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Anthroposophische Menschenkunde
Anthroposophische Menschenkunde – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
DIE FÜNF EBENEN DES ANTHROPOSOPHISCHEN MENSCHENBILDES
Was sind die fünf Ebenen des anthroposophischen Menschenbildes?
Inwiefern sind sie jeweils Ausdruck des menschlichen Seins?
Wie kann man sie positiv und negativ beeinflussen?
Erkenntnis vom Menschen als Grundlage
Zentrales Anliegen der Anthroposophischen Medizin ist die Erkenntnis vom Menschen als Grundlage aller medizinisch-therapeutischen Interventionen. „Anthropos“ heißt auf Griechisch der Mensch, „sophia“ heißt Wissen, Kunde, Weisheit, Erkenntnis. Das Menschenbild aus der Anthroposophie ist demnach gekennzeichnet von einem weisheitsvollen Blick auf den Menschen, der dessen Vielschichtigkeit Rechnung trägt.
So werden auch die Ursachen für Krankheiten unterschiedlichen Schichten oder Ebenen des Menschen zugeordnet:
· Manche sind durch unzureichende Pflege und schlechte Behandlung des physischen Leibes verursacht.
· Andere sind der Nichtbeachtung der Lebensrhythmen geschuldet.
· Wieder andere haben mit belastenden Beziehungen zu tun.
Die fünf Ebenen des Menschseins
Diese unterschiedlichen Daseinsebenen, auf denen wir agieren, jeweils anamnestisch zu erfragen, gehört zum Grundkonzept der anthroposophischen Medizin. Der Arzt versucht mit Hilfe des Patienten zu ergründen, auf welchen der menschlichen Seins-Ebenen ständige Selbst- bzw. Fremdkränkung vorliegen.
1. Genetisch-physisch-körperliche Ebene
Diese Ebene umfasst die Genetik, die Umwelt sowie die Epigenetik. Steiner hat seinerzeit bereits von den Phänomenen der Epigenetik gesprochen, obwohl es das Wort noch gar nicht gab. Er betonte dabei, dass das Erbgut wandelbar sei, dass es keine fixe Größe darstelle – und sah auch voraus, dass man das noch herausfinden werde. Das konnte sich zu seiner Zeit, in der man dem genetischen Determinismus huldigte, niemand vorstellen. Er nannte drei Faktoren, die das Erbgut beeinflussen und verändern:
· Immunstimulierung durch Fieber
Wir wissen heute aus der Immunologie, dass die Immunparameter durch Fieber stimuliert werden, dass bestimmte Genbezirke, die vor einem Fieberschub noch geblockt waren, nach dem Fieberschub reagieren.
· Organbildung durch Sinneseindrücke
Zur physischen Ebene gehören auch die Sinne mit den dazugehörigen Sinnesorganen, deren Bedeutung Steiner in der sogenannten Sinneslehre umfassend beschreibt. Er unterscheidet zwölf Sinnesbezirke, die wiederum in geistig, seelisch und leiblich orientierte Sinne unterteilt werden. Sie seien hier nur kurz erwähnt:
Geistig orientierte Sinne:
- Man kann das Ich eines anderen als Kraftgefüge wahrnehmen über den Ich-Sinn,
- Gedanken über den Gedanken- oder Begriffssinn,
- Worte über den Wort- oder Lautsinn.
- und verfügen über einen Wärmesinn,
Seelisch orientierte Sinne:
Wir können hören, sehen, riechen, schmecken
Leiblich orientierte Sinne:
- Wir verfügen über einen Gleichgewichtssinn,
- einen (Eigen)bewegungssinn,
- einen Lebenssinn
- und einen Tastsinn.
Diese Sinne sind entscheidend an Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers beteiligt. Denn über die kindliche Nachahmung wirkt das sinnlich Wahrgenommene bis in die Organbildung hinein. Steiner wusste damals noch nichts von den Spiegelneuronen, beschrieb sie aber in ihrer Funktion, indem er sagte, das Kind ahme alles nach und jede Nachahmung stelle eine physiologische Tätigkeit dar, durch die sich die Konstitution des Kindes ändere.
· Individualität als Entscheidungsinstanz
Steiner war zudem fest davon überzeugt – und das wird heute von der Beziehungs- und Bindungsforschung bestätigt – dass die Individualität des Kindes selbst das Erbgut so „komponiert“, wie es für das Leben und die Entwicklung dieses Menschen stimmig ist.
Im Jahr 2000 wurde das sogenannte „Human genom project“ veröffentlicht, eine 10jährige Arbeit zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Von der Zeitschrift „nature“ gab es einen Sonderband dazu, der die Richtigkeit von Steiners Annahmen aus schulmedizinischer Sicht bestätigte. Dort wurde im Editorial gesagt, dass das Erbgut viel simpler aufgebaut und viel weniger spezifisch sei, als man bisher dachte. Die große Enttäuschung sei jedoch, dass man das Entscheidende nicht gefunden habe: das Regulator-Gen, das für die Gesamtgestalt und für die Form der einzelnen Organe zuständig ist. Dort hieß es so schön: „Die Gene funktionieren wie ein gutes Orchester, nur kennen wir den Dirigenten nicht.“
Steiner sagte seinerzeit, die Individualität des Kindes wäre dieser Dirigent. Das wurde auch von der Resilienz- und Salutogenese-Forschung bestätigt: Unabhängig von Erbgut und Milieu hängt es letztlich immer von dem jeweiligen Menschen ab, ob ein ungünstiges Milieu ihm zum Schaden gereicht und er eine frühkindliche Störung entwickelt oder ob er dadurch stärker wird. Alles hängt von seiner mitgebrachten individuellen Kompetenz ab und davon, ob diese im Umfeld auf eine entsprechende Resonanz trifft. Man hat herausgefunden, dass nicht das Milieu oder die Gene die wichtigsten Schutzfaktoren gegen kränkende Einflüsse sind – und damit entscheidend für eine gesunde menschliche Entwicklung –, sondern die tragende Beziehung, die ein Kind zu mindestens einem Menschen aufbauen kann. Eine solcherart schützende Beziehung wird von Ehrlichkeit, liebevollem Interesse und Respekt vor der Integrität, der Autonomie und den Grenzen des anderen geprägt.
2. Ätherisch-zeitliche Ebene
Die ätherische Ebene betrifft die Zeit und die Prozesse, die in der Zeit ablaufen. Es ist nicht egal, wann man etwas macht – es muss alles zu seiner Zeit geschehen. Man spricht in dem Zusammenhang auch von Entwicklungsfenstern. Hierher gehört der Begriff der altersentsprechenden Erziehung sowie die Berücksichtigung von Rhythmen wie gesunde Essens- und Schlafenszeiten. All das wird zusammengefasst unter dem Begriff Biorhythmik. Dieses Gebiet wird in der Waldorfpädagogik sehr ernst genommen: Welche Unterrichtsstunden worauf folgen, aber auch das Thema des altersentsprechenden Lehrplans gehören hierher – nicht vom Inhalt her gesehen, den er vermitteln soll, sondern im Sinne einer Lehrplan-Physiologie:
Für welche körperlich-seelische Erfahrungswelt ist ein Kind mit 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 Jahren empfänglich?
Wann sollte was unterrichtet werden, damit das Kind altersentsprechend körperlich geschickt und seelisch geweckt wird und in ihm seinem Alter gemäße Fragen wachgerufen werden als „Nahrung“, die es in einem bestimmten Lebensalter braucht?
Das ist ein komplexes Gebiet, weshalb es auch den Schularzt braucht, der Lehrer und Eltern im Bereich der primären Prävention dahingehend berät, wie sie die Erziehungsprozesse durch gesundende Zeitabläufe begleiten und unterstützen können.
Lebensrhythmen des Menschen
Rudolf Steiner stellte einen Bezug zwischen den heute bekannten Rhythmen und dem Menschen her:
· Das Ich lebt im 24-Stunden-Rhythmus,
· die Seele im Wochenrhythmus: Um etwas seelisch zu verarbeiten, braucht man mindestens eine Woche – das bekommt man nicht an einem Tag hin.
· Die Lebensorganisation wird auch Ätherleib genannt und folgt dem 4-Wochen-Rhythmus, d.h., wenn man eine schlechte Gewohnheit ablegen und stattdessen eine gute verankern will, braucht man dafür vier Wochen. Gute Gewohnheiten haben einen stabilisierenden Einfluss auf den Ätherleib.
Der Begriff „Ätherleib“ ist ein von Steiner benützter Terminus, der auf das blaue Himmelslicht zurückgeht. Er sagt, alles Leben auf der Erde, wie z.B. die Chlorophyll-Assimilation von Licht, findet unter Einfluss des durchsonnten blauen Himmels der Atmosphäre statt. Sie ist die direkte Energiequelle des gesamten Lebens.
3. Seelisch-astrale Ebene
Die wesentlichen Beziehungs- bzw. seelischen Faktoren sind Ehrlichkeit, liebevolles Interesse, Respekt vor der Autonomie. Entscheidend ist dabei jeweils, dass man diese Qualitäten zu fühlen imstande ist. Denn die Seele umfasst primär die Gefühlsebene. Was man nicht fühlt, ist für den Betreffenden nicht real. Interesse wird erst zu Liebe, wenn man den anderen meint und nicht insgeheim etwas für sich selbst haben möchte. Das gilt auch für den Respekt vor der Freiheit, der Autonomie des anderen. Wer sich freilassend geliebt und verstanden, aber auch ehrlich behandelt fühlt, kann mit Goethe sagen: „Ich fühlte mich in Deinen Augen gut.“ Das schrieb er seiner Geliebten.
Die uns anvertrauten Kinder und Patienten sollten sich in unseren Augen gut fühlen und nicht mit distanziertem, gleichgültigem Blick von oben herab angeschaut werden. Es gibt so viel Zweifel, Spott, Zynismus, aber auch so viele Ängste, die eine gesunde Beziehung verstellen und das Gefühlsleben korrumpieren können. Das wieder freizulegen, ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit.
4. Individuelle Ich-Ebene
Das Ich ist das entscheidende Zentrum dieses Menschenbildes. Wir benennen mit „ich“, was wir uns selber zusprechen:
- Ein Kind erkennt schon mit drei Jahren: Ich bin.
- Ein Neunjähriges fühlt zum ersten Mal die Einsamkeit des Ich-Seins, fühlt sich plötzlich nicht mehr selbstverständlich zur Familie gehörig: Es fühlt zum ersten Mal das Alleinsein, das Ausgesetztsein, die Verwundbarkeit als Ich.
- Mit 16 fühlt man erstmals die Verantwortung für das eigene Ich, für das, was man denkt, was man will. Man sagt nicht mehr alles frei heraus, sondern prüft, ob etwas stimmt. Man fühlt sich jetzt für sich und das, was man tut, verantwortlich.
- Zwischen 20 und 23 – das sind statistische Mittelwerte – beginnt man ernsthaft die eigene Existenz, das eigene Ich selbst zu hinterfragen: Wozu all das? Will ich das überhaupt und wenn ja, warum? Sie suchen nach ihrer wahren Identität und wollen sie in allem selbst bestimmen: spirituell, seelisch, wertemäßig, beziehungsmäßig. Wer diese Themen für sich durcharbeitet, kann dann auch formulieren, was er unter diesem Ich versteht.
Wahrhaft Mensch werden
Aus Sicht der Anthroposophie sind wir Menschen dazu aufgerufen immer menschlicher zu werden, uns als „Werdewesen“ zu begreifen. Der Mensch unterscheidet sich wesentlich von Mineralien, Tieren und Pflanzen, von allem, was die Natur bietet, durch ein Merkmal: durch seine Unvollkommenheit. In der Natur ist alles vollkommen, keines der uns umgebenden Naturwesen könnte schöner oder perfekter sein – es sei denn, es ist umweltbedingt geschädigt. In vielen Hochreligionen wurden Tiere aufgrund ihrer Vollkommenheit als Götter verehrt. Der Mensch empfindet sich dagegen unvollkommen: Kein Mensch würde von sich sagen, er wäre vollumfänglich Mensch. Jeder ist sich bewusst, dass er noch menschlicher sein könnte und sollte. Deshalb ist das Credo der Anthroposophie: Wahrhaft Mensch werden zu wollen: Zu lernen, die eigenen Werte zu bestimmen und daraus das eigene Leben menschenwürdig zu gestalten; und so auf die eigene Umwelt zurückzuwirken, dass Leben unterstützt und nicht gekränkt und bedroht wird.
5. Spirituelle Ebene – Quinta Essentia
Paracelsuns nannte diese fünfte Ebene die „Quinta Essentia“. Diese Ebene ist zentral für das anthroposophische Menschenbild: Unser Denken, Fühlen und Wollen sind nicht körperlicher Natur und auf den Körper beschränkt, sondern können von jedem, der sich nur ein wenig auf sich selbst besinnt, als außerkörperliche Kompetenzen erlebt werden.
Kinder erleben ihr Metabewusstsein oder Metagedächtnis zum ersten Mal mit 9 Jahren. Das hängt mit dem genannten Gefühlserlebnis zusammen. Sie sehen sich plötzlich wie von außen und fühlen sich ihrer Familie und ihrem Freundeskreis nicht mehr selbstverständlich zugehörig. Sie fragen plötzlich, warum sie in diesen Zusammenhängen leben. Natürlich reflektieren die Neunjährigen das noch nicht. Aber die 23-Jährigen tun es, sie stellen sich total infrage – und das kann man nur, wenn man sich als „außer sich“, also wie von außen, erleben kann.
Es ist Rudolf Steiners ganz großer Verdienst, das Denken, Fühlen und Wollen als außerkörperliche Kompetenzen entdeckt zu haben:
· dass das Gehirn unsere Gedanken, Gefühle und Absichten nicht hervorbringt, sondern nur spiegelt,
· dass der Mensch eine gedankliche, gefühlsmäßige, intentionale Aura hat, einen mehr oder weniger „heiligen Schein“ von Gedanken, Gefühlen und Bestrebungen, die tatsächlich außerkörperlich sind.
Darauf möchte ich im Folgenden genauer eingehen.
Drei Entwicklungsgesten und Denken, Fühlen und Wollen
Aus der Embryologie kennen wir drei unterschiedliche evolutive Dynamiken:
- die Proliferation, das reine Wachstum,
- die Differenzierung, z.B. das Einsprossen der Nerven oder die Differenzierung in männlich und weiblich,
- die Integration aller Teile zu einem Gesamtbild.
Sie haben wesentlich mit dem Denken, Fühlen und Wollen zu tun. Steiner sagt:
Gedanken seien umgewandelte, leibfrei gewordene Wachstums- und Regenerationskräfte des Körpers (Proliferation), die dort nicht mehr gebraucht werden. Diese außerkörperliche Gedankenkompetenz ermögliche das geistige Wachstum des Menschen.
Das außerkörperliche Gefühlsvermögen bilde sich aus leibfrei gewordenen, umgewandelten Differenzierungskräften, die den Körper bis zur Pubertät durchgestaltet haben und nun im Fühlen Polarisierung – Sympathie, Antipathie, Harmonie, Disharmonie, das gesamte Spiel der Gefühle – ermöglichen. Es ist die Grundlage unserer Empathie-Fähigkeit.
Entsprechendes gelte für die Ich-Kompetenz des freien Wollens, das als leibfrei gewordene Integrationskraft die Voraussetzung und Basis für Selbstbestimmung ist. Diese Willenskompetenz lässt uns die eigene Entwicklung im Sinne einer Übereinstimmung von Denken, Fühlen und Handeln selbst in die Hand nehmen.
Dieses real geistig-körperliche Konzept der Doppelnatur des Menschen bildet die Basis des anthroposophischen Menschenbildes. Diese Doppelnatur wird in dem schönen Gedicht von Juan Ramon Jimenez treffend beschrieben:
Ich bin nicht ich.
Ich bin der, der an meiner Seite geht,
ohne dass ich ihn erblicke,
der sanftmütig schweigt, wenn ich rede,
den ich oft suche,
den ich oft vergesse,
der verzeiht, wenn ich hasse,
der umherschweift, wo ich nicht bin,
der aufrecht bleibt, wenn ich sterbe.
Inkarnation…
Als Geste ausgedrückt: Wir Menschen kommen aus einer geistigen Welt. Leben, Seele und Geist verbinden sich bei der Zeugung mit einem physischen Keim und bauen ihn im Zuge der Embryonalentwicklung auf. Nach der Geburt müssen wir uns im Zuge der Inkarnation mit Erbgut und Milieu auseinandersetzen. Im Laufe des Wachsens und Reifens treten die nicht mehr benötigten Wachstumskräfte heraus aus dem Leib und werden zu Gedanken-, Gefühls- und Willenskräften, wodurch man lernen kann, sich geistig selbst zu finden und selbst zu bestimmen. Wir entwickeln ein individuelles Denken, Fühlen und Wollen – individuell deshalb, weil diese Kompetenz den Lebenskräften unseres eigenen Körpers entstammt. Je älter wir werden, desto mehr Kräfte verlassen den Körper.
… und Exkarnation
Wenn wir sterben, wird auch der letzte Rest an Lebenskräften leibfrei: Das spirituelle Kraftgefüge, das den Körper lebenslang unterhalten und zusammengehalten hat, tritt heraus und macht in der geistigen Welt eine Metamorphose durch, verwandelt seinen Seins-Zustand und geht als außerkörperliches Leben, Seele und Geist in die geistige Welt ein, während der Körper ziemlich rasch zerfällt.
Und da wir nie in einem Erdenleben ganz Mensch werden können, geht dieser Prozess selbstverständlich weiter durch wiederholte Erdenleben – aber mit dem klaren Ziel, immer menschlicher zu werden, immer autonomer, immer ich-hafter.
Bernd Rosslenbroich hat in seinem wunderbaren Buch[1] nachgewiesen, dass die gesamte Evolution Autonomie fördert, die im Menschen gipfelt, der unausgesetzt an seiner Befreiung arbeitet. Angesichts der vielen Krisen und Kriege spüren wir deutlich, wie unfrei der Mensch noch ist, wie viel Befreiungsarbeit noch vor uns liegt.
Vgl. Vortrag „Das anthroposophische Menschenbild“, 2014
[1] Bernd Rosslenbroich, On the Origin of Autonomy, A New Look at the Major Transitions in Evolution, Heidelberg, New York, Springer 2014.
DENKEN, FÜHLEN UND WOLLEN UND LEIB, SEELE UND GEIST
Was ist der Unterschied zwischen der Dreigliederung und der Viergliederung?
Wie hängen Leib, Seele und Geist mit Denken, Fühlen und Wollen zusammen?
Welche Rolle spielen dabei die sogenannten Wesensglieder des Menschen?
Scheinbarer Gegensatz von Dreigliederung und Viergliederung
Der Gegensatz zwischen dem Konzept von Geist, Seele und Leib – Dreigliederung – und dem Konzept der vier Wesensglieder (physischer, ätherischer, astraler und Ich-Organismus) – Viergliederung – ist nur ein scheinbarer. Es gibt zwei Stellen, in denen Rudolf Steiner den Zusammenhang von Dreigliederung und Viergliederung genauer erklärt. Einmal beleuchtet Steiner mehr den erzieherischen Prozess und im anderen Fall steht mehr der Heilprozess im Zentrum:
- Zu den Lehrern spricht er von dem prozessorientierten zeitlichen Aspekt der Wesensglieder, von den sogenannten Geburten in Jahrsiebten[1].
- Mit den Ärzten[2] bespricht er mehr den räumlichen Aspekt der Wesensglieder: wie diese auf jeder Ebene des dreigliedrigen Menschen unterschiedlich zusammenarbeiten.
Wesensgliederwirken in Geist, Leib und Seele
Im Grunde greifen wir zu kurz und zeichnen ein unscharfes Bild, wenn wir den Menschen platt materialistisch in Körper, Seele und Geist einteilen. Rudolf Steiner selbst sagt dazu: „Wer irgendwelche vorgefassten Meinungen oder gar Hypothesen mit diesen drei Worten verbindet, wird die folgenden Auseinandersetzungen notwendig missverstehen müssen.“[3] Diese Dreigliederung macht nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass alle Kräfte, auch der physische Leib, geistiger Natur sind. Unter diesem Vorbehalt möchte ich sie in aller Kürze skizzieren und auch darauf eingehen, wie die Wesensglieder in welchem Bereich wirken.
1. GEIST
Mit Geist wird die von der Materie ganz losgelöste Gesetzlichkeit bezeichnet, also diejenigen geistigen Kräfte, die im Zuge der Ausreifung des physischen Körpers wieder leibfrei geworden sind, die sich quasi wieder exkarniert haben. Dieser wieder leibfrei gewordene Geist hat dieselben Qualitäten wie die inkarnierten ätherischen, astralen und Ich-Organisations-Kräfte, durch die der Leib entstanden ist – mit nur einem Unterschied: Die im Körper wirkenden geistigen Kräfte arbeiten im Sinne der Naturgesetze. Die leibfreien Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens sind auf die individuelle Führung durch das Menschen-Ich angewiesen.
Geist ist laut Rudolf Steiner nicht das Gegenteil von Materie, sondern das außerkörperliche Erleben unserer Wesensglieder im Denken, Fühlen und Wollen. Im Geist erwachen wir als Menschen, die
- Gedanken bilden
- Gedanken differenzieren, abwägen, beurteilen
- sich mit Gedanken verbinden, Gedanken realisieren wollen.
Rudolf Steiner sagt in dem Zusammenhang auch, wir müssten lernen im Denken hell und dunkel als Qualitäten zu fühlen. Erst wenn wir die Stimmigkeit, Wahrhaftigkeit bzw. Verlogenheit und „Verbogenheit“ unserer Gedanken fühlen könnten, wenn wir fähig würden, fühlend zu erkennen, ob Gedanken gerade oder krumm sind, erst dann wären wir urteilsfähig und fähig zu michaelischem Denken. Unser Denken wird also von unserem leibfreien Denken, Fühlen und Wollen gleichermaßen ermöglicht und ist eine rein außerkörperliche, geistige Tätigkeit:
- Der leibfreie Ätherleib liefert das Baumaterial für die Gedanken.
- Der leibfreie Astralleib ist für das Fühlen der Qualität der Gedanken zuständig.
- Aus der leibfreien Ich-Organisation kommt unser Wille zum Denken.
Dergestalt selbständig denken zu lernen, ist Ziel der gesamten Waldorfpädagogik.
2. LEIB
Leib ist der mit der Materie verbundene Gesetzeszusammenhang bzw. der Ort, an dem sich alle vier Wesensglieder inkarniert haben – der Leib ist demnach inkarnierter Geist: Ich-Organisation, Astralleib und Ätherleib beleben, beseelen und durchgeistigen die menschliche physische Gestalt mit Geist, Seele und Leben. Jesus spricht vom Tempel des Leibes, in dem der Geist wohnt. Der physische Organismus ist nun wiederum dreigegliedert.
Zur funktionellen Dreigliederung
Rudolf Steiner forschte 30 Jahre lang zur funktionellen Dreigliederung des physischen Organismus,[4] und wenn er in dem Zusammenhang auch vom oberen, mittleren und unteren Menschen spricht, geht es nicht um eine Dreiteilung, sondern eine Gliederung in drei ineinandergreifende Funktionssysteme.
· Das Nerven-Sinnes-System (NSS)
Das Nerven-Sinnes-System (NSS) ist die physische Grundlage der bewussten Denk- und Sinnestätigkeiten und ist im oberen Bereich, dem Kopf mit den Sinnesorganen und dem Gehirn, zentriert. Alle Bewusstseinsvorgänge werden von Astralleib und Ich-Organisation gemeinsam ermöglicht. Die Sinnestätigkeiten vollziehen sich unter der Regie des Ich und unter starker Beteiligung des Ätherischen, das sich jedoch aus dem Nervensystem weitgehend lösen dürfe, sagt Steiner.
· Das rhythmische System (RS)
Das rhythmische System (RS) befindet sich im mittleren Bereich, im Brustraum. Es lenkt die rhythmischen Transport- und Verteilungssysteme, wie sie von den Atmungsorganen und dem Herzen als Mittelpunkt des Kreislaufsystems ausgehen, und wird stark vom dauerhaft inkarnierten Anteil des Ätherleibes beeinflusst. Würde der Ätherleib auch dort herausgehen, würden wir krank. Der Astralleib pendelt hier zwischen Drinnen und Draußen, insofern als er bei jeder Einatmung ein Stück weit in den physischen Leib hineingeht und sich bei jeder Ausatmung wieder ein Stück weit herauslöst.
· Das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System (STGS)
Das dritte Funktionssystem, das Stoffwechselgliedmaßensystem, umfasst zwei ganz unterschiedliche Bereiche:
Zum einen regelt das unterhalb des Zwerchfells hauptsächlich im Bauchraum lokalisierte Stoffwechselsystem die unbewussten metabolischen Auf- und Abbauvorgänge. Doch jede Zelle, von den Haarspitzen bis zu den Fußspitzen, wird vom Stoffwechsel aufgebaut und unterhalten. Wenn die vier Wesensglieder hier gut verbunden sind und harmonisch zusammenarbeiten, könne der Mensch laut Steiner nicht krank werden, dann sei er gesund inkarniert. Alle internistischen Erkrankungen hängen mit einer Lockerung von Astralleib und Ich-Organisation aus der physisch-ätherischen Konstitution zusammen. Dann gerät der Stoffwechsel durcheinander und erzeugt diverse Krankheitstendenzen.
Aus dem Gliedmaßensystem dagegen könne sich die Ich-Organisation immer mehr befreien und zum vollgültigen freien Willensvermögen des Menschen werden, zu reinem freien Willen, unabhängig von Denken und Fühlen.
Die Wesensglieder sind also, wie oben bereits skizziert, in den drei Systemen jeweils in unterschiedlicher Weise aktiv:
- im Nervensinnessystem (NSS) neuro-sensoriell
- im rhythmischen System (RS) rhythmisch
- im Stoffwechselsystem (StS) metabolisch.
3. SEELE
Seele ist der Ort der Vermittlung zwischen Leib und Geist, sodass der Mensch mithilfe des Leibes sein individuelles geistiges Wesen erleben kann. In der Seele findet die innerlich gefühlte Begegnung mit sich selbst und der Welt statt. Die Seele atmet und schwingt zwischen Innen und Außen, zwischen Leib und Geist. Unser Seelen- bzw. Gefühlsleben wird von der Zusammenarbeit von leibfreier Ich-Organisation und leibfreiem Astralleib ermöglicht, ihr verdanken wir die Fähigkeit, ein Gefühl für unser Ich und die Welt zu entwickeln.
Mitgefühl bedeutet, dass wir ganz beim anderen sind. Aufgrund der Möglichkeit außerkörperlich zu sein, können wir Mitgefühl und Empathie empfinden, können wir bei der Sache und dem anderen sein und uns auf etwas außerhalb unserer selbst konzentrieren; und wir können die Achtsamkeit aufbringen, dort zu sein, wo wir etwas beobachten. Geistesgegenwart bedeutet: Ich bin dort, wo mein Bewusstsein ist. Ich bin nicht mein Leib. Rudolf Steiner formuliert es so: „Das Ich ist in der Gesetzmäßigkeit der Dinge.“ Das Ich ist am Ort des Geschehens. Das Ich steckt nicht im Leib, sondern dort, wo es hinwill, bei den Dingen und Inhalten, für die es sich interessiert. Ich und Welt sind dann eins.
Selbst- und Umweltgefühl sind deshalb immer gemischt, das heißt, wir fühlen uns selbst immer mit, wenn wir die Welt bzw. einen anderen Menschen fühlen. Der Astralleib gaukelt uns quasi nur vor, dass es ein Innen und ein Außen gibt, eine Dualität. Einen Gegensatz von Welt und Mensch. Das Ich hingegen sieht das alles im Zusammenhang, als Polarität, die erst zusammengenommen das Ganze erfasst und umfasst. Denn es erkennt, dass draußen dieselben Gesetze wie im eigenen Inneren walten.
Wesensglieder und Denken, Fühlen und Wollen
In beiden anfangs genannten Werken – den Leitsätzen[5], konkret im Leitsatz zur Lichtnatur des Menschen, aber auch im 2. Medizinervortrag „Geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte zur Therapie“[6] – spricht Rudolf Steiner über das Denken, Fühlen und Wollen in der Form, dass er sagt, dass wir alle drei mit Bewusstsein, Gefühl und Willen durchdringen können und auch sollen:
· Denken
Unser Denkvermögen verdanken wir, wie oben bereits ausgeführt, der engen Zusammenarbeit von Ätherleib, Astralleib und Ich-Organisation in leibfreiem Zustand, die sich am Gehirn reflektieren als unsere Gedankenaura. Dadurch sei es uns laut Steiner möglich, unsere Gedanken auch zu fühlen und zu wollen. Von wirklichem Denken könne man also erst sprechen, wenn man selbst Gedanken hervorbringen und auch fühlen kann, was man denkt.
· Fühlen
Dann sagt er, das leibfreie Fühlen käme dadurch zustande, dass Astralleib und Ich-Organisation verbunden sind und zusammenwirken. Zu fühlen ohne Beteiligung des Denkens wird uns ermöglicht durch eine Kombination aus Willen und Gefühl. Das reine Gefühl unterscheidet sich insofern vom Denken, als dabei die Beteiligung des Ätherleibes fehlt.
Andererseits bekommen wir nur über das Denken Zugriff auf das eigene Fühlen: Rudolf Steiner benennt in der Theosophie[7] den Gedanken „Vater des Gefühls“. So ist das Erlangen von Gefühlskontrolle Ziel einer der sechs Nebenübungen.
Wir müssen aber auch unsere Handlungen (Wollen) fühlen lernen, um die Konsequenzen daraus erspüren zu können und zu wahrhaft moralischem Tun fähig zu werden.
· Wollen, reiner freier Wille
Der Wille hat zwei Betätigungsrichtungen, nach innen und nach außen hin: Damit der Wille in der Welt wirken kann, braucht er einen belebten, beseelten, durchgeistigten, ich-durchdrungenen Leib. Rudolf Steiner sagt,
- der physische Leib sei von außen gesehener Wille.
- Wille von innen gesehen sei der Wille, selbst zu denken.
Die Ich-Organisation steht einerseits im Dienst des Denkens, andererseits im Dienst des Fühlens in Form von Mitleid bzw. von Mitfühlen: Ich will mit dir fühlen. Ich will dir etwas Liebes tun. Doch nur wenn die Ich-Organisation, als dritte Möglichkeit, im Dienst des Willens steht, ist dieser ganz autonom, handelt es sich um reinen freien Willen. Rudolf Steiner sagt, dieser reine freie Wille sei extrem in Gefahr:
- Das Ich könne sich zu tief „reinsetzen“ – damit ist vor allem gemeint, dass es ganz unten drinsitzt und dadurch nicht frei ist. Man hat den Eindruck, der Jugendliche ist total abhängig von seinem Körper.
- Oder aber das Ich ist „rausgeschockt“, wie das bei traumatisierten Kindern der Fall ist. Sie wollen gar nicht richtig hinein in ihren Körper, wirken pathologisch leicht. Mich wundert immer, wie wenig „kernig“ sie laufen, also nicht kraftdurchdrungen und präsent.
Beide Willens-Typen – der zu lose verbundene und der zu dichte – haben gemeinsam, dass der Wille wenig zugänglich ist. Deswegen sind beide Typen hoch suchtgefährdet.
Vgl. Vortrag „Das anthroposophische Menschenbild“, Schulärztetagung 2014
[1] Rudolf Steiner, Die Bildnatur des Menschen, in: Anthroposophische Leitsätze, GA 26. Dornach 1998.
[2] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte zur Therapie. Neun Vorträge vor Ärzten und Medizinstudierenden 1921, GA 313.
[3] Rudolf Steiner, Theosophie, Kapitel: Das Wesen des Menschen, GA 9, Dornach 1961, S. 24f.
[4] Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln. GA 21, Dornach 1983 , S. 150.
[5] Siehe FN 1.
[6] Siehe FN 2.
[7] Rudolf Steiner, Theosophie, GA 09.
FRIEDEN MIT DEN DRACHENKRÄFTEN IM MENSCHEN
Wofür sind die Drachenkräfte ein Bild?
Welche Gefahr bedeuten sie für den Menschen?
Wie kann er Frieden mit ihnen finden?
Worauf beruht der unmittelbare Zusammenhang von Stoffwechsel und Denken?
Die Drachenkräfte und die menschliche Konstitution
In der Apokalypse heißt es, dass die Drachen auf die Erde gestürzt wurden.[1] Der Mensch, die menschliche Natur, ist der Ort auf der Erde, wo sie gelandet sind. Außerhalb der menschlichen Natur ist kein Drache zu finden – hätte der Mensch nicht eingegriffen, bestünde in der Natur immer noch ein wunderbares ökologisches Gleichgewicht. Rudolf Steiner sagte dazu sinngemäß: „In der Natur hat der Vatergott für Frieden gesorgt. Im Menschen muss der Mensch selbst Frieden stiften.“
Der Merkurstab der Mediziner bildet als stehende, nach oben hin offene Acht die menschliche Grundkonstitution, die der Natur des Menschen zugrunde liegt, ab. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen gesundem und krankem Denken und Stoffwechsel lässt sich anhand davon gut verdeutlichen, da beide Prozesse ätherischer und damit lemniskatisch-polarer Natur sind, die einander bedingen:
- Der untere Teil steht für den physischen Leib mit den unbewussten inneren Stoffwechselprozessen, wo die leibgebundenen Ätherkräfte wirken: Bild dafür ist der „Stoffwechseldrache“ im Darm mit seinen Windungen, der unsere Instinkte, Triebe und Begierden bestimmt.
- Der obere Teil steht für den geistigen Menschen, den Geist, und das bewusste Gedankenleben, das stark nach außen gerichtet ist und wo die leibfreien Ätherkräfte wirken: Bild dafür ist der „Gedankendrachen“, der zweiköpfige Drache des Luziferisch-Ahrimanischen mit den Windungen des Gehirns, der uns das freie Gedankenleben ermöglicht.
- Am Umschlagpunkt zwischen beiden steht das zwischen Innen und Außen Vermittelnde der Seele mit ihren Gefühlsregungen, auf die wir nur bedingt bewussten Einfluss haben.
In sich Frieden schaffen durch Selbstüberwindung
Beide Drachen können uns verführen und Unfrieden und Zerstörung anrichten:
- Wir können unsere Gedankenfreiheit, auf der Freiheit an sich beruht, missbrauchen.
- Wir können uns auch von unserem leibgebundenen Willen, unserem Instinkt-, Trieb- und Begierde-Leben überwältigen lassen.
- Die Drachenkräfte können aber auch von unten und/oder oben unsere Gefühle in Aufruhr bringen und so destruktiv wirken.
Damit das nicht eintritt, indem etwas Gutes am falschen Platz geschieht und dadurch „böse“ wird und schädigende Auswirkungen hat, müssen wir im Laufe unserer menschlichen Entwicklung lernen, diese drei Bereiche vom Ich aus in der richtigen Art zu beherrschen und zu kultivieren und so für Gleichgewicht und Frieden sorgen.
a) Den Drachen im Darm befrieden
Nehmen wir das Beispiel der Verdauung: Im unbewussten Stoffwechselleben gelingt uns das weitgehend durch eine gesunde rhythmische Art, mit den Lebensvorgängen, mit unseren Ess- und Schlafgewohnheiten sowie der Fortpflanzungsmöglichkeit umzugehen. Die Stoffwechselprozesse dienen dazu, unseren Leib gesund zu erhalten. Dazu gehören Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme sowie die Atmung. Alle Nahrung wird im Verdauungstrakt komplett zerstört, damit der Mensch sie verdauen und daraus menschliche Substanz aufbauen kann. Diese Zerstörungskräfte gehören zu dem Drachen, der in den Darmwindungen haust. Solange diese Drachenkräfte sich auf die Verdauungsarbeit beschränken, haben wir keine Probleme:
Denn die Natur muss in uns Mensch werden (= verdauen), damit wir einen gesunden Körper, ein starkes biologisches Ego, aufbauen können.
b) Den Drachen im Gehirn befrieden
Das Gedankenleben kann als eine Art umgekehrter Ernährungs- oder Verdauungsprozess angesehen werden. Denn wenn wir im Denken aktiv und geistig beweglich sind, wollen wir die Zusammenhänge der Welt wirklich verstehen. Dazu müssen wir aus uns herausgehen und zum anderen hingehen, müssen wir uns der Wahrheit der Dinge annähern, müssen sie uns zu eigen machen, uns ganz mit ihr verbinden. Erkennen ist so gesehen spirituelle Empathie, geistige Kommunion: Man identifiziert sich mit dem, was man verstehen will. Wenn ich z.B. denke 2 + 2 = 4, muss ich diesen Prozess mit- und nachvollziehen, sonst verstehe ich ihn nicht. Das bedeutet:
Der Mensch muss im Denken zur Welt werden (= erkennen), wenn er zu wahrheitsgemäßen Erkenntnissen kommen will.
Auswirkung falschen Denkens auf die Verdauung
Wenn wir uns nun das Ganze umgekehrt vorstellen: Wenn es uns beim Denken, repräsentiert vom oberen Teil der Lemniskate, überhaupt nicht um Erkenntnis von Wahrheit, sondern nur um die Ansammlung von Informationen geht, um möglichst viel Input und Wissen, wenn wir uns quasi gedanklich „zumüllen“ und nicht gewillt sind, selber zu denken und zu urteilen bzw. wenn alle Gedanken nur um uns selbst kreisen, hat das unmittelbare Auswirkungen auf den anderen Bereich des Wirkens der Drachenkräfte, die Verdauung. Dann werden die Stoffwechselprozesse unseres Köpers aufgrund der polar arbeitenden Natur des Ätherleibes ebenfalls in entgegengesetzter Weise aktiv werden: Wir werden für Krankheitserreger offen sein und so eine Immunschwäche entwickeln.
Umgekehrt haben unsere Ernährung und unsere Lebensgewohnheiten auch immense Auswirkungen darauf, ob unser Gedankenleben sich über das rein Materielle aufzuschwingen in der Lage ist.
Diese Konsequenzen folgen einem ätherischen Gesetz, auf dem das spirituelle Krankheitsverständnis der Anthroposophischen Medizin gründet: Was sich in der einen Hälfte der Lemniskate nach innen richtet, wechselt im Kreuzungspunkt die Richtung und geht nach außen – und umgekehrt.
Anregung und Auswirkung von destruktivem Potential
Alle destruktiven Neigungen entspringen einerseits unserem Stoffwechsel, andererseits negativen Gedanken und Wahrnehmungsinhalten über die Sinne. Auch die egoistisch ausgelebte Sexualität gehört dazu: Destruktivität und Sexualität sind dann unlöslich miteinander verbunden. Das wird verstärkt von den Bildern, die besonders diese Bereiche ansprechen, wie es in der heutigen Spaßindustrie geschieht. Diese von oben und unten kommenden, fehlgeleiteten Kräfte regen das destruktive Potential im Menschen an und wirken sich auch kränkend auf das Seelische aus.
Wenn wir diese Zusammenhänge begreifen, können wir auch verstehen, warum so viele böse Neigungen und so viel Egoismus in die Seele einstrahlen.
Innerer Friede durch geistige Arbeit
Diese Einstrahlungen in unser Denken und Fühlen müssen fortwährend durch innere geistige Arbeit ausgeglichen, also geheilt und befriedet werden, indem man sich bis ins Gefühl mit der Wahrheitswelt verbindet. Wer sich mit edlen, guten, sinnvollen Zielen emotional verbindet, kann seinen Egoismus in den Dienst des Guten stellen. Rudolf Steiner formuliert es sinngemäß so: Der sich befreiende, auf sich selbst gestellte, autonome Mensch, der nicht ständig etwas für sich braucht, kann zur Verfügung stehen, kann seinen ganz individuellen Kulturbeitrag durch die Überwindung des Bösen in sich leisten.
Man erkennt den Freiheitsgrad von Menschen an ihrer Verfügbarkeit – das ist ein spirituelles Gesetz: Je freier ich bin, desto souveräner kann ich meine individuellen Fähigkeiten, anstatt sie auf Selbstoptimierung auszurichten, instrumentalisieren und für die Dinge einsetzen, die mir wesentlich sind. Ich entscheide dann selbst, wofür ich mich engagieren will und wo nicht.
Vgl. „Ich im Netz. Was geschieht mit uns im Internet?“, Amthor Verlag, Heidenheim 2015
[1] Neues Testament, Apokalypse 12, 9.
ZUR FUNKTIONELLEN DREIGLIEDERUNG DES MENSCHLICHEN ORGANISMUS
Was ist unter der funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus gemeint?
Ergebnis von 30 Jahren Forschung
Der Gedanke der funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus beruht auf dreißig Jahren Forschung Rudolf Steiners über den Leib-Seele-Zusammenhang, die er erstmals 1917 im Anhang seines Buches „Von Seelenrätseln“ publizierte.[1] Er kam zu der Einsicht, dass die menschlichen Seelenfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens nicht vom Nervensystem erzeugt werden – im Gegenteil: Das Nervensystem wird durch sie aufgebaut und durch regelmäßige Nutzung erhalten. Er erkannte darüber hinaus, dass die genannten seelischen Grundfähigkeiten sich durch den ganzen Menschen ausdrücken, der schon von der dritten, vierten Woche der Embryonalentwicklung an eine dreigliedrige Gestalt aufweist.
Dreigliederung und Denken, Fühlen und Wollen
Steiner fand heraus, dass sich
- nur das wachbewusste Denken und die Sinnesbeobachtung auf die Funktion des Nerven-Sinnes-Systems stützen. Dazu gehören auch die Vorstellungen, die wir uns von unseren Gefühls- und Willenserlebnissen machen.
- Das Gefühlsleben hingegen zeigte sich ihm in unmittelbarer funktioneller Resonanz mit der rhythmischen Funktionsordnung von Herz-Kreislaufsystem und Atmung.
- Die Willenstätigkeit wiederum sah er als Ausdruck der Stoffwechsel- und Gliedmaßentätigkeit.
„Man muss nur die Physiologie des Atmungsrhythmus im rechten Lichte sehen, so wird man umfänglich zur Anerkennung des Satzes kommen: die Seele erlebt fühlend, indem sie sich dabei ähnlich auf den Atmungsrhythmus stützt wie im Vorstellen auf die Nervenvorgänge. - Und bezüglich des Wollens findet man, dass dieses sich in ähnlicher Art stützt auf Stoffwechselvorgänge. Wieder muss da in Betracht gezogen werden, was alles an Verzweigungen und Ausläufern der Stoffwechselvorgänge im ganzen Organismus in Betracht kommt. Wie dann, wenn etwas ‚vorgestellt‘ wird, sich ein Nervenvorgang abspielt, aufgrund dessen die Seele sich ihres Vorgestellten bewusstwird, wie ferner dann, wenn etwas ‚gefühlt‘ wird, eine Modifikation des Atmungsrhythmus verläuft, durch die der Seele ein Gefühl auflebt: so geht, wenn etwas ‚gewollt‘ wird, ein Stoffwechselvorgang vor sich, der die leibliche Grundlage ist für das als Wollen in der Seele Erlebte.“[2]
Begründung mit wissenschaftlichen Mitteln
Der Erlanger Anatomie-Professor Dr. Johannes Rohen trug in seinen Lehrbüchern für Anatomie[3] dieser funktionellen dreigliedrigen anatomischen Ordnung Rechnung. Professor Dr. rer. nat. Wolfgang Schad arbeitete diesen Aspekt in einer konsequent durchgeführten Darstellung der Entwicklung der Wirbeltiere im Vergleich zum Menschen auf.[4] Rudolf Steiner war sich bewusst, dass seine Entdeckung der seelischen Dreigliederung in Verbindung mit der körperlich-physiologischen und deren naturwissenschaftliche Begründung einer umfangreichen Publikation bedurft hätte, die er während des Ersten Weltkrieges jedoch nicht leisten konnte. Er schreibt: „Ihre Begründung kann durchaus mit den heute vorhandenen wissenschaftlichen Mitteln gegeben werden. Dies würde der Gegenstand eines umfangreichen Buches sein, das in diesem Augenblicke zu schreiben, mir die Verhältnisse nicht gestatten.“[5] Schad und Rohen haben diese umfangreiche Arbeit inzwischen weitgehend geleistet.
Was macht diese Sichtweise des menschlichen Organismus auch für den gesundheits-wissenschaftlichen Ansatz so wertvoll?
Sie verknüpft drei Aspekte miteinander:
- Sie macht den polaren Bau des menschlichen Organismus funktionell und morphologisch transparent.
- Sie liefert eine pathologisch und therapeutisch relevante Erklärung des Leib-Seele-Zusammenhangs.
- Sie führt nicht nur zu einer neuen Sicht auf die Entstehung von Krankheit, sondern auch zu einem Konzept für die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit (Salutogenese, Hygiogenese).
Polarität und ausgleichende Mitte
Morphologisch betrachtet sind die Rundheit der Schädelform und die radiale Form der Gliedmaßen echte Polaritäten. Entsprechend polar stehen auch die bewussten, im Kopf zentrierten Denk- und Sinnestätigkeiten den unterhalb des Zwerchfells lokalisierten unbewussten metabolischen Auf- und Abbauvorgängen gegenüber. Dazwischen entfalten sich die rhythmischen Transport- und Verteilungssysteme, wie sie von den Atmungsorganen und dem Herzen als Mittelpunkt des Kreislaufsystems ausgehen. Diese dreiteilige morphologische Grundgliederung bezeichnet Steiner mit:
- Nerven-Sinnes-System (NSS): die überwiegend im Kopf zentrierte „obere Organisation",
- rhythmisches System (RS): die überwiegend im Thorax lokalisierte „mittlere Organisation",
- Stoffwechsel-Gliedmaßensystem (STGS): die überwiegend im Abdomen lokalisierte „untere Organisation".
Dieser Dreigliederung entspricht bereits die Polarität von Ektoderm und Entoderm und den sich aus dem Zusammenspiel beider ergebenden sekundären mesodermalen Strukturen in der Embryonalentwicklung. Sie findet sich aber auch in der Formation des Skelettes wieder: Wirbelsäule und Brustkorb haben einen rhythmisch gegliederten Aufbau (Wirbel, Rippen), im Gegensatz zur radialen Form der Extremitäten und der sphärischen des Kopfes.
Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass sich die funktionelle Gliederung nach drei Funktionsaspekten räumlich im polaren Aufbau des Körpers mit einer rhythmisch gestalteten Mitte abbilden.
Dreigliederung anstatt Dreiteilung
Bei der funktionellen Dreigliederung geht es nicht um eine Dreiteilung in drei streng abgegrenzte Körper-Regionen, sondern um das Ineinandergreifen drei unterschiedlicher Funktionsweisen, die sich in allen drei Bereichen wiederfinden lassen:
- Selbstverständlich gehört auch der Nervenzell-Stoffwechsel den Stoffwechsel-funktionen an.
- Umgekehrt ist das vegetative Nervensystem, das wahrnehmend und regulierend auf das gesamte Stoffwechselgeschehen einwirkt, Bestandteil des Nervensinnessystems.
- Entsprechend ist das rhythmische System mit seinen Funktionsleistungen auch im Nervensinnes-System und beim Stoffwechsel wirksam: Die kurzwelligen Rhythmen der elektrochemischen Hirnpotentiale im Sekundenbereich und die langwelligen Eigenrhythmen der Stoffwechselorgane (z.B. Magen / Darmmotilität) im Stundenbereich sind Teil der rhythmischen Gesamtordnung im dreigliedrigen Organismus.
Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass es sich bei der Dreigliederung nicht um eine Dreiteilung, sondern um eine funktionelle Gliederung nach drei Funktionsaspekten handelt, die sich gleichzeitig räumlich im polaren Aufbau des Körpers abbildet.
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblatt-sammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln. GA 21. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1983.
[2] Ebenda, S. 152 - 153.
[3] U.a.: Johannes W. Rohen, Morphologie des menschlichen Organismus. Versuch einer goetheanischen Gestaltlehre des Menschen, Stuttgart 2000.
[4] Wolfgang Schad, Säugetiere und Mensch. Zur Gestaltbiologie vom Gesichtspunkt der Dreigliederung. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1985.
[5] Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln. GA 21. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1983 , S. 150.
BEGABUNGEN DES PHYSISCHEN LEIBES
Was verdanken wir dem physischen Leib?
Wozu befähigt er uns?
Erleben der eigenen Egoität durch den Körper
Der physische Leib ist in Form, Funktion und Plastizität seiner Organe die Grundlage für jedwede Begabungsäußerung des Menschen. Seine Größe, seine Kraft, die Qualität der Sinneswahrnehmungen durch die Sinnesorgane – all das setzt Maßstäbe für bestimmte Entwicklungen und auch Grenzen für bestimmte Leistungsmöglichkeiten. Wer mit einem absoluten Gehör geboren wird, ist prädisponiert für eine musikalische Begabung, und wer einen kräftigen Muskelbau hat, ist zu physischer Kraftentfaltung oder zu sportlichen Höchstleistungen veranlagt.
Es gibt aber auch eine Reihe verborgener Qualitäten, die wir unserem physischen Leib verdanken, allen voran das Erlebnis unserer Egoität, unserer individuellen Persönlichkeit. Nur dadurch, dass wir in einem von der Umwelt abgegrenzten Leib tätig sind, können wir zu dem Erlebnis unserer Eigenheit kommen.
Denn schon im Bereich des Ätherischen, das keine Raumstruktur mehr hat, sondern eine zyklisch arbeitende Zeitstruktur besitzt, ist die Abgrenzung und damit auch das Erleben der Eigenheit und Eigenständigkeit nicht mehr in der Weise gegeben wie im Physischen. Daher ist die Pflege der Integrität des physischen Leibes von so großer Bedeutung, insbesondere während der Vorschulzeit. Übergriffe im Physischen, ob nun in Form von übertriebener Zärtlichkeit, Gewalt oder aber als sexueller Missbrauch, stellen über seine vielfältig miteinander vernetzten Sinnesorgane immer zentrale Angriffe auf das Persönlichkeits- und Selbsterleben des Kindes dar und veranlagen im physischen Leib bleibende Kränkungen bzw. Störungen im Selbsterleben und der daraus erwachsenden Selbstachtung. Das Gefühl, Herr im eigenen Hause zu sein, ist die Basis eines gesunden Selbsterlebens im Physischen.
Gesundes Denken durch gesunde Physis
Doch auch ein klares Vorstellungsvermögen ist an die Intaktheit des physischen Gehirns und der Sinnesorgane gebunden. So wahr es ist, dass die Gedanken ihren Sitz im ätherischen Organismus haben, so wahr und selbstverständlich ist es auch, dass sie nur mithilfe des Gehirns und der daran angeschlossenen Sinnesorgane als Vorstellungen reflektiert werden können. Daher hat die Pflege der Sinnesfunktionen,[1] des Bewegungsspiels und der körperlichen Geschicklichkeit eine wichtige Bedeutung im Hinblick auf die Gehirnbildung und die Ausbildung eines gesunden Vorstellungslebens. Der physische Leib verdankt seine Ausformung nicht nur Vererbung und Umwelt, sondern auch dem Interesse und der Aufmerksamkeit, mit denen das Kind seiner Umwelt begegnet und Beziehungen zu bestimmten Menschen aufnimmt: Indem es sie nachahmt, wird sein Körper auf sinnvolle Weise tätig. Denn jede Form von körperlicher Tätigkeit stimuliert zugleich die physiologischen Abläufe und damit auch die Bildung der Organe.
Der physische Leib dient so
- der Selbstwahrnehmung im Physischen, der Egoität im besten Sinne des Wortes
- dem Ätherleib als Grundlage für Reflexion und Vorstellungsvermögen
- dem Astralleib als Grundlage für sein Empfindungsleben
- dem „Ich“-Wesen des Menschen vermittelt er die Fülle an Wahrnehmungen.
Schädigung durch Fehlstimulation der Sinne
Die allgemeine Bewegungsarmut, technisches Spielzeug, durch das Kinder nur zu wenig Eigenbewegung anregt werden, das sie stattdessen zu Kontrolleuren sich raffiniert bewegender Spielzeuge macht, und nicht zuletzt der Fernseh- und Medienkonsum gehören zu den Faktoren, die den physischen Leib am schlimmsten schädigen. Kaum etwas wirkt verheerender als die umfassende Fehlstimulation der Sinne durch den Bildschirm:
- Keine Farbe stimmt mit der der Wirklichkeit überein.
- Keine Proportion, kein Größenverhältnis entspricht einer normalen Sinnesbeobachtung, bei der sich alle Sinne – Auge, Ohr, Geschmack, Geruch usw. – aufeinander abstimmen und in ihrem Zusammenwirken zur Totalität eines bestimmten Sinneseindrucks beitragen.
- Nicht einmal das Auge hat die Möglichkeit, das räumliche Sehen zu üben, da alle Bilder zweidimensional auf der Fläche erscheinen. Die Augenmuskeln können sich dem Sinneseindruck nicht aktiv anpassen, indem sie sich, wie sonst beim Sehen, um den Gegenstand herum oder mit dem Gegenstand bewegen. Beim Fernsehen wird dem Auge diese Aktivität abgenommen: Das Bild auf dem Schirm bewegt sich, das Auge ist reglos und starr auf den Bildschirm gerichtet.
Man macht sich diesen Effekt in Augenkliniken zunutze, um die Augen bei Augenmuskeloperationen möglichst ruhigzustellen: Nichts wirkt effizienter, als einige Stunden fernzusehen. Denn selbst im Schlaf bewegen sich die Augäpfel in regelmäßigen Abständen hinter den geschlossenen Lidern.
Wer die Inkarnation des Menschen-Ich im physischen Leib in umfassender Weise fördern möchte, sieht sich gezwungen – auch wenn dies gegenwärtig aus dem Rahmen üblicher Kulturgewohnheiten fällt –, den Bildschirm und technisches Spielzeug insbesondere aus dem Vorschulalter komplett zu verbannen und dem Kind die Auseinandersetzung mit der Umwelt so, wie sie wirklich ist, zu gönnen.
Folgen von Medienkonsum im Vorschulalter
In der Schule zeigen sich die Folgen einer Fehlerziehung auf diesem Gebiet in Form von
- Nachahmungsschwäche
- einer nicht genügend ausgebildeten Bewegungsorganisation
- Störungen in der Abstimmung der Sinnesfunktionen aufeinander
- Defiziten in der Sprachentwicklung
- Unfähigkeit, intentional mit gerichteter Aufmerksamkeit zuzuhören.
Denn am Bildschirm nimmt man ständig mehr Informationen auf, als man verarbeiten kann, und man lernt auch nicht wiederzugeben, was man gehört und gesehen hat. Überdies werden Medien oft als Geräuschkulisse genommen, während man sich mit etwas ganz anderem beschäftigt. Entsprechend wird auch der Lehrer oft als Geräuschkulisse erlebt und behandelt – und nicht wie ein Mensch, dem man mit Interesse und Aufmerksamkeit begegnen sollte.
Der schlimmste Schaden für das spätere Leben erwächst jedoch aus der Inaktivität des eigenen Denkens: Das Gehirn bildet sich zu einem Instrument passiver Informationsaufnahme und -verarbeitung. Aktiv zu hinterfragen, sich auseinanderzusetzen, sich selbst Bilder von einer Sache zu machen, selbständig zu denken – dafür eignet es sich kaum noch. Das führt dazu, dass die Bereitschaft, selbst aktiv und kreativ zu werden, aber insbesondere der Wille, selbstständig zu denken, nachlassen.
Das Ergebnis ist eine „Zuschauergesellschaft“, die zwar intelligent registriert, jedoch damit rechnet, dass es für jedes Problem einen Zuständigen gibt und Selbständigkeit und Mitverantwortung immer weniger gefragt sind. Demgemäß hört man immer wieder von erfolgreichen, kreativen Menschen, die im späteren Leben dankbar auf ihre fernsehfreie bzw. fernseharme Kindheit zurückblicken bzw. jetzt froh sind, dass sie in Kindheit und Jugend viel zupacken mussten.
Übung macht den Meister
Zudem zeigt die tägliche Erfahrung bei jedem sportlichen Training, dass der physische Leib nur durch Aktivität seine Funktionen ausbilden kann. Das Gleiche gilt auch für die feineren inneren Vorgänge im Leibe. Was nicht geübt wird, bleibt unentwickelt, was fehlstimuliert wird, bildet eine ungeordnete Veranlagung.
Je jünger der physische Leib ist, umso bildsamer und prägbarer und umso verwundbarer ist er. Erst mit zunehmendem Alter kann er kränkenden Einflüssen mehr Widerstandskraft entgegensetzen.
Wird die Sinneserziehung vernachlässigt und der Welt, den Menschen und den täglichen Begebenheiten keine liebevolle Aufmerksamkeit geschenkt, werden schwerwiegende Behinderungen der Selbst- und Welterfahrung veranlagt, die schon in der Schulzeit zu Desinteresse und Lernstörungen führen können. Diese Entwicklung gehört zu den wichtigsten Ursachen, warum der Drogenkonsum in unserer Zeit so zunimmt: Der Erlebnismangel und der damit verbundene Mangel an Selbsterfahrung durch nicht oder fehlausgebildete Sinnesfunktionen wird früher oder später als unerträglich empfunden – man sucht dann eine Ersatzbefriedigung in der durch die Drogen vermittelten Erlebnisintensität.
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 8. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
[1] Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Nr. 34: Aufzeichnungen Rudolf Steiners zur Sinneslehre. Dornach, Sommer 1971.
BEGABUNGEN DES ÄTHERLEIBES
Was sind die Begabungen des Ätherleibes?
Gesetzmäßigkeiten, die tote Materie am Leben erhalten
Laut Rudolf Steiner umfasst der Lebens- bzw. Ätherleib alle Gesetzmäßigkeiten, die in der Lage sind, tote Materie am Leben – im Lebenszusammenhang – zu erhalten.[1] Der Begriff „Leib“ steht für den Funktionszusammenhang des Lebendigen, Belebenden. Das Wort „Äther“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „himmelblau“ bzw. „blauer Himmel“, „Firmament“.
Diese Wortkombination macht Sinn, weil das blaue Himmelslicht, der von der Sonne erhellte Himmelsraum, die Pflanzenwelt mit Energie versorgt, durch die sie Blattgrün, das Chlorophyll, bilden kann. So wie die Pflanze nur dank dieser Verbindung mit dem Kosmos und der Sonne leben kann, so verfügt auch der Mensch, dem die Pflanzenwelt als Nahrung dient, über einen in sich geschlossenen individualisierten Lebensorganismus.
Die Tätigkeit des Ätherleibes im menschlichen Organismus ist polar orientiert:
· Ein Teil dient am Lebensanfang vor allem dem Wachstum und später der Regeneration des physischen Leibes.
· Der andere Teil löst sich von Anfang an im Laufe der Entwicklung bzw. später im Zuge des Alterungsprozesses in dem Maße aus der Leibgebundenheit heraus, in dem Wachstums- und Reifungsschritte vollendet wurden und diese Lebenskräfte nicht mehr für Wachstum oder Regeneration gebraucht werden: Sie verlassen den physischen Leib und ermöglichen ein sich lebenslang entwickelndes Gedankenleben.
Einflüsse auf den Ätherleib
Diese bahnbrechende Einsicht in den Leib-Seele-Zusammenhang verdanken wir Rudolf Steiner: Er entdeckte die Doppelfunktion des Ätherischen und damit den Schlüssel, wieso und inwiefern das Gedanken- und Geistesleben des Menschen Einfluss hat auf die körperliche Gesundheit.
· Was den Ätherleib stärkt
Gedächtnisschwächen sind Willensschwächen im Gedankenleben. Sie können positiv beeinflusst werden durch Aufmerksamkeitsübungen:
Man kann z.B. allein oder mit einem Kind zusammen konzentriert ein Ding, einen Vorgang oder ein Lebewesen beobachten, es von allen Seiten betrachten und mit Hilfe der Sinne als Wahrnehmungsinhalt aufnehmen und einprägen. Oder man legt gemeinsam etwas an einen bestimmten Ort, den man sich genau anschaut und merkt – das stärkt die Erinnerungsfähigkeit daran, wo man etwas hingelegt hat.
Ein wichtiges Stärkungsmittel für den Ätherleib sind gute Gewohnheiten: regelmäßige Essens- und Schlafenszeiten, Wechsel von Arbeit und Spiel etc. Alles, was mit Rhythmus und Regelmäßigkeit zusammenhängt, ist ätherisches Gebiet – denn „Rhythmus trägt Leben“, wie Rudolf Steiner es dem Chemiker Rudolf Hauschka gegenüber ausdrückte.[2]
Daher ist auch regelmäßiges Üben, wie es beim künstlerischen Tun üblich ist, so gesundend. Das gilt auch für regelmäßiges kontemplatives oder religiöses Üben wie Beten, abendliche Rückschau auf den Tag und das Üben von Qualitäten wie Dankbarkeit, Andacht, Ehrfurcht, Zufriedenheit, Friedensfähigkeit.
Auch das Auf-sich-wirken-Lassen von „Ganzheiten“ – wie schöne Landschaften, Bildwerke, Musikstücke – stärkt den Lebenszusammenhang des Ätherleibes. Besonders wichtig ist jedoch ein soziales Klima der Wahrhaftigkeit. Denn im Kontext der sorgfältig aufeinander abgestimmten Lebensfunktionen zieht jede Störung der „Stimmigkeit“ und des aufeinander Abgestimmt-Seins funktionelle Störungen nach sich, die sich im Laufe der Zeit zunehmend bemerkbar machen.
Nicht nur der lebendige Körper braucht Pflege. Auch der Gedankenorganismus bedarf der Pflege durch übereinstimmende Gedanken, Integrität, Transparenz und Wahrhaftigkeit.
· Was den Ätherleib schwächt
Verlogenheit, Argwohn und Zweifel zehren an den ätherischen Kräften und untergraben den Lebenszusammenhang und das Zusammenstimmen der Lebensfunktionen.
Inkohärentes Denken schädigt den physischen Leib während der Nacht, wenn der bei Tag leibfreie Ätherleib sich im Schlaf wieder mit dem leibgebundenen Anteil verbindet, um an der Regeneration des Leibes zu arbeiten. Dann teilen sich Schädigungen, die der tagsüber dem Denken dienende ätherische Organismus erfahren hat, unmittelbar dem physischen Leib mit. Am nächsten Morgen ist der Erfrischung eine leise Kränkung beigemischt. Setzen sich solche destruktiven Einflüsse über Jahre hinweg fort, kann das noch in diesem Erdenleben zur Ausbildung einer Krankheit führen. Wenn der Ätherleib über viel Überschusskraft verfügt, kommt es erst im nächsten Erdenleben zu Krankheitsdispositionen.
Pflege der ätherischen Kräfte und Monatstugenden
Zur Pflege der ätherischen Kräfte des Erwachsenen kann die Arbeit an den sogenannten Monatstugenden eine große Hilfe sein.[3] Das stößt neue Gewohnheiten und eine Gesinnung der Wahrhaftigkeit, Liebe und Großzügigkeit an. Die Tugenden werden jeweils einen Monat lang geübt – denn der Vier-Wochen-Rhythmus stärkt die ätherischen Kräftezusammenhänge. Rudolf Steiner empfiehlt, diese Monatstugenden regelmäßig zu üben und darauf zu achten, wie sich dabei die jeweilige Tugend vertieft, aber auch verwandelt und zu einer neuen Tugend wird, die dann ganz das Ergebnis der eigenen Arbeit an der ersten ist.
Diese Monatstugenden sind:
April Ehrfurcht wird zu Opferkraft
Mai Inneres Gleichgewicht wird zu Fortschritt
Juni Ausdauer wird zu Treue
Juli Selbstlosigkeit wird zu Katharsis
August Mitleid wird zu Freiheit
September Höflichkeit wird zu Herzenstakt
Oktober Zufriedenheit wird zu Gelassenheit
November Geduld wird zu Einsicht
Dezember Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden
Januar Mut wird zu Erlöserkraft
Februar Diskretion wird zu Meditationskraft
März Großmut wird zu Liebe
Das mag auf Anhieb etwas kompliziert klingen, hängt jedoch mit unserer Ich-Natur zusammen: Die erstgenannten Tugenden sind gleichsam in unserer allgemeinmenschlichen Konstitution veranlagt. Jeder Mensch kann die Ansätze dazu bei sich entdecken und darauf aufbauend mit dem Üben beginnen. Die zweitgenannten Tugenden ergeben sich erst aus der Arbeit an den erstgenannten. Das Bemerkenswerte ist, dass sie sich nur entwickeln, wenn man die erstgenannten Tugenden um ihrer selbst willen übt, aus Liebe dazu und zur Menschwerdung überhaupt – also nicht nur, um im Leben mehr Erfolg zu haben und „Charakterstärke“ zu besitzen.
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 8. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
[1] Rudolf Steiner, Theosophie. GA 9.
[2] vgl. Rudolf Hauschka, Wetterleuchten einer Zeitenwende. Bad Boll 1997.
[3] Rudolf Steiner, Anweisungen für eine esoterische Schulung. GA 245, vergriffen. Neu in: Seelenübungen mit Wort- und Sinnbildmeditationen. GA 267, Dornach 1997.
BEGABUNGEN DES ASTRALLEIBES
Welche Kompetenzen und Fähigkeiten verdanken wir dem Astralleib?
Wie wirkt er auf die anderen Wesensglieder?
Wirkung des Astralleibs auf die anderen Wesensglieder
Dem Astralleib verdanken wir
· im Physischen die Bewegungsfähigkeit und die Emotions- und Begierdenatur, die Mensch und Tier gemeinsam haben
· im Ätherischen die Veranlagung unserer Triebnatur
· im Astralischen, befreit vom Physischen und Ätherischen, als leibfreie, rein seelische Tätigkeit das Gefühlsleben der Seele
· im ich-haft Geistigen die Möglichkeit der Bewusstseinsbildung.
Einflüsse auf den Astralleib
· Was den Astralleib schwächt
Nichts schwächt den Astralleib mehr als selbstbezogenes Brüten in sich selbst wie unfruchtbare „Nabelschau“, aber auch gewohnheitsmäßiges Kritisieren anderer. Das hat zur Folge, dass „sich nichts mehr bewegt“, dass durch die Fixierung auf sich selbst oder ein Problem Stagnation statt Verwandlung herrscht. Auch das Verweilen bei Reuegefühlen und Gewissensbissen lähmt die Regsamkeit des Astralleibes. Führen Gewissensbisse allerdings dazu, den Menschen auf Fehler und Schwächen hinzuweisen, sind sie wertvoll.
· Was den Astralleib stärkt
Interesse und Offenheit gegenüber Welt und Mensch stärken und pflegen den Astralleib. Wohlwollen und Zuversicht sind Kräfte, die den Astralleib beweglich halten, anregen und ihm helfen, mit den Sympathien und Antipathien – sprich, der wogenden Gefühlswelt des Astralischen – konstruktiv umzugehen, sodass der Mensch Vorlieben und Abneigungen nicht nur auslebt, sondern als Signale zu verstehen lernt, die ihm etwas über sich selbst und andere sagen können.
Entscheidend ist jedoch, dass das Gefühlsleben von Gedanken durchzogen wird, also einen klaren „Anschluss“ an das denkende Erkennen bekommt und sich von seinem kindlichen Verhaftet-Sein an den Leib und das an ihn gebundene Wollen lösen lernt.
Beim kleinen Kind ist es berechtigt, dass es seinen Trieben, Begierden und Neigungen unmittelbar und spontan folgt und diese erst am Vorbild der Erwachsenen durch die Nachahmungsfähigkeit erzogen und geformt werden. Im Erwachsenenalter hat dieses Sich-Ausleben keine Berechtigung mehr. Die orientierende Kraft der Nachahmung sollte im Verlauf des Erziehungsprozesses vom freien verantwortlichen Gebrauch des eigenen Willens ersetzt und das Gefühlsleben an das erwachende und immer selbstständiger werdende Denken angeschlossen worden sein. Misslingt dieser Anschluss an das Denken, wird das Gefühlsleben sekundär wieder an den Leib gebunden. Dann ist der Mensch seinen bedürfnisorientierten Emotionen ausgeliefert: Er muss ihnen folgen, auch wenn seine Vernunft dagegenspricht und ihn davon abhalten möchte. Damit ist die konstitutionelle Voraussetzung geschaffen, ein Triebtäter zu werden.
Die sogenannten Nebenübungen – Gedanken-, Handlungs- und Gefühlskontrolle, Positivität und Unbefangenheit sowie deren Zusammenwirken – sind grundlegende Hilfen bei der Selbsterziehung des Erwachsenen, den Astralleib zu pflegen und unter die Herrschaft des Ich zu bringen.[1]
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 8. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
[1] Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss. GA 13, Dornach I989, und Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10, Dornach 1993.
Siehe auch Florin Lowndes, Die Belebung des Herzchakra. Stuttgart 1996.
BEGABUNGEN DER ICH-ORGANISATION
Wodurch bemerken wir das Wirken der Ich-Organisation?
Wie können wir die Ich-Organisation in ihrem Wirken stärken?
Ich-Organisation und Wärme
Die Ich-Organisation stimmt im physischen Leib das Wirken aller Gesetzmäßigkeiten so aufeinander ab, dass dadurch eine bestimmte Persönlichkeit zur Erscheinung kommt. Ihre Hauptaufgabe besteht in der Integration in den Gesamtzusammenhang, in das Gesamtbild. Sie ist zuständig für die Gestaltung des Menschen hinsichtlich Form, Größe und Proportion und bedient sich dabei der Wärmeprozesse. So wie die Gesetzmäßigkeiten
- des Physischen dem Aggregatzustand des Festen entsprechen,
- diejenigen des Ätherischen den Gesetzmäßigkeiten des Flüssigen
- und die des Astralischen den Gesetzmäßigkeiten des Luftförmigen,
- so äußert sich die Ich-Organisation unmittelbar durch die Gesetzmäßigkeiten der Wärme.
Letztlich hängt es vom Wärmezustand des Organismus ab, in welcher Form eine Substanz vorliegt und wie schnell bzw. langsam sie sich mit anderen Substanzen verbindet oder sich von ihnen trennt. Die Arbeit der Ich-Organisation kann so an der Wärmewirkung abgelesen werden. Interessanterweise beschränkt sich dieser Wärmebildungs- und Verteilungsprozess im Menschen nie nur auf das Physische; die Wärme wird auch seelisch erlebt und wirkt geistig anregend. Umgekehrt wirkt eine im Seelisch-Geistigen „auflodernde“ Begeisterung bis ins körperliche Erleben hinein durchwärmend und positiv stimulierend.
In der Sinneswelt hat die Wärme eine Brückenfunktion zwischen dem Physischen und dem Geistigen, die vergleichbar ist mit der Brückenfunktion des Denkens zwischen Materie und Geist. Wärme kann sowohl in physischer als auch in seelisch-geistiger Form auftreten und ist doch immer Wärme. Dadurch, dass dieses Wärmewesen von der Ich-Organisation individuell genützt wird, bekommt der geistig-physische Wesenszusammenhang sein persönliches Gepräge.
Was die Ich-Organisation als Wärmeorganismus stärkt
Durch die Ich-Organisation und ihre nicht materielle Wärmewirkung kann auch unser wahres höheres bzw. „besseres“ Selbst, unser ewiges Wesen hereinleuchten, ja sogar anwesend sein. Gestärkt wird die Ich-Organisation von positiven menschlichen Begegnungen. In der zwischen Menschen entstehenden seelisch-geistigen Wärme erlebt sich der Einzelne bestätigt und gefördert. Dabei sind ethische Werte und Lebensideale die besten Schulungsmittel:
- Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander
- Respekt vor der Freiheit und Würde des anderen
- Interesse an dessen Schicksal
- Anerkennen seiner Stärken
- Akzeptanz seiner Schwächen
- Vertrauen in seine weitere Entwicklung zum Guten.
Der ewige Wesenskern
Das Ich, der ewige Wesenskern, lebt in der Kontinuität. Es geht durch viele Erdenleben und wird sich immer mehr seiner selbst bewusst; es stammt aus urferner Vergangenheit und schreitet weiter auf ein leuchtendes Entwicklungsziel zu. Qualitäten wie Zuverlässigkeit, Kontinuität, Belastbarkeit, Tragfähigkeit, Durchhaltevermögen usw., die im Leben und in menschlichen Beziehungen zum Tragen kommen, unterstützen die Ich-Organisation. Freundschaften, in denen gemeinsame Ziele oder Arbeitsaufgaben das Verbindende sind, erweisen sich als besondere Kraftquelle für das Ich wie auch die Arbeit an den Kernidealen des menschlichen Werdens: Wahrhaftigkeit, Liebefähigkeit, Freiheit für sich und die anderen.
Dank der Losgelöstheit des Gedankenorganismus vom physischen Leib hat das Ich als denkendes Wesen auch die Möglichkeit, von sich selbst abzusehen und anderes in den Mittelpunkt seines Interesses zu stellen. Das ist die Voraussetzung für Selbstlosigkeit, die sich das Ich auf dem Erkenntnisweg erarbeiten kann.
Diese wenigen Andeutungen können verständlich machen, warum in einer Zeit, in der menschliche Beziehungen so starken Belastungen ausgesetzt sind und vielfach im gegenseitigen Unverständnis und Sich-nicht-ertragen-Können auseinanderbrechen, auch die Ich-Kraft und das damit verbundene Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl eine immense Schwächung erfahren.
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 8. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
SINNES- UND TATENMENSCH ALS INSTRUMENTE DES ICH
Inwiefern sind die Sinne und die Gliedmaßen des Menschen Kontaktorgane?
Wie kann Schule die Kontaktfähigkeit ihrer Schüler verstärken?
Wie schult man die eigene Intuitionsfähigkeit?
Zweifacher Kontakt mit der Umgebung
Der physische Leib tritt auf zweierlei Art mit seiner Umgebung unmittelbar in Kontakt:
- Einmal über die Sinne(sorgane), durch die die leibfreien Wesensglieder wie hinausgehen und wahrnehmen.
- Zweitens dienen die Gliedmaßen als Instrumente der Kontaktaufnahme.
Man kann auch sagen, die Kontaktaufnahme geschieht über die Anschauung und die Tat – insofern spreche ich von Sinnes- und Tatenmensch. Das ist aber nicht das Gleiche wie die Einteilung in Nervensinnessystem und Stoffwechsel-Gliedmaßensystem als Teile der Dreigliederung. Der Sinnes- und der Tatenmensch werden hier als Instrumente des Ich betrachtet, durch das die Dreigliederung als Dreiheit in der Einheit verbunden bleibt. Wir fallen nicht pathologisch bzw. psychotisch in Denken, Fühlen und Wollen auseinander, sondern wir sind trotz all unserer unterschiedlichen Schwerpunkte in der Lage, das System als Gesamtheit zusammenzuhalten.
Gestörter Kontakt zur Sinneswelt
Setzt sich einer der drei Bereiche des dreigegliederten Organismus durch, so äußert sich das
- entweder als Angst, die mit dem Bewusstsein assoziiert ist
- oder als Aggression und Wut, die mit dem Stoffwechsel assoziiert sind
- oder als Klammern an der Mama oder anderen Menschen aufgrund von Einsamkeit und Sich-vernachlässigt-Fühlen, Sich-allein-Fühlen.
In allen drei Fällen haben die Betroffenen einen gravierend gestörten Kontakt zur Um- und Mitwelt. Sie tun meist nur, was sie wollen, anstatt das, was sie sollen. Dieses Verhalten zeigt, dass das Verhältnis zur Welt wie auch zum eigenen Willen gestört ist. Das ist alles Ausdruck einer primären Ich-Inkarnationsstörung, d.h. das Ich konnte sich nicht um das ganze System kümmern.
Prävention und Therapie
Als Prävention und Therapie sind die Sinne über künstlerisches Üben bzw. anschaulichen, bildhaften, charakterisierenden, künstlerisch gestalteten Unterricht anzusprechen.
1. Anschauung vertiefen und kultivieren (Sinnesmensch)
Bei Verhaltensstörungen und Schwierigkeiten in der Unterstufe, sagt Rudolf Steiner, solle der Lehrer eine sinnige Geschichte erzählen, in der er genau die Verhaltensstörungen der Kinder aufgreift und ins Bild bringt und so den Kindern vor Augen stellt, wodurch das völlig freie unschuldige Ich die Situation anschauen und daraus heilende, ordnende Botschaften empfangen kann, die es dann über das Denken, Fühlen und Wollen auf die anderen Wesensglieder überträgt.
Auch alles Kognitive soll über die Sinne vermittelt werden, weil über den Weg von der Eins (Ich-Aktivität) in die Drei (Denken, Fühlen und Wollen) die Zusammenhaltekraft unterstützt wird.
2. Gliedmaßenmensch schulen (Tatenmensch)
Die zweite Hauptaufgabe besteht in der Schulung des leibfreien Willens durch eine Lockerung der Ich-Organisation aus den Gliedmaßen insbesondere durch
- Gymnastik,
- Heileurythmie
- Eurythmie.
Rudolf Steiner sagt, die gesamte Zukunftsentwicklung des Menschen hänge davon ab, dass sich die Ich-Organisation aus den Gliedmaßen herauszulösen und immer mehr mit der Umgebung zu verbinden lernt. Diese Willensverbindung mit dem anderen nennen wir Intuition.
Intuition über Nacht
Um mit den Schülern an den erforderlichen Fähigkeiten arbeiten zu können, um zu wissen, was sie brauchen, müssen Lehrer und Schularzt über therapeutische bzw. pädagogische Intuition verfügen. Dieser leibfreie, tief unbewusste Willen hat nichts mit dem Astralleib zu tun (der ihn bewusst machen könnte). Er ist reine Ich-Kraft, reine Haltekraft, reine geistige Präsenz. Wenn wir durch diese Kraft auch unserem Denken und Fühlen Orientierung geben – weil das Ich einheitlich gestaltend wirkt – dann kann dieser aus den Gliedmaßen gelöste freie Wille als Intuitionskraft einen wirklichen Kontakt herstellen zu den Kindern, Eltern und Lehrern – und die unmittelbaren Botschaften dieser Menschen aufnehmen. Rudolf Steiner sagt, wir könnten uns in diese Richtung entwickeln, wenn wir mit dem Gebet in die Nacht gehen: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“[1] Fragen wir zudem die Betreffenden im Geiste:
Wie muss ich mich verhalten, dass es besser wird mit dir?
Was muss ich dir geben, was brauchst du von mir?
wird die Antwort am nächsten Morgen im Bewusstsein aufleuchten, weil sich das Ich über Nacht in den Kosmos hinausbegeben und mit den Engeln geredet hat. Wenn es sich danach wieder mit dem Körper verbindet, prägt sich die mitgebrachte intuitive Botschaft dem Denken ein. Man hat dann, wenn man Glück hat, einen Einfall, ein Bild und weiß plötzlich, was zu tun ist, was für diesen Menschen und diese Situation richtig ist.
Alles in diesem Zusammenhang kompliziert Erscheinende, auch das Rätsel, wie man an diese intuitive Schicht herankommt, wird verständlich, wenn man Dreigliederung und Viergliederung im Zusammenhang betrachtet. Wenn man versteht, wie Intuition menschenkundlich zustandekommt, kann man sie übend viel bewusster handhaben.
Vgl. Vortrag „Schulabsenz und die Gründe dafür“, Schulärztetagung 2014
[1] Neues Testament, Lukas 22, 42.
DIE METAMORPHOSE DER WACHSTUMSKRÄFTE IN GEDANKENKRÄFTE
Was ist unter der Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedankenkräfte gemeint?
Wann und wo vollzieht sich diese Verwandlung?
Denkkräfte sind verfeinerte Wachstumskräfte
„Diese im Ätherleibe wirksamen Kräfte betätigen sich im Beginne des menschlichen Erdenlebens – am deutlichsten während der Embryonalzeit – als Gestaltungs- und Wachstumskräfte. Im Verlaufe des Erdenlebens emanzipiert sich ein Teil dieser Kräfte von der Betätigung in Gestaltung und Wachstum und wird Denkkräfte, eben jene Kräfte, die für das gewöhnliche Bewusstsein die schattenhafte Gedankenwelt hervorbringen.
Es ist von der allergrößten Bedeutung zu wissen, dass die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen die verfeinerten Gestaltungs- und Wachstumskräfte sind. Im Gestalten und Wachsen des menschlichen Organismus offenbart sich ein Geistiges. Denn dieses Geistige erscheint dann im Lebensverlaufe als die geistige Denkkraft.
Und diese Denkkraft ist nur ein Teil der im Ätherischen webenden menschlichen Gestaltungs- und Wachstumskraft. Der andere Teil bleibt seiner im menschlichen Lebensbeginne innegehabten Aufgabe getreu. Nur weil der Mensch, wenn seine Gestaltung und sein Wachstum vorgerückt, das ist, bis zu einem gewissen Grade abgeschlossen sind, sich noch weiter entwickelt, kann das Ätherisch-Geistige, das im Organismus webt und lebt, im weiteren Leben als Denkkraft auftreten.
So offenbart sich der imaginativen geistigen Anschauung die bildsame (plastische) Kraft als ein Ätherisch-Geistiges von der einen Seite, das von der anderen Seite als der Seelen-Inhalt des Denkens auftritt.“[1]
Rudolf Steiner beschreibt weiter, wie sich auch Astralleib und Ich-Organisation entsprechend der Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedankenkräfte im Zuge von Wachstum und Entwicklung aus dem physischen Leib heraus „metamorphosieren“ und frei werden für die Seelentätigkeiten von Fühlen und Wollen. Sie tun dies „auf den Bahnen des Ätherischen“.
Ort der Herauslösung der Ätherkräfte
An welchem Ort aber kann diese Herauslösung stattfinden?
Es gibt nur ein Organ, in dem das strömende Blut als Träger der vier Ätherarten zum Stillstand kommt und der Ätherkraft dadurch die Möglichkeit gibt „zu sterben“, d.h. aus dem physischen Lebenszusammenhang herauszugehen: das Herz.
Am Ende der Diastole, in der sogenannten „Diastase“, tritt ein winziger Moment ein, in dem jede Fließeinheit des strömenden Blutes zum vollständigen Stillstand kommt, bevor die Austreibungsphase der systolischen Herzbewegung beginnt. Unser bewusstes Seelenleben wird sozusagen aus dem Herzensgrund heraus geboren,[2], [3] am Gehirn reflektiert und dann mehr oder weniger frei, bewusst und „herzlich“ gehandhabt. Das „Denken mit dem Herzen“ hat diesen besonderen physiologischen Bezug: Wenn das, was gedacht wird, „zu Herzen“ geht und von dort herzlich weiterwirkt.
Vgl. „Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung“, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015
[1] Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. GA 27, Dornach 1991, S. 12-13.
[2] Medizinische Sektion am Goetheanum (Hrsg.), Meditationen zur Herztätigkeit gegeben von Rudolf Steiner. Dornach 2014.
[3] Christoph Rubens, Peter Selg (Hrsg.), Das menschliche Herz, Kardiologie in der Anthroposophischen Medizin, Arlesheim 2014.
UNSER SEELENLEBEN
Was ist unter Seele zu verstehen?
Was sind charakteristische Merkmale der menschlichen Seele?
Seele als Innenraum mit beweglichen Grenzen
Was unsere Seele ausmacht, können wir nur durch Beobachtung des eigenen Innenlebens erschließen. Unsere Seele ist gleichsam ein in sich geschlossener Innenraum, in dem sich jeder für sich allein bewegt und der sich von dem aller anderen unterscheidet. So gesehen, ist die Seele der Lebensraum unserer Persönlichkeit. Er kann sich weiten oder eng werden, je nach unseren Lebensumständen und wie wir damit umgehen. Er kann in der Depression so zusammenschrumpfen, dass wir nur noch uns selbst erleben und kein Interesse und keine Anteilnahme an der Welt mehr aufbringen können. Umgekehrt kann er im Zustand voller seelischer Gesundheit so weit werden wie die Welt. Wir können die Probleme um uns herum wahr- und ernstnehmen, und in uns seelisch bewegen. Der Seelenraum ist dann so weit, wie unser Bewusstsein reicht.
Ein Mensch, der sich für viele und vieles interessiert, hat in der Regel keine Zeit, über ein gewisses Maß hinaus persönliche Probleme zu bewegen. Er kann es sich nicht leisten über Unangenehmes zu brüten, damit zu hadern, darüber unzufrieden zu sein. Er wird nicht allzu viel Energie ins Grübeln über die eigene Befindlichkeit investieren. Das geschieht aber umso mehr, je enger und selbstbezogener der eigene Seelenhorizont ist.
Unsere Seele ist demnach immer in Bewegung und hat keine endgültigen Grenzen. Sie ist unser persönliches Erlebnisfeld, das von Gesundheit und Krankheit, von den jeweiligen Lebensumständen, sprich, von unserem Schicksal, stark geprägt wird.
Bewusstes Gestalten des Seelenraumes
Aber eines müssen wir uns klarmachen: Unsere Persönlichkeit braucht diesen seelischen Lebensraum. Unser Lebensglück hängt davon ab, ob wir lernen, diesen Raum bewusst selbst mitzugestalten und ihn nicht nur durch Einflüsse von außen bestimmen zu lassen.
Wie ist ein solches Mitgestalten möglich?
Im Seelenraum leben unsere Gedanken, Wünsche, Erinnerungen, Erfahrungen, unsere Lebensmotive, Gefühle und Willensintentionen. Eine Fülle von Empfindungen, Gefühlen, Trieben und Absichten hängt mit unserem Körper zusammen. Wenn wir z.B. hungrig sind und Lust auf dieses und jenes haben, wonach unser Körper verlangt, wird ein großer Teil unseres Seelenlebens unmittelbar davon geprägt. D.h. sehr viele Seelenregungen entstammen Bedürfnissen, die wir eindeutig als leibgebunden empfinden. Dazu gehört z.B. auch, dass, wenn wir einen schweren Durchfall haben, wir uns seelisch schlapp und lustlos fühlen. Oder dass wir, wenn wir sehr müde sind, uns plötzlich nicht mehr so engagieren können, einfach weil wir nicht mehr dazu in der Lage sind, weil wir „kaputt“ sind. Derartige Erfahrungen führen dazu, dass manche Menschen meinen, das Seelenleben an sich wäre leibgebunden.
Beschäftigt man sich jedoch intensiver mit dem eigenen Seelenleben, merkt man, dass das nicht stimmt. Beim Tier ist die Leibgebundenheit außerordentlich stark, weil die Verhaltensmuster innerhalb einer Gattung einander ähnlich sind und bleiben. Gerade das ist beim Menschen völlig anders: Er kann sich an jede neue Umgebung anpassen, kann immer neue Lernprozesse in Angriff nehmen. Wir Menschen haben nicht nur unbegrenzte Anpassungsmöglichkeiten an die Umgebung, sondern auch unbegrenzte Möglichkeiten uns zu distanzieren, uns innerlich abzugrenzen – auch von uns selbst.
Manche Menschen haben eine krumme Nase oder schielen und haben deswegen ihr ganzes Leben lang Komplexe. Sie schaffen es nicht, sich innerlich mit einer körperlichen Eigenheit abzufinden. Dann wiederum gibt es andere, die sich bis etwa Mitte zwanzig noch krause Locken wünschen oder auch beim Friseur machen lassen – bis sie sich mit ihrem So-Sein identifizieren können bzw. sich innerlich von dem äußeren Makel distanzieren. Gelingt es uns, eine gewisse Unabhängigkeit vom Körper zu gewinnen, quasi die eigene Körperbezogenheit in dieser Hinsicht zu verringern, dann gewinnen wir eine viel freiere Einstellung uns selbst und anderen Menschen gegenüber.
Vgl. Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987
SEELENLEBEN, ERZIEHUNG UND KÖRPERBAU
Inwiefern wird unser Seelenleben von unserer Erziehung bzw. von unserem Körperbau bestimmt?
Worin liegt der Freiraum, das eigene Schicksal mitzugestalten?
Individuelle Möglichkeiten der Mitgestaltung
Wir Menschen haben nicht nur unbegrenzte Anpassungsmöglichkeiten an die Umgebung, sondern auch unbegrenzte Möglichkeiten uns zu distanzieren, uns innerlich abzugrenzen – auch von uns selbst.
Natürlich hängt sehr viel von der Erziehung ab. Wem ständig eingeredet wurde, dass er zu dick ist oder dies und das nicht so ist, wie es sein sollte, wird ziemlich lange von einem solchen Trauma bestimmt werden. Ganz anders ein Mensch, dessen Blick früh auf wesentliche, über das Persönliche hinausgehende Dinge gelenkt worden ist, und der so angenommen wurde, wie er war. Im Krieg gab es oft Menschen, die um anderer willen lange Zeit Hunger ertragen konnten. Andere wiederum waren so verzweifelt oder selbstbezogen, dass sie ihr eigenes Kind aussetzten, um selber satt zu werden. In solchen Situationen treten gewaltige Unterschiede zutage.
Es hängt sehr stark von den eigenen Erfahrungen und Erlebnissen und vom persönlichen Entwicklungsstand ab, inwieweit das Seelenleben als vom Körper bestimmt oder als von ihm auf unterschiedliche Weise beeinflusst erlebt wird. Das ist auch richtig so – jeder Mensch hat das Recht auf sein eigenes Entwicklungstempo. Keinem kann ein Vorwurf daraus gemacht werden, dass er „noch nicht weiter ist“. Und die Tatsache, dass es Menschen gibt, die anders oder auch reifer sind als man selbst, sollte lediglich Ansporn sein, sich in dieser oder jener Richtung selber auf den Weg zu machen.
Schicksal mitgestalten
Sich über bestimmte Verhaltensweisen anderer moralisch zu entrüsten, bedeutet einen Rückschritt in der eigenen Entwicklung – und der Verurteilte wird dadurch auf seinem Weg nicht weitergebracht. Den Weg der Entwicklung muss jeder selber gehen. Dass wir einander dabei nur selten etwas abnehmen können, ist bisweilen schwer zu ertragen. Andererseits beruht unsere Freiheit gerade darauf, dass wir dazu aufgerufen sind, unser Schicksal mitzugestalten.
Zusammenfassend können wir sagen, der Leib begrenzt das Seelenleben in einer charakteristischen Weise:[1] In einem zarten Körper lebt es sich anders als in einem stämmigen oder schweren Körper. In einem Körper, der starken Trieben unterworfen ist, lebt es sich seelisch anders als in einem Körper, dessen Organfunktionen in Harmonie miteinander stehen, sodass kein starker Triebdruck entsteht. Aber auch hier ist es so, dass der Mensch im Laufe seines Lebens sehr viel, bis ins Körperliche herein, aus eigener Kraft an sich selbst verändern kann, ja selbst bis in seine Organfunktionen hinein. Ein ganz großer Irrtum ist es zu meinen, so wie man ist, müsse man sein ganzes Leben lang bleiben.
Vgl. Vortrag, „Die männliche und weibliche Konstitution“, 1987
[1] Vgl. Rudolf Steiner, Theosophie, aus Kapitel Leib. Seele und Geist, GA 9.
ZWÖLF SINNESFUNKTIONEN
Welche Möglichkeiten eröffnen uns die zwölf von Rudolf Steiner beschriebenen Sinnesfunktionen?
Zwölf Sinnesmodalitäten
In der anthroposophischen Menschenkunde werden zwölf Sinnesmodalitäten beschrieben.[1]
1. Der Tastsinn vermittelt Selbsterleben an der Körpergrenze und Geborgenheit durch Berührung und Körperkontakt; aus beidem resultiert Existenzvertrauen.
2. Der Lebenssinn vermittelt Behaglichkeits- und Harmonieerleben und ein Empfinden dafür, ob die Vorgänge im eigenen Körper, aber auch diejenigen, die im Umkreis wahrgenommen werden, zusammenstimmen oder nicht.
3. Der Eigenbewegungssinn vermittelt die Wahrnehmung der eigenen Bewegung; daraus erwächst das Erlebnis von Freiheit und Selbstbeherrschung als Folge der freien Beherrschung des Bewegungsspiels.
4. Der Gleichgewichtssinn vermittelt das Erleben der Lage im Raum, des jeweiligen Gleichgewichtszustands und der damit verbundenen Fähigkeit, den Gleichgewichtspunkt auch zu empfinden – was zum Erleben von innerer Ruhe führt. Die spätere Fähigkeit, innere Ruhe, seelisches Gleichgewicht zu üben, hat darin ihre Empfindungsgrundlage.
5. Der Geruchssinn vermittelt Verbundenheit mit den Duftstoffen, begleitet von starker Sympathie oder Antipathie.
6. Der Geschmackssinn vermittelt die Qualitäten süß, sauer, salzig, bitter und, zusammen mit dem Geruchssinn, von differenzierten Geschmackskompositionen, begleitet von starkem Sympathie- oder Antipathieerleben.
7. Der Sehsinn vermittelt Licht- und Farberleben.
8. Der Wärmesinn vermittelt Wärme- und Kälteerleben.
9. Der Hörsinn vermittelt Tonerlebnisse und erschließt das Erleben des seelischen Innenraums.
10. Der Wortsinn vermittelt Gestalt- und Physiognomie-Erleben, bis hin zum Erfassen der Lautgestaltung eines Wortes und seiner Eigenbedeutung. Zum Beispiel sagt „Ljubow“ etwas anderes aus über das Wesen der Liebe als „Amour“, „Amore“ oder „Love“.
11. Der Gedankensinn vermittelt unmittelbares Sinnerfassen eines Gedankens beziehungsweise eines Gedankenzusammenhanges.
12. Der Ich-Sinn vermittelt die Wesenserfahrung eines anderen Ich. Er ermöglicht die Wahrnehmung der geistigen Kraftkonfiguration eines anderen Menschen und ein Erleben von dessen Wesensart.
Zweifaches Erleben über die Sinne
Jede Sinneserfahrung beinhaltet immer ein zweifaches Erleben: das Erleben des Objektes – z.B. der Geruch einer Speise – und das Selbsterleben, Wohlgefühl oder Ekel, das dadurch ausgelöst wird.
„Sinnesentwicklung und Leiberfahrung“ heißt das grundlegende Buch von Karl König, das er vor dem Hintergrund seiner therapeutischen Erfahrung als Arzt in der Heilpädagogik geschrieben hat.[2] Es hängt in hohem Maße vom Gebrauch der Sinne ab, insbesondere in den ersten Lebensjahren, ob sich die Leiberfahrung so gestaltet, dass der sich entwickelnde Mensch daran in umfassender Weise sich selbst erleben und „sich finden“ kann oder ob durch Defizite in der Sinneserfahrung diese Selbsterfahrung nur eingeschränkt möglich war.
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 8. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
[1] Rudolf Steiner, Anthroposophie. Ein Fragment aus dem Jahre 1910. GA 45, Dornach 1980, und Vortrag am 29. August 1919, in: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293, Dornach 1992.
Eine ausführlichere Darstellung der zwölf menschlichen Sinnestätigkeiten und ihrer Pflege durch die Erziehung findet sich in Wolfgang Goebel / Michaela Glöckler: Kindersprechstunde. Stuttgart 1995.
Albert Soesman, Die zwölf Sinne –Tore der Seele. Stuttgart 1996.
[2] Karl König, Sinnesentwicklung und Leiberfahrung. Stuttgart 1997.
ATMUNG, KREISLAUF – GEFÜHLSLEBEN UND KUNST
Wie hängen Gefühlsleben und Leibesentwicklung zusammen?
Rhythmische Tätigkeit von Herz und Lungen
Blicken wir auf den Zusammenhang von Leib und Seele, so finden wir im Organismus zwei Organsysteme, die ein getreues Abbild der musikalisch-rhythmischen Qualität des Gefühlslebens sind: Atmung und Kreislauf. Herz und Lungen sind unentwegt von der Geburt bis zum Tod rhythmisch tätig. Sie vermitteln durch Spannung und Entspannung, Betätigung und Ruhe unausgesetzt zwischen Selbst und Welt (Atmung) sowie zwischen Körperzentrum und Körperperipherie (Herz).
Daher erstaunt es nicht, dass jede Sinnesempfindung und jedes Gefühl auf Atmung und Herzschlag einen unmittelbaren Einfluss haben. Eine aufregende Nachricht lässt uns tief Luft holen und das Herz schneller schlagen. Unter Anspannung wechseln flache, schnelle und tiefe Atemzüge auf unharmonische Weise einander ab. In der Aufregung kann das Herz bis zum Halse klopfen und vor Schreck stolpern, ja sogar fast „stehenbleiben“. Umgekehrt kann ruhiges, geführtes Atmen (z.B. beim Zahnarzt oder bei der Geburt) die Angst nehmen und die Schmerzen erträglicher machen.
Das Gefühlsleben hängt mit den differenzierenden Wachstumskräften zusammen. Die Differenzierung von Geweben und Organen während der Embryonalentwicklung beruht auf bestimmten Proportionen und Zahlenverhältnissen, die ihrerseits wieder musikalisch darstellbar sind.[1] Im Zusammenspiel von Herz- und Atemrhythmus findet die musikalische Konstitution des menschlichen Organismus ihr Zentrum. Werden die differenzierenden Kräfte nach der Ausreifung des mittleren Systems leibfrei, bilden sie die Grundlage für die seelische Fähigkeit des Fühlens. D.h. das Erwachen und Erleben von Gefühlen ist an diese Organe genauso gebunden wie die Bildung und das Bewusstwerden von Gedanken an das Nervensystem.
Voraussetzungen für ein gesundes Gefühlsleben
Rudolf Steiner hat diese Tatsache nach 30jähriger Forschung erstmals 1917 in seinem Buch „Von Seelenrätseln“ beschrieben.[2] Will man einem Kind eine gute Lebensgrundgestimmtheit mit auf den Weg geben, so müssen die heranreifenden rhythmischen Systeme von Atmung und Kreislauf in gesunder Weise angeregt und unterstützt werden: Ein gesundes soziales Klima im Umkreis des Kindes, wie z.B. ein harmonisches Familienleben, bildet die wichtigste Voraussetzung. Folgt der Tageslauf einem gesunden Rhythmus, in dem Arbeit und Ruhe sich sinnvoll abwechseln, so kann beim Kind ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit entstehen. Es erlebt sich eingebettet in sinnvolle Zusammenhänge und wiederkehrende Ereignisse, auf die es sich verlassen und freuen kann, und mit denen es auch rechnet. Auf diese Weise entsteht eine stabile Grundlage, um späteren Stress-Situationen gewachsen zu sein. Denn auf der Basis einer harmonischen Grundgestimmtheit lassen sich extreme Situationen leichter aushalten und ausbalancieren.
Künstlerischer Ansatz als Unterstützung
Gelingt es, Kinder in der Schule gefühlsmäßig zu erreichen und in jeder Unterrichtsstunde mit Spannung und Lösung zu arbeiten, Freudiges und Ernstes zum Erlebnis zu bringen, so wird vonseiten der Erziehung das Notwendige getan, um regulierend und stimulierend auf die Entwicklung von Atmung und Kreislauf einzuwirken. Wo dies in der Kindheit nicht möglich war, stellen sich dem Erwachsenen unter Umständen schwere Aufgaben für die Selbsterziehung. Nur bei wenigen Menschen werden heutzutage in Familie und Schule die Voraussetzungen für einen ausgeglichenen Gemütszustand geschaffen. Meist muss lebenslang selbst daran gearbeitet werden.
Die künstlerischen Therapien können dabei eine große Hilfe sein. Denn in der Kunst haben wir es mit denselben Gesetzmäßigkeiten zu tun, nach denen der Leib gebildet ist:
- Die Gesetze des Lebendigen, des Wachsens, Gestaltens und Bildens finden wir in Plastik und Architektur wieder.
- Die Gesetze, die dem Gefühlsleben zugrundeliegen, in Malerei und Musik.
- Und die Gesetze des Willenslebens in Sprache und Eurythmie.
Vgl. Kapitel „Wie sind Leib, Seele und Geist in Gesundheit und Krankheit verbunden?“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
[1] Vgl. Armin Husemann, Der musikalische Bau des Menschen, Stuttgart 1989.
[2] Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln, GA 21.
DIE SIEBEN LEBENSPROZESSE
Was versteht Rudolf Steiner unter den sieben Lebensprozessen?
Wie kann man jeden einzelnen charakterisieren?
Wie lassen sie sich auf soziale Prozesse anwenden?
Die Lebensprozesse auf allen Ebenen des Menschseins
Ein Einzeller kann alles, ist omnipotent. Auch eine gesunde befruchtete menschliche Eizelle ist omnipotent: Sie ist sensibel, beweglich, kann sich ernähren, zeigt alle sieben Lebensprozesse. Die nachfolgend charakterisierten Lebensprozesse haben ihre Gültigkeit auf allen Ebenen des körperlichen, seelischen und geistigen Lebens, aber auch für die verschiedenen sozialen Prozesse. Ein sozialer Konflikt zeigt immer an, dass mindestens einer der Lebensprozesse in seiner Funktion nachhaltig gestört ist.
1. Öffnung, Atmung
Am Anfang allen Lebens steht die Öffnung gegenüber der Umwelt. Etwas Totes braucht kein Milieu und keinen Umkreis, aus dem es und für den es lebt. Wenn etwas ins Leben kommt, schafft es sich den Umkreis, den es braucht. Totes kann liegen, wo es will, für Millionen von Jahren, das stört niemanden. Etwas Lebendiges kann nur existieren, wenn ein Umkreis vorhanden ist, mit dem ein Wechselspiel von Aufnehmen und Abgeben stattfindet. Das macht alles Leben verwundbar. Leben ist ein offenes System, ist in Entwicklung, ist prozessual, hat einen Anfang und ein Ende. Leben fängt also mit dem Sich-Öffnen an. Wenn Ei und Sperma sich begegnen, ist die Ei-Oberfläche für einen Moment offen für das Sperma, es kann hinein und dann ist sie wieder geschlossen. Damit beginnt das Leben. Zur Öffnung gegenüber dem Umkreis gehören auch die Öffnungen der Sinne, die Atmung, die Ernährung. Nur wo geistige und soziale Offenheit herrscht, menschliche Offenheit, kann Leben gedeihen. Wir können nicht auf Dauer zumachen, den Atem anhalten.
2. Wärmung, Anpassung
Den zweiten Prozess nennt Rudolf Steiner Wärmung, das Anwärmen, warming-up. Es ist ein Prozess des Warmwerdens mit den Gegebenheiten. Gelingt die Anpassung nicht, das Warm-Werden mit dem Aufgenommenen, fühlt sich der Organismus belastet und kann erkranken. Z.B. erkältet man sich, wenn man die Atemluft nicht genügend anwärmen kann, bevor sie weiter in den Körper eindringt.
3. Ernährung
Wenn man mit dem Aufgenommenen warm geworden ist, fängt die Ernährungsarbeit an. Diese ist an Verwandlungsprozesse geknüpft. Ernährung bedeutet immer auch Zerstörung des Gewordenen, um dem Werdenden oder auch einem anderen Wesen in seinem Lebenszusammenhang zu dienen, damit es zu etwas Neuem werden kann.
4. Sonderung, Entscheidung, Ausscheidung
Wenn Ernährung stattgefunden hat, kommt der Punkt, an dem sich die Frage stellt:
Was muss behalten werden, was ist weiter zu gebrauchen, und was muss wieder ausgeschieden werden?
Eine Entscheidung steht an, physiologisch gesehen die Ausscheidung. Sonderung ist im Seelischen die Entscheidung zwischen Ja oder Nein. Das ist ein ganz wichtiger Lebensprozess, vor allem im Sozialen – aber auch im Denken, wenn ich entscheiden muss, ob etwas für mich stimmt oder nicht, ob man in einer Art und Weise weitermachen soll oder nicht.
5. Selbsterhaltung
Fünf ist die Zahl der Krise, da bleiben die Prozesse oft stecken. Denn der fünfte Prozess – Selbsterhaltung – ist im Grunde wunderschön: Jetzt hat man alles, was man braucht, man ist stark, keiner kann einen so schnell umschmeißen. Man ist abgesichert, hat Haus und Garten, ein Auto, Geld, eine Familie, eine Karriere. Eigentlich braucht man doch nichts mehr... und genau das verursacht die Krise. Man sollte sich fragen:
Bin ich nur für mich und meinen Eigenbedarf da?
Genügt es, mich selbst zu versorgen, oder gibt es noch etwas anderes zu tun?
6. Wachstum
Wachstum geschieht, wenn mehr gebildet wird, mehr angesammelt, als man für sich braucht. Das kann bis ins hohe Alter so gehen. So besteht z.B. der Patientenverband „Gesundheit aktiv“ zu fast 90 % aus Rentnern. Wir bekommen keinen jungen Nachwuchs, es ist ganz mühsam, noch Mitglieder zu werben. Doch diese rührenden Rentner, die zu 70 % wirklich kein Geld haben, spenden im Jahr 10 € oder 20 €.
Überschusskraft zu haben bedeutet, dass man in der Lage ist zu schauen, wo man noch etwas unterstützen kann, wo man über sich hinauswachsen kann und der Mitwelt etwas mitgeben bzw. zurückgeben kann, um so seine Dankbarkeit und Lebensfreude zu zeigen. Wir können ja niemals für all das danken und all das zurückgeben, was wir im Laufe unseres Lebens bekommen haben. Da bleibt immer ein gewaltiger Rest an Geschenktem. Der Wachstumsprozess kann das ein bisschen ins Bewusstsein bringen, indem man überlegt, für wen oder für was man etwas übrighat, sodass anderes gefördert und entwickelt wird oder neu entstehen kann.
7. Reproduktion
Der siebte Lebensprozess führt ganz in die Selbstlosigkeit: Reproduktion bedeutet unter diesem Aspekt, etwas vollkommen von sich abzulösen und gehen zu lassen. Physisches Urbild für den gesunden siebenten Lebensprozess ist das Durchschneiden der Nabelschnur. Der schmerzliche Schnitt bringt die Selbstüberwindung, die dafür nötig ist, ins Bewusstsein. Wenn man etwas aus sich heraussetzt, löst es sich los und man lässt es gehen – wie eine gute Mutter, die ihr Kind gehen lässt, ohne einen Vertrag mit ihm zu machen, wie viele Karten und Telefonanrufe kommen müssen, damit der junge Mensch – auch wenn er nicht mehr zuhause lebt – weiterhin ein gutes Kind bleiben kann. Man vermittelt ihm: „Du bist jetzt dein eigener Herr. Ich werden dir zwar noch helfen, bin aber nicht mehr der Bestimmer. Du hängst nicht mehr an meiner Nabelschnur.“ Das ist Reproduktion im Sinne des Zugestehens von Eigenwürde, des Ermöglichens von Eigenleben.
Entartung der Lebensprozesse in zwei Richtungen
Alle Lebensprozesse können nach zwei Richtungen hin pathologisch entarten und aus dem gesunden Lebenszusammenhang aufgrund eines Zuviels oder Zuwenigs wie herausfallen. Gesundheit ist immer ein Sowohl-als-auch, ist ein labiles Gleichgewicht, ein ständiges Ringen – ist nie ein Entweder-Oder. Nimmt ein Pol überhand, wird etwas krankhaft. Der Mensch als Krisenwesen ist auf jeder Etappe seiner Entwicklung neu verwundbar und gefährdet:
1. Eine Störung des Öffnungsprozesses liegt vor, wenn jemand zu offen bzw. zu verschlossen ist.
2. Eine Störung des Anwärmungsprozesses liegt vor, wenn jemand sich zu stark anpasst bzw. sich gar nicht anpassen kann.
3. Eine Störung des Ernährungsprozesses liegt vor, wenn jemand zu viel bzw. zu wenig isst oder nimmt.
4. Eine Störung des Sonderungsprozesses liegt vor, wenn jemand immer alles wegwirft oder weggibt, aber auch, wenn man ein Messi[1] ist, nichts wegschmeißen kann und deshalb zwei Garagen voll mit Müll und Sachen hat, die einen sehr belasten, weil man gar keine Verwendung dafür hat.
5. Eine Störung des Selbsterhaltungsprozesses liegt vor, wenn jemand nie mit sich zufrieden ist und immer das Gefühl hat, seine Leistung genüge nicht, wenn er nie echte Freude erleben kann über das, was er geschafft und erschaffen hat.
6. Eine Störung des Wachstumsprozesses liegt vor, wenn man keine Überschusskräfte entwickelt bzw. keine Dankbarkeit zu empfinden in der Lage ist.
7. Eine Störung des Reproduktionsprozesses liegt vor, wenn jemand nicht in der Lage ist, etwas gehen zu lassen. Viele soziale Krankheiten rühren nur daher.
Erleben wir die sieben Lebensprozesse in ihrer Pathologie, müssen wir sie z.B. im Rahmen der Therapie so handhaben, dass wir auf das gesunde Ideal blicken und entsprechend dem Ungesunden, Lebensfeindlichen gegenzusteuern versuchen.
Lebensprozesse auf das Gedankenleben angewandt
Im Folgenden ein kleines konkretes Beispiel, das eigene Denken betreffend:
- Jemand nimmt einen anthroposophischen Gedanken auf,
- arbeitet ihn durch, um damit warm zu werden,
- prüft, ob dieser Gedanke ihn ernährt oder nicht
- und sondert ihn aus, wenn er damit nichts anfangen kann.
- Wenn ja, macht er sich den Gedanken wirklich zu eigen und schaut, was er für das eigene Leben bedeutet.
- Mit der Zeit sammelt er Erfahrungen im Umgang damit,
- um schließlich herauszufinden, was er damit für die Welt tun kann.
Anthroposophie möchte ja jeden individuellen Menschen ansprechen, der sich selbst zu verstehen versucht, der aber darüber hinaus auch das allen Gemeinsame, das Allgemein-Menschliche, erkennen möchte. Es geht eben um beides:
- um das Ganz-individuell-Werden
- und um das Über-sich-hinaus-Wachsen in das ganz Allgemeine.
Vgl. Vortrag „Der Lebenssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 8. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung
SCHWELLEN ZWISCHEN KÖRPER, SEELE UND GEIST
Welche Schwellen gibt es zwischen Körper, Seele und Geist?
Schwellen kennen
Es ist wichtig, die Schwellen zwischen dem Körper-, dem Seelen- und dem Geistesleben gut zu kennen. Physiologisch gesehen ist das Diaphragma, das Zwerchfell, eine solche Schwelle:
- Alles, was sich darunter befindet, hat mit unbewussten Vorgängen im Körper zu tun = Körperleben.
- Oberhalb des Zwerchfells kann der Mensch immerhin den Herzschlag und die Atmung spüren, ist sich dieser Vorgänge ziemlich bewusst. Beide Systeme hängen eng mit dem Seelenleben zusammen.
- In seinem Denken, seinem Gedankenleben (= Geistesleben), ist man ganz bewusst.
- Eine weitere Schwelle entdeckt man, wenn man begreift, dass die Gedanken sich nicht im Kopf befinden, sondern dass man sie um den Kopf herum wahrnehmen kann. Hellsichtige Menschen benützen das Wort „Aura“ dafür. Gemäß der anthroposophischen Begrifflichkeit setzt sich die Aura aus unserem leibfreien Gedanken-, Gefühls- und Willenssystem zusammen.
Vgl. „Meditativer Zugang zur Wärme“, Vortrag an der französischen Ärztetagung am Goetheanum, 13.03.2008
PHYSIOLOGIE DES EGOISMUS
Inwiefern ist die Verdauung ein Bild für den Egoismus?
Warum nennt Steiner die Verdauung als „Herd des Bösen“?
Verdauung ist gesunder Egoismus
Es gibt kein wahreres, stimmigeres Bild für den Egoismus als die Verdauung: Der physische Leib wird dadurch gebildet, dass die Natursubstanzen sich durch die Stoffwechseltätigkeit des Menschen verwandeln lassen in körpereigene Substanz. Der physische Leib des Menschen ist somit ein Ergebnis der verarbeiteten
- mineralischen
- tierischen
- pflanzlichen
- und, im Falle der Muttermilch, auch der menschlichen Welt. Denn auch die Muttermilch wird zerstört und in körpereigene Substanz umgewandelt.
Das heißt, alle vier Naturreiche werden in einer Weise verarbeitet, dass jeder Mensch seinen eigenen Körper daraus aufbaut. Sprich: Eine gute Verdauung geht mit einer kompletten Zerstörung der Natur einher. Das ist reinster physiologischer Egoismus, den wir brauchen, um überhaupt leben zu können.
Verdauung als Herd des Bösen
Doch Rudolf Steiner nennt die Verdauung auch „Herd des Bösen“, denn in der Verdauung sind Kraft und Potential vorhanden, alles zu zerstören. Dem physiologischen Zerstörungsprozess des Verdauens verdankt der Mensch das instinktive Wissen, wie er die ganze Welt zerstören kann bzw. wie er perfide Waffen erfinden kann, die den „overkill“ umsetzen.
Wir sprechen in der Medizin auch vom biologischen Ego mit all seinen Sensibilitäten, einemstraff organisierten System. Dazu gehört auch das Immunsystem mit seinen Immunbarrieren usw. Über die freiwerdenden Bildekräfte aus dem gesunden Ego-System der Verdauung, nachdem sie es gebildet haben, strahlt beim gesunden Kind Egoismus nun auch ins Seelische hinein, allerdings unbewusst, das wäre das Normale.
Durch Erlebnisse der Traumatisierung und Schädigung, durch jede Form der Ängstigung wird dieser normalerweise unbewusste Egoismus jedoch bewusst, weil sie das verwundbare Selbst angreifen. Dadurch wird der zunächst unbewusste Egoismus zunehmend verstärkt – mit leidvollen Auswirkungen für die betroffenen Kinder und ihr soziales Umfeld. Und auch für ihre Erzieher sind diese Kinder eine große Herausforderung.
Ob Erziehung zur Selbstlosigkeit gelingt oder nicht, hängt also von der Art ab, wie mit dem Kind vonseiten seiner Umwelt umgegangen wird.
Vgl. „Ängste im Jugendalter und ihre Überwindung“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013
URSÄCHLICHER ZUSAMMENHANG VON ANGST UND DENKEN
Was hat das Denken mit Angst zu tun?
Inwiefern sitzt uns Angst tatsächlich „in den Knochen“?
Angst als physiologisch-geistiges Phänomen
Unter jeder psychischen Krankheit liegt immer auch ein mehr oder weniger ausgeprägtes Angstpotential. Das liegt daran, dass unser Gefühlsleben angstdurchdrungen ist. Angst ist das Ergebnis einer „kosmischen Antipathie“, die unsere Knochen verdichtet,[1] die uns aber auch die Möglichkeit der Reflexion schenkt. Rudolf Steiner sagt in der „Allgemeinen Menschenkunde“[2]:
- Das Gefühlsleben verdankt seine Sympathiefähigkeit, also alle positiven, sympathischen, offenen Gefühle, dem Willen, der Handlungsbereitschaft.
- Und es verdankt die Antipathie, also alle Angst, alles Zurückweisen, alle Impulse, anderes auf Distanz zu halten, dem Denken.
Denken und Reflexion als antipathische Vorgänge
Das Denkvermögen ist das Ergebnis der ätherischen Kräfte, mit denen der Mensch sich aus dem Makrokosmos herausgebildet hat, mit denen er den Körper bis hin zu den Knochen und Zähnen, dieser ganz dichten Materie, aufgebaut hat, und die, einmal leibfrei geworden, am Gehirn reflektiert werden.
Das sind allesamt rein antipathische Vorgänge:
- das Herausgesondert-Werden
- die Bildung von etwas Eigenem mit eigenen Grenzen
- das Freiwerden der grenzbildenden Kräfte aus dem Leib
- die Reflexion dieser Kräfte am Gehirn als unser Denken.
Die Kompetenz zu reflektieren, zurückzuwerfen, Antipathie zu entwickeln usw. stellt eine grundlegende Bereitschaft der menschlichen Konstitution dar und ist ein völlig natürlicher funktionaler Prozess. Im seelischen Erleben treffen sich der sympathische Wille zuzupacken und das reflektierende antipathische Denken – das wird uns durch die Gefühlspolarität des Astralleibes bewusst.
Vgl. „Hilfen im Umgang mit Angst im Schulalter“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013
[1] Rudolf Steiner sagt, der Großteil der Leibesangst säße im Knochen, weil er am stärksten mineralisiert sei. Er sagt sogar, Knochen bestünden aus kristallisierter Angst. Ahriman verdanken wir die mineralische Konstitution unseres Leibes und damit auch die Furcht. Denn die Kräfte, die unsere Organe bilden, treten später auch im Seelischen als Bildekräfte auf: Die organ- und auch knochenbildenden Kräfte strahlen quasi in das Seelische hinein. Das seelische Erleben von Angst ist also etwas ganz Natürliches und hat konstitutionelle Gründe.
[2] Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293.
ZWISCHEN TIER UND MENSCH UNTERSCHEIDEN
Was sind die wichtigsten Unterschiede zwischen Mensch und Tier?
Worin sind sie begründet?
Worin liegt der Sinn des menschlichen Andersseins?
Welche Herausforderungen und Aufgaben sind damit verbunden?
Verwischten Unterschied neu erfassen
Der prinzipielle Unterschied zwischen Mensch und Tier wurde als Folge der darwinistischen Evolutionstheorie in den letzten hundert Jahren zunehmend verwischt. Daher ist es wichtig, diesen Unterschied neu zu erfassen, wenn man den Menschen als einzigartiges „Wesen Mensch“ und nicht als Tier verstehen möchte.
Dem Tier ist es zwar möglich, sich individuell seelisch zu äußern – keine zwei Hunde gleichen sich in Bezug auf ihr Verhalten vollständig, auch wenn sie dem gleichen Wurf angehören –, aber es ist dennoch keinem einzigen Hund möglich, sich nicht wie ein regulärer Hund zu benehmen. In der tierischen Entwicklung fehlt der Faktor „individuelle Entwicklung“, der mit
- Offenheit
- Risikobereitschaft
- Scheitern-Können, was mit
- Aufgeben-Wollen einhergeht und in die
- Unberechenbarkeit der spezifisch menschlichen Existenz führt
- mit der ganzen typisch menschlichen Selbstfindungsproblematik
- mitsamt ihren Identitätskrisen
- und dem Erreichen des Nullpunktes.
Aus diesen menschlichen Schwächen erwächst, indem wir sie verstehen und überwinden, das enorme menschliche Potential, Mitschöpfer seiner Existenz zu sein. Das erfordert jedoch Entwicklungswillen, Arbeit an sich selbst, Selbstverantwortung und den Willen zur Freiheit.
Vielleicht stellen wir Menschen uns deshalb gegenwärtig so gerne auf eine Stufe mit dem Tier, weil wir es insgeheim um seine fraglose Identität und um sein immer artgemäßes Verhalten beneiden. Die weisheitsvollen Gesetzmäßigkeiten der mineralischen Welt, der ätherischen Lebenszusammenhänge und der seelischen Verinnerlichungsmöglichkeiten kommen zwar in jedem einzelnen Tier-Individuum seinen Möglichkeiten gemäß auch individuell zum Ausdruck, immer auf instinktiv vollkommene und selbstverständliche Art und Weise. Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden des Tieres werden von artgemäßen Instinkten bestimmt und können naturgegeben ausgelebt werden. Gerade diese instinktive Selbstverständlichkeit der Entwicklung, ist dem Menschen nicht gegeben.
Lange Kindheit als Zeit für selbstbestimmte Entwicklung
Der Zoologe Friedrich Kipp ging in seinem Buch „Die Entwicklung des Menschen im Hinblick auf seine lange Jugendzeit“ dem Unterschied zwischen Tier und Mensch evolutionsbiologisch nach.[1] Er zeigt auf, dass der Mensch eine im Vergleich zu den Säugetieren lange Kindheit und Jugend hat mit einer ausgedehnten Spiel- und Lernphase, wodurch seine Fähigkeit, sich lebenslang ändern und anpassen zu können, entscheidend unterstützt wird. Das zeigt: Der Mensch ist auf bewusste Selbstentwicklung hin veranlagt. Körperlich behält er im Vergleich zu den Tieren lange eine unspezialisierte, embryonal-kindliche Form bei. Dies hat zur Folge, dass Kinder, die sich ausgiebig bewegen und in hohem Ausmaß spielen und kreativ sein durften, in der Regel auch bis ins hohe Alter beweglich und schöpferisch bleiben. Je früher Kinder hingegen in Kindergarten und Schule konditioniert, verschult und damit festgelegt werden, umso größer ist die Gefahr, dass sie später wenig schöpferisch und sehr angepasst leben und früher alt und auch krank werden.
Daran kann unmittelbar abgelesen werden, dass in den Menschen eine über das Tier hinausgehende, völlig andere Gesetzmäßigkeit hereinragen muss: Eine Gesetzmäßigkeit, durch die er gezwungen ist, die Verantwortung für seine Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen, da er sie nicht seinen körpereigenen Instinkten überlassen kann.
Verwundbarkeit als Entwicklungsmerkmal
Die menschliche Entwicklung ist gekennzeichnet von einer größtmöglichen Offenheit und Verwundbarkeit. Alles, worauf das Tier sich weitestgehend verlassen kann, ist beim Menschen nicht von Natur aus gegeben:
- dass es die richtige Wahl der Nahrungsmittel trifft,
- dass es nicht zu viel und nicht zu wenig isst,
- dass es sich artgemäß fortpflanzt,
- dass sein Schlaf-Wachrhythmus geregelt ist,
- dass sein Sozialverhalten dem entspricht, was man von ihm erwartet.
All das muss im Laufe des gesamten Lebens nicht nur errungen, sondern auch weiter ausgebildet, kultiviert und „vermenschlicht“ werden. Wie viele Arztbesuche würden entfallen, wenn es keine Ess-, Schlaf- und (sexuellen) Beziehungsprobleme gäbe.
Schon eine so einfache Überlegung macht deutlich, wie revolutionär, wie dramatisch und grundsätzlich der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist. Wenn beim Tier die Geschlechtsreife eintritt, ist sein artgemäßes Verhalten bereits gesichert, und es lebt individuell und sozial in geregelten Bahnen. Beim Menschen hingegen ist die Geschlechtsreife dadurch gekennzeichnet, dass alle noch so gutgemeinten erzieherischen Bemühungen aus den früheren Jahren fruchtlos erscheinen. Eigenes, Unerwartetes macht sich geltend – das ist ein wahrhaft revolutionärer Vorgang.
Entwicklungsoffenheit als Herausforderung und Chance
Mit diesem Eigenen, Unerwarteten, mit dieser Entwicklungsoffenheit hängt aber auch all das zusammen, was besonderen Begabungen und Behinderungen zugrunde liegt. Und nur der Mensch muss lernen, mit Begabungen und Behinderungen zu leben und mit ihnen umzugehen, nicht jedoch die ihm seelisch verwandten Tiere. Man hat Skelette von wasserköpfigen Kindern gefunden, die aus der Steinzeit stammten, und hat daraus geschlossen, dass die Fürsorge für behinderte Kinder so alt ist, wie Menschen Behinderungen wahrnehmen und pflegen konnten. Ein behindertes Tier in der freien Wildbahn wird sehr bald vom ökologischen System „verarbeitet“: Es stirbt, weil es sich nicht ernähren und verteidigen kann – es wird aufgefressen, ihm kann nicht geholfen werden. So wird auch dafür gesorgt, dass schwerwiegende Behinderungen unter Tieren nicht weitervererbt werden können.
Was könnte ein Tier auch in der Auseinandersetzung mit einer Behinderung gewinnen?
Da ihm das Selbstbewusstsein und die damit verbundene persönliche Betroffenheit fehlen, könnte es damit gar nichts anfangen. Es würde sinnlos leiden. Dem Tier ist es nicht gegeben, durch Leid und Schmerz Erfahrungen zu machen, die es in seiner Entwicklung weiterbringen. Denn es ist von Natur aus zur Vollkommenheit veranlagt. Das kann durch persönliche Anstrengung nicht noch weiter gesteigert werden.
Leid und Schmerz als Lernhilfen
Gerade das ist beim Menschen grundsätzlich anders: Für ihn sind Leid und Schmerz Herausforderungen, denen er sich während seiner ganzen Entwicklung bewusst stellen muss und durch die er Erfahrungen machen kann und Einsichten gewinnen lernt, die durch nichts anderes zu gewinnen sind.
In der Natur zeigt sich das Geistige – wenn es durch menschliche Eingriffe nicht gestört wird – wirksam in den weisheitsvoll aufeinander abgestimmten Regelkreisen der ökologischen Zusammenhänge. Krankheit und Behinderung treten hier nur am Rande als flüchtige Erscheinungen auf, da kranke Pflanzen bald zugrunde gehen, ebenso wie geschwächte und geschädigte Tiere.
- Pflanze und Tier erkranken, wenn die äußeren Lebensumstände ihrer Art nicht mehr entsprechen und wenn in irgendeiner Form nicht zu kompensierende Mangelerlebnisse auftreten, was Nahrung, Klima und – im Falle von Nutz- und Haustieren – deren nicht artgerechte Haltung betrifft.
Demgegenüber besitzt der Mensch die Möglichkeit, mit Krankheiten und Behinderungen unter Umständen jahrzehntelang zu leben und umzugehen. Doch nicht nur das.
- Beim Menschen treten zu diesen schädigenden Einflüssen von außen noch etwas hinzu: innere Krankheitsursachen.
Die Kräfte, die beim Menschen als freie, seelisch-geistige Betätigungsmöglichkeiten in Erscheinung treten, entstammen ja Kraftzusammenhängen, die den Leib aufbauen und erhalten. Beim Tier offenbaren sich die entsprechenden Kräfte als leibgebundene instinktive Weisheit und artgerechtes Sozialverhalten. Irrtum und Missbrauch dieser Kräfte sind ausgeschlossen, indem sie der unbewussten Regelung durch das Naturgesetz unterliegen.
Ausgleich des Instinktdefizits durch Lernwillen
Das ist beim Menschen anders. Er hat ein großes Instinktdefizit, einen Mangel an naturgegebener Weisheit, an automatisch regulierenden und stärkenden Kräften. Den Menschen stärkende Kräfte entspringen stattdessen dem Seelen- und Geistesleben, d.h. der Mensch kann und muss durch aktive Lernprozesse ersetzen, was ihm an Instinkten fehlt. Andererseits hat er dadurch die Möglichkeit, diese vom Leib emanzipierten seelischen und geistigen Entwicklungspotentiale zur Zerstörung von sich und anderen zu missbrauchen. Hiermit gemeint sind nicht nur
- die Schädigungsmöglichkeiten, die mit falscher Ernährung, zu wenig Schlaf, einer ungesunden Lebensweise und mangelnder Hygiene zusammenhängen,
- sondern vor allem diejenigen Schädigungsmöglichkeiten, die durch ein unwahres Denken, ein destruktives Gefühlsleben und durch fehlgeleitete Willenshandlungen zustande kommen.
Es ist ein langer Entwicklungsweg, bis man reif ist für den freien Gebrauch dieser Seelen- und Geisteskräfte. Die damit verbundenen Lernprozesse sind dadurch störanfällig, dass sich der Mensch geistig, seelisch und auch an Leben und Leib „irren kann“. Darin liegt ein tiefer Sinn. Denn wenn er den zuletzt in Form von Krankheit und Behinderung organisch gewordenen „Irrtum“ erlebt, kann er sich dadurch weiterentwickeln. Auch liegt etwas Trostreiches in dem Gedanken, dass man Fehler und Irrtümer selber als solche erleben und damit die Voraussetzungen schaffen kann, sie selbstständig zurechtzurücken und zu verwandeln. Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen Begabung und Behinderung in einem völlig anderen Licht.
Verantwortung übernehmen für Entwicklung
Es wäre allerdings einseitig, aus dem Vorgebrachten den Schluss zu ziehen, hier tauche, nur mit neuen Begründungen, die alte Lehre wieder auf, dass Krankheit von Sünde und Fehlverhalten komme. Viel wesentlicher ist es, aus diesen Zusammenhängen die Frage abzuleiten:
Woher kommen Begabungen?
Woher kommen angeborene Fähigkeiten, Genialität?
Könnten sie nicht gerade das Ergebnis durchgemachter Behinderungen und Krankheiten in einem früheren Erdenleben sein?
Wir leben heute in einer Zeit, in der die Menschen zunehmend empfinden, dass sie selbst für ihre Gesundheit und ihre Entwicklung Verantwortung übernehmen müssen. Dafür sorgt nicht nur der sich anbahnende wirtschaftliche Zusammenbruch der Gesundheits- und Sozialsysteme, sondern auch, dass der Mensch sich immer stärker als auf sich selbst gestellt erlebt. Angesichts der vielfältigen Folgen menschlichen Handelns in der Natur, der Umwelt und im Wirtschafts- und Sozialleben erkennen wir, dass wir es letztlich selber sind, von denen wir und unsere Umwelt abhängen. Wir sind viel mehr mit den Folgen unserer Taten konfrontiert; sie werden vom Einzelnen viel stärker erlebt als dies noch vor vierzig, fünfzig Jahren der Fall war.
Für die Zukunft wird entscheidend sein, dass möglichst viele Menschen sich ihrer Verantwortung bewusstwerden und aus dieser Einsicht heraus energisch an einer Vermenschlichung der kulturellen Verhältnisse arbeiten. Auch wenn noch nie so viele Menschen auf der Erde gelebt haben wie gegenwärtig, kann man andererseits auch sagen, dass die Defizite an Menschlichkeit nie so stark in Erscheinung getreten sind wie im letzten Jahrhundert mit seinen endlosen Kriegen, Zerstörungen und epidemischen Zuständen von Unzufriedenheit, Depression und Verzweiflung. Und so ist es kein Wunder, dass sich viele Menschen aufgrund dieser Tatsachen wie an einer Schwelle erleben, an der sie wachgerüttelt werden, sich selbst zu erkennen. Viele empfinden auch eine gewisse Sehnsucht, sich ihre Mitverantwortung für das Ganze bewusst zu machen.
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 5. Und 6. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
[1] Vgl. dazu Friedrich A. Kipp, Die Evolution des Menschen im Hinblick auf seine lange Jugendzeit, Stuttgart 1991, ferner: Wolfgang Schad, Säugetiere und Mensch, Stuttgart 1971.
[1] Es gab auch einmal eine Tagung hier am Goetheanum über das Messi-Syndrom. Da zeigte sich, dass es in allen gesellschaftlichen Schichten und Weltanschauungen vorkommt. Es gibt auch Anthroposophen, die nichts wegschmeißen können.