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Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Unterschied zwischen den Versionen
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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/ | ||
== SELBSTERKENNTNIS UND SELBSTERZIEHUNG == | |||
''Welche Gefahren birgt der Erwerb von Erkenntnis und Selbsterkenntnis?'' | |||
''Wie kann man ihnen gegensteuern?'' | |||
=== ''Gefahren von Erkenntnis und Selbsterkenntnis'' === | |||
Wer sich das Schulungsbuch Rudolf Steiners ''„Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“''[1] vornimmt'','' gewinnt zahlreiche neue Gesichtspunkte für seine Selbsterkenntnis: Das menschliche Wesen wird ausführlich beleuchtet, dazu die Möglichkeiten, mit dem eigenen Denken, Fühlen und Wollen umzugehen, dass man nach Beendigung dieser Lektüre ganz neu auf sich selbst und andere schauen kann. | |||
Das bringt jedoch ein nicht zu unterschätzendes Problem mit sich: Dieser Zuwachs an Erkenntnis befähigt den Menschen, die Schwächen seiner Mitmenschen viel deutlicher als bisher wahrzunehmen und je nach Temperament anzusprechen bzw. zu kritisieren –womit an die höchst problematische Seite von Wissen, Erkennen und Denken gerührt wird: Im Durchschauen, im „Wissen“, liegt immer die Gefahr, dass wir nicht nur problembewusst, sondern auch überheblich, arrogant und anmaßend werden. Plötzlich wissen wir ganz genau, was geschehen müsste, was dieser oder jener hätte tun sollen oder können, und bemerken gar nicht, wie wir uns selbst immer mehr auf ein Podest stellen und von dort aus auf die Verhältnisse hinabblicken, in der irrigen Meinung, wir hätten schon viel erreicht. | |||
Aber auch mit der Selbsterkenntnis ist ein Problem verbunden – Ärger, ja die Verzweiflung darüber, was man alles nicht kann. Man legt dann ein Buch wie das von Steiner vielleicht mit dem deprimierenden Gefühl aus der Hand: Ich weiß genau, dass das alles wahr ist und man es eigentlich umsetzen müsste – aber ich kann es nicht. | |||
=== ''Das Vorhandene wahrnehmen'' === | |||
Mit diesen beiden Reaktionen sind die klassischen Feinde jeder effektiven Selbsterkenntnis und Selbsterziehung charakterisiert: | |||
* ''Die Illusion'', dass, wenn man etwas verstanden hat oder weiß, man dann auch das Recht hat, andere Menschen entsprechend zu be- und verurteilen, die dieses Niveau der eigenen Meinung nach noch nicht haben, aber eigentlich doch haben müssten. Etwas zu „wissen“ bedeutet in der Regel nicht, dass man es auch „kann“. | |||
* ''Die Resignation'', die bis zur Depression gehen kann, dass man sich diesen Entwicklungsweg nicht zutraut und den Mut zum ersten Schritt nicht hat. | |||
Wirkliche Selbsterkenntnis hat nichts mit Selbsttäuschung im Sinne einer Über- und Unterschätzung der eigenen Möglichkeiten zu tun. Sie erstreckt sich vor allem auf das Gebiet, das mit dem Willen und dem tatsächlichen Können zusammenhängt. Sie beginnt nicht mit dem, was man weiß oder zu wissen meint, sondern ganz schonungslos mit dem, was man selbst wirklich ist und kann: Das ist weder „nichts“ noch „alles“, sondern das jetzt schon Vorhandene, das es zunächst wahrzunehmen und zu schätzen gilt. Erst dann hat man auch die Ruhe, auf das hinzublicken, was fehlt oder änderungsbedürftig ist. Das aber ist nicht leicht, sodass mit Recht gesagt wird, dass Selbsterkenntnis die schwerste Erkenntnis überhaupt ist. Denn wie oft breiten wir den Schleier der Selbsttäuschung, der Unbewusstheit und des Im-Grunde-nicht-Wissen-Wollens doppelt und dreifach über das, was wir sind, wohingegen das Verhalten anderer Menschen offen und gleichsam nackt vor uns liegt und wir auf sie gerne unsere Erkenntnisse anwenden. Wenn die anderen jedoch über uns sagen, wir wären so oder so, weisen wir das oft weit von uns und denken, dass der Betreffende keine Ahnung hat, wer und wie wir wirklich sind und was wir können, und schon gar kein Recht, uns etwas vorzuhalten. | |||
=== ''Selbsterziehung als Ausweg'' === | |||
Wirkliche Selbsterkenntnis ist von Selbsterziehung nicht zu trennen – ja mehr noch; Rudolf Steiner spricht sogar von einer „Goldenen Regel“: ''„Wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten.“[2]'' Wer an sich selber immer wieder die Erfahrung gemacht hat, wie schwer echte Selbsterkenntnis und die damit verbundene Selbsterziehung sind, dem vergeht das Kritisieren der Schwächen anderer Menschen um des Kritisierens willen. Er nimmt sie zwar weiterhin wahr, so wie seine eigenen auch, aber er geht innerlich mit der Frage um, wie er dem anderen helfen kann, an ihnen zu arbeiten, so wie er selber mit den eigenen Schwächen ringt. Man weiß von sich selbst, dass man Selbsterziehung nur gerne „selbst“ macht – nicht jedoch von anderen nahegelegt bekommt. | |||
Es nützt auch wenig, wenn andere Menschen einem die eigenen Schwächen vorhalten und denken, mit einer solch „ehrlichen Aussprache“ hätten sie etwas Gutes bewirkt. Weiß man doch selber viel zu gut, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Das Positive daran ist allenfalls, dass derartige „Offenbarungen“ von Mitmenschen uns ein gehöriges Maß an Selbsterziehung abfordern: Man sollte versuchen, die vorgebrachte Kritik entgegenzunehmen und, wenn irgend möglich, in Ruhe stehen zu lassen. Wer diesen Grad an Selbstkontrolle nicht aufbringen kann, wird sich zu Rechtfertigungen oder Erklärungen herausgefordert fühlen. | |||
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 1. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?'' GA 10. | |||
[2] Ebenda. | |||
== NOTWENDIGE SELBSTERZIEHUNG IM SEELISCHEN == | |||
''Warum ist Selbsterziehung so wichtig für Eltern und Erzieher?'' | |||
''Wie kann ein Schulungsweg zur Erziehung der Gefühle aussehen?'' | |||
=== ''Sich aufrecht halten zwischen Ideal und Wirklichkeit'' === | |||
Der kritischste Bereich der Selbsterfahrung ist das seelische Leben. Im Denken kann ich die Ideale meines Selbst wunderbar fassen. Aber mich im Seelischen aufrecht zu halten zwischen Ideal und Wirklichkeit, ist oft außerordentlich schwierig. Wir müssen etwas Vermittelndes finden, das dem Leben gerecht wird, sodass wir Ideale nicht ablehnen und uns gehen lassen, sondern an der Entwicklung unseres Selbstbewusstseins weiterarbeiten, das wir mehr oder weniger stabil veranlagt aus Kindheit und Jugend mit ins Leben nehmen. | |||
Gerade das Seelenleben stellt uns vor die Notwendigkeit, einen Schulungsweg zu gehen, der uns hilft darauf zu vertrauen, dass uns aus der Umgebung durch Bejahung, Liebe und Rücksicht Hilfe zufließt. Die beste Erziehung nützt wenig, wenn sie nicht später in Selbsterziehung übergeht. Schlimme Mängel in der Erziehung können in ihren Folgen ausgeglichen werden, wenn eine starke Persönlichkeit die Zügel selbst in die Hand nimmt oder wenn durch Therapie neue Wege geöffnet werden. | |||
=== ''Liebe üben als Notwendigkeit'' === | |||
Ich möchte ein Motiv nennen, von dem ich denke, dass es gerade für Berufe, die mit dem Kleinkind zu tun haben, das Wichtigste ist: Liebe üben. Unser Gefühlsleben, unser Seelenleben, bewegt sich im Spannungsfeld von Sympathie und Antipathie. In diesem Bereich hat aber Liebe keinen Platz; sie ist als Gefühl, als seelische Realität, zunächst überhaupt nicht vorhanden. Sie ist etwas, das sich jeder Mensch erarbeiten muss. Wer Sympathie mit Liebe verwechselt, kennt die Liebe nicht und wird eines Tages schmerzlich erwachen, dann nämlich, wenn Sympathie in Antipathie umschlägt. | |||
Liebe kann nie in Antipathie umschlagen. Vielmehr vermittelt sie zwischen den einander entgegengesetzten Kräften der Antipathie und Sympathie. Letztere gehören zur menschlichen Konstitution und sind uns gegeben. Was wir aber erst entwickeln müssen, was nicht spontan da ist, ist die Liebe. Durch Liebe wird Antipathie immer objektiver und differenzierter. In dem Maß, in dem sich die Liebefähigkeit entfaltet, reduziert sich Antipathie immer mehr auf das, was tatsächlich böse, destruktiv und problematisch ist. Und auch die seelischen Sympathien verändern sich dahingehend, dass sie bewusst machen, was man als wahr, schön und gut empfindet. Die Liebe wächst in dem Ausmaß, in dem wir daran arbeiten, dass Sympathien und Antipathien nicht mehr bloß Selbstbehauptungsstrategien triebhafter Natur sind, sondern zu Wahrnehmungsorganen werden für das Leben. | |||
=== ''Das eigene Seelenleben objektiv handhaben'' === | |||
Liebe entwickeln bedeutet also, an seinen Sympathien und Antipathien so zu arbeiten, dass sie uns helfen objektiv zu urteilen und wir frei mit ihnen umgehen können. Das ist der Schulungsweg der Mitte, den vor allem der Erzieher gehen muss, der mit kleinen Kindern zu tun hat. Denn im Umgang mit kleinen Kindern, aber auch im Umgang mit Eltern von kleinen Kindern sind viele naturhafte, triebhafte Emotionen mit im Spiel: Schuldgefühle, Neid, Ärger, Verdächtigungen und andere mehr. In dieses Durcheinander bekommen wir nur dann Klarheit, wenn wir an der Reinigung und Verobjektivierung unseres eigenen Seelenlebens arbeiten. Erst dadurch werden wir fähig, ein wirklich gesundes und stabiles Selbstbewusstsein aufzubauen und beispielsweise einen anderen zu bewundern, ohne ihn zu beneiden, oder etwas scharf zu verurteilen, ohne lieblos zu werden. Denn erst wenn ein Mensch spürt, dass er nicht gehasst oder verachtet wird, kann er unser Urteil annehmen. Die soziale Kompetenz und die Möglichkeit, im Sozialen wirklich gedeihlich zu arbeiten, steht und fällt mit der Erziehung der Gefühle durch die Kraft der Liebe. | |||
''Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft'' | |||
== NOTWENDIGKEIT VON SELBSTERKENNTNIS == | |||
''Wie hängen Freiheit und Selbsterkenntnis zusammen?'' | |||
=== ''Selbsterkenntnis und Mitverantwortung als Kernkompetenzen'' === | |||
Es gibt zwei Kernkompetenzen zur Bewältigung von Schwellenerfahrungen: Selbsterkenntnis und Mitverantwortung für alles, was geschieht. Wenn man nicht bereit ist, den strikten Willen zur Selbsterkenntnis und zur Selbstverantwortung aufzubringen, trägt man aktiv zur weiteren Traumatisierung der Gesellschaft bei. Diese Andeutung möge genügen, dass wir uns selbst folgende Fragen stellen: | |||
''Wie steht es um meinen Willen zur Selbsterkenntnis?'' | |||
''Wie steht es um meinen energischen Willen zur Mitverantwortung?'' | |||
''Wie steht es um mein Schwellenbewusstsein?'' | |||
''Wie steht es um meine Entwicklung vom verletzten Menschsein zum heilenden, mich und andere verwandelnden Kulturstrom?'' | |||
Die Anthroposophie will eine Einweihungswissenschaft sein. Sie will ein Weg sein, durch den das innermenschliche Erkenntnispotenzial sich mit der Welt, für die wir mitverantwortlich sind, verbinden kann. | |||
=== ''Allen zur Verfügung stehendes Wissen'' === | |||
Rudolf Steiner stellt uns Eingeweihten-Wissen zur Verfügung. Bevor das Internet erfunden wurde, schuf er bereits ein spirituelles Internet: allgemeines Wissen über die geistige Welt. Es steht uns zur Verfügung, ohne dass wir es zureichend verstehen (müssen). Dasselbe gilt für das gesamte heute übers Internet zugänglich gewordene esoterische Wissen – die Anthroposophie bildet da keine Ausnahme. | |||
Das zu begreifen ist wichtig. Denn zur Bewusstseinsseele gehört, dass der Mensch sich ein klares Bewusstsein erwirbt von dem, was er schon weiß. Jeder sollte sich fragen: | |||
''Wo liegt die Grenze meines persönlichen Verstehens?'' | |||
Der oft gehörte Vorwurf an Anthroposophen, sie wären nicht authentisch, ist reine Projektion. So etwas kann man sich nur selbst vorwerfen. Hinter diesem Vorwurf steht der Ärger, dass die andern nicht dem eigenen Wunschbild entsprechen. Man hätte sonst von ihnen lernen können, was einem selbst fehlt. Also geht man auf sie los. | |||
Wir müssen uns klarmachen, dass die Anthroposophie gar nicht automatisch authentisch machen ''darf'': Sonst ließe sie uns nicht frei. Stellt euch vor, alles würde uns so dargebracht, dass wir es nur anzunehmen und nachzuahmen brauchen. Freiheit bedeutet vielmehr, dass alle Wissensfülle da ist wie in einem Selbstbedienungsladen – dass man sich aber selbst „bedienen“ muss. Wenn alles gut geht, kommen wir irgendwann selbstgewollt auf unserem Weg zu Selbsterkenntnis und übernehmen Mitverantwortung. | |||
''Vgl. Vortrag „Trauma als Schwellenerfahrung“, Dornach 2011'' | |||
== ICH-KOMPETENZ UND SELBSTERKENNTNIS == | |||
''Was verhilft uns zur Selbsterkenntnis?'' | |||
Die Ich-Kompetenz, die vierte Ebene unseres Menschseins, ist der ewige Anteil in uns. Während wir unseren biografischen Weg gehen, machen wir alle die Erfahrung, dass wir ihn mit unseren eigenen Füßen gehen. Selbst wenn wir sagen – ''„Dahin wollte ich doch gar nicht!“'' – sind wir doch dahin gegangen. | |||
=== ''Aktive Aneignung der eigenen Biografie'' === | |||
Das ganz Entscheidende am Ich-Aspekt ist die systematische Aneignung und Integration dessen, was man wirklich ist: Dass man nicht abspaltet, was einem nicht gefällt, und so tut, als hätte man diese Seiten nicht auch, dass man keine subjektive, sympathie-betonte Selektion vornimmt von allem, was man ist. Eine wunderbare Übung, die man selbst durchführen muss. Erst wenn man sie gemeistert hat, hat man sich aus meiner Sicht die Fähigkeit erworben, Menschen mit einem schwierigen Schicksal kompetent zu begleiten. Denn nur wer sich seine eigenen Lebensabbrüche und Schwierigkeiten vergegenwärtigt und all dasjenige aneignet, wovon man sich am liebsten distanzieren würde, entwickelt Verständnis für die Schwierigkeiten anderer. Er hat erkannt, dass im Leid eine tiefe Weisheit sitzt indem er sich vor Augen stellt – ''„Ich bin diesen Weg gegangen. Ich war selbst an all diesen Orten. Ich habe so und so reagiert. Hier war ich Opfer, hier war ich Täter. Ich war immer dabei, es gehört zu mir.“'' –, dass aber auch in der Freude eine großartige Quelle der Kraft liegt und dass das Leben beides braucht – Kraft und Weisheit. | |||
Wir lernen durch Erfahrung und durch Einsicht. Wir brauchen beides. Die Erfahrung ist eben sehr oft leidbetont. Dazu ja sagen zu können, entspringt der Ich-Kompetenz. Das Ich lebt im Ja und im Nein, es hat die Möglichkeit der Aneignung und des Sich-Distanzierens. Sich die eigene Biografie, den eigenen Weg, anzueignen, ist ein ganz entscheidender Aspekt. Dann erst sind wir in der Lage, Angehörigen und auch den Menschen, die wir betreuen, auf nonverbale oder verbale Art und Weise wirklich nahe zu sein. Erst dann bringen wir die nötige spirituelle Empathie auf, die ihnen helfen kann, eins zu werden mit ihrem Schicksal auf ihrem Weg. | |||
''Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 1. Vortrag, Persephone, Kongressband Nr. 2'' | |||
== VORCHRISTLICHE WEGE UND CHRISTLICHER SCHULUNGSWEG == | |||
''Was unterscheidet die vorchristlichen und christlichen Schulungswege?'' | |||
''Welche Rolle spielen Denken und Freiheit in der Geschichte der Spiritualität?'' | |||
''Inwiefern spielt lebendiges Denken eine zentrale Rolle im christlichen Schulungsweg?'' | |||
=== ''Unfreiheit anstelle eigenständigen Denkens'' === | |||
Die vorchristlichen Schulungswege sind auch heute für viele Menschen immer noch faszinierend, weil sie nur vom Guten handeln. Sie fordern, dass das individuelle Denken ausgeschaltet wird, weil es mit dem niederen Ego in Verbindung gebracht wird, das alle Probleme verursacht. Es soll ausgeschaltet werden nach dem Motto: ''„Macht euch frei und rein nur für das Gute!“'' | |||
Es gibt Meditationen von großen Meistern, die den Anschluss an das Gute fördern. Dabei kann der Schüler sich entspannen und eine gesunde Identität entwickeln. Die Meditationen sollen dafür sorgen, dass das Niedere immer weniger wird. Das ist nicht falsch. Aber wir müssen uns klarmachen, dass das nicht alles ist. | |||
Wenn ich mein individuelles Denken ausschalte, schalte ich auch meine Freiheitskompetenz als Individuum aus. Ich brauche dann einen spirituellen Lehrer, der an die Stelle meines eigenen Denkens tritt, der mich führt und kontrolliert, ob ich etwas falsch mache, zu dem ich hingehen kann, wenn ich ein Problem habe. Das war das Normale in der vorchristlichen Zeit. Diese Rolle hatte meistens das Familienoberhaupt oder der Priester im Stamm inne oder große Meister und Lehrer des Volkes und ihre Schüler, die Mönche. | |||
=== ''Unterschied zwischen Guru und christlichem Lehrer-Prinzip'' === | |||
''Was kennzeichnet einen Guru'' Neues Testament, ''Johannes 4, 24?'' | |||
Zum '''Guru''' wird jemand in dem Moment, in dem er andere Menschen nicht mehr nur esoterisch berät, sondern Schüler von seinen Weisheitsaussagen abhängig werden und er ihnen Dinge verkündet, auf die sie selbst nicht gekommen wären. Rudolf Steiner sagt, es wäre wesentlich, dass der Suchende, das, was er an Erkenntnissen sucht, aus eigenen Kräften findet und es ihm nicht wie mitgeteilt wird. | |||
'''Der christliche Lehrer''' gibt Hilfe zur Selbsthilfe, sitzt aber nicht sichtbar in der Mitte als Inspirationszentrum und die Schüler sitzen in einer Spirale und man meditiert gemeinsam und er empfängt die Erleuchtung und bringt sie wieder zurück. Das ist eine okkulte Geste, die alte Art geistiger Lehrer zu sein. Das bezeichnet man mit dem Namen Guru. Wenn der Betreffende sich auch noch so fühlt und die anderen sich als Schüler erleben, dann ist es perfekt. | |||
Je mehr ein Mensch sich noch nach einem Gruppen-Ich sehnt, nach einem nicht individuellen Ich, nach einer Identität, die ihn mit einem guten Zusammenhang verbindet, nach einer spirituellen Gemeinschaft, nach einer familiären Gemeinschaft, nach Volksgewohnheiten, passt er sich an etwas an, das er nicht selbst bestimmt hat. Er unterwirft sich damit einem kollektiven Bewusstsein. Das sollte man wissen, wenn man es tut. | |||
Dieser Weg ist für viele Menschen ein Segen, weil er ihnen vorübergehend hilft, das Destruktive in sich zu vernachlässigen. Damit stehen sie aber gleichzeitig wie auf einem Parkplatz der Individualisierung. Sie gehen im Grunde zurück in vorchristliche Gewohnheiten. Damit sage ich nicht, dass das falsch ist, aber es ist anders, als wenn man das Destruktive im Prozess der Individualisierung integriert und als Teil der eigenen Identität erkennt. | |||
=== ''Soziale Spielregeln anstelle von Freiheit'' === | |||
* Der '''vorchristliche Weg''' braucht keine Freiheit für die Identitätsbildung. | |||
* Wohingegen die Freiheit auf dem '''christlichen Weg''' eine wesentliche Dimension der individuellen Identitätsbildung darstellt. | |||
Interessant ist, dass alle vorchristlichen spirituellen Wege von Wahrheit, Mitleid und Liebe sprechen. Die Wahrheit spielt eine zentrale Rolle, weil Gott mit der Wahrheit identifiziert wird. Für das menschliche soziale Leben braucht man Mitleid und Liebe. Von Freiheit wird nicht gesprochen. An der Stelle von Freiheit stehen klare soziale Spielregeln, an die man sich anpassen muss, da ist kein Spielraum für individuelle Freiheit. | |||
In China ist das heute noch so. Es gibt martialische Strafen, wenn irgendjemand gegen die kollektiven Werte verstößt und zwar nicht, weil die Chinesen keinen Sinn für Menschenrechte haben, – das behaupten nur wir – sondern weil ihnen eine Spiritualität eigen ist, die nur an das Gute glaubt und alles Schlechte als Irrtum auffasst, der ausgemerzt werden muss. Das Böse wird als Irrtum angesehen, der Mensch habe gut zu sein. | |||
=== ''Drei menschheitsgeschichtliche Zugänge zum inneren Schulungsweg'' === | |||
==== 1. Der magisch-rituelle Zugang über den Willen ==== | |||
Der älteste Weg geht über den Willen und ist magisch-rituell. Südamerika ist Heimat und Ursprung davon, aber auch der Teil im Pazifik, von dem die Indianer ursprünglich stammen, die wunderbare polynesische Inselwelt. Amerika ist ein junger Kontinent, in den alle Menschen erst eingewandert sind. Der pazifische Raum dagegen mit Australien, China und Indien ist viel älter. Da kommen all die Völkern her, die in ihren Tempeln magisch-rituelle Heilungen mit Tänzen, Riten und Ritualen vollziehen. Damit verbunden ist auch der Verzehr von bestimmten Nahrungsmitteln, von Tieropfern, Fruchtopfern und Pflanzenopfern. All dies geschieht nicht aus einem klaren Bewusstseinszustand heraus, sondern aufgrund einer großen Machtentfaltung, die direkt vom Willen ausgeht. | |||
Alle Überlieferungen von Hexen und Zauberern, auch in den europäischen Sagen und Märchen, haben dort ihre Wurzeln. In vielen Filmen unserer Zeit ersteht das alles wieder. Das Wissen darum ist nicht vergessen, es rumort tief im Unbewussten und kommt in der Kunst, aber vor allem auch in rituellen Gemeinschaften, immer wieder in der einen oder anderen Form zum Ausdruck. | |||
==== 2. Esoterisch-meditativer Zugang über die Sprache ==== | |||
Eine zweite große kulturgeschichtliche Epoche beginnt mit der Tradition der „Veden“ in Indien, als man anfing, bewusst die Sprache zu meditieren, allen voran heilige Silben wie das „OM“, das älteste Mantra der Welt. Viele Atem- und Yogaübungen aus diesen Traditionen haben sich bis heute erhalten und wurden durch den Buddhismus noch vertieft. | |||
All diesen esoterischen Meditationstechniken, die an die Sprache, den Atem oder bestimmte Körperstellungen anknüpfen, ist gemeinsam, dass sie ganz bewusst auf das Denken verzichten. | |||
==== 3. Bewusster Zugang über das Denken ==== | |||
Erst mit der Niederschrift der Evangelien wurde das Reich Gottes überhaupt dem Denken zugänglich. Jetzt heißt es: ''„Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“.'''[1]''''' Gott will nicht draußen in der Natur angebetet werden, sondern im Geist und in der Wahrheit des Inneren''.'' Die Wahrheit kann ausschließlich über das Denken individuell erkannt werden. Nur im Denken kann ich entscheiden, ob ich etwas für wahrhalte oder nicht. Wir neigen dazu, unserem Gefühl blind zu glauben – was eine Quelle vieler Irrtümer im Sozialen ist. Echte Wahrheitsfindung ist nur über das Denken möglich. | |||
''Novalis'' hat das so ausgedrückt: ''„Nach innen geht der geheimnisvolle Weg, in uns ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und die Zukunft“.'' Laut Novalis hat die Ewigkeit viele Welten. So wie jeder von uns in seiner Welt lebt und Mühe hat, den anderen zu verstehen, so war Novalis sich bewusst, dass man, wenn man die spirituelle Ebene betritt, viele Welten vorfindet. Diese können nur durch die ernsthafte Suche nach Wahrheit eingeordnet und integriert werden. | |||
''Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010'' | |||
----[1] Neues Testament, ''Johannes 4, 23, 24.'' | |||
== ANTHROPOSOPHIE ALS INSTRUMENT DER SELBSTBEFÄHIGUNG == | |||
''Inwiefern ist Anthroposophie ein Instrument der Selbstbefähigung?'' | |||
Anthroposophie ist keine Weltanschauung und auch keine Religion, sondern muss als Wissenschaft vom Geist verstanden werden, die auf Erkenntnissen von Rudolf Steiner aufbaut. Anthroposophie befähigt jedoch, die verschiedenen Religionen besser zu verstehen, Toleranz zu entwickeln und weltanschaulich flexibel, offen und bewusst zu werden. Rudolf Steiner wollte seine Darstellungen als Arbeitshypothese verstanden haben, die jeder selbst auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen sollte. | |||
=== ''Das eigene Ich kultivieren, die Welt verstehen'' === | |||
Anthroposophie gibt uns das Werkzeug zur Hand, | |||
* einerseits das eigene Denken, Fühlen und Wollen frei zu handhaben zu lernen, | |||
* und dadurch andererseits diverse Zusammenhänge und Welterscheinungen sinnvoll beurteilen und einordnen zu können. | |||
Wenn Kinder im genannten Sinne zu urteilen lernen, können sie später ihre eigene Weltanschauung bilden. In der „Philosophie der Freiheit“ können wir lesen:[1] ''„Die Natur macht aus uns ein Naturwesen, die Gesellschaft ein den Gesetzen gemäß handelndes Wesen.'''[2]''' Ein freies Wesen kann der Mensch nur selbst aus sich machen.“'' | |||
Wenn Leute sagen, dass es für sie keine Freiheit gibt, glaube ich ihnen das sofort. Denn die gibt es nur, wenn man sie auch ausüben will. Könnte man jemanden zur Freiheit zwingen, wäre es keine Freiheit. Was Freiheit wirklich ist, muss man erst verstehen, es auch sinnvoll finden – und schließlich zu handhaben lernen. | |||
=== ''Selbstschulung durch Übungen im Alltag'' === | |||
Die Erste wäre, uns mit Anthroposophie in einer Art zu beschäftigen, dass sie uns freier, selbständiger, verständnisvoller und beweglicher macht. Vor allem über den in Rudolf Steiners Grundlagenwerk zur Selbstschulung beschriebenen Schulungsweg[3] kann es uns gelingen, unser Ich „auf die Spur“ zu bringen. | |||
==== '''·''' Nebenübungen zur Charakterschulung ==== | |||
In dieser Hinsicht sind heute die Nebenübungen wichtiger denn je.[4] | |||
''Was bringt die Entfaltung der Herzlotusblume,[5] das Üben der sechs Eigenschaften der Nebenübungen?'' | |||
Man entwickelt dadurch Eigenschaften und Fähigkeiten, die jeder gestresste Mensch heute braucht – insbesondere, wenn er als Pädagoge tätig ist. Durch die Nebenübungen lernt man das eigene Denken, die eigenen Handlungen sowie das eigene Fühlen zu beobachten und zu beherrschen. Gleichzeitig versucht man den äußeren Ereignissen mit Positivität und Unbefangenheit zu begegnen. So wird man sensibel und wach für gesundende bzw. zerstörerische, kränkende Einflüsse im Sozialen. | |||
==== · Der achtfache Pfad des Buddha ==== | |||
Auch der achtfache Pfad des Buddha bringt ein großes Ausmaß an Erkenntnis im Alltag: Er verlangt das Bemühen um rechte Erkenntnis, rechte Gesinnung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechten Lebenswandel, rechtes Streben, rechte Achtsamkeit und rechtes Sich-Versenken.[6] | |||
=== ''Sich selbst sozial befähigen'' === | |||
Für einen Lehrer oder Erzieher ist es ein absolutes Muss empfinden zu können, wenn er ein Kind verletzt. Als Kinderarzt bekommt man auf erschütternde Art mit, wie sehr Pädagogen die ihnen anvertrauten Kinder oft verletzen, weil sie nicht fühlen können, wie kalt und destruktiv ihr Verhalten oder auch schon der Tonfall ihrer Stimme ist, wenn sie ein Kind rufen oder ermahnen. Für Pädagogen ist es deshalb unerlässlich: | |||
* sich um innere Ruhe zu bemühen, | |||
* allabendlich Rückschau zu halten, damit man ein wenig von sich selbst loskommt, | |||
* sensibel zu werden für Seelenwärme und Seelenkälte. | |||
Auf diesem Wege kultiviert man sein Ich. Rudolf Steiner sagte, durch die sechs Nebenübungen würde man nicht hellsichtig, doch sie geben dem Ich Stärke und Sicherheit mit auf den Weg. Sie sind eine reine Ich-Kompetenzschulung, aber in einer Art, dass man lernt, anderen zur Verfügung zu stehen und nicht nur sich selbst zu behaupten. | |||
''Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Die Philosophie der Freiheit, Grundzüge einer modernen Weltanschauung, seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode''. 16. Auflage. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995. | |||
[2] Heute würden wir sagen: ein angepasstes, nicht verhaltensauffälliges Wesen. Ein braves Wesen: einen guten Staatsbürger und Konsumenten. | |||
[3] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse Höherer Welten?'', GA 10. | |||
[4] Mehr dazu unter dem Lebensthema „Herzchakra“: Schulung der „sechs Eigenschaften“. | |||
[5] ''„Dem Hellseher eröffnet sich durch die Ausübung der zwölfblättrigen Lotusblume auch ein tiefes Verständnis für Naturvorgänge. Alles, was auf ein Wachsen und Entwickeln gerichtet ist, strömt Seelenwärme aus. Alles, was mit Vergehen, Zerstörung und Untergang begriffen ist, tritt mit dem Charakter der Seelenkälte auf.“'' | |||
[6] Vgl. <nowiki>https://de.wikipedia.org/wiki/Edler_achtfacher_Pfad</nowiki>, ges. 09.08.2023. | |||
== DIE FÜNF ASPEKTE DES ANTHROPOSOPHISCHEN SCHULUNGSWEGES == | |||
''Um welche fünf Aspekte geht es beim anthroposophischen Schulungsweg?'' | |||
=== ''Fünf essentielle Schulungsaspekte'' === | |||
Die fünf Aspekte des anthroposophischen Schulungsweges sind zugleich die fünf Wege von Krankheit und Gesundheit, die fünf Impulsen zuzuordnen sind. | |||
==== 1. Der physische Aspekt – der Karma-Impuls ==== | |||
Der physische Aspekt hängt mit dem individuellen Schicksal zusammen, dem Karma-Impuls: Dazu gehört der physische Körper, wie groß jemand ist oder wie klein, ob man Mann oder Frau ist. Vieles an diesem äußeren Schicksal entscheidet sich an der Verpackung, in der man steckt. | |||
Zum Physischen gehört aber auch alles, was mir im Physischen begegnet. Mit jedem Schritt ändert sich die Aussicht. Alles, was mir begegnet, ist Teil meines Schicksals. Es geht darum, sich mit den Gesetzen des Schicksals, mit den Gesetzmäßigkeiten der Begegnung zu befreunden, herauszufinden, wie ich vom Schicksal lernen kann, mich zu individualisieren oder besser gesagt, zu „humanisieren“. Die große Frage des Schicksalsweges, des Schicksalslernens, lautet: | |||
''Warum widerfährt mir das jetzt?'' | |||
==== 2.''' '''Der ätherische Aspekt – der Gralsimpuls ==== | |||
Beim ätherischen Aspekt geht es über das Physische hinaus in die Welt der Bilder, der Gedanken, der Ideale, aber auch der Imaginationen, die sich in mythologischen Bildern darstellen. Eine christliche Mythologie ist Archetyp für diesen ätherischen Weg – die Suche nach dem heiligen Gral. Rudolf Steiner nennt sein Buch ''„Die Geheimwissenschaft…"'''[1]''''' die Wissenschaft vom Gral. Okkult heißt ja verborgen. Immer wenn etwas nur im Gedanklichen, im Imaginativen lebt, ist es für die äußeren Sinne verborgen. Der ätherische Aspekt hängt mit dem Gralsimpuls zusammen. | |||
Wenn wir nun diese beiden Aspekte vergleichen, stellt sich die Frage: | |||
''Wie lerne ich, aus den äußeren Begegnungen die Motive für meine Entwicklung zu begreifen?'' | |||
''Brauchen sich der Karma-Impuls und der Gralsimpuls gegenseitig?'' | |||
Man braucht ja auch zwei Beine, um gehen zu können. | |||
Um aus einem positiven oder negativen Schicksal lernen zu können, brauche ich einerseits ''gute Ideen'', brauche innere Bilder und eine innere Landschaft, in die ich alles integrieren kann. | |||
Andererseits brauche ich ''ein tiefes Lebensideal'' als Orientierungspunkt. Davon spricht die Gralssuche. Es geht darum, Heilung zu finden von allem, was den Menschen von seiner wahren Menschlichkeit trennt, was ihn daran hindert, seine wahre Menschlichkeit zu entwickeln. Das Gralsmysterium beschreibt, wie man immer menschlicher wird und was man dafür überwinden muss. Es ist der Weg der Verwandlung, der inneren Transformation, der mit den Symbolen der Verwandlung von Brot und Wein in die christliche, rein menschliche Substanz verbunden ist. Christus nennt sich ''„Sohn des Menschen“''. Es geht ihm um das Menschliche, das entwickelt werden soll. | |||
==== 3. Der astrale Aspekt – der Sophia-Impuls ==== | |||
Der dritte Aspekt ist der astrale Aspekt. Mit unserem Astralleib hängen nicht nur unsere Gefühle zusammen – die Gefühle, denen jeder viel mehr glaubt als seinem Denken. | |||
Wenn ich alle meine Gefühle durchleuchtet und verstanden habe, wenn ich sie wirklich begreife, habe ich Weisheit erworben. Die größte Weisheit, die uns zugänglich ist, lebt in der Sprache. Die Gefühle sind meist jedoch sehr unbewusst. Aber wenn wir uns darin üben, unsere Gefühle auszusprechen, werden sie uns bewusst. Wenn wir Worte dafür finden, wenn das Unaussprechliche aussprechbar wird, entsteht zwischen Menschen, die sich so ehrlich austauschen, ein Stückchen Weisheit. Auf dem anthroposophischen Weg geht es auch darum, über die Sprache und das Aussprechen Weisheit zu lernen. | |||
Das schönste Instrument dafür ist die Kunst - die Kunst des Sprechens, die Kunst der Eurythmie, des Malens, des Plastizierens. Alle Künste sind dem Gefühl und der Sprache zutiefst verwandt. Jede Kunst will sprechen, hat eine Aussage, eine Physiognomie, ist expressiv. Das ist der Sophia-Impuls. Religiös gesprochen ist es der Maria-Sophia-Impuls. Denn Maria ''„bewegt alle Worte in ihrem Herzen“''. Maria hat die ganze Weisheit der Sprache in ihrem Herzen. Der Logos ist das Wort – ihn hat sie geboren, ihn versteht sie. | |||
==== 4. Der Ich-Aspekt – der Michaels-Impuls ==== | |||
Nun kommen wir zum Ich-Aspekt der Anthroposophie: Damit kommen wir zu dem Erzengel Michael. Unser Ich hat eine innige Beziehung zu Michael. | |||
''Wie erfahren wir unser Ich?'' | |||
''Wie arbeitet unser Ich?'' | |||
Das sind wirklich interessante Fragen. | |||
Wir haben in der Umgangssprache das Wort „Person“ oder Persönlichkeit. Das deutet an, dass etwas durch mich hindurch tönt, „personare“. Die Wortweisheit tönt durch mich hindurch. Bei jemandem, der „high“ ist, der nicht wirklich ins Leben einsteigen will, befindet sich das Ich weit draußen und tönt nicht hindurch. Deswegen erscheint so jemand als eine schwache Persönlichkeit. | |||
Damit kommen wir zum Mysterium von Michael und dem Drachen, dem Mysterium von Licht und Finsternis. Das Schwert, mit dem Michael den Drachen besiegt, ist eine typische Imagination für das Ich, das durchstoßen, ja sogar durchbrechen muss, das die Widerstände des Physischen besiegen muss, um hereinkommen und sich inkarnieren zu können. Um das zu üben, beschreiten wir den Erkenntnisweg, den vorhin genannten freiwilligen Weg des Lernens. Der Königsweg der Entwicklung besteht darin, dass etwas freiwillig aus Einsicht verwandelt und gelernt wird, dass man nicht wartet, bis das große Leid kommt, an dem man aufwacht. | |||
==== 5. Der kosmisch-spirituelle Aspekt – der Christus-Impuls ==== | |||
Nun zum kosmisch-spirituellen Aspekt: Über unser Denken gehen wir weit über uns hinaus und gelangen in den Gedankenkosmos und zu der Kosmologie, aus der wir morgens einzelne Aspekte betrachten, mit der wir es aber auch heute Abend zu tun haben, wenn wir zu den Sternen aufschauen. Der kosmisch-spirituelle Aspekt weist uns den Weg des Interesses für die Kräfte, die Wesen und die Weisheit, aus denen dieser ganze Weltzusammenhang entstanden ist. | |||
In der Anthroposophie wird ganz klar der Zusammenhang hergestellt mit dem Logos oder der Christus-Wesenheit. Ich las einmal etwas in einem Vortrag Rudolf Steiners, wodurch mir plötzlich klar wurde, in welche Richtung das weist. Da sagte er: Es genügt dem Christus heute nicht mehr, dass man nur an ihn glaubt – er will verstanden werden. Das kann wie so ein Schock sein. | |||
''Wie kann man ihn verstehen?'' | |||
''Und was hat das für Konsequenzen?'' | |||
''Welcher Art muss eine Wissenschaft sein, die den Christus versteht?'' | |||
Der fünfte Aspekt der Weg zu Christus, der aber ein sehr komplexer, kosmologischer und umfassender Weg ist. | |||
''Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Die Geheimwissenschaft im Umriß,'' GA 13, Dornach 1989. | |||
== VORAUSSETZUNGEN FÜR SELBSTSCHULUNG == | |||
''Welche Voraussetzungen muss jemand erfüllen, wenn er einen inneren Schulungsweg gehen möchte?'' | |||
''Welche Qualitäten sind dabei hilfreich?'' | |||
=== ''Den eigenen Schulungsbedarf erkennen'' === | |||
Rudolf Steiner schrieb als Anleitung zur Selbsterkenntnis das Buch ''„Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“''.[1] Als ich dieses Grundlagenwerk zum ersten Mal las, waren es mir zu viele Übungen – alles erschien mir so kompliziert. Ich dachte, dass ich das nie schaffe. Bis mir aufging, dass in diesem Buch ein bewusster gedankengestützter Weg für die heutige Menschheit aufgezeichnet wurde, insofern sie ihn sucht. Ich begriff, dass deswegen so viele Übungen darin beschrieben sind, weil es so viele unterschiedliche Menschen gibt: Für die einen ist die eine Übung wichtig und für andere eine andere Übung. Für einen Dritten ist es wichtig, dass er zwei Übungen zusammenfasst. | |||
Die erste wichtige Voraussetzung für den Schulungsweg ist, dass man selbst weiß, was man sucht. Man muss bewusst Fragen formulieren: | |||
''Wo stehe ich derzeit?'' | |||
''Wohin will ich gelangen?'' | |||
''Was möchte ich lernen?'' | |||
Wenn ich das genannte Werk mit diesen Fragen im Hinterkopf lese, wird es auf einmal ganz einfach. Dann entdeckt man möglicherweise schon nach drei Seiten eine Antwort. Ein anderer wiederum muss drei Kapitel lesen und findet erst dann, was für ihn wichtig ist. | |||
Es kann aber auch eine große Hilfe sein, den Weg als Ganzes einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen. Dafür ist eine zweite Eigenschaft nötig: Bescheidenheit. Ich muss gar nicht alles sofort umsetzen, was dort steht. Ich muss vielmehr warten können, bis ich es nach und nach entwickle. | |||
=== ''Hilfreiche Qualitäten als Wegbegleiter'' === | |||
''Goethe'' hat einen schönen Aphorismus geprägt: ''„Gegenüber großen Vorzügen eines anderen Menschen gibt es nur ein Rettungsmittel'' – ''die Liebe."'' Ohne diese Liebe wird man neidisch und giftig. | |||
Das Gleiche gilt für den Schulungsweg: Wenn ich den Weg an sich lieben kann, auch wenn ich selbst erst ganz am Anfang stehe, wenn ich die Schönheit und Erhabenheit der zu erreichenden Ziele aushalte, dann kann ich ihn gehen und werde auch anderen helfen können ihn zu gehen. | |||
Wenn ich z.B. Arzt bin, muss ich mir bewusst sein, dass ich möglicherweise Patienten haben werde, die auf ihrem inneren Weg viel weiter fortgeschritten sind als ich. Um sie verstehen zu können, wäre es gut Bescheid zu wissen über die unterschiedlichen Erlebnismöglichkeiten im Rahmen der Selbstschulung. Aus Liebe zum Weg und aus Interesse an meinen Patienten werde ich somit vieles kennen lernen, was noch gar nicht zu meinem Erfahrungsspektrum gehört. | |||
Drei Qualitäten sind vonnöten, will man weiterkommen auf dem Schulungsweg: | |||
* ehrliche Selbsterkenntnis über den eigenen Entwicklungsbedarf, | |||
* Liebe zum Weg | |||
* Bereitschaft zu üben | |||
Viele Menschen hören aus reiner Ungeduld mit dem Üben auf. Sie sagen: ''„Ich habe es probiert und es hat mir nichts gebracht.“'' Sie dachten vielleicht, dass ein bisschen üben genügt, um großartige Ergebnisse zu erzielen. So funktioniert das aber nicht, zumindest nicht auf diesem Weg. | |||
''Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?'' GA 10. | |||
== DER INDIVIDUELLE SCHULUNGSWEG == | |||
''Wie kann man seinen individuellen Schulungsweg finden?'' | |||
=== ''Klarheit über das Ziel erlangen'' === | |||
Sucht man nach einem geeigneten Schulungsweg, muss man sich klar werden darüber, was man werden will, wohin man sich entwickeln will. Das Initiationsmoment ist zu sagen: Ab heute lasse ich meine Entwicklung nicht einfach laufen, ich will vielmehr systematisch lernen, sie selbst in die Hand zu nehmen. | |||
Als Zweites kann man sich überlegen: | |||
''Wer hat Erfahrung mit Selbstschulung?'' | |||
''Wer könnte mir Hilfestellung leisten?'' | |||
''Wo finde ich Gesprächspartner?'' | |||
Es geht nicht darum, einen Lehrer zu finden, an den ich mich klammere, sondern sich mit Menschen zu verbinden, die dasselbe versuchen wie ich, mit denen ich mich beraten und austauschen kann. Man kann auch nach passenden Büchern Ausschau halten, wenn man sich klar darüber ist, an welche spirituelle Orientierung man sich anschließen möchte, ob man den Weg der Buddhisten, der Islamisten oder der Anthroposophen gehen will. | |||
=== ''Passende Übungen aussuchen'' === | |||
Für diejenige, die den anthroposophischen Weg gehen wollen, ist ''„Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“'''[1]''''' unabdingbar, weil alles Grundlegende darin zu finden ist. Man sollte nur nicht meinen, man müsse alle beschriebenen Übungen auch durchführen: Man kann sich selbst darin wie in einem Spiegel sehen. Wenn man z.B. über die innere Ruhe zu lesen anfängt, kann man sich fragen, ob dieses Thema einen betrifft. Wenn man zu dem Schluss kommt, dass dieses Thema für die persönliche Entwicklung gerade nicht so wichtig ist, man aber spürt, dass es einem eher an Idealismus fehlt, dass man zu träge ist, wird man sich eher damit befassen, wie eine Idee zum Ideal werden und so neue Kräfte im Inneren erschaffen kann. Ideen zu haben, die man nicht umsetzt, raubt Kraft. Vielleicht erkennt man an diesem Punkt, dass man etwas tun müsste. Oder man fühlt sich von dem Grundsatz angesprochen, dass, wer einen Schritt in der Erkenntnis macht, drei Schritte in der moralischen Entwicklung machen sollte, und man fragt sich, was das eigentlich bedeutet. Oder man fragt sich: | |||
''Driften bei mir Denken und Handeln auseinander oder sind sie immer kongruent?'' | |||
''Tue ich, was ich sage und sage ich, was ich tue?'' | |||
Je nachdem, wo man steht, merkt man, ob etwas ganz selbstverständlich ist oder ob man überhaupt nichts davon versteht oder ob Erkennen und Tun auseinanderklaffen. Dann ist man frei, eine entsprechende Übung auszuprobieren. | |||
=== ''Der Lehrer als Freund und Berater'' === | |||
Ich finde es sehr wichtig, dass man darüber Tagebuch führt. Als ich 23 war, hatte ich schon alles Mögliche zu üben angefangen, auch zu meditieren. Doch dann kam ich plötzlich an einen Punkt, an dem mich alles zu bedrücken begann, alles war mir zu viel. Ich hatte andererseits aber auch Angst, das Ganze wieder fallen zu lassen und überlegte, was ich in dieser Situation tun sollte. Ich wusste auch nicht so recht, mit wem ich darüber sprechen sollte, weil ich keinen Lehrer hatte, sondern selbst mit den Büchern von Rudolf Steiner arbeitete. Ich wusste aber, ich musste eine Entscheidung treffen: Entweder ich hatte etwas falsch gemacht – dann musste ich herausfinden, was es war. Und falls sich herausstellte, dass der anthroposophische Weg doch nichts für mich war, musste ich herausfinden, was ich stattdessen machen konnte. | |||
Inmitten dieser Überlegungen kam mir eine tolle Idee: ich beschloss, mit der Frage, ob das mein Weg sei, ''„Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“'' zu lesen. Es war gerade Adventszeit und ich nahm mir vor, einen ganzen Samstag im Advent nur der Lektüre des Buches mit meiner Frage im Hinterkopf zu widmen. Ich stand schon um 6:00 Uhr auf und wollte nicht eher aufhören – typisch jung und cholerisch – bis ich eine Antwort gefunden hätte. | |||
Ich öffnete das Buch und las als Erstes das Inhaltsverzeichnis. Dabei entdeckte ich, dass es noch ein Nachwort gab, das ich bisher noch nie gelesen hatte. Das nahm ich mir also zuerst vor – und das war der erste gute Schritt. Denn in diesem Nachwort schreibt Rudolf Steiner, dass man eigentlich einen Lehrer bräuchte, dass die Zeit der Lehrer aber vorbei wäre, dass heute alle Entwicklung individuell geschehen müsste. Dann kam der Satz, man könnte dieses Buch auch als ein Gespräch auffassen, das der Verfasser mit dem Leser führt. Da begriff ich: Rudolf Steiner kann auch noch nachtodlich unser Lehrer sein, wenn wir das wollen. Lehrer sollten heutzutage nur noch Freunde und Berater sein, aber keine Weisungen mehr erteilen. | |||
=== ''Fragen genau formulieren'' === | |||
Ich beschloss, das auszuprobieren. Ich wusste, ich müsste Rudolf Steiner Fragen stellen, um auf die wichtigen Punkte zu kommen. Ich versuchte also, meine Fragen sehr genau zu formulieren – das war der zweite gute Schritt. Ich schämte mich anfangs, wie klein meine Fragen waren: Sie kamen mir so anfänglich und schlicht vor. Ich schrieb mir aber alles ehrlich und genau auf: dass ich zu viel geübt hätte, dass ich nicht mehr wüsste, wo ich stünde – all diese harmlosen Dinge schrieb ich auf. Daraufhin ging es mir schon viel besser. Als ich dann wieder zu lesen anfing, sprachen mich manche Worte an bestimmten Stellen ganz anders an. Und ich begriff manche Sätze plötzlich ganz anders. So bekam ich Antworten auf alle meine Fragen. | |||
Ich kann euch sehr empfehlen, das mal auszuprobieren. Ich weiß noch jede Einzelheit von diesem Tag, weil das mein Anfang war. Alles was ich davor probiert hatte, waren Vorübungen gewesen, eine Art Ausprobieren. Jetzt aber merkte ich: Das will ich wirklich. Da bin ich innerlich ganz dabei. Ich führte jetzt wenige bescheidenere Übungen durch, weil ich es wollte und so, wie ich konnte und nicht, weil ich meinte, ich müsste es tun. Das hat eine ganz andere Qualität. | |||
Eine andere Möglichkeit bestünde darin, sich das Initiationskapitel aus ''„Die Geheimwissenschaft im Umriss“''[2] vorzunehmen. Es gibt Menschen, für die ist genau das das Richtige. Ich selbst entdeckte dieses Buch erst ein Jahr später für mich. Denn bevor ich mich der Medizin zuwandte, studierte ich Philosophie, Germanistik, Geschichte, Theologie, also Geisteswissenschaften. Erst mit meinem Medizinstudium fing ich an, mich für die Naturwissenschaft, für die Elemente, für die Planeten, für die ganze äußere Natur und den Kosmos zu interessieren. | |||
''Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010 im Gespräch mit jungen Menschen'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?'' GA 10. | |||
[2] Rudolf Steiner, ''Die Geheimwissenschaft im Umriss''. GA 13. | |||
== DER GEHEIMNISVOLLE WEG NACH INNEN == | |||
''Warum ist es für uns als Individuen so wichtig, nicht nur in der Realität der äußeren Welt zu leben, sondern bewusst den Weg nach innen einzuschlagen?'' | |||
''Welche Ressourcen werden uns dadurch zugänglich?'' | |||
''Warum wird dieser Weg nach innen nicht von jedem ganz selbstverständlich beschritten?'' | |||
=== ''Der Mensch ist ein unzufriedenes Wesen'' === | |||
Um stabil im Leben zu stehen, müssen wir über Gut und Böse Bescheid wissen, sodass wir nicht so leicht zu irritieren sind. Der Schlüssel dazu ist das Wissen um den geistigen Kern des Menschen – den sich jeder bewusst machen kann an der Tatsache, dass man immer über das hinausgehen will, was einen heute noch zufriedengestellt hat. | |||
Einer meine Lieblingssätze aus Rudolf Steiners Buch ''„Die Philosophie der Freiheit“''[1] ist: ''„Der Mensch ist ein unzufriedenes Wesen.“'' Wir wollen immer über den Ist-Zustand hinausgehen. Das bedeutet, dass es in uns eine Kraft gibt, die etwas Neues schaffen will, das es noch nicht gibt. Wenn wir nur ein wenig Selbsterkenntnis üben, werden wir erkennen, dass wir in jedem Augenblick über unser Naturdasein hinausgehen. Ich trage in meinem Wollen eine unsichtbare Welt, die vieles, das noch nicht geworden ist und das nur durch mein Zutun werden kann, enthält. Das heißt, ich bin ein geistig-physisches Doppelwesen: | |||
* In '''meinen Gedanken''' trage ich die ''Vergangenheit'', indem ich den Bezug zu meinem Erfahrungswissen herstelle. | |||
* In '''meiner Seele''' bin ich ganz empathisch mit mir und anderen in der ''Gegenwart''. | |||
* '''Mein Wille''' strebt und lebt in der ''Zukunft'', im Noch-nicht-Realen. | |||
Das muss einem zu denken geben und als Hinweis dienen, dass man kein materielles Überbleibsel von einem Urknall sein kann. | |||
=== ''Tieferer Sinn des materiellen Daseins'' === | |||
Andererseits sehe ich auch den Sinn der materialistischen, reduktionistischen, buchstäblich knochenharten Reduziertheit. Er liegt darin, dass dadurch die geistige Welt, der Glaube an Gott und das Geistige für uns erst einmal wie gestorben ist. Das habe ich als junger Mensch auch erlebt, Gott sei Dank nicht zu lange. Deswegen gab es berühmte Menschen wie ''Nietzsche'', die sagten, dass Gott tot sei. | |||
Erst durch das Gefühl, abgeschnitten, in die Welt geworfen, ausgesetzt zu sein im ewig Sinnlosen, beginnt man diesen Geistkern in sich zu spüren. Wer in dieser „dunkeln Nacht der Seele“ ehrlich in sich lauscht, kann bemerken, dass es in ihm oder ihr etwas gibt, das diesen Zustand der Öde und Leere überwinden möchte. Dass da mehr ist als nur die Resonanz auf die erlebte Leere. | |||
Wir sind eben nicht nur ein Produkt unserer Umwelt, sondern spüren, dass der Sinn IN uns zu finden ist. So wie ''Novalis'' sagt: ''„Ins Innere geht der geheimnisvolle Weg.“'' Oder wie es im Evangelium heißt: ''„Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“'' Sucht es nicht irgendwo transzendent, nein: Wisset, im eigenen Herzen vollzieht sich die Transzendenz. Es ist eine Frage der Selbsterkenntnis, der Wachsamkeit, der Achtsamkeit herauszufinden, was sich am Grunde der eigenen Seele regt, wenn man sich die Ruhe und Zeit nimmt, um nachzudenken und zu -fühlen, worauf das innere Empfinden abzielt. | |||
=== ''Omnipräsente Reizüberflutung und mediale Ablenkung'' === | |||
Da sehe ich die größte Herausforderung der heutigen Zeit, weil wir derartig überflutet werden von Reizen, Informationen und medialer Ablenkung, dass die meisten Menschen gar nicht die Muße haben bzw. sich die Zeit nehmen, auf diese innere Stimme, diesen Willenskern in sich selbst, das spirituell Wesenhafte in sich, zu achten. Sie bewegen sich stattdessen mit ihrem Bewusstsein auf der riesigen Oberfläche dieser Welt – sei es virtuell, sei es physisch. | |||
In Bezug auf unsere Kinder müssen wir uns bewusstmachen, dass der nicht altersgerechte Umgang mit den digitalen Medien der schlimmste Entwicklungshemmer ist, den man sich vorstellen kann. Das wird die Menschen im Laufe ihrer Biografie einholen, wenn sie merken, dass sie sich wie verloren haben. Dann braucht es sehr oft Therapie, intensive Beratung, damit sie diesen Panzer an Oberflächlichkeit wie durchbrechen können, um zu ihrem eigenen Inneren, aber auch zum Fundament dieser Welt wieder vorzustoßen. | |||
''Goethe'' beschreibt in deinem ''„Faust“'' die Suche nach dem, ''„was die Welt im Innersten zusammenhält“.'' Faust erkannte schlussendlich, dass dieser geistige Wesenskern genauso in der Welt lebt wie im eigenen Inneren. Das ist ja seine große Erkenntnis. Jeder von uns muss zu diesem Kern vorstoßen, um sich selbstbestimmt weiterentwickeln zu können. | |||
''Vgl. Videobeitrag „Freudvolles Älterwerden – Freiheit durch Verzicht“, vom 13.11.2022'' | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Die Philosophie der Freiheit'', GA 4. | |||
== SELBSTSCHULUNG GEGEN ANGST == | |||
''Wie kann ein innerer Weg der Selbstschulung unter dem Gesichtspunkt der Entängstigung aussehen?'' | |||
=== ''Einweihung nimmt Zweifel und Ängste'' === | |||
Wenn man die Gesichtspunkte von ''„Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?“[1]'' genauer anschaut, fällt es einem wie Schuppen von den Augen, dass es sich dabei um ein „Entängstigungsbuch“ handelt. Denn in den Kapiteln, in denen es um die Einweihung und die Christusbegegnung geht, heißt es: | |||
''„Und erst jetzt wird der Schüler bemerken, dass er tatsächlich auch die letzten Zweifel verliert und damit auch die letzte Angst und Unsicherheit.“[2]'' | |||
Bis dahin ist der Schulungsweg noch begleitet von Zweifel, Angst und Sorge. Die Übungen fordern einen ständig heraus, Mut sowie neue Fähigkeiten und Kräfte zu entwickeln, etwas Neues zu üben, um dem Zweifel und der Sorge durch innere Aktivität etwas entgegensetzen zu können. Das fand ich sehr interessant. | |||
Wenn man Angst hat vor Begegnungen oder Angst, nicht genug Anerkennung zu finden, gibt es sehr spannende Schulungsinstrumente. Ein Kapitel aus ''„Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?“[3]'' befasst sich mit der seelischen Immunisierung, dem Schaffen seelischer Grenzen, die nicht verletzt werden können. Es handelt sich dabei um das Kapitel ''„Die Bedingungen zur Geheimschulung“[4]'' etwa in der Mitte des Buches, nach der Schilderung der Einweihung und dessen, was man dabei praktisch berücksichtigen muss. | |||
=== ''Bedingungen für den Schulungsweg'' === | |||
Dort werden Fragen der Lebensführung, der seelischen Verständigung mit sich selbst, beschrieben. Wer sich damit auseinandersetzt, verliert die Angst vor sich selbst, vor anderen Menschen und vor der geistigen Welt – denn dabei handelt es sich um ein und dieselbe Angst. Wenn ich Angst habe, mit einem anderen Menschen zu kommunizieren, habe ich auch kein Vertrauen in den guten Geist, der den anderen letztlich führt: Ich habe Angst vor dem Geistigen an sich, vor dem, was ich nicht einschätzen und beherrschen kann. Und wenn ich es allein nicht aushalte, habe ich Angst vor derselben Dimension in mir selbst. Die Bedingungen für den Schulungsweg wirken dieser Angst entgegen. | |||
==== 1. Bedingung – Gesundheit erhalten lernen ==== | |||
''Richte dein Augenmerk darauf, deine körperliche und geistige Gesundheit zu erhalten, zu pflegen.'' | |||
Diese erste Bedingung betrifft das physische Wohlbefinden: Jeder ist ängstlich, wenn er müde, überspannt, hungrig ist. Dann sind wir alle dünnhäutig, reagieren aggressiv, fahren aus der Haut, reagieren unangemessen im Sozialen, verletzen andere, ohne es zu wollen. Wer dagegen darauf achtet, seine physische Basis durch Pflege der körperlichen und geistigen Gesundheit zu schützen, stabilisiert dadurch die körperlichen Grenzen. | |||
Dazu gehören zwei sehr interessante Begriffe: Pflicht und Genuss. | |||
* Es geht darum, auf eine Art genießen zu lernen, dass einem der Genuss Kraft gibt, die Pflichten so zu erfüllen, dass sie einen nicht zu sehr stressen. | |||
* Andererseits muss man lernen, mit den Pflichten so umzugehen, dass man sie auch ein wenig genießen kann. | |||
Das von beiden Seiten her zu üben, stellt die wichtigste Voraussetzung dar, um körperliche und seelische Gesundheit sicherzustellen. Dazu gehört natürlich auch, zu bestimmten Pflichten „nein“ zu sagen, wenn man spürt, dass etwas zu viel ist. Das Achten auf die körperliche und geistige Gesundheit hilft, Pflicht und Genuss besser im Griff zu haben: dass man sich also dem Genuss nicht so exzessiv hingibt, dass man sich am nächsten Tag davon erholen muss, und dass man mit Pflicht einerseits auch Neigung verbindet und einen Sinn in der eigenen Arbeit erkennt, andererseits aber auch die Grenzen klar zu ziehen in der Lage ist. | |||
==== 2. Bedingung – Lebenszusammenhänge erkennen ==== | |||
Diese Bedingung bezieht sich auf die Lebenssphäre und –zusammenhänge. Hier geht es darum, sich zu sagen: | |||
''Ich bin ein Glied des ganzen Lebens und kann lernen, mir das bewusst zu machen.'' | |||
Ich kann empfinden lernen, wie ich mit allem, was mir passiert, zusammenhänge. Steiner bringt das Beispiel vom frechen Schüler, der den Lehrer ärgert. Der Lehrer soll sich jetzt fragen: | |||
''Warum ist der Schüler ausgerechnet heute zu mir frech?'' | |||
''Was will er mir damit sagen?'' | |||
''Was hat es mit mir zu tun als anderem „Ende der Fahnenstange“?'' | |||
Durch diesen Blickwinkel verändert sich die Beziehung. Wer diese Übung macht und sich als ein Glied des ganzen Lebens zu fühlen beginnt, lernt dabei auch seinen Doppelgänger kennen. Denn wenn andere Leute negativ auf einen reagieren, spiegeln sie einem Dinge, die man normalerweise nicht gerne anschaut – vielleicht stimmen sie nicht in dem Ausmaß, wie der andere es hinstellt, aber ein bisschen davon stimmt immer. Steiner gibt den Rat, dass man das, was stimmt, dankbar annehmen soll, während man das, worüber ein anderer sich nur ereifert, ihm möglichst nonverbal zurückgeben soll. | |||
Das Leben als das zu nehmen, was es ist, stellt eine tolle Übung dar: Leben ist so gesehen eine doppelspurige Straße, auf der ich ständig empfange und gebe. Die anderen tragen bei zu meiner Selbsterkenntnis und zur Beziehungsgestaltung. Das zu erkennen, führt zu einer gewissen Lebenszufriedenheit, stabilisiert enorm und entängstigt zugleich. | |||
===== ''„Man nehme den anderen, wie er ist…“'' ===== | |||
Ich verliere die Angst vor dem anderen, wenn er von mir aus so sein darf, wie er ist. Stellt euch das mal konkret vor: Wer schimpft, darf schimpfen, wer aggressiv ist, darf aggressiv sein, wer nicht grüßt, grüßt nicht – das alles dürfen die Menschen um uns herum! Und ich kann mich ganz souverän fragen, wie ich damit umgehen, was ich daraus machen möchte. Wenn jemand so mit anderen umgeht, dass sie so sein dürfen, wie sie sind, wirkt das magisch auf den Betreffenden zurück. Steiner sagt als soziales „Rezept“: | |||
''„Man nehme jeden Menschen, wie er ist, und versuche, daraus das Allerbeste zu machen.“'''[5]''''' | |||
Als ich das zum ersten Mal las, merkte ich, dass es sich bei mir meist umgekehrt verhält: Ich nehme ''mich'' so, wie ich bin, und mache an den anderen rum, wünsche mir die ''anderen'' anders als sie sind: Ich gebe ihnen ungefragt gute Ratschläge, kritisiere, habe gute Ideen, was sie alles besser machen könnten… | |||
Es geht nun darum, das umzudrehen – das ist doch total spannend! Der andere darf so sein, wie er ist und ''ich'' versuche mich zu ändern, dass er besser mit mir zurechtkommt. Damit arbeite ich maximal an der sozialen Entängstigung, weil ich die Angst nicht mehr haben muss, dass der andere mich verletzt, weil er mich ja verletzen ''darf'': Er hat vielleicht einen Grund und ich kann etwas von ihm lernen! | |||
==== 3. Bedingung – Gedanken und Gefühle als Realitäten erkennen ==== | |||
Die dritte Bedingung betrifft unser Denken, Fühlen und Wollen, die aus geistiger Sicht genauso real sind wie äußere Handlungen und äußere Tatsachen. Es geht darum zu üben, unsere Achtsamkeit nicht nur auf eine Blume, einen Stein, auf rieselndes Wasser zu lenken, sondern genauso viel Achtsamkeit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen gegenüber aufzubringen, indem wir uns fragen: | |||
''Warum will ich hier was?'' | |||
Wenn wir uns bewusst sind, dass die inneren Tätigkeiten von Denken, Fühlen und Wollen unsere Entwicklung genauso gestalten, wie die äußeren Tatsachen, die daraus erwachsen, werden wir viel Zeit und Kraft sparen – wir werden mehr Zeit zum Schlafen und für die Beschäftigung mit sinnvollen Dingen haben. Wenn wir bestimmte Realitäten nicht erschaffen und dafür verantwortlich sein wollen, sollten wir uns viele Gefühle und Gedanken quasi verbieten. Denn durch Gedanken und Gefühle schaffen wir Realitäten. Deshalb sollten wir oft innehalten und uns fragen: | |||
''Möchte ich, dass solche Gedanken und Gefühle von mir ausgehen oder möchte ich das anders haben?'' | |||
===== ''Sich auf den „wahren Menschen“ beziehen'' ===== | |||
Es gibt ein paradox anmutendes Evangelienwort, das sehr erweckend ist in Bezug auf dieses Thema: | |||
''„Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, segnet, die euch fluchen, betet für die, die euch beleidigen.“[6]'' | |||
Man kann jede negative Entgegnung zurückhalten, wenn man sich klarmacht: Der „wahre Mensch“, zu dem der andere werden will, findet sein „ungutes“ Verhalten genauso unangemessen wie ich. Also bete ich für ihn, dann wird es uns beiden besser gehen. Alles andere bringt gar nichts. Indem man sich ereifert, wird nur Unwesenhaftes, Elementarisches genährt – das wirkliche Wesen hat davon nichts. | |||
==== 4. Bedingung – Unabhängigkeit von äußerer Anerkennung ==== | |||
Die vierte Bedingung ist, unabhängig zu werden von äußerer Anerkennung, betrifft das Ich. Diese Bedingung hat eine besonders entängstigende Auswirkung im Sozialen, weil sie einer inneren Befreiung gleichkommt: Wir tun dann das, was wir tun, nicht um der Ehre, der Anerkennung und des Geldes willen, sondern weil es gute Gründe gibt, es tun zu wollen – und weil wir es gerne und es aus uns heraus tun. Wir nehmen dann auch gerne entgegen, was wir dafür bekommen, sind aber nicht abhängig davon. | |||
Die größte Angst im Sozialen ist heute diejenige vor Sympathieverlust und Liebesentzug. Man möchte gerne den anderen gefallen und macht sich damit von ihnen abhängig. Wer das ausnützt, beherrscht sein Umfeld. Zu merken, wie viel Ohnmacht und Machtmissbrauch im seelischen Miteinander der Menschen herrscht, ist erschreckend. Das wird einem bewusst, wenn man diese Übung macht und im Nachhinein immer wieder erkennt, dass man in diese Falle hineingetappt ist, weil man nicht aufgepasst hat. | |||
=== ''Abendliche Rückschau als Übungsfeld'' === | |||
Meine Erfahrung ist, dass man diese Bedingungen am besten üben kann, wenn man sie mit der abendlichen Rückschau kombiniert. Ich habe vier Bedingungen von sieben genannt, die restlichen drei könnt ihr selbst lesen: Denn auch für den höheren Menschen, für Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmensch, gibt es je eine Bedingung. Die sieben Übungsthemen hat man schnell begriffen und dann kann man abends die Rückschau machen mit der Frage: | |||
''Gegen welche Bedingung habe ich heute besonders verstoßen?'' | |||
Dann tritt einem meist etwas ins Bewusstsein oder man merkte schon während des Tages, dass es nicht gut lief. Man sollte die Beschäftigung damit sofort auf den Abend verschieben – jedoch nicht unbedingt auf die Zeit direkt vor dem Schlafengehen, wenn man zu müde ist. Es braucht nicht viel Zeit zu verstehen, was wann wie gelaufen ist und warum man an dieser oder jener Stelle schwach war. Man kann sich fragen: | |||
''Warum war ich grenzverletzend und habe jemandem Angst gemacht?'' | |||
''Wie hätte ich gerne reagiert?'' | |||
''Wie wäre es in Zukunft besser?'' | |||
Mit der Vorstellung der positiven Wendung sollte man die Angelegenheit dann loslassen. | |||
=== ''Ungewöhnliche Strenge'' === | |||
Rudolf Steiner ist an dieser Stelle so streng wie an keiner anderen Stelle des Buches. Er sagt, ohne die Erfüllung dieser Bedingungen könne man den Schulungsweg nicht gehen. Sie sind streng, aber nicht hart, weil jeder zumindest ein wenig danach streben kann, sie einzuhalten. | |||
Ich habe mich immer gefragt, warum er just an dieser Stelle so streng war. Alle anderen Übungen konnten nach Möglichkeit und Bedarf durchgeführt werden, jeder Mensch hätte die Fähigkeit, nach Höheren Welten zu streben – das fängt so freilassend und locker an und auch am Ende ist alles ziemlich „charmant“ ausgedrückt. Aber mit Blick auf die Bedingungen ist er streng. Mir ist auch eine Idee gekommen, warum das tatsächlich so sein MUSS: | |||
Es gibt keine Entwicklung, weder im Säuglingsalter noch beim Erwachsenen, ohne Bedingungen: Fähigkeiten entwickeln sich nur, wenn ich bestimmte Lernbedingungen, die zu dieser Fähigkeit führen, einhalte. Wenn ich den Geist in mir mächtiger machen möchte als meine körperlichen, schicksalsmäßigen und sonstigen Grenzen, an denen ich Angst bekommen könnte, weil ich so schwach bin, wenn ich diesen Geist also stärken will, dass er selbständig „gehen“ und an den Grenzen souverän arbeiten lernt, muss ich die Bedingungen respektieren, die mir das Erlangen dieser Fähigkeit ermöglichen. | |||
=== ''Stärke statt Angst'' === | |||
Und so kam ich auch darauf, dass es sich im Grunde um sieben Entängstigungsübungen handelt für die gesamte Lebens- und Schicksalsgestaltung. Denn bei allem Negativen, das im Alltag passiert, kann man sich sagen: Wie gut, dass es diese und jene Bedingung gibt, die mir hilft, dass mich dieses Vorkommnis nicht verletzt, sondern die mich befähigt, es ins Leben zu integrieren. | |||
''Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“,'' Vortrag auf der Schulärztetagung 2013 | |||
----[1] Rudolf Steiner, ''Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?'' GA 10. | |||
[2] Ebd. | |||
[3] Ebd. | |||
[4] Ebd., ab S. 102 (Ausgabe 1992, die auch der Online-GA zugrunde liegt). | |||
[5] Rudolf Steiner, ''Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden?'' Vortrag vom 10.10.1916 in Zürich. In: ''Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten,'' GA 168. | |||
[6] Neues Testament, Lukas 6, 27. |
Aktuelle Version vom 8. April 2025, 17:21 Uhr
Selbsterkenntnis und Selbsterziehung – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
SELBSTERKENNTNIS UND SELBSTERZIEHUNG
Welche Gefahren birgt der Erwerb von Erkenntnis und Selbsterkenntnis?
Wie kann man ihnen gegensteuern?
Gefahren von Erkenntnis und Selbsterkenntnis
Wer sich das Schulungsbuch Rudolf Steiners „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“[1] vornimmt, gewinnt zahlreiche neue Gesichtspunkte für seine Selbsterkenntnis: Das menschliche Wesen wird ausführlich beleuchtet, dazu die Möglichkeiten, mit dem eigenen Denken, Fühlen und Wollen umzugehen, dass man nach Beendigung dieser Lektüre ganz neu auf sich selbst und andere schauen kann.
Das bringt jedoch ein nicht zu unterschätzendes Problem mit sich: Dieser Zuwachs an Erkenntnis befähigt den Menschen, die Schwächen seiner Mitmenschen viel deutlicher als bisher wahrzunehmen und je nach Temperament anzusprechen bzw. zu kritisieren –womit an die höchst problematische Seite von Wissen, Erkennen und Denken gerührt wird: Im Durchschauen, im „Wissen“, liegt immer die Gefahr, dass wir nicht nur problembewusst, sondern auch überheblich, arrogant und anmaßend werden. Plötzlich wissen wir ganz genau, was geschehen müsste, was dieser oder jener hätte tun sollen oder können, und bemerken gar nicht, wie wir uns selbst immer mehr auf ein Podest stellen und von dort aus auf die Verhältnisse hinabblicken, in der irrigen Meinung, wir hätten schon viel erreicht.
Aber auch mit der Selbsterkenntnis ist ein Problem verbunden – Ärger, ja die Verzweiflung darüber, was man alles nicht kann. Man legt dann ein Buch wie das von Steiner vielleicht mit dem deprimierenden Gefühl aus der Hand: Ich weiß genau, dass das alles wahr ist und man es eigentlich umsetzen müsste – aber ich kann es nicht.
Das Vorhandene wahrnehmen
Mit diesen beiden Reaktionen sind die klassischen Feinde jeder effektiven Selbsterkenntnis und Selbsterziehung charakterisiert:
- Die Illusion, dass, wenn man etwas verstanden hat oder weiß, man dann auch das Recht hat, andere Menschen entsprechend zu be- und verurteilen, die dieses Niveau der eigenen Meinung nach noch nicht haben, aber eigentlich doch haben müssten. Etwas zu „wissen“ bedeutet in der Regel nicht, dass man es auch „kann“.
- Die Resignation, die bis zur Depression gehen kann, dass man sich diesen Entwicklungsweg nicht zutraut und den Mut zum ersten Schritt nicht hat.
Wirkliche Selbsterkenntnis hat nichts mit Selbsttäuschung im Sinne einer Über- und Unterschätzung der eigenen Möglichkeiten zu tun. Sie erstreckt sich vor allem auf das Gebiet, das mit dem Willen und dem tatsächlichen Können zusammenhängt. Sie beginnt nicht mit dem, was man weiß oder zu wissen meint, sondern ganz schonungslos mit dem, was man selbst wirklich ist und kann: Das ist weder „nichts“ noch „alles“, sondern das jetzt schon Vorhandene, das es zunächst wahrzunehmen und zu schätzen gilt. Erst dann hat man auch die Ruhe, auf das hinzublicken, was fehlt oder änderungsbedürftig ist. Das aber ist nicht leicht, sodass mit Recht gesagt wird, dass Selbsterkenntnis die schwerste Erkenntnis überhaupt ist. Denn wie oft breiten wir den Schleier der Selbsttäuschung, der Unbewusstheit und des Im-Grunde-nicht-Wissen-Wollens doppelt und dreifach über das, was wir sind, wohingegen das Verhalten anderer Menschen offen und gleichsam nackt vor uns liegt und wir auf sie gerne unsere Erkenntnisse anwenden. Wenn die anderen jedoch über uns sagen, wir wären so oder so, weisen wir das oft weit von uns und denken, dass der Betreffende keine Ahnung hat, wer und wie wir wirklich sind und was wir können, und schon gar kein Recht, uns etwas vorzuhalten.
Selbsterziehung als Ausweg
Wirkliche Selbsterkenntnis ist von Selbsterziehung nicht zu trennen – ja mehr noch; Rudolf Steiner spricht sogar von einer „Goldenen Regel“: „Wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten.“[2] Wer an sich selber immer wieder die Erfahrung gemacht hat, wie schwer echte Selbsterkenntnis und die damit verbundene Selbsterziehung sind, dem vergeht das Kritisieren der Schwächen anderer Menschen um des Kritisierens willen. Er nimmt sie zwar weiterhin wahr, so wie seine eigenen auch, aber er geht innerlich mit der Frage um, wie er dem anderen helfen kann, an ihnen zu arbeiten, so wie er selber mit den eigenen Schwächen ringt. Man weiß von sich selbst, dass man Selbsterziehung nur gerne „selbst“ macht – nicht jedoch von anderen nahegelegt bekommt.
Es nützt auch wenig, wenn andere Menschen einem die eigenen Schwächen vorhalten und denken, mit einer solch „ehrlichen Aussprache“ hätten sie etwas Gutes bewirkt. Weiß man doch selber viel zu gut, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Das Positive daran ist allenfalls, dass derartige „Offenbarungen“ von Mitmenschen uns ein gehöriges Maß an Selbsterziehung abfordern: Man sollte versuchen, die vorgebrachte Kritik entgegenzunehmen und, wenn irgend möglich, in Ruhe stehen zu lassen. Wer diesen Grad an Selbstkontrolle nicht aufbringen kann, wird sich zu Rechtfertigungen oder Erklärungen herausgefordert fühlen.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 1. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10.
[2] Ebenda.
NOTWENDIGE SELBSTERZIEHUNG IM SEELISCHEN
Warum ist Selbsterziehung so wichtig für Eltern und Erzieher?
Wie kann ein Schulungsweg zur Erziehung der Gefühle aussehen?
Sich aufrecht halten zwischen Ideal und Wirklichkeit
Der kritischste Bereich der Selbsterfahrung ist das seelische Leben. Im Denken kann ich die Ideale meines Selbst wunderbar fassen. Aber mich im Seelischen aufrecht zu halten zwischen Ideal und Wirklichkeit, ist oft außerordentlich schwierig. Wir müssen etwas Vermittelndes finden, das dem Leben gerecht wird, sodass wir Ideale nicht ablehnen und uns gehen lassen, sondern an der Entwicklung unseres Selbstbewusstseins weiterarbeiten, das wir mehr oder weniger stabil veranlagt aus Kindheit und Jugend mit ins Leben nehmen.
Gerade das Seelenleben stellt uns vor die Notwendigkeit, einen Schulungsweg zu gehen, der uns hilft darauf zu vertrauen, dass uns aus der Umgebung durch Bejahung, Liebe und Rücksicht Hilfe zufließt. Die beste Erziehung nützt wenig, wenn sie nicht später in Selbsterziehung übergeht. Schlimme Mängel in der Erziehung können in ihren Folgen ausgeglichen werden, wenn eine starke Persönlichkeit die Zügel selbst in die Hand nimmt oder wenn durch Therapie neue Wege geöffnet werden.
Liebe üben als Notwendigkeit
Ich möchte ein Motiv nennen, von dem ich denke, dass es gerade für Berufe, die mit dem Kleinkind zu tun haben, das Wichtigste ist: Liebe üben. Unser Gefühlsleben, unser Seelenleben, bewegt sich im Spannungsfeld von Sympathie und Antipathie. In diesem Bereich hat aber Liebe keinen Platz; sie ist als Gefühl, als seelische Realität, zunächst überhaupt nicht vorhanden. Sie ist etwas, das sich jeder Mensch erarbeiten muss. Wer Sympathie mit Liebe verwechselt, kennt die Liebe nicht und wird eines Tages schmerzlich erwachen, dann nämlich, wenn Sympathie in Antipathie umschlägt.
Liebe kann nie in Antipathie umschlagen. Vielmehr vermittelt sie zwischen den einander entgegengesetzten Kräften der Antipathie und Sympathie. Letztere gehören zur menschlichen Konstitution und sind uns gegeben. Was wir aber erst entwickeln müssen, was nicht spontan da ist, ist die Liebe. Durch Liebe wird Antipathie immer objektiver und differenzierter. In dem Maß, in dem sich die Liebefähigkeit entfaltet, reduziert sich Antipathie immer mehr auf das, was tatsächlich böse, destruktiv und problematisch ist. Und auch die seelischen Sympathien verändern sich dahingehend, dass sie bewusst machen, was man als wahr, schön und gut empfindet. Die Liebe wächst in dem Ausmaß, in dem wir daran arbeiten, dass Sympathien und Antipathien nicht mehr bloß Selbstbehauptungsstrategien triebhafter Natur sind, sondern zu Wahrnehmungsorganen werden für das Leben.
Das eigene Seelenleben objektiv handhaben
Liebe entwickeln bedeutet also, an seinen Sympathien und Antipathien so zu arbeiten, dass sie uns helfen objektiv zu urteilen und wir frei mit ihnen umgehen können. Das ist der Schulungsweg der Mitte, den vor allem der Erzieher gehen muss, der mit kleinen Kindern zu tun hat. Denn im Umgang mit kleinen Kindern, aber auch im Umgang mit Eltern von kleinen Kindern sind viele naturhafte, triebhafte Emotionen mit im Spiel: Schuldgefühle, Neid, Ärger, Verdächtigungen und andere mehr. In dieses Durcheinander bekommen wir nur dann Klarheit, wenn wir an der Reinigung und Verobjektivierung unseres eigenen Seelenlebens arbeiten. Erst dadurch werden wir fähig, ein wirklich gesundes und stabiles Selbstbewusstsein aufzubauen und beispielsweise einen anderen zu bewundern, ohne ihn zu beneiden, oder etwas scharf zu verurteilen, ohne lieblos zu werden. Denn erst wenn ein Mensch spürt, dass er nicht gehasst oder verachtet wird, kann er unser Urteil annehmen. Die soziale Kompetenz und die Möglichkeit, im Sozialen wirklich gedeihlich zu arbeiten, steht und fällt mit der Erziehung der Gefühle durch die Kraft der Liebe.
Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft
NOTWENDIGKEIT VON SELBSTERKENNTNIS
Wie hängen Freiheit und Selbsterkenntnis zusammen?
Selbsterkenntnis und Mitverantwortung als Kernkompetenzen
Es gibt zwei Kernkompetenzen zur Bewältigung von Schwellenerfahrungen: Selbsterkenntnis und Mitverantwortung für alles, was geschieht. Wenn man nicht bereit ist, den strikten Willen zur Selbsterkenntnis und zur Selbstverantwortung aufzubringen, trägt man aktiv zur weiteren Traumatisierung der Gesellschaft bei. Diese Andeutung möge genügen, dass wir uns selbst folgende Fragen stellen:
Wie steht es um meinen Willen zur Selbsterkenntnis?
Wie steht es um meinen energischen Willen zur Mitverantwortung?
Wie steht es um mein Schwellenbewusstsein?
Wie steht es um meine Entwicklung vom verletzten Menschsein zum heilenden, mich und andere verwandelnden Kulturstrom?
Die Anthroposophie will eine Einweihungswissenschaft sein. Sie will ein Weg sein, durch den das innermenschliche Erkenntnispotenzial sich mit der Welt, für die wir mitverantwortlich sind, verbinden kann.
Allen zur Verfügung stehendes Wissen
Rudolf Steiner stellt uns Eingeweihten-Wissen zur Verfügung. Bevor das Internet erfunden wurde, schuf er bereits ein spirituelles Internet: allgemeines Wissen über die geistige Welt. Es steht uns zur Verfügung, ohne dass wir es zureichend verstehen (müssen). Dasselbe gilt für das gesamte heute übers Internet zugänglich gewordene esoterische Wissen – die Anthroposophie bildet da keine Ausnahme.
Das zu begreifen ist wichtig. Denn zur Bewusstseinsseele gehört, dass der Mensch sich ein klares Bewusstsein erwirbt von dem, was er schon weiß. Jeder sollte sich fragen:
Wo liegt die Grenze meines persönlichen Verstehens?
Der oft gehörte Vorwurf an Anthroposophen, sie wären nicht authentisch, ist reine Projektion. So etwas kann man sich nur selbst vorwerfen. Hinter diesem Vorwurf steht der Ärger, dass die andern nicht dem eigenen Wunschbild entsprechen. Man hätte sonst von ihnen lernen können, was einem selbst fehlt. Also geht man auf sie los.
Wir müssen uns klarmachen, dass die Anthroposophie gar nicht automatisch authentisch machen darf: Sonst ließe sie uns nicht frei. Stellt euch vor, alles würde uns so dargebracht, dass wir es nur anzunehmen und nachzuahmen brauchen. Freiheit bedeutet vielmehr, dass alle Wissensfülle da ist wie in einem Selbstbedienungsladen – dass man sich aber selbst „bedienen“ muss. Wenn alles gut geht, kommen wir irgendwann selbstgewollt auf unserem Weg zu Selbsterkenntnis und übernehmen Mitverantwortung.
Vgl. Vortrag „Trauma als Schwellenerfahrung“, Dornach 2011
ICH-KOMPETENZ UND SELBSTERKENNTNIS
Was verhilft uns zur Selbsterkenntnis?
Die Ich-Kompetenz, die vierte Ebene unseres Menschseins, ist der ewige Anteil in uns. Während wir unseren biografischen Weg gehen, machen wir alle die Erfahrung, dass wir ihn mit unseren eigenen Füßen gehen. Selbst wenn wir sagen – „Dahin wollte ich doch gar nicht!“ – sind wir doch dahin gegangen.
Aktive Aneignung der eigenen Biografie
Das ganz Entscheidende am Ich-Aspekt ist die systematische Aneignung und Integration dessen, was man wirklich ist: Dass man nicht abspaltet, was einem nicht gefällt, und so tut, als hätte man diese Seiten nicht auch, dass man keine subjektive, sympathie-betonte Selektion vornimmt von allem, was man ist. Eine wunderbare Übung, die man selbst durchführen muss. Erst wenn man sie gemeistert hat, hat man sich aus meiner Sicht die Fähigkeit erworben, Menschen mit einem schwierigen Schicksal kompetent zu begleiten. Denn nur wer sich seine eigenen Lebensabbrüche und Schwierigkeiten vergegenwärtigt und all dasjenige aneignet, wovon man sich am liebsten distanzieren würde, entwickelt Verständnis für die Schwierigkeiten anderer. Er hat erkannt, dass im Leid eine tiefe Weisheit sitzt indem er sich vor Augen stellt – „Ich bin diesen Weg gegangen. Ich war selbst an all diesen Orten. Ich habe so und so reagiert. Hier war ich Opfer, hier war ich Täter. Ich war immer dabei, es gehört zu mir.“ –, dass aber auch in der Freude eine großartige Quelle der Kraft liegt und dass das Leben beides braucht – Kraft und Weisheit.
Wir lernen durch Erfahrung und durch Einsicht. Wir brauchen beides. Die Erfahrung ist eben sehr oft leidbetont. Dazu ja sagen zu können, entspringt der Ich-Kompetenz. Das Ich lebt im Ja und im Nein, es hat die Möglichkeit der Aneignung und des Sich-Distanzierens. Sich die eigene Biografie, den eigenen Weg, anzueignen, ist ein ganz entscheidender Aspekt. Dann erst sind wir in der Lage, Angehörigen und auch den Menschen, die wir betreuen, auf nonverbale oder verbale Art und Weise wirklich nahe zu sein. Erst dann bringen wir die nötige spirituelle Empathie auf, die ihnen helfen kann, eins zu werden mit ihrem Schicksal auf ihrem Weg.
Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 1. Vortrag, Persephone, Kongressband Nr. 2
VORCHRISTLICHE WEGE UND CHRISTLICHER SCHULUNGSWEG
Was unterscheidet die vorchristlichen und christlichen Schulungswege?
Welche Rolle spielen Denken und Freiheit in der Geschichte der Spiritualität?
Inwiefern spielt lebendiges Denken eine zentrale Rolle im christlichen Schulungsweg?
Unfreiheit anstelle eigenständigen Denkens
Die vorchristlichen Schulungswege sind auch heute für viele Menschen immer noch faszinierend, weil sie nur vom Guten handeln. Sie fordern, dass das individuelle Denken ausgeschaltet wird, weil es mit dem niederen Ego in Verbindung gebracht wird, das alle Probleme verursacht. Es soll ausgeschaltet werden nach dem Motto: „Macht euch frei und rein nur für das Gute!“
Es gibt Meditationen von großen Meistern, die den Anschluss an das Gute fördern. Dabei kann der Schüler sich entspannen und eine gesunde Identität entwickeln. Die Meditationen sollen dafür sorgen, dass das Niedere immer weniger wird. Das ist nicht falsch. Aber wir müssen uns klarmachen, dass das nicht alles ist.
Wenn ich mein individuelles Denken ausschalte, schalte ich auch meine Freiheitskompetenz als Individuum aus. Ich brauche dann einen spirituellen Lehrer, der an die Stelle meines eigenen Denkens tritt, der mich führt und kontrolliert, ob ich etwas falsch mache, zu dem ich hingehen kann, wenn ich ein Problem habe. Das war das Normale in der vorchristlichen Zeit. Diese Rolle hatte meistens das Familienoberhaupt oder der Priester im Stamm inne oder große Meister und Lehrer des Volkes und ihre Schüler, die Mönche.
Unterschied zwischen Guru und christlichem Lehrer-Prinzip
Was kennzeichnet einen Guru Neues Testament, Johannes 4, 24?
Zum Guru wird jemand in dem Moment, in dem er andere Menschen nicht mehr nur esoterisch berät, sondern Schüler von seinen Weisheitsaussagen abhängig werden und er ihnen Dinge verkündet, auf die sie selbst nicht gekommen wären. Rudolf Steiner sagt, es wäre wesentlich, dass der Suchende, das, was er an Erkenntnissen sucht, aus eigenen Kräften findet und es ihm nicht wie mitgeteilt wird.
Der christliche Lehrer gibt Hilfe zur Selbsthilfe, sitzt aber nicht sichtbar in der Mitte als Inspirationszentrum und die Schüler sitzen in einer Spirale und man meditiert gemeinsam und er empfängt die Erleuchtung und bringt sie wieder zurück. Das ist eine okkulte Geste, die alte Art geistiger Lehrer zu sein. Das bezeichnet man mit dem Namen Guru. Wenn der Betreffende sich auch noch so fühlt und die anderen sich als Schüler erleben, dann ist es perfekt.
Je mehr ein Mensch sich noch nach einem Gruppen-Ich sehnt, nach einem nicht individuellen Ich, nach einer Identität, die ihn mit einem guten Zusammenhang verbindet, nach einer spirituellen Gemeinschaft, nach einer familiären Gemeinschaft, nach Volksgewohnheiten, passt er sich an etwas an, das er nicht selbst bestimmt hat. Er unterwirft sich damit einem kollektiven Bewusstsein. Das sollte man wissen, wenn man es tut.
Dieser Weg ist für viele Menschen ein Segen, weil er ihnen vorübergehend hilft, das Destruktive in sich zu vernachlässigen. Damit stehen sie aber gleichzeitig wie auf einem Parkplatz der Individualisierung. Sie gehen im Grunde zurück in vorchristliche Gewohnheiten. Damit sage ich nicht, dass das falsch ist, aber es ist anders, als wenn man das Destruktive im Prozess der Individualisierung integriert und als Teil der eigenen Identität erkennt.
Soziale Spielregeln anstelle von Freiheit
- Der vorchristliche Weg braucht keine Freiheit für die Identitätsbildung.
- Wohingegen die Freiheit auf dem christlichen Weg eine wesentliche Dimension der individuellen Identitätsbildung darstellt.
Interessant ist, dass alle vorchristlichen spirituellen Wege von Wahrheit, Mitleid und Liebe sprechen. Die Wahrheit spielt eine zentrale Rolle, weil Gott mit der Wahrheit identifiziert wird. Für das menschliche soziale Leben braucht man Mitleid und Liebe. Von Freiheit wird nicht gesprochen. An der Stelle von Freiheit stehen klare soziale Spielregeln, an die man sich anpassen muss, da ist kein Spielraum für individuelle Freiheit.
In China ist das heute noch so. Es gibt martialische Strafen, wenn irgendjemand gegen die kollektiven Werte verstößt und zwar nicht, weil die Chinesen keinen Sinn für Menschenrechte haben, – das behaupten nur wir – sondern weil ihnen eine Spiritualität eigen ist, die nur an das Gute glaubt und alles Schlechte als Irrtum auffasst, der ausgemerzt werden muss. Das Böse wird als Irrtum angesehen, der Mensch habe gut zu sein.
Drei menschheitsgeschichtliche Zugänge zum inneren Schulungsweg
1. Der magisch-rituelle Zugang über den Willen
Der älteste Weg geht über den Willen und ist magisch-rituell. Südamerika ist Heimat und Ursprung davon, aber auch der Teil im Pazifik, von dem die Indianer ursprünglich stammen, die wunderbare polynesische Inselwelt. Amerika ist ein junger Kontinent, in den alle Menschen erst eingewandert sind. Der pazifische Raum dagegen mit Australien, China und Indien ist viel älter. Da kommen all die Völkern her, die in ihren Tempeln magisch-rituelle Heilungen mit Tänzen, Riten und Ritualen vollziehen. Damit verbunden ist auch der Verzehr von bestimmten Nahrungsmitteln, von Tieropfern, Fruchtopfern und Pflanzenopfern. All dies geschieht nicht aus einem klaren Bewusstseinszustand heraus, sondern aufgrund einer großen Machtentfaltung, die direkt vom Willen ausgeht.
Alle Überlieferungen von Hexen und Zauberern, auch in den europäischen Sagen und Märchen, haben dort ihre Wurzeln. In vielen Filmen unserer Zeit ersteht das alles wieder. Das Wissen darum ist nicht vergessen, es rumort tief im Unbewussten und kommt in der Kunst, aber vor allem auch in rituellen Gemeinschaften, immer wieder in der einen oder anderen Form zum Ausdruck.
2. Esoterisch-meditativer Zugang über die Sprache
Eine zweite große kulturgeschichtliche Epoche beginnt mit der Tradition der „Veden“ in Indien, als man anfing, bewusst die Sprache zu meditieren, allen voran heilige Silben wie das „OM“, das älteste Mantra der Welt. Viele Atem- und Yogaübungen aus diesen Traditionen haben sich bis heute erhalten und wurden durch den Buddhismus noch vertieft.
All diesen esoterischen Meditationstechniken, die an die Sprache, den Atem oder bestimmte Körperstellungen anknüpfen, ist gemeinsam, dass sie ganz bewusst auf das Denken verzichten.
3. Bewusster Zugang über das Denken
Erst mit der Niederschrift der Evangelien wurde das Reich Gottes überhaupt dem Denken zugänglich. Jetzt heißt es: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“.[1] Gott will nicht draußen in der Natur angebetet werden, sondern im Geist und in der Wahrheit des Inneren. Die Wahrheit kann ausschließlich über das Denken individuell erkannt werden. Nur im Denken kann ich entscheiden, ob ich etwas für wahrhalte oder nicht. Wir neigen dazu, unserem Gefühl blind zu glauben – was eine Quelle vieler Irrtümer im Sozialen ist. Echte Wahrheitsfindung ist nur über das Denken möglich.
Novalis hat das so ausgedrückt: „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg, in uns ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und die Zukunft“. Laut Novalis hat die Ewigkeit viele Welten. So wie jeder von uns in seiner Welt lebt und Mühe hat, den anderen zu verstehen, so war Novalis sich bewusst, dass man, wenn man die spirituelle Ebene betritt, viele Welten vorfindet. Diese können nur durch die ernsthafte Suche nach Wahrheit eingeordnet und integriert werden.
Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010
[1] Neues Testament, Johannes 4, 23, 24.
ANTHROPOSOPHIE ALS INSTRUMENT DER SELBSTBEFÄHIGUNG
Inwiefern ist Anthroposophie ein Instrument der Selbstbefähigung?
Anthroposophie ist keine Weltanschauung und auch keine Religion, sondern muss als Wissenschaft vom Geist verstanden werden, die auf Erkenntnissen von Rudolf Steiner aufbaut. Anthroposophie befähigt jedoch, die verschiedenen Religionen besser zu verstehen, Toleranz zu entwickeln und weltanschaulich flexibel, offen und bewusst zu werden. Rudolf Steiner wollte seine Darstellungen als Arbeitshypothese verstanden haben, die jeder selbst auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen sollte.
Das eigene Ich kultivieren, die Welt verstehen
Anthroposophie gibt uns das Werkzeug zur Hand,
- einerseits das eigene Denken, Fühlen und Wollen frei zu handhaben zu lernen,
- und dadurch andererseits diverse Zusammenhänge und Welterscheinungen sinnvoll beurteilen und einordnen zu können.
Wenn Kinder im genannten Sinne zu urteilen lernen, können sie später ihre eigene Weltanschauung bilden. In der „Philosophie der Freiheit“ können wir lesen:[1] „Die Natur macht aus uns ein Naturwesen, die Gesellschaft ein den Gesetzen gemäß handelndes Wesen.[2] Ein freies Wesen kann der Mensch nur selbst aus sich machen.“
Wenn Leute sagen, dass es für sie keine Freiheit gibt, glaube ich ihnen das sofort. Denn die gibt es nur, wenn man sie auch ausüben will. Könnte man jemanden zur Freiheit zwingen, wäre es keine Freiheit. Was Freiheit wirklich ist, muss man erst verstehen, es auch sinnvoll finden – und schließlich zu handhaben lernen.
Selbstschulung durch Übungen im Alltag
Die Erste wäre, uns mit Anthroposophie in einer Art zu beschäftigen, dass sie uns freier, selbständiger, verständnisvoller und beweglicher macht. Vor allem über den in Rudolf Steiners Grundlagenwerk zur Selbstschulung beschriebenen Schulungsweg[3] kann es uns gelingen, unser Ich „auf die Spur“ zu bringen.
· Nebenübungen zur Charakterschulung
In dieser Hinsicht sind heute die Nebenübungen wichtiger denn je.[4]
Was bringt die Entfaltung der Herzlotusblume,[5] das Üben der sechs Eigenschaften der Nebenübungen?
Man entwickelt dadurch Eigenschaften und Fähigkeiten, die jeder gestresste Mensch heute braucht – insbesondere, wenn er als Pädagoge tätig ist. Durch die Nebenübungen lernt man das eigene Denken, die eigenen Handlungen sowie das eigene Fühlen zu beobachten und zu beherrschen. Gleichzeitig versucht man den äußeren Ereignissen mit Positivität und Unbefangenheit zu begegnen. So wird man sensibel und wach für gesundende bzw. zerstörerische, kränkende Einflüsse im Sozialen.
· Der achtfache Pfad des Buddha
Auch der achtfache Pfad des Buddha bringt ein großes Ausmaß an Erkenntnis im Alltag: Er verlangt das Bemühen um rechte Erkenntnis, rechte Gesinnung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechten Lebenswandel, rechtes Streben, rechte Achtsamkeit und rechtes Sich-Versenken.[6]
Sich selbst sozial befähigen
Für einen Lehrer oder Erzieher ist es ein absolutes Muss empfinden zu können, wenn er ein Kind verletzt. Als Kinderarzt bekommt man auf erschütternde Art mit, wie sehr Pädagogen die ihnen anvertrauten Kinder oft verletzen, weil sie nicht fühlen können, wie kalt und destruktiv ihr Verhalten oder auch schon der Tonfall ihrer Stimme ist, wenn sie ein Kind rufen oder ermahnen. Für Pädagogen ist es deshalb unerlässlich:
- sich um innere Ruhe zu bemühen,
- allabendlich Rückschau zu halten, damit man ein wenig von sich selbst loskommt,
- sensibel zu werden für Seelenwärme und Seelenkälte.
Auf diesem Wege kultiviert man sein Ich. Rudolf Steiner sagte, durch die sechs Nebenübungen würde man nicht hellsichtig, doch sie geben dem Ich Stärke und Sicherheit mit auf den Weg. Sie sind eine reine Ich-Kompetenzschulung, aber in einer Art, dass man lernt, anderen zur Verfügung zu stehen und nicht nur sich selbst zu behaupten.
Vgl. „Kinder verändern sich – wie kann Erziehung mithelfen?“ Vortrag zum 40jährigen Jubiläum des Waldorferzieherseminars in Stuttgart 2015
[1] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, Grundzüge einer modernen Weltanschauung, seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. 16. Auflage. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995.
[2] Heute würden wir sagen: ein angepasstes, nicht verhaltensauffälliges Wesen. Ein braves Wesen: einen guten Staatsbürger und Konsumenten.
[3] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse Höherer Welten?, GA 10.
[4] Mehr dazu unter dem Lebensthema „Herzchakra“: Schulung der „sechs Eigenschaften“.
[5] „Dem Hellseher eröffnet sich durch die Ausübung der zwölfblättrigen Lotusblume auch ein tiefes Verständnis für Naturvorgänge. Alles, was auf ein Wachsen und Entwickeln gerichtet ist, strömt Seelenwärme aus. Alles, was mit Vergehen, Zerstörung und Untergang begriffen ist, tritt mit dem Charakter der Seelenkälte auf.“
[6] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Edler_achtfacher_Pfad, ges. 09.08.2023.
DIE FÜNF ASPEKTE DES ANTHROPOSOPHISCHEN SCHULUNGSWEGES
Um welche fünf Aspekte geht es beim anthroposophischen Schulungsweg?
Fünf essentielle Schulungsaspekte
Die fünf Aspekte des anthroposophischen Schulungsweges sind zugleich die fünf Wege von Krankheit und Gesundheit, die fünf Impulsen zuzuordnen sind.
1. Der physische Aspekt – der Karma-Impuls
Der physische Aspekt hängt mit dem individuellen Schicksal zusammen, dem Karma-Impuls: Dazu gehört der physische Körper, wie groß jemand ist oder wie klein, ob man Mann oder Frau ist. Vieles an diesem äußeren Schicksal entscheidet sich an der Verpackung, in der man steckt.
Zum Physischen gehört aber auch alles, was mir im Physischen begegnet. Mit jedem Schritt ändert sich die Aussicht. Alles, was mir begegnet, ist Teil meines Schicksals. Es geht darum, sich mit den Gesetzen des Schicksals, mit den Gesetzmäßigkeiten der Begegnung zu befreunden, herauszufinden, wie ich vom Schicksal lernen kann, mich zu individualisieren oder besser gesagt, zu „humanisieren“. Die große Frage des Schicksalsweges, des Schicksalslernens, lautet:
Warum widerfährt mir das jetzt?
2. Der ätherische Aspekt – der Gralsimpuls
Beim ätherischen Aspekt geht es über das Physische hinaus in die Welt der Bilder, der Gedanken, der Ideale, aber auch der Imaginationen, die sich in mythologischen Bildern darstellen. Eine christliche Mythologie ist Archetyp für diesen ätherischen Weg – die Suche nach dem heiligen Gral. Rudolf Steiner nennt sein Buch „Die Geheimwissenschaft…"[1] die Wissenschaft vom Gral. Okkult heißt ja verborgen. Immer wenn etwas nur im Gedanklichen, im Imaginativen lebt, ist es für die äußeren Sinne verborgen. Der ätherische Aspekt hängt mit dem Gralsimpuls zusammen.
Wenn wir nun diese beiden Aspekte vergleichen, stellt sich die Frage:
Wie lerne ich, aus den äußeren Begegnungen die Motive für meine Entwicklung zu begreifen?
Brauchen sich der Karma-Impuls und der Gralsimpuls gegenseitig?
Man braucht ja auch zwei Beine, um gehen zu können.
Um aus einem positiven oder negativen Schicksal lernen zu können, brauche ich einerseits gute Ideen, brauche innere Bilder und eine innere Landschaft, in die ich alles integrieren kann.
Andererseits brauche ich ein tiefes Lebensideal als Orientierungspunkt. Davon spricht die Gralssuche. Es geht darum, Heilung zu finden von allem, was den Menschen von seiner wahren Menschlichkeit trennt, was ihn daran hindert, seine wahre Menschlichkeit zu entwickeln. Das Gralsmysterium beschreibt, wie man immer menschlicher wird und was man dafür überwinden muss. Es ist der Weg der Verwandlung, der inneren Transformation, der mit den Symbolen der Verwandlung von Brot und Wein in die christliche, rein menschliche Substanz verbunden ist. Christus nennt sich „Sohn des Menschen“. Es geht ihm um das Menschliche, das entwickelt werden soll.
3. Der astrale Aspekt – der Sophia-Impuls
Der dritte Aspekt ist der astrale Aspekt. Mit unserem Astralleib hängen nicht nur unsere Gefühle zusammen – die Gefühle, denen jeder viel mehr glaubt als seinem Denken.
Wenn ich alle meine Gefühle durchleuchtet und verstanden habe, wenn ich sie wirklich begreife, habe ich Weisheit erworben. Die größte Weisheit, die uns zugänglich ist, lebt in der Sprache. Die Gefühle sind meist jedoch sehr unbewusst. Aber wenn wir uns darin üben, unsere Gefühle auszusprechen, werden sie uns bewusst. Wenn wir Worte dafür finden, wenn das Unaussprechliche aussprechbar wird, entsteht zwischen Menschen, die sich so ehrlich austauschen, ein Stückchen Weisheit. Auf dem anthroposophischen Weg geht es auch darum, über die Sprache und das Aussprechen Weisheit zu lernen.
Das schönste Instrument dafür ist die Kunst - die Kunst des Sprechens, die Kunst der Eurythmie, des Malens, des Plastizierens. Alle Künste sind dem Gefühl und der Sprache zutiefst verwandt. Jede Kunst will sprechen, hat eine Aussage, eine Physiognomie, ist expressiv. Das ist der Sophia-Impuls. Religiös gesprochen ist es der Maria-Sophia-Impuls. Denn Maria „bewegt alle Worte in ihrem Herzen“. Maria hat die ganze Weisheit der Sprache in ihrem Herzen. Der Logos ist das Wort – ihn hat sie geboren, ihn versteht sie.
4. Der Ich-Aspekt – der Michaels-Impuls
Nun kommen wir zum Ich-Aspekt der Anthroposophie: Damit kommen wir zu dem Erzengel Michael. Unser Ich hat eine innige Beziehung zu Michael.
Wie erfahren wir unser Ich?
Wie arbeitet unser Ich?
Das sind wirklich interessante Fragen.
Wir haben in der Umgangssprache das Wort „Person“ oder Persönlichkeit. Das deutet an, dass etwas durch mich hindurch tönt, „personare“. Die Wortweisheit tönt durch mich hindurch. Bei jemandem, der „high“ ist, der nicht wirklich ins Leben einsteigen will, befindet sich das Ich weit draußen und tönt nicht hindurch. Deswegen erscheint so jemand als eine schwache Persönlichkeit.
Damit kommen wir zum Mysterium von Michael und dem Drachen, dem Mysterium von Licht und Finsternis. Das Schwert, mit dem Michael den Drachen besiegt, ist eine typische Imagination für das Ich, das durchstoßen, ja sogar durchbrechen muss, das die Widerstände des Physischen besiegen muss, um hereinkommen und sich inkarnieren zu können. Um das zu üben, beschreiten wir den Erkenntnisweg, den vorhin genannten freiwilligen Weg des Lernens. Der Königsweg der Entwicklung besteht darin, dass etwas freiwillig aus Einsicht verwandelt und gelernt wird, dass man nicht wartet, bis das große Leid kommt, an dem man aufwacht.
5. Der kosmisch-spirituelle Aspekt – der Christus-Impuls
Nun zum kosmisch-spirituellen Aspekt: Über unser Denken gehen wir weit über uns hinaus und gelangen in den Gedankenkosmos und zu der Kosmologie, aus der wir morgens einzelne Aspekte betrachten, mit der wir es aber auch heute Abend zu tun haben, wenn wir zu den Sternen aufschauen. Der kosmisch-spirituelle Aspekt weist uns den Weg des Interesses für die Kräfte, die Wesen und die Weisheit, aus denen dieser ganze Weltzusammenhang entstanden ist.
In der Anthroposophie wird ganz klar der Zusammenhang hergestellt mit dem Logos oder der Christus-Wesenheit. Ich las einmal etwas in einem Vortrag Rudolf Steiners, wodurch mir plötzlich klar wurde, in welche Richtung das weist. Da sagte er: Es genügt dem Christus heute nicht mehr, dass man nur an ihn glaubt – er will verstanden werden. Das kann wie so ein Schock sein.
Wie kann man ihn verstehen?
Und was hat das für Konsequenzen?
Welcher Art muss eine Wissenschaft sein, die den Christus versteht?
Der fünfte Aspekt der Weg zu Christus, der aber ein sehr komplexer, kosmologischer und umfassender Weg ist.
Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010
[1] Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriß, GA 13, Dornach 1989.
VORAUSSETZUNGEN FÜR SELBSTSCHULUNG
Welche Voraussetzungen muss jemand erfüllen, wenn er einen inneren Schulungsweg gehen möchte?
Welche Qualitäten sind dabei hilfreich?
Den eigenen Schulungsbedarf erkennen
Rudolf Steiner schrieb als Anleitung zur Selbsterkenntnis das Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“.[1] Als ich dieses Grundlagenwerk zum ersten Mal las, waren es mir zu viele Übungen – alles erschien mir so kompliziert. Ich dachte, dass ich das nie schaffe. Bis mir aufging, dass in diesem Buch ein bewusster gedankengestützter Weg für die heutige Menschheit aufgezeichnet wurde, insofern sie ihn sucht. Ich begriff, dass deswegen so viele Übungen darin beschrieben sind, weil es so viele unterschiedliche Menschen gibt: Für die einen ist die eine Übung wichtig und für andere eine andere Übung. Für einen Dritten ist es wichtig, dass er zwei Übungen zusammenfasst.
Die erste wichtige Voraussetzung für den Schulungsweg ist, dass man selbst weiß, was man sucht. Man muss bewusst Fragen formulieren:
Wo stehe ich derzeit?
Wohin will ich gelangen?
Was möchte ich lernen?
Wenn ich das genannte Werk mit diesen Fragen im Hinterkopf lese, wird es auf einmal ganz einfach. Dann entdeckt man möglicherweise schon nach drei Seiten eine Antwort. Ein anderer wiederum muss drei Kapitel lesen und findet erst dann, was für ihn wichtig ist.
Es kann aber auch eine große Hilfe sein, den Weg als Ganzes einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen. Dafür ist eine zweite Eigenschaft nötig: Bescheidenheit. Ich muss gar nicht alles sofort umsetzen, was dort steht. Ich muss vielmehr warten können, bis ich es nach und nach entwickle.
Hilfreiche Qualitäten als Wegbegleiter
Goethe hat einen schönen Aphorismus geprägt: „Gegenüber großen Vorzügen eines anderen Menschen gibt es nur ein Rettungsmittel – die Liebe." Ohne diese Liebe wird man neidisch und giftig.
Das Gleiche gilt für den Schulungsweg: Wenn ich den Weg an sich lieben kann, auch wenn ich selbst erst ganz am Anfang stehe, wenn ich die Schönheit und Erhabenheit der zu erreichenden Ziele aushalte, dann kann ich ihn gehen und werde auch anderen helfen können ihn zu gehen.
Wenn ich z.B. Arzt bin, muss ich mir bewusst sein, dass ich möglicherweise Patienten haben werde, die auf ihrem inneren Weg viel weiter fortgeschritten sind als ich. Um sie verstehen zu können, wäre es gut Bescheid zu wissen über die unterschiedlichen Erlebnismöglichkeiten im Rahmen der Selbstschulung. Aus Liebe zum Weg und aus Interesse an meinen Patienten werde ich somit vieles kennen lernen, was noch gar nicht zu meinem Erfahrungsspektrum gehört.
Drei Qualitäten sind vonnöten, will man weiterkommen auf dem Schulungsweg:
- ehrliche Selbsterkenntnis über den eigenen Entwicklungsbedarf,
- Liebe zum Weg
- Bereitschaft zu üben
Viele Menschen hören aus reiner Ungeduld mit dem Üben auf. Sie sagen: „Ich habe es probiert und es hat mir nichts gebracht.“ Sie dachten vielleicht, dass ein bisschen üben genügt, um großartige Ergebnisse zu erzielen. So funktioniert das aber nicht, zumindest nicht auf diesem Weg.
Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010
[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10.
DER INDIVIDUELLE SCHULUNGSWEG
Wie kann man seinen individuellen Schulungsweg finden?
Klarheit über das Ziel erlangen
Sucht man nach einem geeigneten Schulungsweg, muss man sich klar werden darüber, was man werden will, wohin man sich entwickeln will. Das Initiationsmoment ist zu sagen: Ab heute lasse ich meine Entwicklung nicht einfach laufen, ich will vielmehr systematisch lernen, sie selbst in die Hand zu nehmen.
Als Zweites kann man sich überlegen:
Wer hat Erfahrung mit Selbstschulung?
Wer könnte mir Hilfestellung leisten?
Wo finde ich Gesprächspartner?
Es geht nicht darum, einen Lehrer zu finden, an den ich mich klammere, sondern sich mit Menschen zu verbinden, die dasselbe versuchen wie ich, mit denen ich mich beraten und austauschen kann. Man kann auch nach passenden Büchern Ausschau halten, wenn man sich klar darüber ist, an welche spirituelle Orientierung man sich anschließen möchte, ob man den Weg der Buddhisten, der Islamisten oder der Anthroposophen gehen will.
Passende Übungen aussuchen
Für diejenige, die den anthroposophischen Weg gehen wollen, ist „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“[1] unabdingbar, weil alles Grundlegende darin zu finden ist. Man sollte nur nicht meinen, man müsse alle beschriebenen Übungen auch durchführen: Man kann sich selbst darin wie in einem Spiegel sehen. Wenn man z.B. über die innere Ruhe zu lesen anfängt, kann man sich fragen, ob dieses Thema einen betrifft. Wenn man zu dem Schluss kommt, dass dieses Thema für die persönliche Entwicklung gerade nicht so wichtig ist, man aber spürt, dass es einem eher an Idealismus fehlt, dass man zu träge ist, wird man sich eher damit befassen, wie eine Idee zum Ideal werden und so neue Kräfte im Inneren erschaffen kann. Ideen zu haben, die man nicht umsetzt, raubt Kraft. Vielleicht erkennt man an diesem Punkt, dass man etwas tun müsste. Oder man fühlt sich von dem Grundsatz angesprochen, dass, wer einen Schritt in der Erkenntnis macht, drei Schritte in der moralischen Entwicklung machen sollte, und man fragt sich, was das eigentlich bedeutet. Oder man fragt sich:
Driften bei mir Denken und Handeln auseinander oder sind sie immer kongruent?
Tue ich, was ich sage und sage ich, was ich tue?
Je nachdem, wo man steht, merkt man, ob etwas ganz selbstverständlich ist oder ob man überhaupt nichts davon versteht oder ob Erkennen und Tun auseinanderklaffen. Dann ist man frei, eine entsprechende Übung auszuprobieren.
Der Lehrer als Freund und Berater
Ich finde es sehr wichtig, dass man darüber Tagebuch führt. Als ich 23 war, hatte ich schon alles Mögliche zu üben angefangen, auch zu meditieren. Doch dann kam ich plötzlich an einen Punkt, an dem mich alles zu bedrücken begann, alles war mir zu viel. Ich hatte andererseits aber auch Angst, das Ganze wieder fallen zu lassen und überlegte, was ich in dieser Situation tun sollte. Ich wusste auch nicht so recht, mit wem ich darüber sprechen sollte, weil ich keinen Lehrer hatte, sondern selbst mit den Büchern von Rudolf Steiner arbeitete. Ich wusste aber, ich musste eine Entscheidung treffen: Entweder ich hatte etwas falsch gemacht – dann musste ich herausfinden, was es war. Und falls sich herausstellte, dass der anthroposophische Weg doch nichts für mich war, musste ich herausfinden, was ich stattdessen machen konnte.
Inmitten dieser Überlegungen kam mir eine tolle Idee: ich beschloss, mit der Frage, ob das mein Weg sei, „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ zu lesen. Es war gerade Adventszeit und ich nahm mir vor, einen ganzen Samstag im Advent nur der Lektüre des Buches mit meiner Frage im Hinterkopf zu widmen. Ich stand schon um 6:00 Uhr auf und wollte nicht eher aufhören – typisch jung und cholerisch – bis ich eine Antwort gefunden hätte.
Ich öffnete das Buch und las als Erstes das Inhaltsverzeichnis. Dabei entdeckte ich, dass es noch ein Nachwort gab, das ich bisher noch nie gelesen hatte. Das nahm ich mir also zuerst vor – und das war der erste gute Schritt. Denn in diesem Nachwort schreibt Rudolf Steiner, dass man eigentlich einen Lehrer bräuchte, dass die Zeit der Lehrer aber vorbei wäre, dass heute alle Entwicklung individuell geschehen müsste. Dann kam der Satz, man könnte dieses Buch auch als ein Gespräch auffassen, das der Verfasser mit dem Leser führt. Da begriff ich: Rudolf Steiner kann auch noch nachtodlich unser Lehrer sein, wenn wir das wollen. Lehrer sollten heutzutage nur noch Freunde und Berater sein, aber keine Weisungen mehr erteilen.
Fragen genau formulieren
Ich beschloss, das auszuprobieren. Ich wusste, ich müsste Rudolf Steiner Fragen stellen, um auf die wichtigen Punkte zu kommen. Ich versuchte also, meine Fragen sehr genau zu formulieren – das war der zweite gute Schritt. Ich schämte mich anfangs, wie klein meine Fragen waren: Sie kamen mir so anfänglich und schlicht vor. Ich schrieb mir aber alles ehrlich und genau auf: dass ich zu viel geübt hätte, dass ich nicht mehr wüsste, wo ich stünde – all diese harmlosen Dinge schrieb ich auf. Daraufhin ging es mir schon viel besser. Als ich dann wieder zu lesen anfing, sprachen mich manche Worte an bestimmten Stellen ganz anders an. Und ich begriff manche Sätze plötzlich ganz anders. So bekam ich Antworten auf alle meine Fragen.
Ich kann euch sehr empfehlen, das mal auszuprobieren. Ich weiß noch jede Einzelheit von diesem Tag, weil das mein Anfang war. Alles was ich davor probiert hatte, waren Vorübungen gewesen, eine Art Ausprobieren. Jetzt aber merkte ich: Das will ich wirklich. Da bin ich innerlich ganz dabei. Ich führte jetzt wenige bescheidenere Übungen durch, weil ich es wollte und so, wie ich konnte und nicht, weil ich meinte, ich müsste es tun. Das hat eine ganz andere Qualität.
Eine andere Möglichkeit bestünde darin, sich das Initiationskapitel aus „Die Geheimwissenschaft im Umriss“[2] vorzunehmen. Es gibt Menschen, für die ist genau das das Richtige. Ich selbst entdeckte dieses Buch erst ein Jahr später für mich. Denn bevor ich mich der Medizin zuwandte, studierte ich Philosophie, Germanistik, Geschichte, Theologie, also Geisteswissenschaften. Erst mit meinem Medizinstudium fing ich an, mich für die Naturwissenschaft, für die Elemente, für die Planeten, für die ganze äußere Natur und den Kosmos zu interessieren.
Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010 im Gespräch mit jungen Menschen
[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10.
[2] Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss. GA 13.
DER GEHEIMNISVOLLE WEG NACH INNEN
Warum ist es für uns als Individuen so wichtig, nicht nur in der Realität der äußeren Welt zu leben, sondern bewusst den Weg nach innen einzuschlagen?
Welche Ressourcen werden uns dadurch zugänglich?
Warum wird dieser Weg nach innen nicht von jedem ganz selbstverständlich beschritten?
Der Mensch ist ein unzufriedenes Wesen
Um stabil im Leben zu stehen, müssen wir über Gut und Böse Bescheid wissen, sodass wir nicht so leicht zu irritieren sind. Der Schlüssel dazu ist das Wissen um den geistigen Kern des Menschen – den sich jeder bewusst machen kann an der Tatsache, dass man immer über das hinausgehen will, was einen heute noch zufriedengestellt hat.
Einer meine Lieblingssätze aus Rudolf Steiners Buch „Die Philosophie der Freiheit“[1] ist: „Der Mensch ist ein unzufriedenes Wesen.“ Wir wollen immer über den Ist-Zustand hinausgehen. Das bedeutet, dass es in uns eine Kraft gibt, die etwas Neues schaffen will, das es noch nicht gibt. Wenn wir nur ein wenig Selbsterkenntnis üben, werden wir erkennen, dass wir in jedem Augenblick über unser Naturdasein hinausgehen. Ich trage in meinem Wollen eine unsichtbare Welt, die vieles, das noch nicht geworden ist und das nur durch mein Zutun werden kann, enthält. Das heißt, ich bin ein geistig-physisches Doppelwesen:
- In meinen Gedanken trage ich die Vergangenheit, indem ich den Bezug zu meinem Erfahrungswissen herstelle.
- In meiner Seele bin ich ganz empathisch mit mir und anderen in der Gegenwart.
- Mein Wille strebt und lebt in der Zukunft, im Noch-nicht-Realen.
Das muss einem zu denken geben und als Hinweis dienen, dass man kein materielles Überbleibsel von einem Urknall sein kann.
Tieferer Sinn des materiellen Daseins
Andererseits sehe ich auch den Sinn der materialistischen, reduktionistischen, buchstäblich knochenharten Reduziertheit. Er liegt darin, dass dadurch die geistige Welt, der Glaube an Gott und das Geistige für uns erst einmal wie gestorben ist. Das habe ich als junger Mensch auch erlebt, Gott sei Dank nicht zu lange. Deswegen gab es berühmte Menschen wie Nietzsche, die sagten, dass Gott tot sei.
Erst durch das Gefühl, abgeschnitten, in die Welt geworfen, ausgesetzt zu sein im ewig Sinnlosen, beginnt man diesen Geistkern in sich zu spüren. Wer in dieser „dunkeln Nacht der Seele“ ehrlich in sich lauscht, kann bemerken, dass es in ihm oder ihr etwas gibt, das diesen Zustand der Öde und Leere überwinden möchte. Dass da mehr ist als nur die Resonanz auf die erlebte Leere.
Wir sind eben nicht nur ein Produkt unserer Umwelt, sondern spüren, dass der Sinn IN uns zu finden ist. So wie Novalis sagt: „Ins Innere geht der geheimnisvolle Weg.“ Oder wie es im Evangelium heißt: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ Sucht es nicht irgendwo transzendent, nein: Wisset, im eigenen Herzen vollzieht sich die Transzendenz. Es ist eine Frage der Selbsterkenntnis, der Wachsamkeit, der Achtsamkeit herauszufinden, was sich am Grunde der eigenen Seele regt, wenn man sich die Ruhe und Zeit nimmt, um nachzudenken und zu -fühlen, worauf das innere Empfinden abzielt.
Omnipräsente Reizüberflutung und mediale Ablenkung
Da sehe ich die größte Herausforderung der heutigen Zeit, weil wir derartig überflutet werden von Reizen, Informationen und medialer Ablenkung, dass die meisten Menschen gar nicht die Muße haben bzw. sich die Zeit nehmen, auf diese innere Stimme, diesen Willenskern in sich selbst, das spirituell Wesenhafte in sich, zu achten. Sie bewegen sich stattdessen mit ihrem Bewusstsein auf der riesigen Oberfläche dieser Welt – sei es virtuell, sei es physisch.
In Bezug auf unsere Kinder müssen wir uns bewusstmachen, dass der nicht altersgerechte Umgang mit den digitalen Medien der schlimmste Entwicklungshemmer ist, den man sich vorstellen kann. Das wird die Menschen im Laufe ihrer Biografie einholen, wenn sie merken, dass sie sich wie verloren haben. Dann braucht es sehr oft Therapie, intensive Beratung, damit sie diesen Panzer an Oberflächlichkeit wie durchbrechen können, um zu ihrem eigenen Inneren, aber auch zum Fundament dieser Welt wieder vorzustoßen.
Goethe beschreibt in deinem „Faust“ die Suche nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Faust erkannte schlussendlich, dass dieser geistige Wesenskern genauso in der Welt lebt wie im eigenen Inneren. Das ist ja seine große Erkenntnis. Jeder von uns muss zu diesem Kern vorstoßen, um sich selbstbestimmt weiterentwickeln zu können.
Vgl. Videobeitrag „Freudvolles Älterwerden – Freiheit durch Verzicht“, vom 13.11.2022
[1] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4.
SELBSTSCHULUNG GEGEN ANGST
Wie kann ein innerer Weg der Selbstschulung unter dem Gesichtspunkt der Entängstigung aussehen?
Einweihung nimmt Zweifel und Ängste
Wenn man die Gesichtspunkte von „Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?“[1] genauer anschaut, fällt es einem wie Schuppen von den Augen, dass es sich dabei um ein „Entängstigungsbuch“ handelt. Denn in den Kapiteln, in denen es um die Einweihung und die Christusbegegnung geht, heißt es:
„Und erst jetzt wird der Schüler bemerken, dass er tatsächlich auch die letzten Zweifel verliert und damit auch die letzte Angst und Unsicherheit.“[2]
Bis dahin ist der Schulungsweg noch begleitet von Zweifel, Angst und Sorge. Die Übungen fordern einen ständig heraus, Mut sowie neue Fähigkeiten und Kräfte zu entwickeln, etwas Neues zu üben, um dem Zweifel und der Sorge durch innere Aktivität etwas entgegensetzen zu können. Das fand ich sehr interessant.
Wenn man Angst hat vor Begegnungen oder Angst, nicht genug Anerkennung zu finden, gibt es sehr spannende Schulungsinstrumente. Ein Kapitel aus „Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?“[3] befasst sich mit der seelischen Immunisierung, dem Schaffen seelischer Grenzen, die nicht verletzt werden können. Es handelt sich dabei um das Kapitel „Die Bedingungen zur Geheimschulung“[4] etwa in der Mitte des Buches, nach der Schilderung der Einweihung und dessen, was man dabei praktisch berücksichtigen muss.
Bedingungen für den Schulungsweg
Dort werden Fragen der Lebensführung, der seelischen Verständigung mit sich selbst, beschrieben. Wer sich damit auseinandersetzt, verliert die Angst vor sich selbst, vor anderen Menschen und vor der geistigen Welt – denn dabei handelt es sich um ein und dieselbe Angst. Wenn ich Angst habe, mit einem anderen Menschen zu kommunizieren, habe ich auch kein Vertrauen in den guten Geist, der den anderen letztlich führt: Ich habe Angst vor dem Geistigen an sich, vor dem, was ich nicht einschätzen und beherrschen kann. Und wenn ich es allein nicht aushalte, habe ich Angst vor derselben Dimension in mir selbst. Die Bedingungen für den Schulungsweg wirken dieser Angst entgegen.
1. Bedingung – Gesundheit erhalten lernen
Richte dein Augenmerk darauf, deine körperliche und geistige Gesundheit zu erhalten, zu pflegen.
Diese erste Bedingung betrifft das physische Wohlbefinden: Jeder ist ängstlich, wenn er müde, überspannt, hungrig ist. Dann sind wir alle dünnhäutig, reagieren aggressiv, fahren aus der Haut, reagieren unangemessen im Sozialen, verletzen andere, ohne es zu wollen. Wer dagegen darauf achtet, seine physische Basis durch Pflege der körperlichen und geistigen Gesundheit zu schützen, stabilisiert dadurch die körperlichen Grenzen.
Dazu gehören zwei sehr interessante Begriffe: Pflicht und Genuss.
- Es geht darum, auf eine Art genießen zu lernen, dass einem der Genuss Kraft gibt, die Pflichten so zu erfüllen, dass sie einen nicht zu sehr stressen.
- Andererseits muss man lernen, mit den Pflichten so umzugehen, dass man sie auch ein wenig genießen kann.
Das von beiden Seiten her zu üben, stellt die wichtigste Voraussetzung dar, um körperliche und seelische Gesundheit sicherzustellen. Dazu gehört natürlich auch, zu bestimmten Pflichten „nein“ zu sagen, wenn man spürt, dass etwas zu viel ist. Das Achten auf die körperliche und geistige Gesundheit hilft, Pflicht und Genuss besser im Griff zu haben: dass man sich also dem Genuss nicht so exzessiv hingibt, dass man sich am nächsten Tag davon erholen muss, und dass man mit Pflicht einerseits auch Neigung verbindet und einen Sinn in der eigenen Arbeit erkennt, andererseits aber auch die Grenzen klar zu ziehen in der Lage ist.
2. Bedingung – Lebenszusammenhänge erkennen
Diese Bedingung bezieht sich auf die Lebenssphäre und –zusammenhänge. Hier geht es darum, sich zu sagen:
Ich bin ein Glied des ganzen Lebens und kann lernen, mir das bewusst zu machen.
Ich kann empfinden lernen, wie ich mit allem, was mir passiert, zusammenhänge. Steiner bringt das Beispiel vom frechen Schüler, der den Lehrer ärgert. Der Lehrer soll sich jetzt fragen:
Warum ist der Schüler ausgerechnet heute zu mir frech?
Was will er mir damit sagen?
Was hat es mit mir zu tun als anderem „Ende der Fahnenstange“?
Durch diesen Blickwinkel verändert sich die Beziehung. Wer diese Übung macht und sich als ein Glied des ganzen Lebens zu fühlen beginnt, lernt dabei auch seinen Doppelgänger kennen. Denn wenn andere Leute negativ auf einen reagieren, spiegeln sie einem Dinge, die man normalerweise nicht gerne anschaut – vielleicht stimmen sie nicht in dem Ausmaß, wie der andere es hinstellt, aber ein bisschen davon stimmt immer. Steiner gibt den Rat, dass man das, was stimmt, dankbar annehmen soll, während man das, worüber ein anderer sich nur ereifert, ihm möglichst nonverbal zurückgeben soll.
Das Leben als das zu nehmen, was es ist, stellt eine tolle Übung dar: Leben ist so gesehen eine doppelspurige Straße, auf der ich ständig empfange und gebe. Die anderen tragen bei zu meiner Selbsterkenntnis und zur Beziehungsgestaltung. Das zu erkennen, führt zu einer gewissen Lebenszufriedenheit, stabilisiert enorm und entängstigt zugleich.
„Man nehme den anderen, wie er ist…“
Ich verliere die Angst vor dem anderen, wenn er von mir aus so sein darf, wie er ist. Stellt euch das mal konkret vor: Wer schimpft, darf schimpfen, wer aggressiv ist, darf aggressiv sein, wer nicht grüßt, grüßt nicht – das alles dürfen die Menschen um uns herum! Und ich kann mich ganz souverän fragen, wie ich damit umgehen, was ich daraus machen möchte. Wenn jemand so mit anderen umgeht, dass sie so sein dürfen, wie sie sind, wirkt das magisch auf den Betreffenden zurück. Steiner sagt als soziales „Rezept“:
„Man nehme jeden Menschen, wie er ist, und versuche, daraus das Allerbeste zu machen.“[5]
Als ich das zum ersten Mal las, merkte ich, dass es sich bei mir meist umgekehrt verhält: Ich nehme mich so, wie ich bin, und mache an den anderen rum, wünsche mir die anderen anders als sie sind: Ich gebe ihnen ungefragt gute Ratschläge, kritisiere, habe gute Ideen, was sie alles besser machen könnten…
Es geht nun darum, das umzudrehen – das ist doch total spannend! Der andere darf so sein, wie er ist und ich versuche mich zu ändern, dass er besser mit mir zurechtkommt. Damit arbeite ich maximal an der sozialen Entängstigung, weil ich die Angst nicht mehr haben muss, dass der andere mich verletzt, weil er mich ja verletzen darf: Er hat vielleicht einen Grund und ich kann etwas von ihm lernen!
3. Bedingung – Gedanken und Gefühle als Realitäten erkennen
Die dritte Bedingung betrifft unser Denken, Fühlen und Wollen, die aus geistiger Sicht genauso real sind wie äußere Handlungen und äußere Tatsachen. Es geht darum zu üben, unsere Achtsamkeit nicht nur auf eine Blume, einen Stein, auf rieselndes Wasser zu lenken, sondern genauso viel Achtsamkeit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen gegenüber aufzubringen, indem wir uns fragen:
Warum will ich hier was?
Wenn wir uns bewusst sind, dass die inneren Tätigkeiten von Denken, Fühlen und Wollen unsere Entwicklung genauso gestalten, wie die äußeren Tatsachen, die daraus erwachsen, werden wir viel Zeit und Kraft sparen – wir werden mehr Zeit zum Schlafen und für die Beschäftigung mit sinnvollen Dingen haben. Wenn wir bestimmte Realitäten nicht erschaffen und dafür verantwortlich sein wollen, sollten wir uns viele Gefühle und Gedanken quasi verbieten. Denn durch Gedanken und Gefühle schaffen wir Realitäten. Deshalb sollten wir oft innehalten und uns fragen:
Möchte ich, dass solche Gedanken und Gefühle von mir ausgehen oder möchte ich das anders haben?
Sich auf den „wahren Menschen“ beziehen
Es gibt ein paradox anmutendes Evangelienwort, das sehr erweckend ist in Bezug auf dieses Thema:
„Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, segnet, die euch fluchen, betet für die, die euch beleidigen.“[6]
Man kann jede negative Entgegnung zurückhalten, wenn man sich klarmacht: Der „wahre Mensch“, zu dem der andere werden will, findet sein „ungutes“ Verhalten genauso unangemessen wie ich. Also bete ich für ihn, dann wird es uns beiden besser gehen. Alles andere bringt gar nichts. Indem man sich ereifert, wird nur Unwesenhaftes, Elementarisches genährt – das wirkliche Wesen hat davon nichts.
4. Bedingung – Unabhängigkeit von äußerer Anerkennung
Die vierte Bedingung ist, unabhängig zu werden von äußerer Anerkennung, betrifft das Ich. Diese Bedingung hat eine besonders entängstigende Auswirkung im Sozialen, weil sie einer inneren Befreiung gleichkommt: Wir tun dann das, was wir tun, nicht um der Ehre, der Anerkennung und des Geldes willen, sondern weil es gute Gründe gibt, es tun zu wollen – und weil wir es gerne und es aus uns heraus tun. Wir nehmen dann auch gerne entgegen, was wir dafür bekommen, sind aber nicht abhängig davon.
Die größte Angst im Sozialen ist heute diejenige vor Sympathieverlust und Liebesentzug. Man möchte gerne den anderen gefallen und macht sich damit von ihnen abhängig. Wer das ausnützt, beherrscht sein Umfeld. Zu merken, wie viel Ohnmacht und Machtmissbrauch im seelischen Miteinander der Menschen herrscht, ist erschreckend. Das wird einem bewusst, wenn man diese Übung macht und im Nachhinein immer wieder erkennt, dass man in diese Falle hineingetappt ist, weil man nicht aufgepasst hat.
Abendliche Rückschau als Übungsfeld
Meine Erfahrung ist, dass man diese Bedingungen am besten üben kann, wenn man sie mit der abendlichen Rückschau kombiniert. Ich habe vier Bedingungen von sieben genannt, die restlichen drei könnt ihr selbst lesen: Denn auch für den höheren Menschen, für Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmensch, gibt es je eine Bedingung. Die sieben Übungsthemen hat man schnell begriffen und dann kann man abends die Rückschau machen mit der Frage:
Gegen welche Bedingung habe ich heute besonders verstoßen?
Dann tritt einem meist etwas ins Bewusstsein oder man merkte schon während des Tages, dass es nicht gut lief. Man sollte die Beschäftigung damit sofort auf den Abend verschieben – jedoch nicht unbedingt auf die Zeit direkt vor dem Schlafengehen, wenn man zu müde ist. Es braucht nicht viel Zeit zu verstehen, was wann wie gelaufen ist und warum man an dieser oder jener Stelle schwach war. Man kann sich fragen:
Warum war ich grenzverletzend und habe jemandem Angst gemacht?
Wie hätte ich gerne reagiert?
Wie wäre es in Zukunft besser?
Mit der Vorstellung der positiven Wendung sollte man die Angelegenheit dann loslassen.
Ungewöhnliche Strenge
Rudolf Steiner ist an dieser Stelle so streng wie an keiner anderen Stelle des Buches. Er sagt, ohne die Erfüllung dieser Bedingungen könne man den Schulungsweg nicht gehen. Sie sind streng, aber nicht hart, weil jeder zumindest ein wenig danach streben kann, sie einzuhalten.
Ich habe mich immer gefragt, warum er just an dieser Stelle so streng war. Alle anderen Übungen konnten nach Möglichkeit und Bedarf durchgeführt werden, jeder Mensch hätte die Fähigkeit, nach Höheren Welten zu streben – das fängt so freilassend und locker an und auch am Ende ist alles ziemlich „charmant“ ausgedrückt. Aber mit Blick auf die Bedingungen ist er streng. Mir ist auch eine Idee gekommen, warum das tatsächlich so sein MUSS:
Es gibt keine Entwicklung, weder im Säuglingsalter noch beim Erwachsenen, ohne Bedingungen: Fähigkeiten entwickeln sich nur, wenn ich bestimmte Lernbedingungen, die zu dieser Fähigkeit führen, einhalte. Wenn ich den Geist in mir mächtiger machen möchte als meine körperlichen, schicksalsmäßigen und sonstigen Grenzen, an denen ich Angst bekommen könnte, weil ich so schwach bin, wenn ich diesen Geist also stärken will, dass er selbständig „gehen“ und an den Grenzen souverän arbeiten lernt, muss ich die Bedingungen respektieren, die mir das Erlangen dieser Fähigkeit ermöglichen.
Stärke statt Angst
Und so kam ich auch darauf, dass es sich im Grunde um sieben Entängstigungsübungen handelt für die gesamte Lebens- und Schicksalsgestaltung. Denn bei allem Negativen, das im Alltag passiert, kann man sich sagen: Wie gut, dass es diese und jene Bedingung gibt, die mir hilft, dass mich dieses Vorkommnis nicht verletzt, sondern die mich befähigt, es ins Leben zu integrieren.
Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013
[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten? GA 10.
[2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Ebd., ab S. 102 (Ausgabe 1992, die auch der Online-GA zugrunde liegt).
[5] Rudolf Steiner, Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden? Vortrag vom 10.10.1916 in Zürich. In: Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten, GA 168.
[6] Neues Testament, Lukas 6, 27.