gemeingesellschaft verhalten und wird aufgrund dieses Verhaltens einen heilsamen Einfluss auf seine soziale Umgebung ausüben.

Sogar die globalen Probleme und Konflikte, von denen die Menschheit heute betroffen ist und an denen man angesichts der Geschwindigkeit, mit der bestimmte negative Entwicklungen ökologischer und wirtschaftlicher Art vonstattengehen, verzweifeln könnte, werden auf unerwartete Weise und schnell zu lösen sein, wenn eine genügend große Anzahl von Menschen beginnt, das soziale Leben aus innerer Einsicht und Antrieb heraus im Sinne der Gemeingesellschaft zu gestalten.

Menschen, die sich dazu entschließen, arbeiten an der heute so dringend notwendigen Verwandlung der ganz auf den Egoismus gebauten gesellschaftlichen Werte, um eine Kultur der Mitmenschlichkeit, der Brüderlichkeit und der Liebe zur Erde mit ihren Naturreichen und Entwicklungsbedingungen an ihre Stelle zu setzen. Sie engagieren sich nicht nur für ihr persönliches und berufliches Leben, sondern allem voran für das „Unternehmen Menschheitsentwicklung im einundzwanzigsten Jahrhundert“.[2]

Vgl. 18. Kapitel von „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband 2006, Verlag am Goetheanum, derzeit vergriffen


[1] Rudolf Steiner, Soziale Zukunft, GA 332a, Vortrag vom 29.10.1919.

[2] Siehe auch: M. Glöckler, Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung. Johannes Mayer Verlag, Stuttgart 2001.

SYMPTOME DES UNBEWUSSTEN SCHWELLENÜBERTRITTS

Woran kann man unbewusste Schwellenerlebnisse erkennen?

Welches sind die Zeichen, die Symptome, an denen diese Tatsache abzulesen ist?

Gesteigertes Bewusstsein erwerben                                                           

Am 1. Mai 1919 spricht Rudolf Steiner erstmals ausführlich über den unbewussten Schwellenübergang der Menschheit.[1] Aus den Schilderun­gen des Einweihungsweges in dem Buche „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“[2] kennen wir als bedeutsames Zeichen für den Schwellenübertritt die Lockerung von Denken, Fühlen und Wollen aus der Herrschaft des Ich im physischen Leib. Beim Überschreiten der Schwelle haben die Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens das Bestreben, sich voneinander zu trennen, so dass es starker Anstrengungen seitens des Ich bedarf, diese Seelenkräfte jenseits der Schwelle vom Ich aus neu und rein geistig zusammenzuhalten. Diese Anstrengung ist jedes Mal notwendig, wenn der Mensch bewusst auf dem Erkenntnisweg in die übersinnliche Welt eingetreten ist.

„Ja, das ist das bedeutsame innere Aktivitätserlebnis, das wir haben müssen nach dem Überschreiten der Schwelle: dieses Sich-Hineinfinden in höchster Aktivität des Ich, in höch­ster Betätigung des Ich, um die getrennten Seelenkräfte, Denken, Fühlen und Wollen, zusammenzuhalten. Das ist auch zunächst die Furcht, die der heutige schwachmütige Mensch hat: die Furcht vor wirklich übersinnlichen Erkenntnissen, diese Furcht vor innerer Seelenbetätigung höchsten Stiles. Der Mensch möchte heute eigentlich alle seine Betätigung so verlaufen lassen, dass sie von der Außenwelt hervorgerufen wird und in der Außenwelt erfolgt. Innere Aktivität liegt dem heutigen Menschen noch nicht, muß sich aber gerade für den heutigen Menschen immer mehr und mehr gegen die Zukunft hin entwickeln. (...) Ein gesteigertes Bewusstsein ist es, in dem man die Schwelle überschreitet und in dem man die innere Dreigliederung der menschlichen Seelenwesenheit in der übersinnlichen Welt wahrnimmt.

Etwas Ähnliches, aber jetzt naturgemäß von selbst, nicht bewusst, macht im heutigen Zeitalter als ein kosmisches geschichtliches Ereignis die gan­ze Menschheit durch. Man merkt es nicht, wenn man nicht den unbewussten Vorgang, der sich für die ganze Menschheit abspielt, geisteswissenschaft­lich bewusst studiert. (...) Das ist es, was im Unbewussten der ganzen Menschheit sich heute abspielt, was man bloßlegen muß durch die Geistes­wissenschaft, was aber auch beweist, wie notwendig dieser heutigen Menschheit die Geisteswissenschaft ist. Denn dieses Überschreiten der Schwelle darf eigentlich nicht im Unbewussten bleiben.“[3]

Neuen Zusammenhalt von Denken, Fühlen und Wollen erarbeiten

Diese von Rudolf Steiner geschilderte geisteswissenschaftliche Tatsa­che, dass die Menschheit unbewusst die Schwelle zur geistigen Welt über­schritten hat, geht mit einer in der Menschheit heute überall sichtbaren Symptomatik einher, die nur verstanden werden kann, wenn das Schwellenerlebnis bewusst durchgemacht wird: die Trennung von Denken, Fühlen und Wollen – und die daraus erwachsende Notwendigkeit, neu den Zusam­menhalt zu erarbeiten.

Denn genau das ist der Hauptcharakterzug des wissenschaftlichen Lebens unseres Jahrhunderts: Die Wis­senschaft ist stolz darauf, dass sie von Fühlen und Wollen getrennt, d.h. „intersubjektiv“ bzw. „objektiv“ ist. Hier hat sich also längst – ohne dass man es bewusst erlebt hätte in seiner ungeheuren Bedeu­tsamkeit – eine Trennung des Denkens vom Fühlen vollzogen.

Auf der anderen Seite ist dieses Jahrhundert Zeuge geworden von verhee­renden Weltkriegen und unvorstellbaren Ausbrüchen menschlicher Grau­samkeit und Bestialität. In diesen Fällen hat sich der Wille vom Fühlen gelöst und folgt – unbeherrscht vom Denken und Fühlen – den leibgebundenen Trieb- und Begierdekräften. Die großen Probleme der Gegenwart – eine Wissenschaft ohne Verantwortung und wachsende Lieblosigkeit im Sozia­len – sind nichts anderes als  Symptome für die Trennung von Denken, Fühlen und Wollen und die Unfähigkeit der Menschheit, mit die­ser Tatsache zurechtzukommen. So erwächst dem einzelnen Menschen aus dieser menschheitlichen Gesamtsituation heraus die notwendige Aufgabe, sich die Tatsache des unbewussten Schwellenübergangs bewusst zu ma­chen und sich auf den Wegen der Selbsterziehung auf den bewussten Schwellenübertritt vorzubereiten. Dies bedeutet aber zugleich, „den Tod in seiner Bedeutung für das gesamte Leben des Menschen zu erkennen“.[4]

Die Herausforderung unserer Zeit, das unbewusste Stehen an der Schwelle und das Überschreiten der Schwelle willentlich anzunehmen und die eigene Entwicklung in entsprechende Bahnen zu lenken, ist die wichtigste Aufgabe der heutigen Menschheit.

Vgl. 5. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993


[1] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen. GA 192, 1991, Vortrag vom 1.Mai 1919 in Stuttgart.

[2] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, 1982.

[3] Frits Wilmar, Vorgeburtliche Menschwerdung. Stuttgart 1991, Seite 127.

[4] Ebenda.