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Biographie und Biographiearbeit

Aus Geistesforschung
Version vom 22. März 2025, 12:23 Uhr von Katharina Offenborn (Diskussion | Beiträge) (Übertragen von Inhalten von Anthroposophie-lebensnah)

Biographie und Biographiearbeit – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

DIE DREI GRÖSSTEN BIOGRAPHISCHEN WENDEPUNKTE

Welche Wendepunkte haben menschliche Biografien gemeinsam?

Wichtige Wendepunkte in der Biographie

Unser Leben hat drei große Wendepunkte:

- Die Geburt in Liebe

Wenn der Mensch geboren wird, reißen die Fäden zum vorgeburtlichen Leben in der geistigen Welt ab – nicht tatsächlich, aber für sein Bewusstsein: Er vergisst, was vorher war. Sein Bewusstsein verdunkelt sich. Das geistige Sein erlischt und er erwacht als Kind im Sinnlichen. Es bedeutet dann eine riesige Umstellung, sich an das äußere sinnliche Leben anzupassen. Je mehr Liebe ein Kind von Geburt an erfährt, desto gesünder wächst es auf.

- Eigenverantwortung übernehmen in Wahrheit

Dieser zentrale Wendepunkt kann zu jedem Zeitpunkt an unterschiedlichen Stellen in der Biografie zwischen der Pubertät und den letzten Lebenstagen auftreten. Man kann ihn noch am vorletzten Lebenstag erreichen.

Normalerweise kommt man zwischen 20 und 40 an diesen Punkt: Man entschließt sich eines Tages, durch welchen Anlass auch immer, Verantwortung für die eigene Entwicklung zu übernehmen und nicht mehr andere dafür verantwortlich zu machen. Mit anderen Worten: Man beginnt den eigenen inneren Weg bewusst ernst zu nehmen. Unbewusst geht jeder einen inneren Weg. Aber es ist ein Riesenschritt, wenn man beginnt, sich damit zu identifizieren, wenn man „ja“ sagen kann dazu, dass man es tut. Weil das ein so besonderer Moment ist, nennt man ihn den Anfang des Initiationsweges, den Anfang der Anfänge.

Diesen Moment vergisst man nie. Und es ist auch sehr wichtig, denn Initiation hat mit Wahrhaftigkeit zu tun. Jeder Augenblick, in dem man das Gefühl hat, man erlebt etwas Wahrhaftiges, hat initiatorischen Charakter. Der Sinn des inneren Weges besteht darin, immer mehr von der Wahrheit zu erkennen – über sich selbst, über die Welt, über Gott, über Christus, über das Leben, über alles.

- Der Tod in Freiheit

Am Lebensende lässt der Mensch seinen physischen Körper wie eine Nachgeburt zurück und gebärt seinen Ätherleib, seinen Astralleib und sein Ich aus diesem Körper heraus und vollzieht dabei die Geistgeburt. Je autonomer und freier ein Mensch am Lebensende ist, desto leichter stirbt er.

Die beste Vorbereitung aufs Sterben besteht deshalb darin, an der eigenen Autonomie zu arbeiten. Warum? Weil Sterben ein Vorgang ist, bei dem alle Fäden zu unserem Sinnesleben abreißen. Wir werden vollkommen frei vom Physischen, vom Sinnlichen und müssen uns „eine Oktave höher“ plötzlich im Geistigen ganz neu finden.

Liebe Freiheit und Wahrheit als Lebensideale

Freiheit ist die Fähigkeit, ganz allein auf den eigenen Füßen stehen zu können, unabhängig von äußeren Autoritäten, von Zwängen, von allem, was mich binden könnte. Freiheit zu üben ist immer schmerzlich, es ist ein Sterbeprozess.

Deswegen kommt jedes Freiheitsmoment einem kleinen Tod gleich und geht einher mit Einsamkeit und Loslassen-Müssen. Dafür bekommt man etwas Neues an die Hand: geistige Verbindlichkeit. Wenn ich etwas loslasse, habe ich die Hände frei, selbst zu bestimmen, womit ich mich neu verbinde.

·      Durch die Liebe verbinden wir uns mit etwas, so auch durch die Geburt mit dem Leben auf Erden.

·      Indem wir unsere Freiheit in Anspruch nehmen, trennen wir uns von allem, was uns binden könnte, so auch vom Körper beim Sterben.

·      Dazwischen liegt unsere Biografie, in deren Verlauf wir lernen, Freiheit und Liebe in Balance zu bringen. Denn wir brauchen beides, um die Wahrheit über uns selbst und die Welt finden zu können.

Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010

WAS ANTHROPOSOPHISCHE BIOGRAFIEARBEIT VERMAG

Für wen ist Biografiearbeit primär gedacht?

Wodurch unterscheidet sich Biografiearbeit von Psycho- oder Traumatherapie?

Möglichkeiten und Grenzen von Biografiearbeit

Die anthroposophische Biografiearbeit ist vor allem für den gesunden Menschen gedacht, der sich selbst und seine Biografie besser ver­stehen lernen will. Anlass dafür kann eine Lebenskrise oder eine Rekonvaleszenzzeit nach einer schweren Krankheit sein. Oder man wurde pensioniert und hat jetzt das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen und aus dieser neuen Perspektive nach dem Sinn des eigenen Lebens zu fragen. Nicht selten sind auch konfliktreiche Beziehungen und sich wiederholende Erfahrungen und Muster der Grund, weshalb man sich ein besseres Selbstmanagement wünscht. Grundvoraussetzung für Biografiearbeit ist in jedem Fall die Fähigkeit der Selbststeuerung seitens der Klient:innen.

Ist die Selbststeuerung krankheitsbedingt durch das Vorliegen einer Depression, einer Borderline-Problematik oder einer anderen sogenannten Persön­lich­keitsstörung eingeschränkt, sollte Biografiearbeit nur in enger Zusammenarbeit mit dem behan­delnden Arzt/Ärztin bzw. Psychotherapeut:in stattfinden bzw. abgebrochen werden, sobald man Anzeichen mangelnder Selbststeuerungsfähigkeit wahrnimmt. Denn durch Biografie­arbeit werden nicht nur die einzelnen Phasen der Biografie und der verschiedenen menschlichen Beziehungen und schicksalhaften Begebenheiten bearbeitet. Es können auch traumatische Ereignisse erstmals bewusstwerden und eine akute psychische oder auch psychotische Krise auslösen.

Grundsätzlich gilt, dass Biografie­arbeit eine professionelle Traumatherapie bzw. Psychotherapie nicht ersetzen kann, wohl aber – in Absprache mit den für die Behandlung verantwortlichen Fachleuten – sinnvoll zu ergänzen vermag. Um diesbezüglich ein gutes Unterscheidungsvermögen zu entwickeln, wäre es hilfreich an entsprechenden Weiterbil­dungen teilzunehmen oder zusätzlich eine Heilpraktiker-Ausbildung zu machen.

Biografiearbeit als Ergänzung vonTherapien

Aufgabe der Biografiearbeit ist es, herauszuarbeiten, welche Botschaft eine Krankheit für den Betroffenen hat und wie sie sich sinnstiftend in das Ganze der biografischen Entwicklung integrieren lässt. Hier liegt auch der grundlegende Unterschied zur Psychotherapie bzw. zur Pastoralmedizin. Beide erfordern eine gediegene diagnostische und therapeutische Ausbildung, in der tiefere bio­grafische Fragen eine Rolle spielen können, aber nicht müssen. Daher wird gerade Ärzt:in­nen, Psychotherapeut:innen, Pastoralmediziner:innen, Kunsttherapeut:innen und auch allen anderen in Heilberufen Tätigen sehr empfohlen, berufsbegleitend eine Weiter­bil­dung in Biografie­arbeit vorzunehmen. Denn Biografiearbeit ist ein wertvolles Instru­ment im Fachbereich der Medizin, so wie sie auch die Berufstätigkeit von Lehrer:innen, Sozialarbei­ter:nnen, in der Pflege Tätigen – insbesondere auch in Senioreneinrichtungen – bereichern und ergänzen kann.

Wer Biografiearbeit ohne eine soziale, pädagogische oder thera­peu­tische Grund­ausbildung ausübt, wendet sich primär an gesunde Menschen oder arbeitet mit Fachleuten zusammen, welche die Klient:innen überweisen, oder von den Biografie­arbeiter:in­nen bei Bedarf konsultiert werden können. Indem die Biografiearbeit in den Gesamttherapieplan integriert wird, können Biogra­fiearbeiter:innen Ärzt:Innen und psychotherapeutisch Tätige zeitlich entlasten.

Sinnvolle Zusammenarbeit mit therapeutischen Berufsgruppen

Wie kann die Zusammenarbeit zwischen Biografieberater:innen und Ärzt:innen sinnvoll gestaltet werden?

Grundsätzlich gilt für Ärzt:innen, Therapeut:innen, Heilpraktiker:innen, Biografiearbeiter:in­nen, die sich an einem bestimmten Ort niederlassen und eine Praxis eröffnen, dass sie sich einen Überblick verschaffen über die medizinische, therapeutische sowie pflegerische Versorgung im eigenen Einzugsgebiet:

  • Welche Fachleute empfohlen werden können
  • Wer für welches Gebiet empfehlenswert ist
  • Welche Fachbereiche und Kompetenzen zur Verfügung stehen oder auch nicht

In diesem Kontext haben Biografiearbeiter:innen eventuell auch die Möglichkeit, einen Flyer zu versenden und darin ihren Beitrag zur Therapie zu beschreiben. In einer Begleitmail oder Brief kann auch die Bitte um ein kurzes Vorstellungsgespräch geäußert werden. Dieses Vorgehen ist unter Ärzt:innen und Therapeut:innen, die sich niederlassen, durchaus üblich.

Es ist aber auch für die ortsansässigen Patient:innen und Klient:innen angenehm, wenn die sie behandelnden Fachkräfte einander kennen und ggf. auch positiv übereinander sprechen. Weitere Kontakte entstehen dadurch, dass im Rahmen der biographischen Arbeit auch der behandelnde Arzt/Ärztin oder Therapeut:in genannt wird. Bei Bedarf kann man auch direkt bitten, mit dem behandelnden Arzt sprechen zu dürfen. In der Regel wird das gern gesehen, weil die Klient:innen sich davon eine weitere Klärung oder Unterstützung für ihre Situation versprechen.

Da Biografiearbeiter:Innen in der Regel über keine medizinisch-therapeutische Fachausbildung verfügen, ist es wichtig, auf diese Weise die Kompetenzbereiche und Arbeitsweisen dieser Fachbereiche kennen zu lernen. Zum einen kann man dann in der eigenen Beratung auch zu der einen oder anderen Therapie oder einem Arztbesuch raten. Zum anderen lernt man die Grenzen des eigenen Kompetenz­bereichs besser einschätzen und wahren. Daraus können hilfreiche Formen der Zusammenarbeit entstehen.

Welcher Arzt ist nicht froh, eine zeitaufwendige biographische Beratung delegieren zu können?

Welche Biografie­arbeiter:innen sind nicht dankbar, wenn sie ihren Klienten wegen einer bestimmten Frage zu einer Fachkonsultation schicken können?

Sich aktiv mit anderen vernetzen

Da Biografiearbeit ein neues Berufsbild ist und nicht auf einer primär medizinischen Ausbildung beruht, sondern auf der Anthroposophischen Menschenkunde und Schicksals­erkenntnis, wird es möglicherweise anfangs nicht leicht sein, Ärzt:innen, Psycholog:innen, Therapeut:innen ,Pädagog:innen und Sozialarbeiter:innen oder Seelsorger:innen von der eigenen Kompetenz bzw. vom Wert der Arbeit an der Biografie zu überzeugen. Man muss aktiv auf sie zugehen, Veranstaltungen besuchen, selber welche organisieren. Man muss Gelegenheiten zur Begegnung wahrnehmen, aber auch selber Veranstaltungen anbieten, bei denen die Anliegen und Möglichkeiten der Anthroposophischen Biografiearbeit angesprochen werden. Sie birgt ein großes Zukunftspotenzial, weil sie den Menschen hilft, im besten Sinne des Wortes „zu sich“ zu kommen.

Die moderne Salutogenese- und Resilienzforschung hat vielfach gezeigt, dass in sich ruhende, lebenbejahende Menschen gesünder und widerstandsfähiger sind als andere. Diese Tatsache wird auch im Laufe der Biografie­arbeit bestätigt. Auch wenn sie keine thera­peutische Intervention ist, so hat sie doch eine gesunde stabilisierende Wirkung auf die Menschen, weil sie ihnen hilft, die eigene Biografie als Entwicklungsweg zu erkennen.

Pflichtlektüre für Biografiearbeiter:innen

Rudolf Steiner spricht von diesem Weg in seinem grundlegenden Buch zur Selbstschulung „Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?“[1] und nennt ihn den Weg der Einweihung durch das Leben. Dieses Buch wie auch die Theosophie und die vier Mysteriendramen von Rudolf Steiner sind Pflichtlektüre in jeder Ausbildung zur Biografiearbeiter:in. In den Mysteriendramen werden die biografischen Entwicklungen der Protagonisten in drei verschiedenen Inkarna­tio­nen dargestellt. Das Studium dieser Dramen ist daher zugleich auch eine Schulung in konkreter Schicksalserkenntnis, wie sie für die Biografiearbeit nötig ist. Die Kenntnis dieser drei Werke bietet auch eine gute Gesprächsbasis bei der Zusammenarbeit mit anthropo­sophisch tätigen Ärzt:innen und Therapeut:innen, sowie Priester:innen der Christengemeinschaft.

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021


[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.

ZUFALL UND SCHICKSAL

Wer oder was formt den menschlichen Charakter?

Warum sind trotz aller vererbten Familienähnlichkeit und identischem Milieu gerade Geschwister im Charakter so verschie­den?

Gleiche Familie – anderes Schicksal

Wenn man nur Vererbung und Milieu in Betracht zieht, bleibt ungeklärt, wodurch Geschwister und sogar Zwillinge so unterschiedliche Biographien haben. Nicht zuletzt haben dies der bekannte amerikanische Verhaltensgenetiker Robert Plomin und die britische Verhaltenspsychologin Judy Dunn in ihrem gemeinsam geschriebe­nen Buch „Warum Geschwister so verschieden sind“ eindrucksvoll zeigen können.[1] Geschwister haben ja als Verwandte ersten Grades überwiegend gemeinsames Erbgut und sie wachsen in der Regel auch im selben Milieu auf. Es muss noch weitere entscheidende Faktoren geben, die diese Unterschiede bewirken.

Welche aber sind das?

Woher kommen diese Einflussfaktoren, die das indi­viduelle Schicksal entscheidend prägen?

Geschehen sie zufällig?

Und wenn ja: Was verbirgt sich in dem Wort „Zufall?

Anhand ihrer Forschungen schlussfolgern Plomin und Dunn: „In der Forschung zu den Auswirkungen kritischer Lebensereignisse ist es ein wohl bekanntes Problem, dass die Auswirkungen eines solchen Ereignisses nicht unabhängig von der Persönlichkeitder „Verletzlichkeit“der betroffenen Person sind. (…) Der wesent­liche Punkt ist hier, dass zwei Kinder innerhalb derselben Familie normalerweise ein unter­schiedliches Maß an Stress erleben werden. Stressverursachende Ereignisse können einen kumulativen, sich selbst ver­stärkenden Effekt haben, und das Erleben einer Reihe solcher Ereignisse kann eine Person sehr wohl zunehmend verletzlich machen, und anfälliger dafür, dass zukünftige Ereignisse sich noch stärker negativ auswirken. Ausgehend von anfänglichen Persönlichkeitsunterschie­den können sich also ganz unterschiedliche „Leidenswege“ der Belastung durch „zufällige“ Ereignisse entwickeln. (…) Der Begriff des unkontrollierbaren Ereignisses entspricht weitgehend dem, was wir Zufall nennen (S. 168ff).“

Zufall ist nichts Zufälliges

Bei diesen Ausführungen taucht neben dem Begriff „Zufall“ auch der der „Person“ auf, die zum Beispiel durch den Grad ihrer Verletzlichkeit anfällig für negative Entwicklungen ist.

Was macht die Person aus?

Ist sie selbst auch ein Zufallsprodukt, von mehr oder weniger kontrollierbaren Schicksalsereignissen geprägt und bestimmt?

Aus Sicht der Naturwissenschaft mag das so scheinen. Zufall aus anthroposophisch-geisteswissenschaftlicher Sicht bedeutet, dass einem etwas zufällt. Diese Wortbedeutung eröffnet eine andere Perspektive auf das Schicksal als die naturwissenschaftliche, verdeutlicht durch folgende Fragen:

Von woher fällt einem etwas zu und zu welchem Ziel?

Warum trifft es ausgerechnet mich im Hier und Jetzt?

Rudolf Steiner bietet hierzu eine interessante Arbeitshypothese als Antwort: Der Mensch selbst ist es, der sich diesen Zufall in einem früheren Erdenleben wie zubereitet hat. Er selbst entschied, dass ihn dieses oder jenes Ereignis treffen soll: Jemandem fällt dasjenige zu, was zu ihm gehört. Es will ihn etwas lehren, was er aus sich heraus ohne diesen „Zufall“ nicht in Angriff genommen hätte.

Fragen und Überlegungen dieser Art helfen, den nicht kontrollierbaren und kausal nicht erklärbaren Zufall als zum individuellen Schicksal gehörig zu erkennen, der alles andere als zufällig ist, sondern den Gesetzmäßigkeiten der Wieder­verkörperung folgt. Daraus ergibt sich ein völlig neuer Schicksalsbegriff.

Rudolf Steiners Schicksalsbegriff

In seinem Buch „Theosophie“[2] knüpft Rudolf Steiner an den indischen Karma-Begriff an, der besagt, dass man in einem nächsten Leben den Folgen seiner Taten eines früheren Lebens begegnet. Aus dieser Perspektive steht der Mensch dem, was ihm „zufällt“ bzw. „geschickt wird“, weder hilflos noch schuldlos gegenüber. Steiner sagt dazu: „Der Leib unterliegt dem Gesetz der Vererbung; die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal. Und der Geist steht unter dem Gesetze der Wiederverkörperung.“[3]

Schaut man so auf sein Leben, kann man erkennen, dass kein Ereignis zufällig geschieht. Es ist vielmehr eine gerechte Konsequenz der Lebensführung und Taten in einem vergangenen Erdenleben, im Positiven wie im Negativen. Wer das als Wahrheit erkennt und die Schicksalsbegegnungen seines Lebens mit allen Höhen und Tiefen in diesem Licht sieht, wird sich weder hilflos, noch bestraft oder schuldig fühlen. Man erkennt sich als Verursacher dieser wie zufällig erscheinenden Ereignisse und wird sich fragen:

Was kann ich daraus lernen?

Wie kann ich daran wachsen und mich weiterentwickeln?

Was kann ich jetzt tun, damit daraus etwas Positives für die Zukunft erwachsen kann?

Aus diesem Blickwinkel erkennt man den Sinn darin, dass ein bestimmtes Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt eintritt und nicht später oder früher; so wie der nächste Tag beeinflusst wird durch das, was am Vortag geschah, so gestaltet sich das aktuelle Erdenleben als Folge ein früheren. Ein solches Schicksalsverständnis ermöglicht die Identifikation mit dem eigenen Schicksal als einem Teil von sich selbst. Schicksal wird als „Schule des Lebens“ begriffen. Jetzt fragt man folgerichtig:

Welche Fähigkeit muss ich entwickeln, um z. B. angesichts eines schweren Schicksalsschlags standzuhalten und nicht aufzugeben?

Vielleicht brauche ich gerade diese Fähigkeit für ein künftiges Erdenleben, um zu realisieren, was ich mir vorgenommen habe?

Victor Frankl hat nach den menschenverachtenden Erlebnissen im Konzentrationslager ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“. Das konnte er nur, weil er die Nähe einer höheren Gerechtigkeit spürte, die ihm Geborgenheit schenkte. Wer diese Schicksalsgerechtigkeit auch in schweren Momenten ahnen kann und für die vielen Glücksmomente zu danken vermag, die das Leben als Ganzes bereithält, wird die eigene Biografie als lebenswert und von guten Mächten geleitet und begleitet empfinden. Sie ist für ihn nichts Zufälliges mehr, sondern ein weisheitsvoll gestalteter Entwicklungsraum.

Karma als Weg zur Ich-Erkenntnis

Wer in seinem 40. Lebensjahr sein Leben betrachtet mit der Frage nach dem dort wirkenden Seelenwesen wird erkennen, dass das, was ihm oder ihr schicksalsmäßig „zugestoßen“ ist, sie oder ihn zu dem gemacht hat, was er oder sie heute ist. Wäre zum Beispiel mit 20 Jahren eine bestimmte Reihe von Ereignissen nicht eingetreten, wäre das Leben anders verlaufen. Daran kann man erkennen, dass das „Ich“ nicht nur von „innen“ heraus Entwicklungsimpulse gibt, sondern dass es auch wie „von außen“ gestaltend in das Leben eingreift. Durch das, was geschieht, kann man das eigene Ich in seinem Wirken erkennen.

In einem weiteren Schritt eingehender Beobachtung des eigenen Lebens kann man üben, in dem, was einem durch die Schicksalserlebnisse zufließt, eine vom Ich bewirkte, von außen kommende „Erinnerung“ zu erkennen, durch die ein vergangenes Erlebnis aufleuchten kann. Auf diesem Wege kann man lernen, in dem Schicksalserlebnis die Auswirkung einer früheren Tat der Seele zu sehen, die jetzt den Weg zum Ich nimmt, so wie die Erinnerung an ein früheres Erlebnis den Weg zur Vorstellung nimmt, wenn eine äußere Veranlassung dazu da ist.[4]

Steiners Schicksalsbegriff betrifft jedoch nicht nur das persönliche Karma, sondern auch das Gruppenschicksal einer Familie, eines Volkes oder einer Religionsgemeinschaft, zu der man gehört. Viele junge Menschen identifizieren sich zunehmend mit Schicksal und Entwicklung der Menschheit durch die Jahrtausende. Die Identifikation mit der Menschheitsentwicklung eröffnet dem Bewusstsein Lernprozesse und Aufwachmomente, welche die Grenzen des Persönlichen weit übersteigen. Sie führen in Erlebnisdimensionen, wie sie in Werken wie Viktor Frankl’s „Trotzdem Ja zu Leben sagen“ oder Novalis` „Heinrich von Ofterdingen“ und Goethes „Faust“ zum Ausdruck kommen. Diese zeitenübergreifenden Dimensionen spielen in der Biographiearbeit zunehmend eine zentrale Rolle, weil immer mehr Menschen mit der Zeit, in der sie leben, nicht zurechtkommen.

Vergängliche Persönlichkeit und ewiges Ich

Unter diesem viele Leben und Zeiträume umspannenden Schicksalsaspekt lässt sich die Frage nach der Person ganz neu stellen. Wenn der menschliche Wesenskern, sein Ich, durch wiederholte Erdenleben geht und damit auch verschiedene Hautfarben annimmt, sich in unterschiedlichen Erdgegenden beheimatet, Sprach- und Religionszusammenhänge wechselt, folgt daraus, dass sich die Persönlichkeit aus den jeweiligen Schicksalsgegebenheiten heraus jedes Mal neu formt. Die Person ist somit die jeweilige Persönlichkeit, durch die dasselbe Ich im Sinne des Wortes „Per-sonare“ „hindurch-tönt“. In jeder Verkörperung lernt sich dieses Ich durch die Erfahrungen der jeweiligen Person anders und immer intimer kennen­. Von Erdenleben zu Erdenleben reifen Selbsterkenntnis und Umweltverständnis.[5]

Durch die Möglichkeit, vergangenes Schicksal aktiv und erkenntnisreich zu verarbeiten und dadurch Positives für die Zukunft zu veranlagen, verliert der Schicksalsbegriff seinen fatalistisch-deter­ministischen Charakter. Der Schluss liegt nahe, dass das bereits vorgeburtlich existierende Menschenwesen selbst bei der Auswahl der für seine neue Verkörperung wichtigen genetischen Grundaus­stattung mitwirkt wie auch bei der Wahl seiner Eltern und der Umwelt­fakto­ren, die sein Schicksal bestimmen. Das durch alle Leben hindurchwirkende ewige Selbst von den persön­lichen Manifesta­tionen in den jeweiligen Biografien unterscheiden zu lernen, kann zu einer tiefen inneren Ruhe führen und zur Kraftquelle werden im Auf und Ab des tägli­chen Lebens.

Wie kommt man vom Wissen um solche Zusammen­hänge zur konkreten Erfahrung?

Und wie lassen sich katastrophale Ereignisse wie der Holocaust verstehen, die in ihrer destruktiven Gewalt die Dimension eines einzelnen Menschenlebens und Schicksals bei weitem übersteigen, die unfassbar grausam und doch menschen­gemacht sind? 

In den menschlichen Taten lebt sich aus, was in ihnen, aber auch in Menschengemeinschaften an Liebe und Hass, an Verständnis und Unverständnis an Engagement oder Gleichgültigkeit lebt. Und wenn die Menschen sterben, leben doch die Wirkungen ihrer Taten fort. Sich davon komplett zu distanzieren, ist ebenso verantwortungslos, wie solche Wirkungen dem Zufall zuzuschreiben.

Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. Und 14. März 2020


[1] Judy Dunn und Robert Plomin, Warum Geschwister so verschieden sind, Verlag Klett-Cotta, 1996.

[2] Rudolf Steiner, Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung, Dornach 1990, GA 9.

[3] Ebenda, Seite 89.

[4] Siehe FN 1, S. 83 in der Taschenbuchausgabe.

[5] Michaela Glöckler, Begabung und Behinderung. Praktische Hinweise für Erziehungs- und Schicksalsfragen, Verlag Freies Geistesleben, 2004.


VERGÄNGLICHES UND UNVERGÄNGLICHES ICH-BEWUSSTSEIN

Wer bin ich als Mensch?

Was ist mein Weg?

Wie kann ich mir ein ewiges stabiles Ich- und Selbstbewusstsein erringen, das ich sogar durch die Todespforte tragen kann?

Der Mensch als Individuum, soziales Wesen und Menschheitsrepräsentant

Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir uns bewusst machen, dass wir im Grunde drei Leben in drei Sphären des Menschseins leben:

  • unser ganz persönliches Leben: die Art, wie wir uns selbst erleben und wie wir mit uns selbst umgehen.
  • ein soziales Leben: die Art, wie wir uns in der Interaktion mit anderen erleben, wie wir mit uns und anderen in diesem Zusammenspiel umgehen.
  • ein Leben als Zeitgenosse:in: die Art, wie wir am Schicksal der ganzen Menschheit Anteil haben.

In allen drei Sphären sind wir ständigem Wandel unterworfen, was uns immer wieder aufs Neue die Frage nach der eigenen Identität stellen lässt:

Wer bin ich?

Was habe ich mit den Menschen in meinem Umkreis zu tun?

Was ist der Mensch an sich und was heißt es für mich, Mensch zu sein oder besser: Mensch zu werden?

Ständig sich wandelndes Selbstbild

Wenn wir im Laufe unserer Entwicklung zurückblicken, hat sich unser Selbstverständnis, die Identität, die wir uns im Laufe des Lebens zusprechen, ständig geändert, umdefiniert, gewandelt. Wir erleben uns als Kind völlig anders als in der Pubertät. Wir stellen uns deshalb immer wieder neu infrage. Das bedeutet, unsere Identität ist nicht sicher, sie ist abhängig von der Lebensphase, in der wir gerade stehen und wie wir uns dort sehen und erleben.

Unser Selbstbild wechselt auch, je nachdem wie das soziale Umfeld auf uns reagiert. Wenn wir viel Bejahung bekommen, entwickeln wir ein kräftiges Selbstgefühl und es geht uns gut. Wir erleben uns gut, wenn wir verliebt sind und geliebt werden, und völlig anders, wenn wir gerade von jemandem verlassen werden.

Werden wir abhängig von der Anerkennung durch das Umfeld, haben wir Angst davor, dass man uns diese entzieht. Man macht dann vielleicht Dinge, um anderen zu gefallen und dazuzugehören, auch wenn man sie vor dem eigenen Gewissen gar nicht wirklich verantworten kann. Dann ist es nur ein weiterer Schritt, Entscheidungen die eigene Gesundheit betreffend oder darüber, was man zu tun und zu denken hat, Autoritäten zu überlassen. Das kommt einer Selbstaufgabe gleich.

Unser „provisorisches Ich“

Diese persönliche und soziale Unsicherheit, die zunächst unsere Biografie prägt, würde ich als ein „altes Identitätserleben“ verstehen. Denn solange wir unser Selbstbewusstsein auf unseren vergänglichen Körper und das Auf- und Ab des irdischen Lebens stützen, können wir nicht von einem neuen, ewigen Selbst sprechen, und schon gar nicht von einem Selbst, dem wir zur Geburt verholfen haben. Das alte Selbst ist unsicher, störanfällig, ständigen Veränderungsprozessen unterworfen. Rudolf Steiner verwendete dafür zwei Ausdrücke: „Vorläufiges Ich“ und „provisorisches Ich“. Letzteren Begriff finde ich zutreffender, da das Wort provisorisch deutlich macht, dass es um etwas Vorläufiges geht wie beispielsweise den eigenen Namen, die Familie, den Beruf etc.

Vielleicht lehnen wir dieses alte Selbst sogar ab und weisen die Verantwortung für unser Geworden-Sein von uns und machen lieber die Eltern, die Natur oder den „lieben Gott“ dafür verantwortlich. Wenn man durch solch eine Identitätskrise geht, ist es folgerichtig und wichtig sich zu fragen:

Will ich dieses Geschöpf, von dem die anderen sagen, dass ich es sei und zu dem ich auch „ich“ sage, überhaupt akzeptieren?

Lebe ich wirklich das Leben, das ich will oder tue ich alles nur, weil ich es muss?

Vielleicht komme ich zu dem Schluss: „Ich bin unterwegs, ständig in Entwicklung, bei mir ist gerade Baustelle, ich funktioniere äußerlich möglicherwiese gut, aber weiß innerlich nicht ein noch aus.“

Geburt unseres ewigen Ich

Um an eine andere Schicht des eigenen Seins Anschluss zu finden, müssen wir nach dem fragen, wer wir jenseits alles Veränderlichen sind. Denn wir Menschen haben auch einen ewigen, unveränderlichen Wesensanteil, den wir durch die sogenannte zweite Geburt selbst hervorbringen müssen. Dieser Tatbestand wird im Johannesevangelium präzise und knapp formuliert in der Lehre von den zwei Geburten.[1]

  • Unser vergänglicher, physischer Leib kommt uns mit der ersten Geburt von der Mutter zu als ein Naturgeschenk.
  • Unser neues, unvergängliches Selbstverständnis gebären wir selbst – und zwar in unserem Denken, in der außer­körperlichen rein geistigen Tätigkeit, wodurch uns eine ewige Identität zuteilwird.

Der Mensch kann mit seinen Wesensanteilen als Fünfstern, als Pentagramm-Prinzip, gedacht werden: Denken, Fühlen und Wollen bilden den seelischen Innenraum, in dem Eindrücke der Außenwelt verarbeitet werden, in dem aber auch der Anschluss an die geistige Welt und ihre übersinnlichen Realitäten gesucht und gefunden werden kann. Denn im Denken haben wir Zugang zu den unwandelbaren Gesetzen – mehr noch: unser Denken unterliegt diesen Gesetzen: Dort ist die Ewigkeit zuhause.

Zu denken an sich ist bereits eine außer­körperliche Erfahrung, da wir hier rein geistig tätig sind, auch wenn wir dies im Alltag in der Regel nicht bemerken. Wird einem dies jedoch bewusst, kann man deutlich empfinden, in wie hohem Maß man als denkender Mensch autonom und eigenständig zu verantworten hat, was man mit sich selber tut, wie man sich ins Leben stellt, wofür man sein Leben verwendet und welche Identität man für sich anstrebt.

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021


[1] Neues Testament, Johannes, Kap. 3.

WEG UND ZIEL DER BIOGRAFIEARBEIT – DIE ZWEITE GEBURT IN DER BIOGRAFIE[1]

Was ist das Arbeitsfeld der Biografiearbeit?

Wobei ist sie hilfreich?

Was ist mit „zweiter Geburt“ gemeint?

Die zweite Geburt

In den spirituellen Traditionen und auch im Christentum gibt es die wunderbare Lehre von den zwei Geburten: dass man zweimal geboren werden kann. In der Biografiearbeit arbeiten wir in dem Spannungsfeld zwischen dem alten, naturgegebenen Selbstverständnis, das uns mit der ersten Geburt geschenkt wird, und einem neuen durch den Prozess der „zweiten Geburt“ selbst errungenen Selbstverständnis. So gesehen kann die Biografiearbeit wie eine Geburtsvorbereitung verstanden werden für die zweite Geburt, die dann jeder selbst vollziehen muss.

Die zweite Geburt wird im dritten Kapitel des Johannes­evangeliums sehr klar und präzise geschildert: Unter den Pharisäern war ein Mann mit Namen Nikodemus, vom Rang eines Archon unter den Juden. Dieser kam nachts zu ihm und fragte: „Wie kann ein Mensch geboren werden, der schon im Greisenalter ist, kann er in den Leib seiner Mutter zum zweiten Mal hineingehen und geboren werden? Antwortete Jesus: Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Wenn nicht jemand geboren wird aus Wasser und Geist, der kann nicht eingehen in das Reich Gottes.“[2]

Was aber bedeutet es wiedergeboren zu werden aus Wasser und Geist?

Hier bietet die anthroposophische Menschenkunde einen hilfreichen Ansatz zum Verständnis, der im Folgenden dargestellt wird.

Die zwei Anteile der ätherischen Organisation

·      Flüssigkeitsorganismus – leibgebundener Anteil

Wasser ist der Träger des Lebendigen, ist Grundlage alles Zirkulierenden und Prozessualen und auch Grundlage der Lebenszeit. In der anthroposophischen Menschenkunde wird der wässrige Anteil des Menschen Flüssigkeitsorganismus genannt. Wir bestehen aus ca. 70% Flüssigkeit, die ständig in Zirkulation begriffen ist. Sie ist Träger all der Gesetze, die in ihrer Summe den sogenannten Lebensleib, das Leben in uns, ausmachen.

Leben ist eine sehr komplexe Erscheinung, die aus unzähligen Gesetzmäßigkeiten besteht, alleine wenn wir die Biochemie betrachten und alles, was an Stoffumwandlung im menschlichen Organismus stattfindet: Wachstum, Entwicklung, Regeneration, die Überwindung von Krankheitsprozessen in Heilprozesse etc. Diese komplexe Lebenstätigkeit nennt Rudolf Steiner „ätherische Organisation“. Wir brauchen ein Verständnis der ätherischen Organisation, um diese Stelle der zweiten Geburt im Johannes-Evangelium zu verstehen.

·       Gedankenorganismus – leibfreier Anteil

Aber was bedeutet „aus dem Geist geboren“? Was ist Geist?

Das lässt sich anhand eines Forschungsergebnisses von Rudolf Steiner darstellen. Er fragte sich, was mit den Kräften geschieht, die Wachstum und Regeneration ermöglichen, im Körper nicht mehr gebraucht werden, z.B. weil die Regeneration nachlässt oder weil das Wachstum beendet ist, und kam zu folgendem Ergebnis: Diese nicht mehr gebrauchten Kräfte, gehen aus dem Körper wieder heraus, werden leibfrei, und bilden die gedankliche Aura, in die jeder Mensch sozusagen eingebettet ist. Diese Gedankenaura umgibt unseren Kopf und unsere Gestalt als Gedankenleben, das sich am Gehirn reflektiert. Steiner begriff das gesunde Gehirn als einen „Gedankenreflexionsapparat“; wenn es erkrankt, kann es die Gedanken nicht mehr reflektieren. Aber auf keinen Fall sah er das Gehirn als Organ, das Gedanken produziert. Denn die Gesetze des Lebens gehen ja nicht aus der Substanz hervor, sondern sie bilden die Substanz erst.

Leben bringt Stoff hervor und nicht umgekehrt

Das kann man wunderbar sehen am Übergang vom Mineralreich zum Pflanzenreich:

  • Die Elemente, die das Mineralreich konstituieren, sind chemische, in ihrer Menge überschaubare Elemente.
  • Wenn man damit die sekundären Pflanzenstoffe vergleicht, von denen der größte Teil heutzutage biochemisch erforscht ist, ergibt sich ein völlig anderes Bild: Täglich werden neue sekundäre Pflanzenstoffe entdeckt.

Diese ganze Stoffes- und Substanzfülle bildet sich aus den ätherischen Lebensprozessen heraus. Sie entstammt nicht den Molekülen des periodischen Systems mit seinen Elementen, sondern sie sind ein Ergebnis der Lebenstätigkeit, von der sie gebildet werden. Ebenso bilden Tiere ihre ganz arteigenen Substanzen. Und noch spezieller ist das bei dem Menschen: Jeder Mensch ist eine „Art“ für sich, weil er sein ganz individuelles, spezifisches Eiweiß hervorbringt.

Die Weisheit unseres Denkens

Diese leibgebundene, unermüdlich Neues erschaffende ätherische Lebensgesetzlichkeit können wir in der Weisheit unseres Denkens wiederfinden, das wir – wie oben beschrieben – den leibfrei gewordenen ätherischen Kräften verdanken. Deshalb hat unser Denken auch Zugang zur Weisheit unserer Schöpfung, sodass wir in der Lage sind, die Naturgesetze wie auch die kosmischen Gesetze mit unserem Denken zu erfassen. Die Gedanken sind der leibfreie Teil dieser Schöpfungsweisheit, die in unserem Körper wie in einem Mikrokosmos in Form der Naturgesetze wirkt. Die Weisheit, die uns bildet, ist ebendie reflexive Weisheit, mit der wir die Welt verstehen können.

Das ist im Johannes-Evangelium gemeint mit „aus dem Geist geboren“. Das Gedankenleben verdankt sich im Grunde einem aus dem Körper „herausgestorbenen“ Kräftewirken. Somit ist das Denken bereits eine außerkörperliche Erfahrung. Diese zweite Geburt, aus Wasser und Geist, findet im Ätherischen und im lebendigen Denken statt.

Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. und 14. März 2020


[1] Vorliegender Text ist eine Zusammenfassung von Christine Pflug eines online-Vortrages von Michaela Glöckler, gehalten auf einem webinar am 13./14. März, veranstaltet von der BVBA (Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie www. biographiearbeit.de), an dem über 100 Teilnehmer*innen zuhörten. Der Titel hieß „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“.

[2] Neues Testament, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 3.


WEGWEISENDE KULTURIDEALE FÜR DIE BIOGRAFIE

Welche Bedeutung haben Ideale für das Leben?

Leitbild aus der Welt der Ideale

Wer sich entscheidet, die zweite Geburt ernst zu nehmen, wird sich ein Leitbild für die eigene Entwicklung geben, quasi „von oben her“ aus der Welt menschlicher Ideale, wie sie zum Beispiel im Evangelium gelehrt werden. Dort wird gesagt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“[1] und „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“[2]

Man entdeckt unschwer in diesen Worten die drei Kulturideale des mensch­lichen Seelenlebens:

·      Wahrheit: Unser Denken und Beobachten werden umso lebenstauglicher, je wahr­heitsorien­tierter wir mit ihnen umgehen.

·      Liebe: Das Gefühlsleben wird umso reicher und empathischer, je mehr wir es am Erlernen der bedingungslosen Liebe ausrichten, d. h. einer Liebe um des Geliebten willen und nicht einer Liebe, in der man das Geliebte zum Genussobjekt macht.

·       Freiheit: Und schließlich das Rätsel der Freiheit – Inbegriff menschlicher Würde und zugleich abscheulicher Abgrund aller Missbrauchsmöglichkeiten von Wissen und Macht.

Fundament der Anthroposophischen Biografiearbeit

Den Weg zur Wahrheit müssen wir alleine gehen, wenn er zu Freiheit und Autonomie führen soll. In dieser Hinsicht ist das Christentum antiautoritär und revolutionär, auch wenn sich die christlichen Kirchen an diesem Punkt schwertun und auch die Gläubigen sich lieber an klaren Regeln „zum Guten“ orientieren. Das Christentum lehrt aber nur ein Gebot, die Liebe, und einen Weg, den Weg zur Freiheit durch Erkenntnis der Wahrheit. Dieser Weg und dieses Gebot sind das Fundament der Anthroposophischen Biografiearbeit.

Auch wenn man die oben ge­nannten drei Kernideale des Christentums nicht kennen würde, käme früher oder später jeder aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrungen dazu zu erkennen, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen belastet werden durch Unehrlich­keit und Misstrauen sowie durch respektlose Grenzverletzung der Autonomie des anderen. Wohingegen jedes Bemühen um Ehrlichkeit, um echtes Interesse am anderen und um Respekt vor der Autonomie des anderen das Zusammenleben erleichtert und menschlicher macht.

Damit bieten sich diese drei Ideale geradezu an, die eigene Identität daran auszu­rich­ten. Denn Identität ist doch das, womit man sich identifiziert: Man wird zu dem, wofür man sich begeistert und was man zu realisieren versucht. D.h., wer Wahr­haftigkeit übt, wird einen ehrlichen Charakter entwickeln.  Das gilt auch für die beiden anderen Lebens­ideale. Wer sich mit einem Ideal verbindet und sich damit identifiziert, strahlt das, wofür er sich engagiert, auch aus.

Begleitung durch Ideale

Diese Ideale können dazu inspirieren, worauf es in einer bestimmten Situation ankommt und was man dadurch vielleicht lernen oder tun kann. Man erlebt, dass sie wie gute geistige Begleiter sind, die einen innerlich tragen und beschützen können. Auch erweisen sie sich als eine unerschöpfli­che Kraftquelle im Alltag. In jedem Augenblick kann man sich fragen – je nachdem was gerade ansteht:

Wie kann ich mich dieser Herausforderung stellen oder in dieser Situation reagieren, dass die menschlichen Kulturwerte Wahrheit, Liebe und Freiheit nicht beschädigt werden, sondern gedeihen?

Jeden Abend kann man den Tag Revue passieren lassen und sich fragen:

Wie war das heute?

Habe ich ein Stück Menschlichkeit realisieren können?

Oder bin ich doch wieder mal eingeknickt und habe eine Verlegenheitslüge gebraucht oder geschwie­gen, wo ich etwas hätte sagen sollen?

So werden diese Ideale immer mehr zu einem innerlichen Bezugspunkt mit dem man sich identifiziert. So verwandelt man sich nach und nach zu seinem „wahren Ich“. Jeder Tag, den man in diesem Bewusstsein leben darf, ist wichtig und ein Schritt auf dem Weg, ein möglichst star­kes leibunabhängiges Ich-Bewusstsein zu entwickeln, das man mit über die Todes­schwelle nehmen kann.

Wie und warum man findet

Picasso sagte in einem Gedicht: „Ich suche nicht, ich finde.“ Wenn man ständig auf der Suche ist, findet man nicht. Wenn man finden will, sucht man anders. Picasso fragte:

Wer bestimmt meine Suche und meine Sehnsucht?

Ist das, wonach ich mich sehne, nicht bereits das Ziel?

Entsteht diese Sehnsucht nur dadurch, dass ich im Grunde weiß, wonach ich suche?

Wir suchen unser wahres Ich, sehnen uns nach mehr Menschlichkeit und einer besseren Welt. Alle unsere Sehnsüchte, unsere Hoffnungen und Ideale sind reines „Zukunftsmaterial“. Wir suchen danach, weil wir genau wissen, was wir finden wollen. So wie es Christian Morgenstern ausdrückt in einem Gedicht: „Wer vom Ziel nichts weiß, kann den Weg nicht haben, wird im selben Kreis all sein Leben traben. Kommt am Ende hin, wo er hergerückt, hat der Menge Sinne nur noch mehr zerstückt.“[3] Oder wie man es im Zen-Buddhismus sagt: „Der Weg ist das Ziel“. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass wir im Grunde wissen, worauf wir hinauswollen.

Jede menschliche Biografie ist ein Weg, DER Weg für das Individuum, und das Ziel ist klar darin veranlagt. Das ist der Grund, weshalb wir Sehnsucht nach einem guten, schönen, menschenwürdigen, wahrhaftigen Leben haben und warum wir uns traurig und verzweifelt fühlen, wenn wir uns von diesem Ideal entfernen. Wir haben in uns den Maßstab, worauf es in unserem Leben ankommt. Dieser Maßstab soll durch Biografiearbeit bewusstgemacht und freigelegt werden.

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021


[1] Neues Testament, Johannes 8, 32.

[2] Ebenda, Lukas 10, 27.

[3] Christian Morgenstern (1871-1914), Wer vom Ziel nichts weiß, Gedicht entstanden 1914 in München.

SELBSTBEWUSST ÜBER DIE TODESSCHWELLE

Wie kann man ein ewiges stabiles Ich- und Selbstbewusstsein erringen, das einen sogar durch die Todespforte tragen kann?

Seelentod durch Materialismus

In der Apokalypse des Johannes heißt es sinngemäß „Fürchtet nicht den Tod des Leibes, sondern den Seelentod“,[1] das heißt den Bewusstseinstod. Mit Bewusstseinstod ist gemeint, sich nach dem Tod des Leibes nicht bewusst in der nachtodli­chen Welt halten zu können. Man ist zwar „da“, aber weiß nichts von sich. Das ist eine der Schattenseiten des Materialismus, die bewirkt, dass sich das Bewusstsein nicht vom sinnlich Gegebenen lösen kann und dadurch auch mit dem Tode erlischt. Dieser Umstand wird im Evangelium und in der esoterischen Literatur als „zweiter Tod“ bezeichnet.

  • Den ersten Tod stirbt jeder Mensch, indem er seinen Körper ablegt.
  • Den zweiten Tod des Bewusstseinsverlustes nach Ablegen des Körpers erlei­den diejenigen, die sich nicht für ihr leibunabhängiges, rein geistiges Leben interessiert haben.

Umso größer ist dann die Sehnsucht, sich möglichst rasch wieder zu verkörpern, um das Versäumte nachzuholen und zu Lebzeiten ein Bewusstsein des eigenen geistigen Wesens zu entwickeln, ja es aus sich selbst zu gebären. Das ist einer der Gründe für das starke Bevölkerungswachstum.

Notwendigkeit von Wiederverkörperung

Wenn man einmal wirklich begriffen hat, wie unvollendet der Mensch tatsächlich ist, wie weit entfernt vom Ziel der Menschheitsentwicklung, und wie wenig wir in einem Erdenleben Mensch werden können, erkennt man, dass die Wiederverkörperung eine Notwendigkeit ist. Und dann braucht jeder seine eigene Zeitspanne, bis er sich selbst zum vollendeten Menschsein entwickelt hat. Von konfessionell-christlicher Seite wird öfters eingewendet, dass in den Evangelien doch keine Rede von Reinkarnation sei. Doch macht die Zukunftsorientiertheit des Idealismus nur Sinn, wenn dem Menschen auch die Zeit gegeben wird, seine Ideale zu erreichen.

Wie sollen ein Kind, das früh verstirbt, oder ein Erwachsener, der delinquent geworden ist, den Weg zur Wahrheit gehen, die frei macht, wenn ihnen ihr aktuelles Leben gar nicht die Chance dazu geboten hat?

Auch lesen wir im neunten Kapitel des „Markusevangeliums“, dass die Jünger Jesus nach der Verklärung auf dem Berg fragten, warum die Schriftgelehrten sagen, dass Elias wiederkommen müsse, bevor der Messias erscheinen könne. Er antwortete: „Aber ich sage euch: Elias ist bereits gekommen, und die Menschen haben ihre Willkür an ihm ausgelassen, wie es die Schrift von ihm sagt“.[2] Im Matthäus Evangelium wird noch ergänzt „da verstanden die Jünger, dass er von Johannes dem Täufer zu ihnen sprach“.[3]

Die Bedeutsamkeit von Entwicklung

So dezent die Lehre von Wiederverkörperung und Schicksal in den Evangelien auch aufscheint, so deutlich wird in den Evangelien der Wert des einzelnen Erdenlebens betont. Es gilt die Zeit für die individuelle Entwicklung zu nutzen. Ist es doch gerade der individuelle Schicksalsweg, ­durch den sich die Menschen unterscheiden. Nicht Erbgut und Milieu verdanken wir unsere ureigene Individualität, sondern dem ureigenen Schicksalsgang durch die wiederholten Erdenleben hindurch, der uns zu diesem unverwechselbaren Menschen werden lässt.

Im Unterschied zu den Tieren und Pflanzen, die von Anfang an wissen, wie sie sich zu entwickeln haben, sind wir Menschen von der Schöpferseite her unvollendet gelassen worden. Wir haben nur die Veranlagung dazu, eigenständige, reife Menschen zu werden, wir werden nicht so geboren. Wir müssen die veranlagte Menschlichkeit eigenständig weiterentwickeln im Laufe unseres Lebens. Das muss jeder Mensch auf seine Art und Weise selbst vornehmen. Auch wenn wir uns gegenseitig dabei helfen können, muss und darf jeder Mensch lernen, auf eigenen Füßen zu stehen und den eigenen Weg zu gehen.

Hilfe zur Selbsthilfe geben

Daher ist es auch so wichtig, dass unsere Klient:innen nicht von uns abhängig werden in der biografi­schen Arbeit und Beratung. Es muss bei der Entwicklung des Selbstbewusstseins als geistiges Wesen immer um Hilfe zur Selbsthilfe gehen. Wir können auf den Weg der Entwicklung hinweisen, gehen muss ihn jeder selbst.

In seiner „Philosophie der Freiheit“ findet Rudolf Steiner wunderbare Worte, um die biografische Aufgabe des Menschen von Erdenleben zu Erdenleben zu beschreiben: „Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Natur­wesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen. Die Natur lässt den Menschen in einem gewissen Stadium seiner Ent­wicklung aus ihren Fesseln los; die Gesellschaft führt diese Entwicklung bis zu einem weiteren Punkte; den letzten Schliff kann nur der Mensch selbst sich geben.“[4]

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021


[1] Neues Testament, Apokalypse 2, 11, 14, 13, 20, 6.

[2] Neues Testament, Markus 9, 13.

[3] Ebenda, Math. 17, 13.

[4] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, S. 170.

BIOGRAFISCHE GESETZMÄSSIGKEITEN[1]

Welchen biografischen Gesetzmäßigkeiten folgt das Erwachen von Selbstbewusstsein?

Erwachen von Selbstbewusstsein im Denken, Fühlen und Wollen

•     Im 3. Lebensjahr – Erwachen auf Gedankenebene: Ich bin ich

Ein erster Funke von Selbstbewusstsein, das ich „provisorisches Selbstbewusstsein“ nennen möchte, erwacht rein auf Gedankenebene im dritten Lebensjahr. Da denkt das Kind zum ersten Mal: Ich bin ich. Diesen Gedanken, diese Logik machen wir uns alle selbst klar, die Umwelt kann helfen, kann fragen, aber wirklich zu verstehen bedeutet immer, es selber zu machen. Das macht das Kind im dritten Lebensjahr ganz aus sich selbst heraus. Alles, was das Kind vorher erlebt hat, hat es vergessen, das ist die Amnesie vor dem ersten Ich-sagen. Unser bewusstes Gedankenleben reicht nur bis zu unserer ersten Erinnerung. Aber ab da halten wir den Identitätsfaden im Denken, der „Ich-bin-Ich-Gedanke“ ist ab dann immer dabei. Das ist die Steuerungszentrale.

•       Im 9. Lebensjahr – Erwachen auf Gefühlsebene: Ich fühle mich

Das gleiche Bedeutungsvolle passiert im 9. Lebensjahr mit dem Fühlen. Jetzt erwacht das Weltgefühl, die Kinder erfühlen den Gedanken ihres Ich. Dieses „Ich bin Ich“ zu fühlen, bedeutet Einsamkeit, Einmaligkeit. Fast jedes Kind stellt die Frage:

Bin ich wirklich das Kind meiner Eltern oder bin ich vielleicht adoptiert?

Denn sie fühlen sich missverstanden, alleine gelassen, ausgegrenzt. Deshalb ragen Drogensucht, Internetsucht, aggressives Verhalten, Depression in dieses 9. Lebensjahr herunter.

•     Im 16. Lebensjahr – Erwachen im Willen: Ich will mich

Im 16. Lebensjahr gibt es im Selbstbewusstsein noch mal eine Revolution, weil jetzt der Wille dazu kommt. Manche Jugendliche erleben es wie einen Schock: „Ich bin für mich selbst verantwortlich.“ Bis jetzt konnte man die Verantwortung noch delegieren, auf das Umfeld, die „blöde Familie“. In der Pubertät lehnt man die Verantwortung meist ab, aber jetzt ist man ein junger Erwachsener. Man erlebt den eigenen Willen als Teil der eigenen Identität. „Ich denke mich nicht nur, ich fühle mich nicht nur, sondern ich bin für mich selbst verantwortlich.“ Dann erwacht der Idealismus:

Wofür will ich verantwortlich sein, für welche Werte will ich mich einsetzen?

Man sucht Vorbilder, überlegt, welchen Beruf man ergreifen möchte etc. Diese drei Ich-Erfahrungen sind dennoch alle vorläufig.

•      Vom 22. bis 24. Lebensjahr – Suchen eines festen Bezugspunktes

Normalerweise beginnt es erst vom 22. bis 24. Lebensjahr, dass der junge Mensch auf neue Art fragt: Wer bin ich?

Jetzt ist es die Frage nach dem ewigen Ich, die man so klar stellt, dass man sie bewusst fassen und verfolgen kann. Später ist es so, dass man angeregt durch Lebenskrisen, Begegnungen, auch durch spirituelle Krisen diese Frage immer wieder stellt. Bei der zweiten Geburt bestimme ich selbst im Denken, welchem Wertekontext ich mich mit meinem Ich widmen möchte. Um ein Beispiel zu nennen:

Welche Art Mensch möchte ich werden?

Was ist eigentlich menschlich?

Es gibt dabei drei grundsätzliche Ideale:

  1. Wichtig unter Menschen ist, dass es ehrlich zugeht, dass man sich darauf verlassen kann, dass der andere einen nicht anlügt. Das ist das Ideal der Wahrheit.
  2. Das zweite Ideal ist die Liebe, dass man auch die Schönheit dieser Beziehung fühlt.
  3. Und das dritte ist die Freiheit, dass jeder sich frei entscheiden kann, wie er/sie leben will; dazu gehört auch, den anderen frei zu lassen.

Geisteswachheit durch Ideale

Diese drei Kernideale kann man anstreben, und dann ist die weitere Biografie der Ort, wo sich diese Ideale realisieren. Jeder Tag ist eine neue Aufforderung, ehrlich, liebevoll, freilassend und selbstbestimmt zu sein. Jeden Abend kann man eine kleine Revue machen:

Wie war das heute?

Habe ich doch wieder eine kleine Verlegenheitslüge gebraucht oder geschwiegen, wo ich hätte was sagen sollen?

Man hat somit einen festen Bezugspunkt gefunden, nämlich selbstgewählte Ideale, welche man dann in allen Lebenslagen evaluiert. Die Konzeption dieser zweiten Geburt ist das Fassen der Idee und die Realisierung ist quasi die Embryonalentwicklung. Bis zum Tod kann man das dann täglich üben, um dieses „Kind“ der Geisteswachheit beim Sterben mit über die Schwelle zu nehmen und diese auch „drüben“ bewahren zu können. Das bedeutet, dass man sich in der nachtodlichen Welt bewusst und wach halten kann.

Physische und ätherische Biografie

Insofern kann man unter diesem Aspekt der ersten und zweiten Geburt die menschliche Biografie als Ganzes wie zweifach betrachten:

  • Einmal die physische Biografie – der Körper baut sich auf, hat seine beste Zeit, gefolgt von einer Phase der Involution und zuletzt stirbt er.
  • Der ätherische Aspekt der Biografie ist, dass man heranwächst, sich entwickelt, und ab einem bestimmten Zeitpunkt geistig die weitere Entwicklung in die eigenen Hände nimmt, die eigene Identität bestimmt und diese durch den Tod trägt.

Das bildet die individuelle Voraussetzung für das nachtodliche Leben und die Vorbereitung der nächsten Inkarnation auf der Erde. Denn wenn man einmal wirklich begriffen hat, wie defizitär der Mensch wirklich ist und wie wenig wir in einem Erdenleben Mensch werden können, kann man nicht daran zweifeln, dass die Wiederverkörperung eine Notwendigkeit ist. Es braucht individuell unterschiedlich Zeit, bis sich der Mensch selbst zum Menschen macht. Das ist auf große Zeiträume angelegt.

Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. Und 14. März 2020


[1] Vorliegender Text ist der 2. Teil einer Zusammenfassung von Christine Pflug eines online-Vortrages von Michaela Glöckler, gehalten auf einem webinar am 13./14. März 2020, veranstaltet von der BVBA (Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie www. biographiearbeit.de), an dem über 100 Teilnehmer*innen zuhörten. Der Titel hieß "Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis".

BIOGRAFISCHE ENTWICKLUNG IN JAHRSIEBTEN[1]

Wie sieht die Entwicklung des Menschen in Jahrsiebten aus?

Wie können wir in der Biografie mit ihren Gesetzen in jedem Lebensalter neue Aspekte unserer Identität erüben und erfahren?

Körperlich-seelische Reifungsschritte

Die menschliche Entwicklung hat Gesetze, die die körperliche, seelische und geistige Reifung bestimmen. Dabei kommt der Entwicklung des menschlichen Willensvermögens für die Bewältigung der Biografie eine besondere Bedeutung zu.

•       0 bis 7 Jahre

Wenn wir bei der Geburt beginnen, sind die ersten sieben Lebensjahre stark geprägt durch die Nachahmung. Die Kinder sind von sich aus aktiv. Dieser Wille folgt den Sinnen: Was die Kinder sehen, das ahmen sie nach. Deshalb wird diese Phase „sensomotorische Entwicklung“ genannt.

•       7 bis 14 Jahre

Ganz anders ist es zwischen 7 und 14 Jahren, wenn es auf die Pubertät zugeht. Da folgt der Wille nicht mehr den Sinnen, sondern wird abhängig von dem in Entwicklung begriffenem Gefühlsleben. Man macht, wozu man Lust hat und wofür man sich begeistert. Wohl dem, der aus Freude und Liebe zu einem Erwachsenen, dem Lehrer oder der Lehrerin, lernt und sich anstrengt. Die Liebe ist das einzige Gefühl, das frei lässt, Angst und Pflicht dagegen binden und zwingen.

•       14 bis 21 Jahre

Zwischen 14 und 21 Jahren folgt der Wille der Einsicht und den eigenen Gedanken. Jetzt machen die Jugendlichen die Dinge, die sie selber gut finden, die sie einsehen, und man muss ihnen als Erwachsener alles sehr gut erklären. Wirklich einsichtsfähig ist man erst ab 16 Jahren. Dann ist man selbstgesteuert, vorher ist man sensorisch- und sympathiegesteuert. In diesen Phasen entwickelt sich der Körper, und zwischen 18 und 22 sind wir ausgewachsen.

Seelische Reifungsschritte

Jetzt kommen nicht mehr die Gesetze der körperlichen Reifung, sondern der seelisch-geistigen Reifung.

•       21 bis 28 Jahre – Empfindungsseele

In dem Jahrsiebt zwischen 21 und 28 fühlt sich dieses mündige und vorläufige Ich verant­wortlich und arbeitet daran, sein Denken und Fühlen zu kontrollieren. Das Ich will sich in der eigenen Seele beheimaten und auskennen lernen. Rudolf Steiner nennt diese Epoche Empfindungsseele – man möchte die Welt gerne empfinden und erleben. Deshalb ist diese Phase geprägt von einer Sehnsucht nach möglichst viel Begegnung. Es ist ideal, wenn die jungen Menschen viel Auslandserfahrung, Menschen- und Arbeitserfahrungen sammeln können, bevor sie sich für ein Berufsfeld entscheiden. Das Ich möchte sich in seiner eigenen Selbsterfahrung realisieren und erleben.

•       28 bis 35 Jahre – Verstandes- und Gemütsseele

Das ändert sich ganz natürlich zwischen 28 und 35 Jahren. Dann kommt eine andere Sehnsucht, nämlich nach sozialer Verantwortung, etwas zu tun, weil es nützlich ist und gebraucht wird. Wer Familie hat in diesem Alter, ist in der Lage, sich selbst um der anderen willen zurückzunehmen. Oder man setzt sich voll im Beruf ein. Auf eine Weise genießt man, dass man jetzt die objektiven Gesetze dieser Welt und der Arbeit wichtig nehmen kann und nicht ständig nach sich selber fragen muss. Rudolf Steiner nennt das Verstandes- und Gemütsseele. Der Verstand wird jetzt führend, und wenn man in der Empfindungsseele seinen Lebenshunger stillen konnte, dann leidet man in dieser Phase keinen Verzicht, sondern hat Freude daran, sich den objektiven Weltverhältnissen zuzuwenden und sich in ihren Dienst zu stellen.

•       35 bis 42 Jahre – Bewusstseinsseele

Zwischen 35 und 42 kommt ein dritter Schritt im Seelenleben, nach Empfindung und Verstand kommt jetzt Bewusstsein. Es ist ein höheres Bewusstsein, und gerade jetzt in der Corona-Krise kann man unmittelbar verstehen, dass wir nicht nur unser persönliches Schicksal und unsere Liebhabereien haben, auch nicht nur unsere Arbeit, Familie und unseren Schicksalsumkreis, sondern dass wir ein Teil der ganzen Menschheit sind.

Habe ich eine Bewusstheit von der Menschheitsentwicklung?

Goethe sagte in diesem Alter: „Wer nicht von 3.000 Jahren sich kann Rechenschaft ablegen, bleibt im Dunkel unerfahren, mag von Tag zu Tage leben …“ Goethe wollte 1.500 Jahre zurück und 1.500 nach vorne blicken – da bekommt man eine Ahnung, wo man in der Gegenwart steht, was man heute zu tun hat, damit die Menschheit in 100 Jahren woanders steht. Man bekommt eine Bewusstheit von der eigenen Verantwortung für das große Menschheitsganze.

Deswegen ist diese Lebensphase nicht unkritisch. Auf der einen Seite kann man diese Bewusstseinsseele als kalt erleben, weil man sich auch in diesem großen Ganzen und Weltgetriebe mit allen Verrücktheiten, Korruptionen, Gewalt, immer wieder Kriegen usw. verlieren kann, auf der anderen Seite kann einen eine Liebe und Wärme ergreifen, zu diesem großen Ganzen etwas Sinnvolles beizutragen. Dann ist man mit seinem Ich in der Seele erst wirklich ganz beheimatet, man hat seelischen Anschluss an die Geschichte, an die Kultur, an die Menschheit, an viele große Sinnfragen gefunden. Erst dann ist man seelisch wirklich reif.

Geistige Reifungsschritte

Danach kommen wieder andere Gesetze zum Tragen: diejenigen der geistigen Reifungs-schritte. Diese Phase ist von Lebensmittekrisen und anderen Lebenskrisen gekennzeichnet, weil die geistige Entwicklung die Krise braucht, damit sie überhaupt stattfinden kann. Wenn man seelisch stabil und ausgereift ist, besteht die Gefahr stehen zu bleiben, seine Macht weiter auszubauen, seinen Besitzstand zu wahren, sich zu etablieren, man will es gemütlich haben. Man kann mit seinem Ich im Seelisch-Körperlichen stecken bleiben und in eine Sackgasse geraten. Der Aufbruch in die geistige Entwicklung ist der Aufbruch in die wahre Autonomie.

•       42 bis 49 – Entwicklung des Geistselbst

Zwischen 42 und 49 ist es oft so, dass man vor neue, auch berufliche Entscheidungen, gestellt wird und den Eindruck hat: Dieser Aufgabe stelle ich mich, weil sie gebraucht wird. Wenn man die Bewusstseinsseele entwickelt hat, kann man jetzt von sich selber absehen. Geistig bedeutet „außerkörperlich“, die Seele ist noch mit dem Körper verbunden, wir fühlen unseren Körper, aber unser Denken ist eine außerkörperliche Instanz – das nennen wir „Menschengeist“ (in dieser speziellen Zeit von 42-49 wird diese Phase „Geistselbst“ genannt).

Es ist ein Evidenzerlebnis zwischen 42 und 49, dass man sich Dinge zutraut, die man sich vorher nicht zugetraut hätte. Dazu gehört, Herausforderungen anzunehmen, auch den Mut zu haben, versagen zu können, dank der Haltung: „… dann geht es eben schief, aber die Chance, dass es klappt, ist auch da.“ Solange man in der körperlichen und seelischen Reifung ist, besteht die Angst zu versagen, aber in diesem Alter kann man davon absehen. Man hat eine Emanzipation vom Seelischen und Körperlichen erreicht und kann die eigene Seele und den eigenen Körper mehr als ein Instrument für den selbstbestimmten Geist erleben. Es ist die Selbstlosigkeit, die in diesem Alter entwickelt werden kann.

•       49 bis 56 – Erwachen der Urteilsreife

Zwischen 49 und 56 kann die geistige Reifung sich dahingehend weiterentwickeln, dass man eine neue Empathie für die Menschen im eigenen Umkreis hat. Es ist die Fähigkeit spiritueller Empathie, man kann sich in Menschen hineinversetzen und kann Dinge vom Standpunkt des anderen aus beurteilen. Wie oft passiert es leider, dass gesagt wird: „Ich an deiner Stelle würde das so und so machen, meine Erfahrung war so und so … “. Aber das darf nicht der Maßstab sein, sondern man muss vom anderen ausgehen.

Die wirkliche Reife zum Urteilen erwacht zwischen 49 und 56, man kann im Fühlen und Denken von sich selbst absehen. Man entwickelt eine soziale Urteilskompetenz und Milde, die Dinge beurteilen kann, ohne sie zu verurteilen. Sympathien und Antipathien werden zu Wahrnehmungsorganen umgewandelt für das, was den anderen betrifft. Das Ideal ist, dass der andere durch die Fragen, die man ihm stellt, sich so angesprochen fühlt, dass er durch sich heraus die Antwort findet.

•       56 bis 63 – geistige Überschau

Der dritte Schritt in der geistigen Reifung zwischen 56 und 63 ist eine geistige Überschau. In der deutschen Sprache gibt es dafür das Wort „Güte“, das ist eine geistige Kompetenz, in der man wirklich versteht, was das „Gute“ ist. Goethe schrieb einmal seiner geliebten Charlotte von Stein „Ich fühlte mich in deinen Augen gut“. Diese Ausstrahlung der Güte entwickelt sich in diesem Abschnitt als eine bewusste Kompetenz, wenn man an seiner geistigen Reifung arbeitet. Man kann so von dem eigenen Willen absehen, dass man für den anderen tun kann, was der wirklich braucht – das ist sozusagen brüderlichstes Beistehen. Die Tugenden dieser geistigen Reifezeit, Selbstlosigkeit, Milde und Güte, sind die drei Kerneigenschaften des Alters.

•       Ab 63 Jahre – leben mit den Konsequenzen

Nach 63 Jahren lebt man mit den Konsequenzen der biografischen Entwicklung, die bis dahin stattgefunden hat. Es gibt aber viele Möglichkeiten der Nachreifung, die sind individuell und verschieden. Grundsätzlich gilt es, da anzufangen, wo das Ich gerade biografisch steht. Wenn ein Mensch beispielsweise 50 Jahre alt ist und eine Willensschwäche hat, liegt für diese die Ursache im ersten Jahrsiebt. Er kann dann die altersentsprechende Fähigkeit der Milde üben und mit einer Willensübung verbinden. (Bewusste Wiederholung stärkt den Willen, unbewusste Wiederholung das Gefühl.) Grundsätzlich aber ist der Mensch ab 63 Jahren mit seiner physischen, seelischen und geistigen Entwicklung in der Lage, nun sein Leben ganz frei zu gestalten.

Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. Und 14. März 2020


[1] Vorliegender Text ist der 2. Teil einer Zusammenfassung von Christine Pflug eines online-Vortrages von Michaela Glöckler, gehalten auf einem webinar am 13./14. März 2020, veranstaltet von der BVBA (Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie www. biographiearbeit.de), an dem über 100 Teilnehmer*innen zuhörten. Der Titel hieß «Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis».