Herzlich Willkommen!

Demenz

Aus Geistesforschung
Version vom 24. März 2025, 16:07 Uhr von Katharina Offenborn (Diskussion | Beiträge) (Übertragen von Inhalten von Anthroposophie-lebensnah)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Demenz – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

DIE PHASEN DER DEMENZERKRANKUNG

Wie können die Phasen der Demenzerkrankung beschrieben werden?

Wie lassen sich die Symptome unter menschenkundlichen Gesichtspunkten erklären?

Demenzerkrankung als schrittweiser Sterbeprozess

Das Einmalige und Besondere an der Demenzerkrankung ist, dass sich im Laufe dieser Erkrankung ein Sterbeprozess vollzieht, der sich über lange Zeit erstrecken kann. Diese Erfahrung ist der Menschheit erst in unserer Zeit richtig zugänglich geworden. Die Betroffenen sind immer weniger in der Lage, sich in der äußeren Welt zurechtzufinden. Wenn sie aber adäquat begleitet und unterstützt werden, können sie sich in der geistigen Welt, in die sie langsam hineinwachsen, umso besser orientieren.

Diese Zusammenhänge der sogenannten „Exkarnationspädagogik“ müssen dringend detaillierter erarbeitet und kulturell zur Verfügung gestellt werden. Entscheidend ist, dass wir über die verschiedenen Phasen dieses Krankheitsbildes und die auftretenden Symptome Bescheid wissen und mit Blick auf den ganzen Menschen begreifen, was geschieht.

1. Phase – Verlust der Beziehung zu Raum und Zeit

Die ich-geführte Gedankenbeziehung zu Raum und Zeit lässt nach. Die Ich-Organisation löst und befreit sich zunehmend vom Leib, interessiert sich immer weniger für ihn, denn sie versucht sich schon an der Schwelle zu orientieren.

2. Phase – Kontrollverlust über die Gefühle

Nun lockert sich der Astralleib, was in einer großen Verwundbarkeit und Sensibilität resultiert. Die Nerven und Gefühle liegen blank und machen den Betroffenen sehr verletzlich. Das Ich ist noch nahe am Körper, hat noch nicht vollkommen die Orientierung verloren. Noch kann der erkrankte Mensch spüren, dass er immer weniger der oder die ist, der oder die er oder sie war. Mit der emotionalen Verunsicherung gehen Angst, Misstrauen, Aggression und ein großer Bewegungsdrang einher. Jetzt kommen all die ungebändigten Emotionen, alles, was krampfhaft niedergehalten wurde, an die Oberfläche, eben, weil es zwanghaft niedergehalten und nicht durch reife seelische Führung verwandelt worden war. Das geschieht insbesondere bei Menschen, die sich selbst im Leben sehr unter Druck gesetzt haben, wie es ja oft vorkommt. Jetzt erleben andere, was man selber nicht erleben wollte, was man zu kontrollieren und zu unterdrücken versuchte.

Damit können die Betroffenen kaum umgehen und projizieren ihre Emotionen nach außen, indem sie die Menschen um sich herum beschuldigen. Das pflegende Umfeld sollte solche Projektionen liebevoll zurück spiegeln und unter Einsatz der eigenen astralen Kräfte stellvertretend für den Kranken liebevoll stützend und kompensierend damit umgehen. Da gibt es viele Möglichkeiten, die man in unseren Ausbildungen erlernen kann.

3. Phase – Verlust des wachen Bewusstseins

In der nächsten Phase löst sich der Astralleib ganz heraus, die Lust zu gehen und wegzulaufen hört auf. Die Kranken werden gebrechlich und pflegebedürftig. Sie gleiten in einen pflanzenartigen Dämmerzustand. Jetzt sind nur noch physischer Leib und Ätherleib inkarniert. Das Großartige dabei ist: Auch wenn Menschen schon ganz weg zu sein scheinen, gibt es immer wieder Momente, in denen sie nochmals ganz da sind.

Ich habe das selbst des Öfteren erleben dürfen, wenn ich demente Freunde besuchte, auch bei einem Psychiater, den ich noch kurz vor seinem Tod im Krankenhaus besuchte und der schon ganz weg war. Ich setzte mich einfach an sein Bett und erzählte ihm aus seinem Leben, von unseren Begegnungen, sprach bewusst das Ich und das Fühlen im Außerkörperlichen an, das ja deutlich wahrgenommen werden kann. Ich unterhielt mich einfach mit ihm und plötzlich fuhr er in seinen Körper hinein, machte die Augen auf und bewegte die Lippen, um etwas zu sagen. Sein Blick traf mich ins Herz, so lebendig erschien er mir. Das sind sehr besondere Momente, wenn man erleben kann, wie die sinnlich wahrnehmbare, gebrechliche Erscheinung für kurze Zeit vom vertrauten Wesen des Menschen durchdrungen wird.

4. Phase Eintreten des Todesaugenblicks

In der letzten Phase tritt irgendwann der Todesaugenblick ein, der geheiligt und für jeden Menschen im Schicksal vorbestimmt ist.

Vgl. Vortrag über Demenz im Hombrechtikon in der Schweiz 2007

WÜRDIGE PFLEGE DEMENZKRANKER MENSCHEN

Wie kann man Demenzkranken helfen, beim Sterbeprozess ihre Menschenwürde zu bewahren?

Inwiefern kann das anthroposophische Menschenbild dabei hilfreich sein?

Angemessenen Umgang mit demenzkranken Menschen erlernen

Das anthroposophische Menschenbild gibt uns die Möglichkeit, das Krankheitsbild der Demenz sehr genau zu beschreiben: Die Frühsymptome entstehen dadurch, dass sich die ich-geführte und durch ätherische Gedankenaktivität getragene, bewusste Reflektion am Gehirn nicht mehr genügend vollziehen kann. Um damit angemessen und menschengemäß umzugehen, bieten wir in der anthroposophischen Pflegeausbildung extra Lehrgänge für Kranken- und Altenpflege im hohen Alter an.

Dazu gehört, dass die Pflegenden lernen sich bewusst zu werden, dass beim älteren Menschen die Fähigkeit zu reflektieren und Wahrnehmungen zuzuordnen zwar nachlässt, dass aber sein seelisch-geistiges Vermögen trotzdem erhalten bleibt und außerkörperlich vorhanden ist.

Den Patienten als ganzen Menschen sehen

Unsere Erfahrung zeigt, dass bei den Betroffenen Ruhe eintritt, wenn der Pflegende seinen Patienten als ganzen Menschen sieht – als wäre er unverletzt: Was äußerlich als Schwäche, als Autonomiedefizit und Mangel in Erscheinung tritt, wird durch die körperlich-seelische Bewusstseinsarbeit des Pflegenden ergänzt. Ein älterer Mensch, der daran verzweifelt, dass er nicht mehr so kann, wie er einmal konnte und noch möchte, spürt das und fühlt sich dadurch in seinem unzerstörbaren Wesen wahrgenommen und aufgefangen. Eingehüllt in das Bewusstsein seiner Unversehrtheit, kann er seine Restfunktionen viel besser einsetzen. Um diese Entwicklungs- und Sterbezusammenhänge zu wissen, kann uns helfen, Demenzkranke würdig zu begleiten – gleichsam ihre geistige Würde wieder herzustellen – einfach dadurch, dass wir wissen, was geschieht.

An der Reaktion eines Demenzkranken kann man immer sofort ablesen, ob man ihn gestresst, verängstigt, deprimiert oder verunsichert hat. Das alles kann ja ganz schnell passieren, denn wenn das Ich sich gelockert und losgelöst hat, haben wir es mit dem nackten Astralleib zu tun, der zwar noch eine gewisse Ich-Verbundenheit hat, aber über sein Erleben nicht mehr genügend reflektieren kann.

Patient lebt zwischen Verstehen und Angst

Als Pflegender muss ich mir klar machen: Ich lebe mich ein in das Leben eines Menschen, der langsam auf die Todesschwelle zugeht und dessen Ich bereits zunehmend in der geistigen Welt lebt. Das Grandiose ist, dass man bei Bettlägerigen für Momente erleben kann, dass das Bewusstsein noch einmal wie „hereinschießt“ und von ihnen ganz bedeutende Dinge gesagt werden, manchmal nur zwei Worte.

Meine Mutter saß im letzten halben Jahr einmal morgens glückstrahlend im Bett, als die Pflegerin hereinkam, und sagte zu ihr: „Jetzt weiß ich alles. Grandiose Überschau. Alles ist wahr.“ Eine halbe Stunde später reagierte sie total aggressiv, weil man ihr die Nägel schneiden wollte und sie Angst hatte vor dem, was da passierte.

Der Verstehende und der Ängstliche sind ein und derselbe Mensch. Der Pflegende ersetzt ihm sein Ich, das nicht mehr am Physischen interessiert ist, sondern jetzt mehr im Umkreis lebt und mit dem Hineinwachsen in die geistige Welt beschäftigt ist. Je mehr man sich als Pflegender dessen bewusst ist, kann man die Gesten des Raumschaffens, des Umhüllens und des vorsichtigen Wahrnehmens aufbringen. Die Haltung gegenüber dem Betroffenen – „Dein Wille geschehe“ – soweit dies möglich ist, allein diese Haltung beruhigt ihn und gibt ihm Sicherheit.

Kunst als Tor zur geistigen Welt

Durch Sprache und Musik pflegt man auf gute, liebevolle, künstlerische Art die Organe des alternden, auf den Tod zugehenden Menschen. Über Worte und Töne erlebt er unmittelbar den Zusammenklang mit der Erde. Die Seele nimmt alles Künstlerische wie Konzerte, gute, starke Musik, mit über die Schwelle. Sie kann mit „ihrer“ Musik noch mitschwingen. Alles, was ein Mensch auf Erden gehört hat, verbindet ihn in der Läuterungszeit der ersten 30 Jahre nach dem Tod noch mit der Erde.

Wenn die agitierte Phase abebbt, wenn Sprache und Bewegung nachlassen und das Dasein des Sterbenden mehr ins Ätherisch-Pflanzliche übergeht, weil der Astralleib sich auch schon gelöst hat, kann man sich bewusst machen, dass Ich und Astralleib schon drüben sind, dass er schon mit Seelen drüben kommuniziert. Manchmal wird auch davon erzählt, wird von Begegnungen mit Verstorbenen berichtet. Es ist wichtig, sich diesen Prozess in seiner ganzen Schönheit vorzustellen und sich darüber zu freuen, dass man den physischen Körper noch pflegen darf.

In unserer materialistischen Zeit ist es enorm wichtig, dass wir Menschen das Geheimnis des Todes als Geistgeburt immer sorgfältiger studieren und dieses Tor zur geistigen Welt wieder öffnen lernen. Denn das ist die Mission dieser Kranken: Sie stellen allen Erdensinn in Frage und konfrontieren uns mit dem Geistessinn.

Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, gehalten am Internationalen Pflegekongress in Dornach am 9. Mai 2008

DIE POSITIVE BOTSCHAFT DER DEMENZ

Was ist die Botschaft der Demenz aus anthroposophischer Sicht?

Wenn man das Krankheitsbild der Demenz als langsamen Exkarnations- und Sterbeprozess begreift, als ein bewusstes Sich-auf-die-Schwelle-Zubewegen, ist es nicht schwer, die dafür nötige Geduld aufzubringen und immer wieder innere Zwiesprache mit dem Erkrankten zu halten. Dann begreifen wir auch, wie viel es für ihn bedeutet, dass ihm von Seiten der Pflegenden die Betreuung des leiblichen Anteils abgenommen wird, während Seele und Geist schon ganz andere Erfahrungen machen. Im Sterben kommt beides wieder zusammen.

Demenz als Stehen an der Schwelle begriffen

Für mich ist das anthroposophische Verständnis der Demenz ein tiefer Trost, weil es uns die Möglichkeit gibt, erstens exzellent zu behandeln, was noch behandelbar ist, zweitens vorzubeugen, wann und wo immer man es hören will, und drittens die Schwellensituation so zu verstehen, wie sie heute verstanden werden muss: Demenzkranke sind Propheten und Signalträger, die uns Zeichen und Hinweise geben, dass dieses Stehen-an-der-Schwelle, dieses Sich-Orientieren-an-der-Schwelle genau das ist, worauf es heute ankommt.

Bei allem Mitgefühl für den tiefen Schmerz der Angehörigen sollten wir die Inspirationen dieser Erkrankung im Hinblick auf einen optimalen pflegerischen Umgang aufgreifen. Wir sollten aber auch die positive Botschaft für die heutige Zeit mit aufnehmen.

Ich wünsche mir, dass Sie alle durch ein umfassendes Verständnis dieser Erkrankung positive und kulturell wertvolle Signale zu setzen helfen, damit die Angst vor Demenz, die so viele Menschen quält, schwinden kann, und dass zugleich der Mut wächst, ihr vorzubeugen, sodass rundum Positives daraus entstehen kann.

Vgl. Vortrag über Demenz im Hombrechtikon in der Schweiz 2007

DEMENZ UND MENSCHENWÜRDE

Wie müssen wir uns in Pflege und Medizin, aber auch in Pädagogik und Sozialarbeit orientieren, damit wir die Würde des Menschen, auch wenn er exkarniert und „erden-untauglich“ wird, noch wahren können, weil uns die Entwicklungszusammenhänge im Lichte der Spiritualität klar vor Augen stehen?

Den Verlust würdig kompensieren

Dieses Thema möchte ich am Krankheitsbild der Demenz näher erläutern. Demente Menschen leben ein „gültiges“ Leben, das man keinesfalls als „nicht mehr lebenswertes Leben“ ansehen darf, das aber der Würdigung seitens der Mitwelt bedarf – auch oder gerade, weil die Betroffenen mit ihrem Geistbewusstsein aus dem zeitgebundenen Leben bereits mehr oder weniger stark herausgetreten sind. Denn wenn das menschliche Ich exkarniert und sein Verhaftet-Sein mit dem Körper lockert, wenn es sich herauszieht und rein spirituell orientiert, tritt dieser Prozess im Physischen als Kontroll- und Kompetenzverlust in Erscheinung.

Damit die Menschenwürde der Betroffenen trotzdem aufrechterhalten bleibt, muss das Defizitäre vom Umkreis ausgeglichen und substituiert werden durch pflegerische Kompetenz und Kontrolle, sprich: durch einen würdigen Umgang vonseiten der Menschen, die diese Verlustsymptomatik wahrnehmen. Je besser, je intimer sie wahrnehmen, umso kompetenter und professioneller können sie ersetzen, was verloren gegangen ist.

Wenn der Mensch Geist wird

Auf der spirituellen Ebene tritt der Exkarnationsprozess, die Loslösung vom Körper, als geistiges Wachstum in Erscheinung. Novalis, der jugendliche Dichter und Christusverkünder, hat das treffend auf den Punkt gebracht, indem er sagt:

„Wenn ein Geist stirbt, wird er Mensch.

Wenn der Mensch stirbt, wird er Geist.“

Sehr oft kann man beobachten, wie die Betroffenen, seien es nun Demente oder seien es Sterbende, hin- und herpendeln zwischen den Welten, wie sie manchmal schon ziemlich weg und plötzlich wieder richtig „da“ sind. Das ist wie ein rhythmisches Geschehen: Manchmal sind sie für Minuten voll präsent und dann wieder weit weg. Wenn dann ganz nahestehende Menschen auf Besuch kommen, die der Demente sehr geliebt hat, spürt man förmlich, wie die Herzensverbindung den weit entfernten Teil wieder hereinzieht, wie er durch die Augen strahlt und sich dann wieder löst. Man kann deutlich empfinden, wie wieder Leben durch das Tor des Lebens in das Herz und in die Atmung, in das rhythmische, atmende, mittlere System rinnt.

Physische und Geistgeburt im Vergleich

Warum ist das Warten auf die Geistgeburt trotzdem oft so schwer für uns?

Dazu vorweg ein paar Fakten:

  • Obwohl auch die physische Geburt eines Menschen einhergeht mit einer Bewusstseinsverdunkelung und einem totalen Kompetenzmangel, haben wir meist größte Empathie, wenn so ein hilfloses, extrapyramidal zappelndes, strampelndes, zitterndes, enorm reagibles Wesen plötzlich unter uns erscheint: Wir sind bereit, ihm jegliche Unterstützung zu geben, die es braucht. Die Erwachsenenwelt scheut sich nicht, fünfzehn, zwanzig, manchmal sogar fünfundzwanzig Jahre für diesen Pflegling zu sorgen – bis schon fast ein Viertel seines Lebens oder mehr um ist.
  • Andererseits empfinden wir es als Belastung, wenn nicht sogar als Zumutung, wenn bei der Geistgeburt eines Menschen fünf oder sechs, acht Jahre oder zehn, und in wenigen Ausnahmen auch zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre „die Brut im Nest bleibt“, bevor sie sich endgültig ins Geistige verabschiedet.

Das Kinderaufziehen mag rein volkswirtschaftlich betrachtet in Deutschland um 10% billiger sein, aber für den Welt-Durchschnitt gilt das nicht: Denn weltweit gibt es viele Milliarden Menschen – im Jahr 2007 gab es weltweit aber nur knapp 30 Millionen Demente. Das ist wenig, gemessen daran, dass jeder Mensch als hilfloser Säugling geboren wird, der in seiner Umgebung Stress verursacht, weil er Hilfe braucht. Ich möchte bezweifeln, dass der Aufwand für die Betreuung am Lebensanfang und am Lebensende ausgewogen ist, selbst wirtschaftlich gesehen. Zu sagen, ein dementer Mensch koste zu viel, entspringt einer volkswirtschaftlichen Denkweise, die genauso wenig zu vertreten ist wie all die geistlosen materialistischen Vorstellungen, die ihren Schatten auf die Demenz und die davon Betroffenen werfen. Man kann sie zwar verstehen, sie lassen aber die Würde des Menschen völlig außer Acht.

Würdige Unterstützung am Lebensende

Die Geistgeburt mit ihren hochindividuellen Variationen erscheint uns möglicherweise als so viel beschwerlicher als die physische Geburt, weil wir so wenig darüber wissen, was uns am Lebensende erwartet und was der Mensch dann braucht. Deshalb formulierte Rainer Maria Rilke ein zutiefst menschliches Anliegen in berührenden Worten als Gebet an Gott:

„O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. -

Das Sterben, das aus jenem Leben geht,

darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“

Das ganze Leben ist erfüllt von Liebe, Sinn und Not und läuft letztlich auf die bereits erwähnte Geistgeburt hinaus. Jeder Mensch findet, wenn ihm genügend Unterstützung gewährt wird, seine individuelle Todesart, die auf natürliche Weise das physische Leben begrenzt. Und jeder Tag bis dahin zählt, unabhängig davon, ob und wie viel der Mensch noch im vergänglichen Erden-Punktbewusstsein verweilt oder ob er sich damit begnügt, mit dem jenseitigen Bewusstsein seinen Leib und die anderen Menschen liebevoll von oben schauend zu erleben.

Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, Dornach, 09.05.2008

SCHICKSALSWÜRDE BEWAHREN HELFEN

Wie kann man die Schicksalswürde hilfebedürftiger Menschen wahren?

Schicksalswürde wahren

Das Wahren der Schicksalswürde eines anderen – um diese wertvolle Kompetenz auf den Punkt zu bringen – appelliert an die Fähigkeit, die Würde eines Menschen auch dann sehen und wahren zu können, wenn er äußerlich Symptome und Verhaltensweisen zeigt, die dem normalen durchschnittsbildungsbürgerlichen Niveau nicht mehr entsprechen.

Was wir unter „normal“ verstehen – dass jemand sein Leben meistert, dass er alles zusammenhalten kann, über alles die Kontrolle hat – entspricht unserem Freiheitsideal. Wenn man die Menschenwürde einzig und allein an diesem Ideal der eigenen Autonomie festmacht, wird diese Würde nur einer winzig kleinen Minderheit zugesprochen. Dann sind alle Abhängigen – und das ist heute schon ein Drittel der Menschheit – von diesem Ideal ausgeschlossen. Das kann es aber nicht sein.

Ideale sind Grundorientierungen, sind Richtungen, in die der Mensch strebt. Wenn sie einseitig werden, sind sie immer falsch. Es ist wahr: Ohne Freiheit, ohne Autonomie, ohne Respekt vor der Autonomie des anderen und auch ohne Ehrlichkeit, ohne Wahrhaftigkeit im Zwischenmenschlichen wird das Leben würdelos, schwindet die Menschenwürde dahin. Das Gleiche gilt, wenn wir kein liebevolles Interesse bzw. liebevolles Verständnis für schwierige Situationen anderer Menschen aufbringen.

Ausgewogenheit zwischen Wahrheit, Liebe und Freiheit

Es braucht immer eine Art Gleichgewicht zwischen drei Idealen unterschiedlicher Art:

  1. Freiheit für das Wollen: dass man tun und umsetzen kann, was man will
  2. Liebe für das Fühlen: dass man liebevolles Verstehen aufbringt
  1. Wahrheit für das Erkennen: dass man das Wahre ausspricht

Das sind die Grundtugenden unserer menschlichen Natur. Wenn wir sie einigermaßen im Blick haben sowohl in dem, wonach wir individuell streben, als auch im sozialen Umgang miteinander, wird die Schicksalswürde immer gewahrt werden, in jeder Konstellation – auch bei Menschen, die hilflos sind, sei es nun im Kindesalter oder im späten Erwachsenenalter, im altersdementen Zustand.

Es geht darum, das Bewusstsein so auszurichten und spirituelle, nicht an die Sinne gebundene Erkenntnismöglichkeiten zu entwickeln, damit Geist, Denken, Imagination, Vision, Vorstellung – wie ich diese geistigen Kompetenzen auch nennen mag – ersetzen und ergänzen, was die Augen nicht mehr sehen können. Dann kann man zu einem spirituellen Begreifen von Demenz sowie von jeglicher Behinderung kommen, dann kann man den Menschen wieder in seiner Ganzheit begreifen. Wer seine eigenen geistigen und sinnlichen Möglichkeiten gleichermaßen nützt, kann auch bei einem anderen das Geistige und Sinnliche wieder zusammen sehen und hat so die Möglichkeit spirituelles Begreifen zu üben.

Vgl. Vortrag „Schicksalswürde und spirituelles Begreifen der Demenz“, 19.2.2010

PERSÖNLICHE ERFAHRUNGEN

Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit der Demenzerkrankung gemacht?

Meine Mutter litt in den letzten sieben bis acht Jahren unter einem fast kompletten Raum- und Zeitorientierungsverlust, erkannte aber ihre Familienangehörigen, auch mich. Wenn man im Laufe eines Besuchs einmal kurz hinausging und wieder hereinkam, begrüßte sie einen, als wäre man ewig nicht dagewesen. Dabei war man gerade erst hinausgegangen.

Frühe intellektuelle Schulung

Meine Mutter war sehr intelligent, ihr Intellekt wurde früh geschult. Sie übersprang in sehr jungen Jahren drei Klassen und kam erst mit vierzehn auf die Waldorfschule. Ihre Mutter hatte Rudolf Steiner in Berlin gehört und wollte, dass ihre Tochter die neu aufgemachte Schule besuchte. Sie wurde dann während des Krieges nach Stuttgart auf die erste Waldorfschule geschickt, wurde dort zwei Klassen zurückgestuft und war dann die Jüngste. Sie fand das anfangs ganz schrecklich.

Zum Glück gefiel es ihr nach einem halben Jahr so gut an der Schule, dass sie nicht wieder zurück ging in die Berliner Schule, wo sich ihr Intellekt viel zu früh und viel zu schnell entwickelt hatte. Wenn die Intelligenz von Kindern zu früh beansprucht wird, verlassen ihre ätherischen Kräfte den Körper auch zu früh, noch bevor das Nervensystem in Ruhe ausreifen konnte. Weil ich wusste, wie meine Mutter aufgewachsen war, wusste ich auch, was sie möglicherweise erwartete. Sie hat jedoch ihr Leben lang anthroposophisch gearbeitet, weswegen ihre Erkrankung nicht ganz so schlimm verlief.

Durchgangssyndrom

Im letzten Jahr ihres Lebens stürzte sie und entwickelte ein Durchgangssyndrom – sie war ein einziges Verzweiflungsbündel, verstand gar nichts mehr und verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme. Ich bekam damals einen Anruf von meiner Schwester, die sie nicht sterben lassen wollte. Ich sagte zu meiner Schwester, die auch Ärztin war, das müsste sie mit dem Heimarzt am Bett selbst entscheiden. Sie sollten sich ans Bett stellen und Mutter fragen:

„Willst du jetzt gehen und sollen wir dir dabei helfen? Oder sollen wir dir eine Infusion legen, damit du nicht vertrocknest? Wenn du dich erholt hast, kannst du deinen Todeszeitpunkt selbst bestimmen.“

Die beiden riefen mich nach einer Stunde an und sagten, sie hätten ihr nochmals eine Infusion gelegt, weil sie am Bett begriffen hätten, was in Mutters Sinn war. Wenn man den Geist wirklich fragt, antwortet er auch. Sie hat sich wieder erholt, hat wunderbare Ostern gefeiert und sich nochmals an all ihren Enkeln erfreut.

Befreiendes Sterben

Anfang Mai bekam sie eine Bronchitis, die wir nur anthroposophisch behandelten, wie sie es immer wollte, und dann kam das Wunder: Sie müssen sich vorstellen, meine Mutter hatte fünf Töchter und einen Mann und keiner konnte sich um sie kümmern. Alle Töchter standen voll im Beruf. Als mein Vater die Pflege nicht mehr bewältigte, war klar, dass wir sie in ein Pflegeheim geben mussten. Wir trösteten uns damit, dass unsere Mutter nie jemandem hätte zur Last fallen wollen. Wir hielten uns an diesen Gedanken wie an einen Rettungsanker. Es erscheint ja immer grausam, wenn man die eigene Mutter in Pflege gibt. Deshalb hatten wir trotz allem ein schlechtes Gewissen und unser lieber Vater, der ebenfalls noch voll berufstätig war, auch.

Nun suchte sie ihren Todesaugenblick genau in der halben Stunde, in der mein Vater sie in der Mittagspause immer besuchte. Er kam ins Zimmer, sie strahlte ihn an und verdrehte dann plötzlich die Augen. Er nahm sie in die Arme, sie kam noch einmal zu sich, öffnete die Augen und sagte: „Das hast du aber gut gemacht!“ Zehn Minuten später machte sie ihren letzten Atemzug. Damit hat sie die ganze Familie von ihrem schlechten Gewissen geheilt.

Vgl. Vortrag über Demenz im Hombrechtikon, Schweiz 2007