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Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung

Aus Geistesforschung
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Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

EINLEITENDES ZUM THEMA GEMEINSCHAFT

Warum ist das Thema Gemeinschaft so bedeutsam für die heutige Zeit?

Was unterscheidet alte und neue Gemeinschaften?

Neue Kriterien für Gemeinschaftsbildung                                                               

Wo Menschen zusammenleben und -arbeiten, entstehen Familiengemeinschaften, Volksgemeinschaften, Berufsgemeinschaften, regionale Gemeinschaften, Arbeitsgemeinschaften, religiöse und kultische Gemeinschaften.

Die Befähigung zur Gemeinschaftsbildung war in vorchristlichen Zeiten noch stark von Herkunft und Familie, d.h. von Blutsbanden geprägt. Gegenwärtig sind es zunehmend Bilder und Urkunden, religiöse Werte, Ziele und Visionen, die Menschen begeistern, kulturell zusammenhalten und für gemeinsames Tun inspirieren.

Jeder Mensch, der sich in die Inkarnation begibt, ist ein „Licht, das in die Finsternis scheint“[1] und kann im Laufe der Entwicklung begreifen lernen, dass er oder sie ein Kind des Lichtes ist und dass man lernen kann, diese Tatsache als Botschaft in individualisierter Form durchs Leben zu tragen. Alle Lichtträger, alle „Christophore“, sind für diese Aufgabe prädestiniert, ganz unabhängig davon, wo sie sich befinden – selbst wenn man im Gefängnis ist. Aus dieser Kraft heraus können Erkenntnisgemeinschaften, Arbeitsgemeinschaften, kultische Gemeinschaften gebildet werden.

Gemeinschaftsbildung durch gemeinsame geistige Arbeit

In diesen Kontext passt aber auch, was Rudolf Steiner den „umgekehrten Kultus“[2] nennt, die Gemeinschaftsbildung, die durch gemeinsame geistige Arbeit entsteht. Hier steht die „lebendige Kraft, die wir hineinlegen in die Gestaltung der Ideen vom Geistigen“ im Mittelpunkt. Wird z.B. ein Patient, ein Krankheitsbild, eine Arzneisubstanz so betrachtet, dass alle Beteiligten bestrebt sind, das sinnlich Gegebene als Ausdruck übersinnlich-geistigen Kräftewirkens zu empfinden und zu erleben, dann wird das Sinnliche ins Übersinnliche hinauf erhoben und die Substanz des umgekehrten Kultus entsteht. Im Kultus offenbart sich Geistiges im Sinnlichen. Im umgekehrten Kultus wird das Sinnliche ins Geistige erhoben und kann seine Geistnatur offenbaren. Doch erst im Empfinden, dass dies so ist, bildet sich die spirituell stärkende Substanz – nicht im Nachdenken. Gemeinschaft wird erst real, wenn sie empfunden und ihre stärkende Kraft erlebt wird.

Wie aber kann z.B. eine Arbeitsgemeinschaft der Ärzte, Pflegenden und Therapeuten entstehen und bewusst Pflege finden, die sich dem Ideal des „umgekehrten Kultus“ verpflichtet fühlt?

Das kann nur gelingen, wenn der Einzelne im Ringen um einen Patienten, ein Arzneimittel, oder um das Verständnis eines Krankheitsbildes nicht nur sein Bestes gibt, sondern auch durch die gemeinsame Hinwendung zum Geistigen Kraft empfängt.

Erkennen wir uns als Angehörige einer spirituell strebenden Ärzte- und Therapeutengemeinschaft?

Erkennen wir uns in der anthroposophisch-medizinischen Bewegung als Angehörige einer weltweiten Arbeitsgemeinschaft, die das Ziel hat heilend zu wirken, nicht nur im Individuellen, sondern auch im sozialen Umfeld bis hinein in den großen menschheitlichen Zusammenhang?

Welche Schulungsmittel bietet die Anthroposophie zur Entwicklung sozialer Fähigkeiten, durch die Gemeinschaften durchlässig, empfänglich werden für therapeutische Inspirationen?

Therapeutische Gemeinschaftsbildung

Die Frage, aus welchen Kräften, Inspirationen und Willensimpulsen der Menschen die Möglichkeit zur Gemeinschaftsbildung hervorgeht, ist so alt wie die Menschheit selbst. Denn wo immer Menschen lebten, gab es Familiengemeinschaften, Berufsgemeinschaften, regionale Gemeinschaften, Arbeitsgemeinschaften, religiöse kultische Gemeinschaften. Es war die Ausnahme und trat als Phänomen erst relativ spät auf, dass jemand Einsiedler wurde. Doch auch ein Einsiedler braucht hin und wieder den Anschluss an den Kontext und sucht oft gerade die Gemeinschaft im Geiste. Es handelt sich also um eine sehr allgemein-menschliche Frage, die wie die Frage nach der Selbsterkenntnis in jeder Zeit, in jedem Jahrhundert, in jedem Jahrtausend immer wieder neu gestellt werden muss.

Im Volksseelenzyklus formuliert es Rudolf Steiner auch für die Volksgemeinschaften so: „Erkennet euch selbst als Volksseelen“,[3] als Angehörige eines Volkstums.

Vgl. Publikation im ‚Der Merkurstab’ des Vortrags auf der Jahreskonferenz der anthroposophisch-medizinischen Bewegung am 16.9.11 im Goetheanum.


[1] Neues Testament, Johannes 1, 5.

[2] Rudolf Steiner, Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule von 1904-1909. GA 265, S. 33, 34: „Wenn dieses Bewußtsein vorhanden ist und solche Gruppen in der Anthroposophischen Gesellschaft auftreten, dann ist in diesem, wenn ich so sagen darf, umgekehrten Kultus, in dem anderen Pol des Kultus, etwas Gemeinschaftsbildendes im eminentesten Sinne vorhanden“ und daraus könne diese „spezifisch anthroposophische Gemeinschaftsbildung“ erwachsen. (Dornach, 3. März 1923).

[3] Rudolf Steiner, Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie. GA 121, Rudolf Steiner Verlag.

QUELLEN DER GEMEINSCHAFTSBILDUNG IM ÄTHERISCHEN

Was befähigt Menschen zur Gemeinschaftsbildung?

Inwiefern ist das Ätherische Quellort von Gemeinschaften?

Das eigenständige Individuum als Voraussetzung für Gemeinschaft

Im Sinnlichen ist der Mensch als Einzelner isoliert. Der physische Leib, so bemerkt dies Rudolf Steiner in „Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist“, ist ein Isolator.[1] Der physische Leib ist „der Wille des Menschen von außen angeschaut“. Wir isolieren unseren Willen mit Hilfe dieses individuellen physischen Leibes, so dass unsere Taten und unsere Orientierung Ausdrucksformen dieser Willenskompetenz sind. Jesus stellte den ihm individuell begegnenden Kranken die Frage: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“.[2] Darin kommt der tiefe Respekt vor der isolierten, autonomen, von der Umwelt abgegrenzten Willenskompetenz des Individuums zum Ausdruck.

Allerdings scheint dieser isolierte Wille wenig mit Gemeinschaftsbildung zu tun zu haben – er klingt eher nach dessen Gegenteil. Als Individuen wollen und müssen wir zuerst einmal „auf die eigenen Füße kommen“, müssen lernen „Ja“ zu sagen zu dem Unterfangen individueller menschlicher Entwicklung – bis wir bei uns selber angekommen sind und die eigene Identität bestimmen und leben lernen. Dann aber, wenn man gelernt hat, einigermaßen mit sich selbst zurechtzukommen, beginnt die soziale Arbeit, dass man auch mit den Mitmenschen zurechtkommt und diese einen selber nicht als „sozial schwierig“ abtun.

Ursprung von Gemeinschaft

Die Befähigung zur Gemeinschaftsbildung hat ihre Quellen im Physischen nur insofern, als die Kraft von Bluts- und Familienbanden noch wirksam sind. Bewusst gepflegte, aus freiem Entschluss gebildete Gemeinschaften speisen sich aus nicht physischen Kraftquellen. Sie liegen im Ätherischen, im Astralischen und im Geistigen.[3] Es sind Bilder und Urkunden, Überlieferungen wie die vom heiligen Gral, religiöse Werte, Ziele und Visionen, die Menschen begeistern und zusammenhalten für gemeinsames Tun. So liegt auch die Gralsburg den Beschreibungen nach in dem Land „Anschauwe“, der ätherischen Welt der höheren Anschauung. Und es spricht geradezu für diese Realität, dass es auf dem physischen Plan nicht nur eine, sondern über ganz Europa hin viele Gralsburgen gibt.[4]

Es ist der Tempel, der in der geistigen Welt erbaut wurde und der deswegen so viele physische Repräsentanten haben kann. Ich glaube, noch niemand hat es geschafft, alle historisch verbürgten Gralsburgen zu identifizieren und zu lokalisieren, obwohl schon viele davon erfasst wurden, eine auch in Arlesheim bei Basel in der Schweiz.[5] Überall dort, wo Menschen sich mit dieser Gralsspiritualität verbinden und ihr ein Wahrzeichen im Physischen bauen möchten, kann der Tempel physisch sichtbar werden. Die wahren Tempel befinden sich jedoch in der ätherischen Welt, der Welt „ewigen Lebens“. Wenn diese auf die Erde kommen, laufen sie sogar Gefahr, dass sich ihre Erbauer voneinander abgrenzen, mit der Auswirkung, dass Angehörige bestimmter Konfessionen gegeneinander Krieg führen.

Wenn wir jedoch nach der Ur-Gemeinschaft, nach dem integrativen Archetyp suchen, aus dem jede Gemeinschaft sich „organschaftlich“ herausbildet, müssen wir in die ätherische Welt gehen, in die Welt der Gedanken als der gemeinsamen Sprache aller Menschen, der Welt der schaffenden Bildekräfte, die geistig und physisch das Werden der Evolution bestimmen.[6] In dieser Welt sind die Tempel des Geistes gebaut.

In diese Welt wurde auch das erste Goetheanum nach seiner physischen Vernichtung wieder aufgenommen.[7] Nur von der Grundsteinlegung 1913 bis zum Brand 1922 weilte es als ein Tempelbau für den fünften Kulturzeitraum kurze Zeit hier auf der Erde. Was aus dem Menschenwillen heraus in Übereinstimmung mit der kosmischen Weisheit gestaltet wurde, bleibt jedoch geistig unverlierbar bestehen und wirkt weiter.

Hören als Urgeste von Gemeinschaftsbildung

Was bedeutet es, einen Tempel in der ätherischen Welt zu suchen?

Die ätherische Welt ist nicht nur die Welt der Lebenskräfte und der Gedankenbildekräfte, sondern sie ist auch die Welt des Sozialen. Wenn wir uns rein „ätherisch verhalten“ könnten, würden wir entweder schlafen oder uns hörend in den anderen hineinfühlen, wie es Rudolf Steiner so schön beschreibt: Wenn wir einem anderen wirklich zuhören, müssen wir seine Gedanken nachahmen. Hören ist ein gedankliches Nachahmen dessen, was ein anderer sagt. Nachahmung ist ein Hineinschlafen in den andern, ist ein Mitleben, ein Miterleben mit dem anderen.[8]

  • Über das Ohr, wenn wir gut hören und die Augen schließen, verweben und verwesen wir im Klangäther, wir träumen und schlafen uns hinein in die Welt und werden soziale Wesen, wie im Schlaf. Hier urständet der Trieb, die Kompetenz, die Möglichkeit, Gemeinschaft zu bilden und Gemeinschaft zu suchen.
  • Das Auge dagegen ist das Tor des Individuums das auf sein Gegenüber blickt: Hier bin ich, hier ist die Welt, da bist du.

Welt von Wärme, Licht und Klang

Die ätherische Welt ist auch die Welt, in der sich Wärme, Licht und Klang, sprich: die Ätherarten als Schöpferprinzipien, in den vergänglichen Elementen manifestieren und die irdische Welt gestalten. Dadurch wird so etwas wie eine Brücke „über den Strom“ zwischen sinnlicher und geistiger Welt bildet. In unseren innerlichen oder auf individualisierte Weise in Worte gefassten Gedanken können wir über diese Brücke den Verstorbenen folgen und die Verbindung pflegen mit der Welt der Toten. Wir können mit ihnen denselben Tempel besuchen, aus derselben Tempelgemeinschaft heraus wirken.

Das Großartige ist, dass wir über unsere Gedanken, unser Gedankenleben, Anteil haben an der ewigen Gedankenwelt, am ewigen Leben, und mit unserem Körperleben Anteil haben am vergänglichen Leben und dass es dasselbe Wesenhafte ist – der ätherische Organismus – der uns beides ermöglicht. Das kommt in der Meditationsgeste des Buddha wunderbar zum Ausdruck, die diese Doppelnatur des Ätherischen sichtbar macht, indem die linke Hand nach unten weist, in die Inkarnation, die rechte nach oben, in die leibbefreite Gedankenwelt.

Vgl. Publikation im ‚Der Merkurstab’ des Vortrags auf der Jahreskonferenz der anthroposophisch-medizinischen Bewegung am 16.9.2011 im Goetheanum


[1] Rudolf Steiner, Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist, GA 205.

[2] Neues Testament, Joh. 1,5

[3] Rudolf Steiner, Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung. GA 9, Kap. Das Wesen des Menschen. Rudolf Steiner Verlag.

[4] siehe z.B. Frank Teichmann, Der Gral im Osten. Verlag Freies Geistesleben.

[5] Werner Greub, Wolfram von Eschenbach und die Wirklichkeit des Grals. Philosophisch-Anthroposophischer Verlag, Dornach 1974.

[6] siehe Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. GA 27, 1. Kapitel, Rudolf Steiner Verlag.

[7] Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924. GA 260. Vortrag vom 31. Dezember 1923, abends. Rudolf Steiner Verlag.

[8] Rudolf Steiner, Die soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitenlage. GA 186. Rudolf Steiner Verlag.

ERKENNEN DER EIGENEN ANTISOZIALITÄT

Inwiefern ist der heutige Mensch ein antisoziales Wesen?

Welche Fähigkeiten helfen ihm, mit der eigenen Antisozialität umzugehen?

Antisozialität durch moralische Intuition ausgleichen

Die Erkenntnis, dass jeder Mensch heute ein primär antisoziales Wesen ist, fällt nicht so leicht.[1] Es ist aber so – nicht zuletzt, weil der Wille des Einzelnen sich so isoliert-individuell durch den physischen Leib betätigt, mit allen Emotionen, die daran hängen, und mit aller Selbstgerechtigkeit.

Gemäß Rudolf Steiners Lehre von den 7 Entwicklungsimpulsen der nachatlantischen Kulturepochen[2] ist es Aufgabe der fünften – heutigen – Kulturepoche, das Böse zu erkennen und daran zu erwachen für den ganz eigenen, individuellen Initiationsweg hin „zum Guten“. Dass wir uns „auf die Spitze der Persönlichkeit stellen lernen“, wie Steiner anmerkt, ist die große Herausforderung und Aufgabe. Interessant dabei ist auch, dass diejenigen, die von sich meinen, sehr sozial zu sein, von anderen meist nicht so erlebt werden.

Man muss mühsam lernen, wo die verschiedenen menschlichen Eigenschaften, die Konfrontation, die Attacke, das Hinterfragen, das Anzweifeln, aber auch das Trösten, das Warten, das Geduld-Haben sozial gesehen am richtigen Platz sind und fruchtbar werden können. Gut ist ein Ding, ein Wort, ein Gefühl, eine Handlung am richtigen Platz – dann fördert es das Leben. Jedoch kann dasselbe wunderbare Wort oder Gefühl am falschen Platz oder zur Unzeit kränkend wirken und sogar höchst destruktiv sein. Es braucht moralische Intuition, um zu wissen, was situativ passt.

Wie aber wird man intuitionsfähig für „das Gute“?

„Wir können es dann erreichen, wenn wir tatsächlich imstande sind, durch die lebendige Kraft, die wir hineinlegen in die Gestaltung der Ideen vom Geistigen, etwas von einem Erweckenden zu erleben, etwas von dem, was nicht bloß das sinnlich Erlebte so idealisiert, dass das Ideal ein abstrakter Gedanke ist, sondern so, dass das Ideal ein höheres Leben gewinnt, indem wir uns in es hinein leben, dass es das Gegenbild des Kultus wird, nämlich das Sinnliche ins Übersinnliche hinauferhoben. Das können wir auf gefühlsmäßige Weise erreichen, wenn wir uns angelegen sein lassen, überall dort, wo wir Anthroposophisches pflegen, diese Pflege von durchgeistigter Empfindung zu durchdringen, wenn wir verstehen, schon die Türe, schon die Pforte zu dem Raum – und mag er sonst ein noch so profaner sein, er wird geheiligt durch gemeinsame anthroposophische Lektüre – als etwas zu empfinden, was wir mit Ehrerbietung übertreten.“[3]

Erkennen des dreifachen antisozialen Impulses in uns

Eine entscheidende Voraussetzung ist, in sich selbst die antisozialen Triebe im Denken, Fühlen und Wollen zu erkennen. Dadurch arbeitet man nicht nur an der Aktivierung seiner eigenen Heilkräfte, sondern kann diese auch für andere freisetzen und offen werden für das, was der andere braucht.

Steiner weist uns auf den dreifach antisozialen Impuls in uns hin – der zum Ausgangspunkt therapeutischer Kraftentfaltung wird, wenn wir ihn erkennen und verwandeln wollen: „Wer nach dieser Richtung Menschenerkenntnis entwickelt, wird eine große Anzahl von mehr oder weniger wirklichen Krankheiten zurückführen können auf das antisoziale Wesen des Menschen.“[4] 

  1. Im Denken ist es der Impuls, den anderen zum Zuhörer zu machen, ihn einzuschläfern, wogegen er sich Kraft des Betonens seiner eigenen Meinung wehrt. Hier helfen Toleranz und Interesse für die Meinung des anderen.
  2. Im Fühlen ist es die Täuschung über den anderen, wenn wir ihn spontan nach Sympathie und Antipathie beurteilen und nicht sachlich-situativ. Wenn er sich dann so zeigt, wie er ist, sind wir enttäuscht. Daher ist es so heilsam, bewusst die eigene Sympathie und Antipathie dem anderen gegenüber zu erleben, sie zu hinterfragen und ihm seelisch erwartungsvoll zu begegnen.
  3. Im Wollen müssen wir lernen, Werdende zu sein. Wer etwas sein will, ist bestrebt, dass dies auch anerkannt wird und Macht und Privilegien damit einhergehen. Die antisozialen Impulse verbergen sich in ideologischen Parolen und Machtmissbrauch. Eine soziale Gesinnung, Gedankenfreiheit und Geisteswissenschaft gehören zusammen.[5]

„Bottom up“-Gemeinschaftsbildung

Der „umgekehrte Kultus“[6] lebt von der Erkenntnis, dass wir intuitionsfähig werden können für das, was die Gemeinschaft oder ein anderer von uns braucht, was wirklich von uns gefragt ist. Um es mit Rudolf Steiners Worten zu sagen: „Wenn dieses Bewußtsein vorhanden ist und solche Gruppen in der Anthroposophischen Gesellschaft auftreten, dann ist in diesem, wenn ich so sagen darf, umgekehrten Kultus, in dem anderen Pol des Kultus, etwas Gemeinschaftsbildendes im eminentesten Sinne vorhanden“ und daraus könne diese „spezifisch anthroposophische Gemeinschaftsbildung“ erwachsen.

Eine solche „bottom up“-Gemeinschaftsbildung baut nicht nur auf dem Wissen auf, dass wir antisoziale Wesen sind. Sie lebt auch von der Gewissheit, dass wir uns in unserem besten Wollen verbinden können, aufeinander zugehen und einander helfen können. Wir alle haben bestimmte Aufgaben, jeder will etwas beitragen.

Wie können sich diese Aktivitäten so ergänzen, dass die Gemeinschaft etwas Großes leisten kann?

Intuition ist Verbundenheit im Willen, die durch Blutsbande entstehen kann oder auf der Basis alter Schicksalsbeziehungen – oder aber sich neu bilden kann durch bewusste geistige Arbeit.

  • Beim regelrechten Kultus wird eine aus der geistigen Welt gestiftete Substanz gemeinschaftlich gepflegt. Seele und Geist des Menschen entwickeln und orientieren sich daran.
  • Beim umgekehrten Kultus bildet sich die spirituelle Substanz aus dem individuellen Bemühen und Beitrag der Einzelnen.

Wenn diese Substanz von der geistigen Welt angenommen und gleichsam gesegnet wird, so merkt man dies an einer Stimmung des Beschenkt-Werdens, einem feinen, unendlich zarten und doch zugleich kraftvollen Anwesenheitserlebnis einer Qualität, die die Mitarbeitenden berührt und durch die man sich bestärkt fühlt in seinem besten Wollen.

Eine solche Arbeitsweise „von unten nach oben“ kennzeichnet die Arbeitsgemeinschaft der Ärzte, Pflegenden und Therapeuten. Sie erreicht die Qualität des „umgekehrten Kultus“, wenn im Ringen um einen Patienten, ein Arzneimittel oder um das Verständnis eines Krankheitsbildes der einzelne in der Hingabe an die Sache sein Bestes gibt.

Vgl. Publikation im ‚Der Merkurstab’ des Vortrags auf der Jahreskonferenz der anthroposophisch-medizinischen Bewegung am 16.9.2011 im Goetheanum


[1] Rudolf Steiner, Die soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitenlage. GA 186, 4. Vortrag vom 6. Dezember 1918. Rudolf Steiner Verlag.

[2]Rudolf Steiner, Kosmogonie. GA 94. 9. Vortrag vom 18. Mai 1909.

[3] Siehe Rudolf Steiner, Anthroposophische Gemeinschaftsbildung. GA 257, S. 117.

[4] Rudolf Steiner, Die soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitenlage. GA 186, S. 95.  Rudolf Steiner Verlag.

[5] Ebenda, S. 106.

[6] Rudolf Steiner, Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule von 1904-1909, Dornach, 3. März 1923, GA 265, S. 33, 34.

GEMEINSCHAFTSBILDUNG IM WIRTSCHAFTSLEBEN

Welche wichtige Aufgabe erfüllt Gemeinschaft im Wirtschaftsleben?

Und welchem Zweck dient sie optimalerweise im Rechts- und Geistesleben?

Sich selbst und anderen gerecht werden in der Wirtschaft

Es gibt einen Bereich im heutigen Leben, in dem die Gemeinschaftsbildung weit entwickelt ist, von dem gerade auch Anthroposophen viel lernen können – das Wirtschaftsleben. Denn meist steht das Geistesleben im Fokus des Interesses von Anthroposophen. So kann man unter ihnen auch immer wieder Meinungen wie diese hören: Wenn man nur richtig meditiert, lösen sich alle sozialen Probleme von selbst.

Dabei hängt das rechtlich-soziale Gebiet menschenkundlich gerade nicht mit dem Denken und dem Geistesleben zusammen, sondern vielmehr mit der Mitte, dem rhythmischen System, der Atmung, dem Kreislauf, mit dem Fühlen. Dieser mittlere zwischen oben und unten atmende Bereich ist ein völlig anderer Weltbereich, der auch seine eigene Schulung und Kompetenzentwicklung braucht, ein Weg auf dem man lernen kann, sich selbst und den anderen gerecht zu werden.

Das Wirtschaftsleben ist der Bereich, in dem wir Anthroposophen noch am wenigsten präsent und bewusst sind. In der Wirtschaft spielt jedoch die Gemeinschaftsbildung eine große Rolle, gleichviel, ob es um ein Team oder eine „Developmental Working Community“ mit horizontaler Hierarchie und klarer Aufgabenmandatierung geht. Jeder Manager weiß, dass der Umsatz steigt, wenn die Mitarbeiter wirklich mitarbeiten und nicht heimlich aussteigen und jede nur erdenkliche Freizeit nehmen, d.h. wenn sie motiviert sind, wenn sie sich voll einbringen, wenn sie sich als Teil des gesamten Arbeitsprozesses erleben.

Worin aber wurzelt die Motivation?

Woraus entspringt sie?

Mit dieser fundamentalen Frage beschäftigen sich zahlreiche Unternehmensberater, „Human Ressource Manager“ und Personalchefs.

Liebe zu Wandel und Widerspruch

Tom Peters ist einer der ersten, der in den 1980iger Jahren zu diesem Thema einen Bestseller geschrieben hat. Er ist mit seinem Klassiker, dem Standardwerk „Jenseits der Hierarchien“,[1] bekannt geworden. Ich lese jetzt ein paar „Augenöffner“ aus dem Klappentext vor:

„Geht es nach Tom Peters, haben demnächst alle formalen Strukturen ausgespielt. Denn sie sind es, die seiner Meinung nach die Flexibilität in allen Bereichen des ökonomischen Lebens lähmen und damit innovative Impulse permanent unterdrücken. Starke hierarchische Organisationen gehen daran zu Grunde, weil ihre Spitze zwangsläufig den Kontakt zur Vielfalt des vorhandenen Potenzials verliert. Das traditionelle Herrschaftsprinzip – Wissen ist Macht – hat mit dem Einzug der Mikroelektronik in die Unternehmen ohnehin abgedankt, da Informationen über die Computersysteme prinzipiell jedem zugänglich sind. Damit werden aber auch traditionelle Strukturen der Hierarchie überflüssig.“

Das ist eine interessante Beobachtung: Laut Peters hat Hierarchie primär mit der Beherrschung von Information zu tun mit der Frage: „Worauf gründet sich Hierarchie? Auf den Besitz eines bestimmten Wissens, von dem man andere ausschließt.“ „Am Ende der Hierarchie erwartet dann, wer Peters Ideen aufnehmen und umsetzen möchte…“ – Er ist natürlich ein Anarchist in seiner Branche aber extrem erfolgreich, „…eine völlig neue Sicht der Dinge – das von nicht wenigen so gefürchtete kreative Chaos.“

Nicht das Festhalten an alten Strukturen, die nicht hinterfragt werden dürfen, wird zum innovativen unternehmerischen Lebenselixier, sondern „die Liebe zum Wandel und Widerspruch“. „Modernes Management bedeutet in diesem Sinne die dauerhafte Förderung von Transparenz, Vernetzung, Dezentralisierung und Entbürokratisierung. Nur danach kann, laut Peters, die Motivation für innovative Marktpolitik hergestellt und das Phänomen der ‚inneren Kündigung‘ wirksam bekämpft werden.“

Liebe ist auch hier wichtig, Liebe zu Wandel und Widerspruch. Wir können auch sagen – Liebe zur Entwicklung: zur Entwicklung des Unternehmens, aber auch zur Entwicklung der Mitarbeiter. Denn auch die Entwicklung „des anderen“ ist zentrales Anliegen seines Konzepts.

Aufgabe von Gemeinschaft in Wirtschaft, Recht und Geistesleben

Aufgabe und Art der Gemeinschaft unterscheiden sich, je nachdem um welchen Bereich des sozialen Lebens es sich handelt:

  • Im Wirtschaftsleben wird Gemeinschaftsbildung zum Instrument des ökonomischen Erfolges.
  • Im Rechtsleben ist Gemeinschaftsbildung innerhalb einer Rechtsgemeinschaft das Instrument für sozialen Frieden, für Gerechtigkeit.
  • Im Geistesleben dient Gemeinschaftsbildung der individuellen spirituellen Wegsuche – dem Weg zum Tempel – und bezieht daraus wiederum ihre Kraft.

Neben der individuellen Suche auf dem Erkenntnisweg und den Möglichkeiten durch meditative Übungen und gemeinsame geisteswissenschaftliche Inhalte Gemeinschaft zu pflegen, gibt es die aus der Anthroposophie kommenden Impulse für religiös-kultische Gemeinschaften: z.B. in der Christengemeinschaft mit der Menschenweihehandlung, aber auch in der Waldorfschul- und in der heilpädagogischen Bewegung mit den Sonntagshandlungen für die Schüler. Steiner erhoffte sich von den Letzteren, dass sie auch zur spirituellen Gemeinschaftsbildung im Lehrer-Kollegium beitragen würden.[2]

Vgl. Publikation im ‚Der Merkurstab’ des Vortrags auf der Jahreskonferenz der anthroposophisch-medizinischen Bewegung am 16.9.2011 im Goetheanum


[1] Tom Peters, Jenseits der Hierarchien, Econ Verlag, 1993.

[2] Rudolf Steiner, Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichtes und das Spruchgut für Lehrer und Schüler der Waldorfschule. GA 269. Rudolf Steiner Verlag.

GEMEINSCHAFTSFÄHIGKEIT STÄRKEN

Wie kann man lernen, die Instrumente moderner Gemeinschaftsbildung so zu benützen, dass eine heilsame, heilende Ausstrahlung entsteht?

Instrumente der Gemeinschaftsbildung

Zentrale Hilfestellung hierfür sind Übungen wie die Rosenkreuzmeditation,[1] die sechs Nebenübungen[2] sowie die Arbeit an den Monatstugenden.[3] Es gibt aber auch Übungen, die direkt den Willen, die Intentionssphäre, die soziale Ur-Haltung ansprechen, wie das Wort des Christus in Gethsemane: „Vater, nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.“[4] Dazu gehört auch der dem schwäbischen Pfarrer Öttinger zugeschriebene Gelassenheitsspruch:

„Gott gebe mir die Gelassenheit,

Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann;

den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann;

und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“[5]

Wenn wir tragen können, was wir nicht ändern können, sind wir friedensfähig. Wir sparen viel Zeit und Kraft am falschen Platz, wenn wir aufhören zu kritisieren und zu wiederholen, was alles so schrecklich ist. Wir reden nur dort, wo wir die Möglichkeit einer Veränderung sehen: nicht hinten herum, sondern von Angesicht zu Angesicht. Das kann auch mal unangenehm sein für den Bereich, in dem wir etwas verändern wollen. Dann jedoch ist die Chance auf Begegnung und Entwicklung stets aufs Neue gegeben.

Rudolf Steiner sagt, dass wir auch nach Hunderten von Misserfolgen an „das moralische Wunder“ glauben können und sollen, dass z.B. unser karmischer Gegner plötzlich auf uns zukommt und sagt: Ich habe mich entschieden, Frieden zu schließen. Ich habe immer opponiert, aber jetzt sehe ich ein, dass Sie im Grunde doch Recht haben oder dass wir selbst uns zu einem solchen Schritt entschließen können. – So etwas gibt es. Der Hintergrund kann vielleicht auch einmal der sein, dass der Betreffende frisch verliebt ist und plötzlich alles lockerer sieht. Jedem von uns kann passieren, dass er oder sie, durch was auch immer veranlasst, die Prioritäten plötzlich anders setzt und den Weg frei macht für etwas anderes, etwas Neues.

Beurteilen, wann was dran ist

Unser Unternehmertum, unseren Mut, unsere Freiheit und unser Willensengagement können wir überall da einbringen, wo wir den Eindruck haben, es sollte sich etwas ändern – aus Liebe zur Arbeit, zur Sache. Man muss aber auch spüren, wann man aufhören muss mit dem Ändern-Wollen, weil die Zeit noch nicht reif ist dafür. Man darf gewisse Dinge nicht durchdrücken, wenn man eine Art Grenze, einen Widerstand, erlebt und daran erkennt, dass das Schicksal das (noch) nicht will. In dem Fall muss man umschalten auf Ertragen und Frieden-Schließen. Wir werden auf diesem Weg einerseits Experten einer „Kultur des Scheiterns“ und lernen andererseits den Optimismus echter Geistesgegenwart – der immer Hoffnung zulässt und jederzeit bereit ist zur Neugestaltung und Entwicklung.

Auf diese Weise erwerben wir uns auch die dritte Fähigkeit: Zwischen dem Mut zur Tat und der friedfertigen Tragekraft entwickeln wir aus uns selbst heraus die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Diese tief menschliche Weisheit, diese besondere Anthropo“sophie“, ist das zentrale merkurielle sozialtherapeutische Agens. Das weisheitsvolle Abspüren, wann man schweigend und geduldig tragen und wann man vorpreschen muss, damit eine Angelegenheit endlich realisiert werden kann. Auf dieses geistesgegenwärtige Innehalten kommt es an. Es macht uns zu guten Instrumenten, macht, dass wir merkuriell und flexibel zur Disposition stehen.

Der auf sich selbst gestellte Mensch

Rudolf Steiner sagte vom Bewusstseinsseelen-Menschen sinngemäß: „Der auf sich selbst gestellte Mensch kann zur Verfügung stehen.“ Ein selbstständiger Mensch ist disponibel. Er tut das, was gebraucht wird. Er will nur das, was gebraucht wird, denn er steht sicher auf seinen eigenen Füßen und braucht nichts mehr für sich. Er hat vielmehr Lust, das zu tun, was einer Situation und dem Umkreis, in den er geradegestellt ist, zum Heil und zur Hilfe dient, was dort passend und möglich ist. Daran hat er große Freude.

Aus dem Geburtsschmerz der Tragekraft und aus der von Liebe und Freiheit motivierten Muteskraft gebiert sich die Weisheit, gebiert sich die Freude am Leben und an der Gestaltung. Aus diesem Zusammenwirken von Freude und Schmerz entsteht Lebensweisheit, die das soziale Leben tragen kann, sodass Lasten, die wir tragen, zu Geschenken des Schicksals werden, an denen Geduld gelernt und Weisheit für die Zukunft entwickelt werden kann – ebenso wie sich an ihnen auch die Freude entzündet, die Kraft gibt für Leben und Arbeit.

Vgl. Publikation im ‚Der Merkurstab’ des Vortrags auf der Jahreskonferenz der anthroposophisch-medizinischen Bewegung am 16.9.2011 im Goetheanum


[1] Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13, S. 229 ff. Rudolf Steiner Verlag.

[2] Ebenda, S. 329 ff.

[3] Rudolf Steiner, Seelenübungen, GA 267. Rudolf Steiner Verlag.

[4] Neues Testament, Lukas 22, 42.

[5] Dem schwäbischen Pfarrer und Rosenkreuzer Friedrich Christoph Oettinger zugeschrieben – tatsächlich auf den evangelischen Theologen Reinhold Niebuhr und das Jahr 1943 zurückgehend.