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Gesundheit
Gesundheit – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
SALUTOGENESE – DIE LEHRE VON DER GESUNDHEIT
Welche Forschungszweige widmen sich dem Thema Gesundheit?
Was sagen sie aus über die Bedingungen für Gesundheit?
Was lehrt uns die Salutogenese?
Forschungen zum Thema Gesundheit
Rudolf Steiner verfolgte konsequent die Thesen einer Erziehung zur Freiheit und einer Lehre von Gesundheit, die auf der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Lebens auf geistiger, seelischer und körperlicher Ebene basiert. Beide Thesen erfuhren in den letzten Jahrzehnten auf vielfältige Weise Bestätigung durch Forschungen aus den folgenden Bereichen:
- die Hygiogenese (Hildebrandt 1985),
- die Salutogenese (Antonovsky 1997),
- die Resilienzforschung (Opp/Fingerle/Freytag 1999)
- sowie die Erforschung der seelischen Gesundheit durch die humanistische Psychologie (Maslow 1981).
Abraham Maslow fand bei seinen Untersuchungen zur seelischen Gesundheit heraus, dass Menschen mit einer gesunden seelischen Gesamtverfassung sach- und nicht ich-bezogen handeln, dass sie tolerant und wahrhaftig sind, sich herzlich freuen, staunen und Dinge und Menschen bewundern können und dass sie Gefühle von Devotion aufbringen. Allen ist gemeinsam, dass sie auf die eine oder andere Art eine spirituelle Höhepunkt-Erfahrung, eine so genannte Peak-Experience, gemacht haben.
Maslow konnte zeigen, in wie hohem Maße die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit und die persönliche Reife Einfluss auf den körperlichen Gesundheitszustand haben.[1]
Aaron Antonovsky entwickelte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Theorie der Salutogenese. Er untersuchte die Entstehungsbedingungen für Gesundheit und prägte in dem Zusammenhang den Begriff „Sense of Coherence“ – Kohärenzgefühl. Um Kohärenzgefühl empfinden zu können, muss ein Mensch die Welt erleben als
- verstehbar
- sinnhaft
- handhabbar
Entwicklungsgeschichte der Salutogenese
Aaron Antonovsky war jüdischer Abkunft und wurde 1923 in Brooklyn geboren. Er emigrierte 1960 mit seiner Frau nach Israel. Als Zeitzeuge des Zweiten Weltkriegs musste er erleben, dass viele Verwandte und Menschen seines Umkreises Traumata und Schäden aufgrund des Holocaust erlitten oder in Konzentrationslagern vernichtet wurden. Als Medizinsoziologe beteiligte er sich dann in Israel an verschiedenen Forschungsprojekten, die sich mit dem Zusammenhang von Stressfaktoren und Gesundheit bzw. Krankheit befassten. Bald vertrat er ein Stresskonzept, in dem Stressfaktoren nicht mehr nur als grundsätzlich krankmachend angesehen werden, sondern als Herausforderung, als Stimuli, die einen Zustand der Anspannung auslösen. Damit kam er auf die psychologische Fragestellung nach individuellen Verarbeitungsmustern und -möglichkeiten angesichts solcher Anspannungszustände.
Ausschlaggebend für seine weitere Forschungstätigkeit waren die Ergebnisse von Untersuchungen über die Auswirkung der Wechseljahre bei Frauen der Jahrgänge 1914-1923, die teilweise in einem Konzentrationslager inhaftiert gewesen waren.
Im Rahmen seiner Untersuchungen stellte er überrascht fest, dass eine beträchtliche Anzahl Überlebender des Holocaust, die, wie alle anderen auch, die Grausamkeiten des Konzentrationslagers erlitten und anschließend in Israel weitere drei Kriege überlebt hatten, über eine Art „Übergesundheit“ verfügten. Trotz all dem, was diese Menschen durchgemacht hatten, beeindruckten sie durch ihre große Ausstrahlung, ihre seelische Unversehrtheit und Gesundheit. Das ließ ihn fragen:
Wie ist so etwas möglich, das aller Vernunft und allen traumatologischen Theorien widerspricht?
Wie haben diese Frauen es geschafft, den Extrembelastungen standzuhalten und gesund zu bleiben, anstatt an Leib und Seele Schaden zu nehmen oder gar zu zerbrechen?
Die Antworten auf diese Fragen führten zu dem entscheidenden Perspektivenwechsel in Richtung Salutogenese, der seine ganze weitere Forschungstätigkeit bestimmte. So fing er an, systematisch die Bedingungen für Gesundheit zu untersuchen.
Die Frage nach der Gesundheit
Was aber ist Gesundheit eigentlich?
Jeder in der Gesundheitsforschung Tätige kommt früher oder später zu der Überzeugung, dass Gesundheit ein labiler Zustand ist, der vom Individuum aktiv erhalten werden muss. Diese Auffassung steht im Gegensatz zum konventionellen, pathogenetischen Postulat, dass ein gesunder Organismus sich in „normaler", geordneter Homöostase befindet, die durch eine Krankheit aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Antonovsky stellt dem entgegen, dass es den geordneten Zustand der Homöostase nicht gibt, dass Gesundheit vielmehr das ständige Ringen mit heterostatischen Zuständen ist.
Er schreibt: „Zu jedem Zeitpunkt kann mindestens ein Drittel, möglicherweise mehr als die Hälfte der Bevölkerung in den Industrienationen aufgrund des einleuchtenden Parameters eines pathologischen Merkmals als krank bezeichnet werden. Das zeigt, dass Krankheit keine relativ seltene Abweichung irgendeiner Norm, sondern ein ubiquitäres Phänomen ist".[2]
Gesundheit ist so gesehen nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern die Beherrschung und Kompensierung vorhandener Krankheitstendenzen.
Für diese gesundheitswissenschaftliche Sicht bietet das Konzept der Wesensglieder und ihr differenziertes Zusammenwirken im dreigliedrigen Organismus das notwendige theoretische und praxisrelevante Instrumentarium. Hinzu kommt, dass das Wesensgliederkonzept bisher das einzige Konzept ist, das den Leib-Seele-Geist-Zusammenhang gedanklich begreifbar machen kann und plausible Gründe liefert, die uns die These von der „Blackbox" hinterfragen lassen.
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Abraham Maslow, Motivation und Persönlichkeit, Hamburg 1981.
[2] Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1987.
NEUE STRATEGIEN IN DER GESUNDHEITSVORSORGE
Inwiefern wirkt sich die salutogenetische Sichtweise auf die Gesundheitsvorsorge in der Schulmedizin aus?
Weitreichende Folgen der Salutogenese für das Gesundheitssystem
Das Prinzip der Salutogenese hat und hätte für die gesamte Impfpolitik, für die Fieberbehandlung und für den Umgang mit dem kindlichen Immunsystem weitreichende Folgen. Es wirft neue Fragen auf und stößt neue Strategien in der Gesundheitsvorsorge an. Auf jeden Fall legt es nahe, dass man bestimmte Maßnahmen stärker individualisieren und nicht generell jedes Kind nach dem gleichen Schema impfen oder antibiotisch behandeln sollte.
Glücklicherweise hat sich die kinderärztliche Reflexhandlung der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, beim Auftreten von Fieber umgehend mit einem Zäpfchen Abhilfe zu schaffen, bereits in die richtige Richtung gewandelt, indem in neueren Lehrbüchern zu lesen ist, dass das nur noch der unerfahrene Kinderarzt praktiziert. Zu überzeugend sind die Nachweise der immunstimulierenden und Viren und Bakterien schädigenden Wirkungen des Fiebers.[1]
· Kinderkrankheiten und Impfen
Das salutogenetische Prinzip geht auch konform mit dem Gedankenansatz der Anthroposophischen Medizin, dass durchgemachte Kinderkrankheiten die kindliche Entwicklung unterstützen, indem sie die Entwicklung des Immunsystems, die Fähigkeit zu Selbstregulation und Selbstheilung und damit die körperliche Individualisierung und „Inkarnation“ fördern. Selbstverständlich sollte im echten Bedarfsfall weiterhin geimpft bzw. nach fiebersenkenden oder antibiotisch wirksamen Substanzen gegriffen werden. Dies sollte jedoch nur bei gegebener Indikation erfolgen – wie körperliche Schwäche, Herzfehler und Ähnliches – oder bei Hunger, mangelnder Hygiene und Pflege, wie dies z.B. in Afrika der Fall ist.
So ist bei jedem Kind die Frage zu stellen, ob es stark genug ist für die Auseinandersetzung mit der Krankheit. Das zu beurteilen ist vornehmlich ärztliche Aufgabe. Ist ein Kind in seiner Konstitution so schwach, dass ihm die Auseinandersetzung mit einer Kinderkrankheit oder hohem Fieber nicht zugemutet werden kann oder fehlt die nötige Unterstützung aus dem sozialen Umfeld, so ist es natürlich auch sinnvoll, das Kind zu impfen und im gegebenen Fall mit fiebersenkenden Mitteln und Antibiotika zu behandeln. Grundsätzlich gilt, dass man nicht durch unreflektierte Massenimpfungen die Auseinandersetzung mit sämtlichen Kinderkrankheiten verhindert sollte und damit den Kindern die Chance nehmen, neue weitreichende Widerstandskräfte zu entwickeln. Auch wird in der Diskussion immer wieder vernachlässigt, dass z.B. Masern viel häufiger zu Komplikationen führen, wenn fiebersenkende Mittel gegeben wurden und damit der Körper seiner Waffe gegen das Masernvirus beraubt wurde.[2],[3]
· Umgang mit Antibiotika
Durch die zunehmende Resistenzentwicklung im Bereich der Antibiotika hat sich glücklicherweise an dieser Front bereits ein Umdenken angebahnt, indem zunehmend auch Fachleute empfehlen, Antibiotika nur noch zu verordnen, wenn sie wirklich indiziert sind, d.h., wenn ein Organismus zu schwach ist, die Überwindung der Infektion aus eigener Kraft zu leisten. So kommt nun auch im Bereich der Schulmedizin in Gang, was durch Nachdenken und „physiologische Empathie“ – dem Mitdenken und Mitempfinden der Bedürfnisse des wachsenden Organismus – von Homöopathen, anthroposophischen Ärzten und anderen Komplementärmedizinern schon lange empfohlen wird.
Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003
[1] Michaela Glöckler, Wolfgang Goebel & Karin Michael, Kindersprechstunde, Stuttgart 2021.
[2] Wolfgang Goebel, Schutzimpfungen selbst verantworten. Grundlagen für eigene Entscheidungen, aethera, Stuttgart 2002.
[3] Ilene Claudius, Larry J. Baraff, Pediatric emergencies associated with fever. Emergency Medicine Clinics of North America 28: S. 67 - 84, 2010.
DAS KOHÄRENZGEFÜHL ALS GRUNDLAGE SEELISCHER GESUNDHEIT
Was ist mit Kohärenzgefühl gemeint?
Wie können wir es erwerben?
Kohärenzgefühl und Sinnfrage
Im Zentrum des Salutogenese-Konzeptes von Aaron Antonovsky steht der Begriff „Sense of Coherence“ (SOC), zu Deutsch: Kohärenzgefühl. Hier geht es darum, zu verstehen, wie der Mensch Extrembelastungen negativer Art innerlich und damit auch weitgehend äußerlich standhalten kann. Antonovsky fand heraus, dass gesunde Menschen ein starkes Kohärenzgefühl haben, dass sie sich mit sich selbst, ihrem Schicksal, mit anderen Menschen sowie mit den Zeitverhältnissen, unter denen sie leben, verbunden fühlen. Kohärenz zu erleben bedeutet Zusammenhänge zu erleben. Je stärker das Kohärenzgefühl eines Menschen ist, desto deutlicher werden der Sinnbezug und damit auch das Sinnerleben in Bezug auf die eigene Existenz. Ohne Bezug zu sich selbst und zu den Dingen und Wesen um sich her wirft letztlich auch die eigene Existenz quälende Sinnfragen auf.
Der Gesundheits- und Krankheitszustand eines Menschen wird maßgeblich bestimmt von seiner allgemeinen Grundhaltung gegenüber der Welt. Deshalb sind bei äußerlich vergleichbaren Bedingungen, wie z.B. in Kriegs- oder Notzeiten, ganz unterschiedliche Arten der Bewältigung bei den Betroffenen zu beobachten.
Das Kohärenzgefühl ist laut Antonovsky „eine globale Orientierung, die das Ausmaß ausdrückt, in dem jemand ein durchdringendes, überdauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass erstens die Anforderungen aus der inneren und äußeren Erfahrungswelt im Verlauf des Lebens strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind und dass zweitens die Ressourcen zur Verfügung stehen, die nötig sind, um den Anforderungen gerecht zu werden. Und drittens, dass diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Investitionen und Engagement verdienen.“[1]
Entwicklung von Kohärenzgefühl
Wie gelingt es nun Kohärenzgefühl zu entwickeln und damit nachhaltig Gesundheit zu veranlagen?
Kohärenzgefühl und Weltanschauung hängen unmittelbar zusammen. Optimal wäre es, wenn ein Kind durch Erziehung und Lebensweise eine befriedigende Weltanschauung erwirbt. Wenn es erfahren darf, dass die Welt schön, gut und wahr ist und somit auch verstehbar, sinnhaft-bedeutsam und handhabbar. Was das bedeutet, möchte ich im Folgenden näher erläutern.
1. Die Welt verstehen
Wer die Welt – und sei es nur den eigenen kleinen Ausschnitt davon – verstehen kann, erlebt sie als geordnet und strukturiert und nicht als chaotisch, willkürlich, zufällig oder unerklärlich. Das ist eine entscheidende Voraussetzung, um sich gesund zu fühlen. Personen, die über ein hohes Maß an Verständnis für Vorgänge, Zusammenhänge und Menschen um sich herum verfügen, sind in der Lage, beim Auftreten von Schwierigkeiten, selbst wenn es sich um Tod, Krieg und Versagen handelt, sich in ein bewusstes Verhältnis dazu zu setzen und so ein echtes Verständnis dafür zu entwickeln. Die Ereignisse sind für sie aufgrund ihrer interessierten, offenen Haltung der Welt gegenüber verstehbar.
2. Sinnstiftender Umgang mit Problemen
Das Gefühl von Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit entsteht, wenn man sein Leben als sinnvoll erleben kann. Folgende Fragen können uns helfen herauszufinden, wie es um unseren Sinnbezug im eigenen Leben bestellt ist:
Sehe ich auftretende Schwierigkeiten und Hemmnisse als willkommene Herausforderungen, an denen ich wachsen kann oder sind sie mir eher eine Last, die ich gerne los wäre?
Sind meine Überzeugungen mir wertvoll genug, dass ich mich für sie einsetze und mich dafür engagiere?
Geschieht etwas Tragisches, z.B. ein Unfall, der Tod eines nahestehenden Menschen, die Notwendigkeit, sich einer schweren Operation zu unterziehen, oder der Verlust des Arbeitsplatzes, so kann ich mich neben der Angst, Trauer oder Wut, die ich empfinde, auch fragen:
Was bedeutet dieses Ereignis für mich, für meine Entwicklung?
Wie kann ich meinem Leben gerade dadurch vielleicht einen neuen Sinn geben?
Auf diese Weise können unglückliche Erfahrungen als persönliche Herausforderung empfunden werden, die sich in das eigene Schicksal integrieren lassen. Wer so lebt, steht nicht im Widerstreit mit sich selbst, indem er gewisse Erlebnisse und Anteile von sich selbst von der eigenen Persönlichkeit als nicht akzeptabel abspaltet.
Zudem kann hier das tiefchristliche Stellvertretermotiv zum Tragen kommen. Steiner formulierte es sinngemäß so: „Was du auch leidest, leidest du um eines großen Weltzusammenhanges willen.“[2] Erst im Gesamtzusammenhang zeigen die Ereignisse, und seien sie auch noch so düster, ihren Sinn.
3. Schwierigkeiten handhaben lernen
Das Gefühl der Handhabbarkeit basiert auf einem klaren Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten und Begrenzungen. Grundsätzlich hat man das Gefühl: „Ich könnte, wenn ich wollte.“ Man erlebt die Welt und sich selbst als handhabbar. Dazu gehört auch die Überzeugung, dass Schwierigkeiten zu lösen sind. Man weiß, dass man über geeignete Ressourcen verfügt oder dass man sie aufbauen kann, um allen Anforderungen zu begegnen.[3] Dabei kann man auf eigene bzw. Erfahrungen anderer zurückgreifen, sei es nun vom Ehepartner, von Freunden, Kollegen, vom Arzt – kurz, von jemandem, auf den man zählen kann, dem man vertraut.
Das Kohärenzgefühl als Erlebnis von Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Handhabbarkeit der Welt entwickelt sich weitgehend in Kindheit und Jugend, weshalb diese Zeit eine entscheidende Bedeutung für die Gesundheit im späteren Leben hat.
Kohärenz erleben trotz Krieg, Angst und Not
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es viele Kinder, die aufgrund von eigenen Kriegserlebnissen oder Berichten von betroffenen Erwachsenen, wie denen von den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki in Japan, mit starken Ängsten belastet waren. Angesichts solcher Ängste ist es entscheidend, wenigstens einen Menschen in der Nähe zu haben, der Verständnis für die Situation der Kinder hat, dem sie Fragen stellen können. Bezugspersonen dieser Art können mithelfen, dass ein Kind trotz allem Kohärenzgefühl erwirbt, indem es das Schreckliche irgendwie einzuordnen und in einem größeren Zusammenhang zu verstehen lernt.
Entsprechend ging es vielen Kindern und Jugendlichen im Nachklang der Ereignisse vom 11. September oder wenn sie von Völkermord und Hungersnot hörten oder von dem Dahinsiechen der unzähligen HIV-Infizierten in Afrika (Anm. der Betreiberin d. Webseite: Dazu gehört auch die Aufarbeitung der oft menschenverachtenden und nicht nachvollziehbaren Maßnahmen und Verhaltensweisen rund um die Coronakrise).
Gespräche und möglichst vielseitige Informationen, die das Ereignis verstehbar und verarbeitbar machen, sind das eine, was zu einer sinnstiftenden Verarbeitung nötig ist. Je nach Alter des Kindes ist aber vor allem entscheidend, dass es Menschen in seinem Umfeld gibt, am besten Mutter oder Vater, die all dies auch miterlebt und im Bewusstsein haben und dennoch Hoffnung und Lebenszuversicht ausstrahlen. Ein positiv gestimmter Erwachsener vermittelt dem Kind durch die Art, wie er ist, dass man lernen kann, auch damit zu leben, und welche Möglichkeiten jeder Mensch in allen Umständen hat, an einer positiven Änderung der Verhältnisse zu arbeiten. Entscheidend ist, dass das Kind das Gefühl hat: Auch ich werde gebraucht, ich kann mithelfen, das Leben lebenswerter zu machen, das Engagement dafür lohnt sich.
Werden im Laufe von Kindheit und Jugend sinnstiftende Umgangsweisen und Bewältigungsstrategien erworben, wie man mit einem Konflikt, mit einem Problem fertig wird, dann ist man in der Lage, auch spätere problematische biographische Ereignisse entsprechend zu verarbeiten. Man entwickelt ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem Weltganzen, empfindet ein sinnvolles Verbunden-Sein mit der Umwelt, mit anderen Menschen, aber auch mit sich selbst.
Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003
[1] Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1987.
[2] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?, GA 10, 24. Aufl. Dornach 1992.
[3] Schüffel et. Al. (Hrsg.), Handbuch der Salutogenese. Konzept und Praxis, Wiesbaden 1998.
SALUTOGENESE UND PÄDAGOGIK
Wie kann sich die salutogenetische Blickweise positiv auf die heutige Pädagogik auswirken?
Inwiefern kann Pädagogik dazu beitragen, dass Kinder resilient und im späteren Leben erfolgreich werden?
Ressourcenorientierter Blick
Salutogenese hat zum Ziel, den Menschen auf die Quellen individueller und sozialer Gesundheit und Gesundung aufmerksam zu machen und verknüpft damit Medizin und Pädagogik auf einzigartige Art und Weise: Das Interesse von Ärzten und Pädagogen wird primär auf die Frage gelenkt, wie Gesundheit entsteht, und somit weg von der Fixierung auf die mögliche Herkunft von Störungen oder Problemen.
Der Blick ist damit auf das Positive gerichtet, auf das, was Kinder mitbringen, was sie stärken und schützen kann und was sie letztlich unverwundbar im Kern ihrer Persönlichkeit und aktiv in der Gestaltung ihres Schicksals sein lässt. Angesichts der vielfältigen Nöte und Schadensquellen, denen Kinder heute in ihrer Entwicklung ausgesetzt sind, eröffnet diese Betrachtung ein konstruktives, zukunftsorientiertes Handeln.
Jeden Menschen als Teil des Ganzen betrachten
Rudolf Steiner (1861-1925) forderte bereits 1920 in einem Vortrag für Ärzte, dass der Arzt „das Heil der ganzen Menschheit“ im Auge haben müsse, wenn er einem einzelnen Menschen helfen will.[1] Warum? Weil jeder Mensch ein Teil des Ganzen ist, das er beeinflusst, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht – einfach durch die Art, wie er innerlich und nach außen hin mit sich und den anderen Menschen umgeht. Jeder ist aktiv beteiligt an der Entwicklung von Erde und Menschheit.
- Je mehr es gelingt, aus einer umfassenden Perspektive heraus zu handeln, umso mehr trägt man zum Heil und zum Gedeihen des Ganzen bei.
- Je isolierter man ist, und je unzusammenhängender man handelt und arbeitet, umso mehr läuft man Gefahr, ein Krankheitsfaktor im Entwicklungsgeschehen zu werden.
Gesund, heil und ganz zu werden bedeutet Integration. Krankheit ist stets die Folge von Isolation oder Desintegration einzelner Prozesse, Funktionen oder Substanzen im Organismus.
Unsere Aufgabe ist es also, mit unseren kleinen Aktionen, unserem täglichen Tun die großen Ziele der Menschheit mit zu verfolgen und sie nicht aus dem Auge zu verlieren. Das fängt bei der Erziehung unserer Kinder an, die in eine Welt hineingeboren werden, der sie gewachsen sein möchten und in der sie ihre Impulse verwirklichen wollen.
Das Leben als Fluss betrachten
Aaron Antonovsky vergleicht das Leben mit einem Fluss, der Untiefen haben kann, Stromschnellen, Klippen, die er überwinden muss und überdies noch mit Verschmutzung zu kämpfen hat. Seine Frage ist nicht – Wie entkomme ich den Gefahren, wenn ich mich in dem Fluss befinde? – sondern: Wie werde ich ein guter Schwimmer? Knapper kann man den salutogenetischen Ansatz nicht ins Bild bringen.
Antonovskys Antwort auf diese Frage ist: Durch die Entwicklung eines guten Kohärenzgefühls ist man den Stromschnellen und -wirbeln des Lebens, in das man sich wie hineingeworfen erlebt, gewachsen. Wer ins Wasser geworfen wird, muss schwimmen lernen oder es bereits gelernt haben. Wer lebt, muss lernen, sich in Beziehung zu setzen. Die Grundlagen dafür können und sollten in der Kindheit gelegt werden.
Es wird immer Schwierigkeiten im Leben geben, Probleme, Leiden und Tod. Menschen mit starkem Kohärenzgefühl werden ebenso leiden und sich freuen wie alle anderen. Sie werden aber motiviert sein, das Beste aus der gegebenen Situation zu machen. Sie werden sich weder von ihrer Freude fortreißen lassen, noch im Leid erstarren.
Was erfolgreich macht
Erfolg ist weitgehend von der Intelligenz, dem Wissen und den Fähigkeiten abhängig, die jemand mitbringt. Aber gerade, wenn die Aufgabe anspruchsvoll ist, wird auch die Stärke des Kohärenzgefühls eine Rolle spielen. Ein Mensch mit starkem Kohärenzgefühl wird motiviert sein, die Aufgabe als eine Herausforderung zu sehen, ihr eine Struktur zu geben und nach geeigneten Ressourcen zu suchen, um sie zu bewältigen, auch wenn er die dafür nötigen Qualifikationen noch nicht besitzt. Das Vertrauen, dass er es schaffen kann, lässt ihn Dinge erstreben und leisten, die sich ein Mensch mit schwachem Kohärenzgefühl nie zutrauen, die er nie angehen würde.
Die Anthroposophie als Wissenschaft von Seele und Geist des Menschen kann bis in Einzelheiten an dieses salutogenetische Gesundheitskonzept anknüpfen. Sie erlegt damit aber auch den anthroposophischen Pädagogen und Ärzten die Verantwortung auf, durch eigene Forschungen mit beizutragen, dass die salutogenetische Perspektive eine weite Verbreitung und Realisierung findet. Das kann entscheidend dazu beitragen, die Wirklichkeit des Geistes in die naturwissenschaftlich-medizinische Debatte mit einzubeziehen und sie nicht als „transzendent“ auszuklammern oder den Psychologen, Theologen und Philosophen allein zu überlassen.
Leben als Chance für die eigene Entwicklung begreifen
Denn die Gesundheit des modernen Menschen hängt entscheidend davon ab, wie er über sich als Mensch denkt und welchen Entwicklungsweg er geht. Jeder kann lernen, gesünder und menschlicher zu werden, wenn er sich die göttlich-geistigen Daseinsbereiche in sich selbst bewusst macht und „erweckt“. Selbstentwicklung so verstanden bedeutet, lebenserfahren zu werden und das Leben in all seinen Facetten, in seinen Höhen und Tiefen neu zu entdecken und ernst zu nehmen als Chance für die eigene Entwicklung und die der Mitmenschen hin zur Menschwerdung, die diesen Namen verdient. Nur so können letztlich menschliche Charaktereigenschaften erworben werden wie Verehrung, innere Ruhe, Mut und Zuversicht, Hoffnung, Treue, Andacht, Liebe und Wahrhaftigkeit bis hin zu Autonomie und Authentizität.
In seinem philosophischen Hauptwerk resümiert Steiner: „Die Natur macht aus dem Menschen ein Naturwesen. Die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes. Ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen.“[2]
Mit dieser selbst errungenen Freiheit steht und fällt die heute so hoch bewertete Sozialkompetenz. Nur wer zu sich selbst stehen kann, lernt das auch anderen gegenüber. Nur wer auf sich selbst gestellt ist, kann letztlich für andere Menschen oder Aufgaben zur Verfügung stehen, ohne Sorge haben zu müssen, untergebuttert oder „benützt“ zu werden. Er kann nach dem Motto des freien Menschen leben: „Leben in der Liebe zum Handeln und leben lassen im Verständnisse des fremden Wollens.“[3]
Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003
[1] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin, GA 312, 6. Aufl. Dornach 1985.
[2] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, 15.Aufl. Dornach 1987.
[3] Rudolf Steiner, a.a.O.
RELIGIOSITÄT ALS GESUNDHEITSQUELLE
Inwiefern kann Religiosität zu einer Gesundheitsquelle werden?
Kindliche Befähigung zum Religiösen
Mit Religiosität ist hier kein konfessionelles Bekenntnis gemeint, sondern das in jedem Menschen vorhandene Gefühl, dass es etwas Höheres, Verehrungswürdigeres gibt als er selbst in seinem Alltags-Ich es ist. Die Menschheit als Ganzes ist in ein Weltentwicklungsgeschehen eingebunden, nach dem zu fragen und mit dem sich auseinanderzusetzen keinem erspart bleibt, der sich auf sich selbst und den Sinn des eigenen Lebens besinnt.
An Kindern kann man diese Befähigung zum Religiösen besonders deutlich beobachten. Sie bringen ein bedingungsloses Vertrauen mit auf die Welt, das seiner Intensität nach nur mit tiefster religiöser Hingabe zu vergleichen ist. Was zuerst im wachen, vertrauensvoll suchenden Blick des Säuglings erscheint, wird dann in den folgenden Lebensjahren auch im übrigen Verhalten sichtbar: die Fähigkeit, unbefangen auf die Welt zuzugehen und hingebungsvoll aufzunehmen und nachzuahmen, was im Umkreis geschieht. Daraus sprechen ein tief berührendes „Urvertrauen“ und die grenzenlose Erwartung, dass der Erwachsene alles, was nötig ist, für einen tun wird.
Kleine Kinder verhalten sich so, als sei die Welt durch und durch gut, vertrauenswürdig und nachahmenswert. Besorgt darüber wenden Eltern oft ein: „Muss man dem Kind nicht möglichst bald klarmachen, dass das nicht stimmt? Dass die Welt nicht heil ist, dass man sich schützen, auseinandersetzen und wehren muss?“
Dem Kind bewusst begegnen
Wer in erwartungsfrohe Kinderaugen schaut, liest dort die Antwort: Das „Augenöffnen“ für Not und Unheil der Welt kann erst dann sinnvoll sein, wenn dem Kind die Kräfte für die Bewältigung solcher Probleme erwachsen sind. Ein verfrühtes „Augenöffnen“ führt zu Unsicherheit und Schwachheit, zu später nur schwer überwindbaren Zweifeln am Sinn der eigenen Existenz und untergräbt das sich bildende Kohärenzgefühl.
Waren die Stunden des Tages von intensiven Beschäftigungen geprägt, natürlich auch von Hektik und oft unvermeidlichem Stress, ist es beziehungsfördernd für Eltern und Kind, wenn sie es sich zur Regel machen, einander wenigstens einmal am Tag, z.B. am Abend vor dem Schlafengehen, bewusst zu begegnen. Drei Kernfragen sind dann wichtig:
Wie geht es dir?
Wie war es heute?
Wie soll es morgen weitergehen?
Es ist wohltuend für das Kind, wenn Tag für Tag alles, was sich ereignet hat oder was das Kind beschäftigte, besprochen wird und bestmöglich aufgearbeitet werden kann. Dadurch wird dem Kind nicht nur eine gute Gewohnheit mit auf den Weg gegeben, sondern auch die Ethik der Beziehungspflege veranlagt. Wer gelernt hat, keinen Streit unaufgelöst mit in die Nacht zu nehmen, dem steht eines der zentralen Mittel sozialer Gesundheit zur Verfügung. Die Rückschau auf den Tag ist nicht nur ein von Rudolf Steiner empfohlener Schulungsweg für die bewusste Seelenentwicklung, sondern auch ein weitreichendes, salutogenetisches Prinzip im Hinblick auf das soziale Leben.
Bewunderung und Verehrung pflegen
Es gibt gegenwärtig viele Menschen, die der Meinung sind, dass man Kindern keine religiöse Erziehung angedeihen lassen solle, um sie nicht zu manipulieren und dadurch unfrei zu machen. Wer jedoch in der Kindheit Qualitäten wie Verehrung, Ehrfurcht und Andacht nicht erleben durfte, ist dadurch gezwungenermaßen unfrei in Bezug auf alles Religiöse. Denn er weiß nicht, dass ihm wesentliche menschliche Kräfte fehlen – wie sie z.B. den Überlebenden des Holocaust zur Verfügung standen.
Man sollte Kinder weder für noch gegen ein bestimmtes Bekenntnis religiös beeinflussen. Gemeint ist vielmehr, dass Eltern sich selbst in einer verehrungsvollen Stimmung und Haltung üben und das Kind diese miterleben kann. Das ist im Rahmen von Spaziergängen möglich, indem man auf die ziehenden Wolken, den Tanz von Mücken oder einen Regenbogen hinschaut, oder dass man eine dicke Hummel bewundert, die auf eine Blüte zu taumelt. Aber auch zuhause ergeben sich Gelegenheiten für staunende Bewunderung, z.B. beim Zusammenarbeiten in der Küche: darüber, dass in der Möhre ein schöner Stern versteckt ist, obgleich sie doch im festen Boden wuchs! Dass die Blätter im Kohl sich zusammendrängen, als würden sie frieren... Viele kleine Wunder begegnen einem im täglichen Leben und wollen bestaunt werden – man muss sie nur wahrnehmen.[1]
Ein Gedicht von Christian Morgenstern drückt das Augenöffnen für diese Wunder in schöner Weise aus:
Wie viel Schönheit ist auf Erden unscheinbar verstreut;
möchte' ich immer mehr des innewerden,
wie viel Schönheit, die den Taglärm scheut,
in bescheidnen alt und jungen Herzen!
Ist es auch ein Duft von Blumen nur,
macht es holder doch der Erde Flur,
wie ein Lächeln unter vielen Schmerzen.
Nach der täglichen Rückschau, kann noch ein Lied folgen und vielleicht auch ein Abendgebet. Kinder lieben das. Sie werden dabei ruhig und andachtsvoll und schlafen oft dabei ein.
Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003
[1] Marta Heimeran, Von der Religion des kleinen Kindes, 6. Aufl. Stuttgart 1994.
GOTTESERFAHRUNG ALS RESSOURCE
Wie kann die Gotteserfahrung zu einer Ressource werden?
Welche Merkmale weisen seelisch gesunde Menschen auf?
Widerstandskraft durch Gotteserfahrung
Alexander Solschenizyn beschreibt in seinem „Archipel Gulag“,[1] wie er auf dem Boden liegt und ihm, als ihm ein russischer Soldat mit seinem dreckigen Stiefel gerade ins Gesicht treten will, der Gedanke aufleuchtet: Du kannst nur meinen Leib zerstören, an meinen Geist kommst du nicht heran. Das ist ein eindrückliches Beispiel dafür, dass die stärkste Widerstandskraft der Gotteserfahrung und dem Erleben, als Ich ein ewiges Wesen zu sein, entspringt.
Auch Abraham H. Maslow kommt zu diesem Resultat.[2] Er gehörte zusammen mit Carl R. Rogers und Erich Fromm zu den Begründern und wichtigsten Vertretern der Humanistischen Psychologie[3] in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Seine Motivationstheorie, die das menschliche Handeln auf abgestufte Bedürfnisse zurückführt und im Hinblick darauf erklärt, geht von einem ganzheitlichen positiven Menschenbild aus. Die Humanistische Psychologie hat die Tore für die Erforschung alle transzendentalen bzw. transpersonalen psychologischen Phänomene geöffnet. Zu diesen zählt Maslow nicht nur die höheren und positiven Bewusstseinszustände und Persönlichkeitsanteile, sondern auch die Konzeption von Werten und ewigen Wahrheiten als Teil des erweiterten Selbst.
Bei seinen Forschungen machte er sich zunächst auf die Suche nach der psychologischen Gesundheit. Dazu wählte er als Versuchspersonen außerordentlich gesunde Menschen, „das gesündeste Ein-Prozent der College-Bevölkerung“.[4] Kriterium für die Auswahl war die „positive Evidenz von Selbstverwirklichung, was man als die volle Anwendung und Nutzung der Talente, Kapazitäten und Fähigkeiten beschreiben könnte“.
Menschen, die diesen Kriterien entsprechen, scheinen sich selbst zu erfüllen und das Bestmögliche zu tun, dessen sie fähig sind. Alle Versuchspersonen fühlten sich sicher, frei von Angst, fühlten sich akzeptiert, geliebt und liebevoll, achtungswert und geachtet und hatten ihre philosophischen und religiösen Anschauungen für sich weitestgehend geklärt.
Merkmale sich selbst verwirklichender Menschen
Hier nun eine Zusammenfassung der eindrucksvollen Beschreibung der Merkmale, die gesunde Menschen gemeinsam haben:
- Seelisch gesunde Menschen verfügen über einen gut ausgeprägten Realitätssinn und die Fähigkeit, sich selbst, Menschen und Sachverhalte adäquat zu beurteilen.
- Sie können sich selbst, andere und die Natur akzeptieren und haben eine Abneigung gegen Imagepflege und jede Form von Unwahrheit.
- Sie sind natürlich, spontan, einfach, bescheiden.
- Sie sind problemorientiert und nicht ich-bezogen.
- Sie können ohne Unbehagen einsam sein, haben ein Bedürfnis nach Privatheit.
- Sie begegnen dem Leben mit Wertschätzung, Ehrfurcht, Freude und Staunen.
- Sie haben prägende mystische Erfahrungen gemacht. Sie verfügen über ein starkes Gemeinschaftsgefühl, eine ausgeprägte ethische Veranlagung und ein umfassendes demokratisches Bewusstsein.
- Ihr Humor ist philosophisch, nicht feindselig und zynisch.
- Sie sind kreativ.
„Unsere gesunden Versuchspersonen sind im Allgemeinen vom Unbekannten nicht bedroht und nicht verängstigt und unterscheiden sich darin beträchtlich vom Durchschnittsmenschen.“[5]
Aus salutogenetischer Sicht könnte man sagen, „sich selbst verwirklichende Menschen“, wie Maslow seine Versuchspersonen bezeichnet, verfügen über ein außerordentlich gutes Kohärenzgefühl. Sie haben die wunderbare Fähigkeit, Erfahrungen und Begegnungen voll Ehrfurcht, Freude, Staunen und sogar Ekstase wertzuschätzen. Für sie kann auch der normale Arbeitstag, die täglichen Geschäfte, immer wieder aufregend und spannend sein. Begriffe wie „Glaube an Gott“ und „Glaube an einen Menschen“, als tiefe, fraglose, verbindliche Freundschaft, tauchen hier auf und zeigen, dass der innerste Bezug zur Welt, ihr wahrer Grund, die Liebe ist.
Das Wesen von Peak Experiences
Maslow entdeckt bei seinen Versuchspersonen, dass sie nicht nur vom Glauben an Gott bzw. eine göttliche Instanz, beseelt waren, sondern dass fast alle Gotteserfahrungen gemacht und innere Durchbrüche erlebt hatten, dass sie auf höhepunktartige Transzendenz-Erlebnisse zurückgreifen konnten, auf ein Berührt-Sein von einer geistigen Wirklichkeit. Diese metaphysischen Erfahrungen bezeichnet er als „Peak Experiences“.
Dabei kann es sich um ein einmaliges Erlebnis handeln, aber auch um mehrere Erlebnisse bzw. um Geistberührungen durch ein regelmäßiges, meditatives Leben. Diese Erlebnisse haben gemeinsam, dass sie das Gottesbewusstsein zu vertiefen und den Glauben zu stärken in der Lage sind. Sie gehen einher mit
- dem Bewusstsein eines grenzenlosen Horizonts, der sich dem Blick öffnet,
- dem Erleben von Macht und gleichzeitiger Ohnmacht,
- tiefster Ekstase, Ehrfurcht und großem Staunen,
- dem Verlust des Gefühls für Raum und Zeit,
- der Überzeugung, dass etwas äußerst Wichtiges und Wertvolles geschehen war, durch das die Betreffenden verwandelt wurden und sich in ihrem täglichen Leben gestärkt fühlten.
Aufgrund dieser Forschungsergebnisse und aller materialistischen Vernunft zum Trotz wurde die geistige Dimension wesentlicher Bestandteil der Humanistische Psychologie. Denn Maslow bekennt freimütig, dass er zuvor ein ganz normaler, materialistischer Wissenschaftler gewesen sei. Für ihn wären spirituelle Erfahrungen etwas gewesen, was er allenfalls mit Psychopathologie in Verbindung gebracht oder dem Privatleben zugerechnet hätte. Aber die Menschen, die ihm von ihren Erfahrungen berichtet haben, waren nicht krank, sondern eben in jeder Hinsicht gesund, ja die Gesündesten, die er finden konnte! Das brachte ihn zum Umdenken. Er hat dieses Phänomen dann gründlich erforscht und kam somit auf rein empirischen Wegen zu einem völlig neuen, für ihn dann auch bewegenden spirituellen Verständnis dieser göttlichen Dimension bzw. dieses höheren Selbst im Menschen.
Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003
[1] Alexander Solschenizyn, „Der Archipel Gulag, Band I - III“ gilt als die bedeutsamste Darstellung und Kritik des Stalinismus innerhalb der Literatur (wikipedia).
[2] Abraham A. Maslow, „Motivation und Persönlichkeit“, Reinbek b. Hgb., 9. Aufl. 2002.
[3] Maslow gilt, neben Carl Rogers und Charlotte Bühler, als der wichtigste Gründervater der Humanistischen Psychologie, in der eine Psychologie seelischer Gesundheit angestrebt und die menschliche Selbstverwirklichung im Rahmen eines ganzheitlichen Konzepts untersucht wird. Er wendet sich gegen das zynische und verzweifelte Menschenbild der damaligen psychologischen Schulen, die menschliche Natur sei letztlich nur ihren materialistischen Trieben ausgeliefert. Er untersuchte den Menschen in seiner Ganzheit und zog den Schluss, jeder Mensch werde durch ein angeborenes Wachstumspotential angetrieben, um sein höchstes Ziel – die Selbstverwirklichung – zu erreichen (vgl. wikipedia).
[4] Abraham A. Maslow, siehe FN 2.
[5] Abraham A. Maslow, siehe FN 2.
GESUNDHEIT UND DENKEN
Wie hängen Denken und Gesundheit zusammen?
Wie lernen wir unsere Gedankenkraft so einzusetzen, dass die leibliche und seelische Gesundheit dadurch gefördert wird?
Unbewusste Lebenstätigkeit und bewusste Gedankentätigkeit
Es ist eines der weitreichendsten Forschungsergebnisse Rudolf Steiners, die Identität der Lebens- und Denkgesetze entdeckt und für die pädagogische und medizinische Praxis fruchtbar gemacht zu haben. Er nennt sie ätherische Gesetze. Die Summe der Lebenstätigkeiten und Regenerationskräfte bezeichnet er mit Ätherleib/ätherischer Organismus.
Unser Gedankenleben, das wir als unser geistiges Innenleben erleben und auf das wir tagsüber im Wachzustand Zugriff haben, ist nichts anderes als unser leibfreies, nicht mehr im Körper für Wachstum gebrauchtes ätherisches Potential. Es hat objektiven Charakter, weil uns anhand der Weltgesetze bewusstwird, dass sie nicht von unseren Sympathien und Antipathien abhängen, sondern in sich selbst begründet sind.
In Zeiten besonderer gedanklicher Beanspruchung entziehen wir dem Körper zusätzliche Kräfte. Wir vermindern dabei seine Vitalität, da wir unbewusst wirkende Lebenskraft in bewusste Gedankentätigkeit umwandeln. Deswegen sind wir anschließend meist auch körperlich erschöpft. Auch wenn wir in Stresssituationen den Appetit verlieren, werden verstärkt Lebenskräfte in Bewusstseinskräfte umgewandelt. Ist die Hochleistung vorüber, dauert es eine Zeit, bis der Appetit wiederkehrt. Haben wir dann eine reichhaltige Mahlzeit zu uns genommen, schwindet die Lust zu denken.
Ätherkräftewirken bei Tag und bei Nacht
Nachts im Schlaf verbinden sich die tagsüber leibfreien Ätherkräfte unseres bewussten Gedankenlebens wieder mit den unbewusst im Leib tätigen Ätherkräften, um an der Regeneration des Organismus, insbesondere des Nervensystems zu arbeiten. Bei Tage sind die gedankenbildenden Ätherkräfte leibfrei, nachts sind sie leibgebunden wirksam.
So gesehen ist es für die nächtliche Regeneration des Organismus nicht gleichgültig, was wir bei Tage denken. Wer sich in Gedanken nur in festen Vorstellungen bewegt und mit materiellen zweckdienlichen Inhalten befasst, dessen Denken nimmt mehr und mehr die Form der leblosen Gegenstände seiner Betrachtung an. Ein solches Denken wirkt sich nachts störend auf die Regeneration des lebendigen Organismus aus, da ihm keine Lebendigkeit innewohnt und in ihm auch keine schöpferischen Kräfte mehr nachwirken. Je wahrhaftiger unser Denken sich konfiguriert, umso stimmiger ist es und wirkt folglich auch umso positiver auf die Gesundheit des Körpers ein. Denn auch der Körper ist nur dann „in Ordnung“ wenn „alles stimmt“. Wahrhaftigkeit und Gesundheit sind sozusagen kongruent.
Nachlassen der Regenerationsfähigkeit durch materialistisches Denken
Rudolf Steiner wies als Erster im 20. Jahrhundert darauf hin, dass die Menschheit nach einigen Generationen mit neuen Krankheiten wird rechnen müssen, wenn das materialistische Denken weiterhin – wie es ja geschah – die Schulen und das ganze Erziehungswesen beherrscht. Er sagte, die die Regenerationsmöglichkeiten des Körpers würden nachlassen, was auch eine zunehmende Degeneration des Erbgutes zur Folge haben wird. Wir sind bereits mittendrin in diesem Prozess: Nicht nur den zunehmenden Umweltschädigungen ist es zuzuschreiben, dass Allergien, Stoffwechselstörungen, aber auch Depression und Schlaflosigkeit epidemisch zugenommen haben und weiterhin zunehmen, sondern auch der nachlassenden Regenerationsfähigkeit aufgrund der materialistischen Gestimmtheit vieler Menschen.
Hier müsste eine breit angelegte volkshygienische Aufklärung stattfinden, die jeden einzelnen dazu anhält, durch künstlerische und geistige Betätigung sein Denken und seine Sicht der Welt zu verändern. Sonst wird sich diese Entwicklung noch fortsetzen. Dabei wäre eine solche Kehrtwende im Denken jedem Menschen jederzeit möglich.
Vgl. Kapitel „Wie sind Leib, Seele und Geist in Gesundheit und Krankheit verbunden?“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
BEDINGUNGEN EMOTIONALER GESUNDHEIT
Wie kann das Gefühlsleben gepflegt werden?
Wie wirkt sich das auf die Gesundheit aus?
Gleichgewicht zwischen Sympathie oder Antipathie herstellen
Es ist nicht leicht, das Gefühlsleben bewusst zu pflegen, denn es wird nicht so losgelöst vom körperlichen Dasein erlebt wie das Gedankenleben, mit dem wir objektiv umgehen können. Die Gefühle sind stärker mit den körperlichen Funktionen verbunden. Ihre Eigendynamik beruht auf der großen Polarität von Sympathie und Antipathie. Halten diese Kräfte sich die Waage, so ist es möglich, Seelenruhe herzustellen. Diese Ruhe entspricht der Ruhe zwischen zwei Atemphasen und zwischen zwei Herzschlägen. Die gegensätzliche Dynamik des Ein- und Ausatmens geht immer durch diesen Nullpunkt der Ruhe, in dem für einen winzigen Augenblick nichts geschieht. Aus dieser Ruhe erwächst die Kraft zum Ausgleich, aber auch zum neuen Tätig-Werden. Überwiegt eine dieser Kräfte, fällt die Selbsterziehung im Gefühlsleben bedeutend schwerer, weil Sympathie oder Antipathie das Bewusstsein erfüllt, wenn man zur Ruhe kommen will.
Liebe als Kraft der Mitte
Hier kann die Besinnung auf die Gefühlsqualität hilfreich sein, die zwischen Sympathie und Antipathie vermittelnd wirkt, gleichsam als ruhendes Zentrum im Gefühlsbereich: die Kraft der Liebe. Liebe wird oft mit Sympathie verwechselt. Wer schon einmal erlebt hat, wie Liebe in Hass umgeschlagen ist, weiß, dass er Sympathie mit Liebe verwechselt hatte. Sympathie kann in Antipathie, Antipathie kann in Sympathie umschlagen – je nach Stimmungslage. Die Liebe hingegen eröffnet die Möglichkeit, antipathische und sympathische Reaktionen im liebevollen Miterleben, der Empathie, zu beruhigen. Beide, Antipathie und Sympathie, können den Menschen unfrei machen, ihn seelisch und im Sozialen in starke Abhängigkeit bringen. Fehlt die Liebe als vermittelnde Qualität, die uns hilft, die nötige Ausgewogenheit herzustellen, ist es um den Frieden im Sozialen schlecht bestellt. Die Liebesfähigkeit ist das Herzstück des Gefühlslebens; sie macht seine spannungsreichen Extreme erst erträglich.
Pflege des Gefühlslebens macht gesund
Wer beginnt, aktiv an einer Harmonisierung seiner Gefühle zu arbeiten, wird bemerken, wie unharmonische Stimmungen oder ungelöste Spannungen die Gesundheit direkter und nachhaltiger beeinträchtigen als z.B. ungelöste gedankliche Probleme, denen wir viel objektiver gegenübertreten können. Das Gefühlsleben befindet sich eben in unmittelbarer Beziehung zu den zentralen Körperfunktionen von Atmung und Kreislauf, die für den Erhalt der Vitalität verantwortlich sind. Das bewusste Gedankenleben ist dagegen nicht direkt mit dem Vitalbereich der Stoffwechseltätigkeit verbunden und bedarf der ständigen Unterstützung und Ernährung seitens dieser Organe. Im Falle von Schlafstörungen sind es nicht die Gedanken, die den Menschen wachhalten, sondern die zehrenden Gemütsstimmungen, an denen man mit Hilfe der Gedanken zu arbeiten versucht. Sie sind es, die das Rad der Gedanken kreisen lassen. Freudige und traurige Ereignisse halten wach, wohingegen gedankliche Anspannung und Konzentration müde machen. Viele Menschen schlafen bei dem Versuch, am Abend eine Meditation durchzuführen, ein.
Sich bewusst anzuschauen, welche Erlebnisse des Tages positiv und welche negativ gewesen sind, beeinflusst das Gefühlsleben positiv. Man wird bald bemerken, dass es nichts gibt, was nicht von zwei entgegengesetzten Gesichtspunkten aus betrachtet und bewertet werden könnte. Wer spontan immer negativ interpretiert und reagiert, hat viel zu tun. Jeder Versuch jedoch, einem Ereignis die positive Seite abzugewinnen, wirkt sich befreiend auf die Atmung und erfrischend auf das ganze Gemütsleben aus. Bewährt hat sich auch das Erlernen eines Musikinstrumentes und das damit verbundene Sich-Einleben in große musikalische Kunstwerke.
Vgl. Kapitel „Wie sind Leib, Seele und Geist in Gesundheit und Krankheit verbunden?“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
SEELISCHE GESUNDHEIT ERRINGEN
Wie kann man sich als Biografiearbeiter, Psychologe, Psychotherapeut und Arzt in das Gebiet des Seelischen einarbeiten?
Welche Gesichtspunkte aus der anthroposophischen Menschenkunde sind dabei hilfreich?
Ergebnisse aus der Karma-Forschung
Menschen, die sich für Seelenkunde interessieren, empfehle ich gerne die pädagogischen Vorträge von Rudolf Steiner über die drei Jahrsiebte,[1] aber auch das Studium von „Grundlegendes…“[2] begleitet von der Lektüre der Karma-Vorträge.[3] Diese Werke sind das Fundament einer vom Schicksalsgedanken inspirierten anthroposophischen Psychotherapie.
Auf die Frage, worin die Ursache für seelische Erkrankungen läge, antwortet Rudolf Steiner in „Die Offenbarungen des Karma“[4] und in der „Akasha-Chronik“[5] sinngemäß: Die Ursache für seelische Erkrankungen lägen in einem mangelnden Interesse am anderen Menschen in einem früheren Erdenleben. Dabei ist gar nicht gesagt, durch welche Faktoren es zu diesem mangelnden Interesse kam, es ist rein phänomenal betrachtet, hat mit Schuld und Unschuld nichts zu tun, sondern ist einfach ein Fakt: Ein Mensch, der kein warmes Interesse für andere Menschen entwickeln konnte – oder wenigstens für einen Menschen – dem fehlt im nachtodlichen Leben die Orientierung, wenn das Menscheninnere, das Seelische, Außenwelt wird. Er ist nicht in der Lage, sich an diesem neuen Äußeren so zu orientieren, dass er sich einen neuen Körper aufbauen kann, der ein gesundes Seelenleben gebiert, wenn die Wesensgliederkräfte im darauffolgenden Erdenleben frei werden:
- Denken ist metamorphosierte leibfrei gewordene Wachstumskraft (Ätherleib).
- Fühlen ist metamorphosierte leibfrei gewordene Astralität (Astralleib).
- Wollen ist leibfrei gewordene, im Seelischen zur Verfügung stehende Integrationskompetenz (Ich-Organisation).
Ursachen und Folgen von seelischer Einschränkung
Es hängt von der Qualität der Organe und der leiblichen Prozesse ab, ob sich das, was als seelische Kompetenz geboren wird, frei handhaben lässt oder ob es einen bestürmt, attackiert und bezwingt. Es kann sein, dass das, was als Ich-Kompetenz hereinleuchten und sich dem Erdeninstrument des Leibes mitteilen möchte, sich nicht richtig am Leib spiegeln und sich auch nicht im Seelischen beheimaten kann, weil die Leib-Seele-Konfiguration es nicht oder nur oder eingeschränkt zulässt. Die Qualität des Seelischen hängt also von der Art bzw. der Qualität der Leibbildung ab.
Möglicherweise leidet man unter der karmischen Folge, dass man über die Seelenkräfte nicht richtig in Beziehung kommen kann zu anderen Menschen, dass man sich wie in sich selbst gefangen erlebt. Diesem großen Schmerz folgt im Nachtodlichen die große Befreiung, weil man so sehr mit den Beziehungen und mit sich selbst gerungen hat, dass man infolgedessen für die kommende Inkarnation ein besonders geeignetes Erdeninstrument bilden kann. Das bedeutet: Wenn wir interessiert und ehrlich miteinander umgehen, bauen wir damit an den gesunden Seelenkräften des nächsten Lebens. Ein solches Bemühen ist also nicht nur für dieses Leben wichtig und gut und erleichtert uns das Leben und die Arbeit. Das Interesse am Menschen und am Sozialen ist zugleich die Vorbereitung für besonders gesunde und starke Seelen im nächsten Leben.
Vgl. Vortrag an der Jahreskonferenz der Med. Sekt. am Goetheanum zum Thema Anthroposophische Psychiatrie, Dornach 2012
[1] Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft, GA 34.
[2] Rudolf Steiner, Grundlegendes zu einer Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
[3] Rudolf Steiner, Die Offenbarungen des Karma, GA 120.
[4] Ebenda.
[5] Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik, GA 11.
GESUNDHEIT UND WILLE
Was können Erwachsene tun, um ihren Willen zu stärken bzw. um entschlussfreudiger zu werden?
Übungen, die den Willen stärken
Der Wille ist neben dem Denken und Fühlen das dritte Glied unseres Seelenlebens. Wenn wir einen Entschluss fassen, erleben wir das als Kraftgewinn. Entschlusslosigkeit hingegen erleben wir als quälend. Der Wille ist wie gelähmt, er ist hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Möglichkeiten. So wie das Denken nur dann gesund ist, wenn es mit der Vielfalt an Möglichkeiten frei spielen und arbeiten kann, das Fühlen nur dann, wenn es in der Liebefähigkeit seinen Ausgleich findet, so ist der Wille nur gesund, wenn er sich konzentriert und in ungeteilter Aufmerksamkeit einer Sache zuwenden kann.
Menschen, die bei sich eine Willensschwäche bemerken oder zu Entschlusslosigkeit neigen, können durch regelmäßiges Üben viel erreichen. Allerdings gehört bereits eine gewisse Willensanstrengung dazu, sich zu entsprechenden Übungen zu entschließen. Hier bewirken schon kleine, selbstgewählte Aufgaben sehr viel, wie:
- das Öffnen und Schließen einer Tür,
- das Gießen einer bestimmten Blume, jeden Tag zur selben Zeit,
- das Aufstehen zu einem vorgesetzten Zeitpunkt etc.
Wer so etwas regelmäßig jeden Tag als Willensübung durchführt, wird merken, wie seine Fähigkeit, vom eigenen Willen Gebrauch zu machen, wächst. Eine ausgezeichnete Unterstützung solcher Willensübungen ist die Eurythmie. Wer Gelegenheit hat, einmal wöchentlich an einem Laienkurs teilzunehmen, sollte dies nicht versäumen. Sehr bewährt hat sich auch das Durchführen täglicher Übungen, die ein erfahrener Eurythmist oder auch ein Heileurythmist zeigen kann.
Denn der Wille kann nur durch Tätigkeit erzogen werden.
Vgl. Kapitel „Wie sind Leib, Seele und Geist in Gesundheit und Krankheit verbunden?“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
PARAMETER SEELISCHER GESUNDHEIT
Wodurch zeichnet sich ein gesundes Seelenleben aus?
Erkennungsmerkmale seelischer Gesundheit
Bei den Forschungen des Psychologen Abraham Maslow[1] zur Frage – Was macht eine gesunde Seele aus? – stellte sich heraus, dass Menschen mit einer gesunden seelischen Gesamtverfassung sich in vielem vom Durchschnitt der Bevölkerung unterscheiden: Sie sind
- sach- und nicht ich-bezogen,
- tolerant
- wahrhaftig,
- sie können sich herzlich freuen,
- können auch staunen
- und Gefühle der Devotion aufbringen.
- Auf die eine oder andere Art gehen sie alle einen spirituellen Weg
- und haben unter Umständen auch die sogenannte Peak-Experience – eine spirituelle Höhepunkt-Erfahrung – erlebt.
Damit ist eine unmittelbare Geistbegegnung oder Geistberührung gemeint, die über das ganze Leben Licht und Wärme verbreitet und ein unerschütterliches Vertrauen in die geistige Welt und ihre Tragekraft zur Folge hat. Auch Nahtoderlebnisse gehören dazu. Maslow konnte dadurch zeigen, in wie hohem Maße sich die innere Arbeit an der eigenen Persönlichkeitsentwicklung positiv auf die gesundheitliche Gesamtverfassung auswirkt.
Sinn und Verantwortung als seelische Ressourcen
Viktor Frankl[2] hingegen machte die Sinnfrage zum Grundmotiv jeder gesundheitsfördernden Psychotherapie und gab ihr in seiner Logotherapie[3] einen ganz spezifischen Ausdruck.
Der Ethik-Philosoph Hans Jonas fordert in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ ein,[4] dass der moderne Mensch angesichts der zunehmenden Bedrohung durch die Zerstörung des Lebensraums auf der Erde infolge von Technik und Waffengewalt zu einer individuellen Verantwortung für das Wohl der Menschheit erwachen muss. Geschieht dies nicht, so sind soziale Kränkung und Zerstörungsprozesse unweigerlich die Folge.
Anthroposophische Menschenkunde zur Gesundheit
Mit Hilfe des Konzepts der Wesensglieder-Metamorphose aus der Anthroposophischen Medizin kann zudem verdeutlicht werden, wie und warum bzw. auf welchen psychosomatischen Wegen das Kohärenzgefühl oder die Peak-Experience sich auf die körperliche Gesundheit positiv auswirken können.
Wer meint, ein physisch-psychisches Wohlgefühl oder ein Gefühl des Vertrauens würde von Neurotransmittern aus der Gruppe der Endorphine und Oxytocine erzeugt, lässt die Tatsache außer Acht, dass Wohlfühlhormone und Oxytocine ja erst im Prozess der Peak-Experience und der aktiven Erinnerung daran gebildet werden. Bereits entstandene oder synthetisch hergestellte Hormone zu sich zu nehmen, kann ebenfalls vorübergehende angenehme Auswirkungen haben. Dadurch ändert sich der Charakter des Menschen jedoch nicht. Das gilt auch für jede Droge. Sobald die Wirkung des Medikaments oder der Droge abklingt, kehrt der alte, unbefriedigende Zustand nur umso schmerzlicher zurück.
Entsprechend muss auch unverständlich bleiben, dass sich ein depressiver Zustand schlagartig ändern kann, wenn ganz unerwartet ein sehr lieber Mensch auftaucht, dem man vertraut und den man nicht erwartet hat. Eine solch unerwartete Begegnung kann nachhaltiger wirken als ein Antidepressivum.
Ergebnis nicht mit Ursache verwechseln
Der Heidelberger Neurologe und Neuropsychiater Thomas Fuchs[5] hat in seinem bahnbrechenden Werk „Das Gehirn als Beziehungsorgan“ eindrucksvoll dargelegt, wie sich das Gehirn am Leben für das Leben bildet. Bereits Goethe hatte erkannt, dass sich „das Auge am Licht für das Licht bildet“. Jedes Organ braucht die ihm gemäße Tätigkeit in und an der Umwelt – physiologisch gesprochen den adäquaten Reiz, um sich gesund entwickeln zu können.
„Der Leib als Instrument der Seele in Gesundheit und Krankheit“ lautet der Titel eines vielgelesenen Büchleins von Walther Bühler (1913 - 1995).[6] Das Gehirn und die Sinnesorgane sind mit ihren neuronalen Netzwerken und Transmittersubstanzen das Ergebnis der Qualität der menschlichen Beziehungen und Erlebnisweisen jedes Einzelnen – und nicht die Ursache dafür.
Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003
[1] Abraham Maslow, Motivation und Persönlichkeit, Hamburg 1981.
[2] Victor E. Frankl, Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychiater erlebt das Konzentrationslager, 7. Aufl. München 1995.
[3] Viktor Frankl, Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie. Bern, Stuttgart, Wien 1982, S. 11.
[4] Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Suhrkamp 1979.
[5] Thomas Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Kohlhammer, Stuttgart 2007.
[6] Vgl. Walter Bühler, Der Leib als Instrument der Seele, Stuttgart 1993.
GESUNDHEIT DURCH SELBSTREGULATIONSFÄHIGKEIT
Was ist unter Gesundheit zu verstehen?
Wie hängen Gesundheit und die Qualitäten von Wahrheit und Liebe zusammen?
Gesundheit, ein Fließgleichgewicht
Gesundheit ist ein Kräftespiel der Selbstregulation, in welches wir geistig, seelisch und körperlich ständig eingebunden sind. Als Ärztin weiß ich, dass ein gut funktionierender Organismus ständig das Gleichgewicht zwischen Zerstörung und Aufbau im Körper halten muss, ein Fließgleichgewicht. Alle Regelkreise und Funktionen des Organismus müssen sorgfältig aufeinander abgestimmt sein.
- Gesundheit entspricht im körperlichen Bereich dem,
- ·was wir im geistigen Bereich gedanklich als Wahrheit oder Stimmigkeit empfinden,
- und was auf seelischer Ebene als Liebe und Interesse erlebt werden kann.
Gegenseitige Wahrnehmung der Organe
Liebe lebt von der gegenseitigen Wahrnehmung. Diese Art der Wahrnehmung ist auch auf der körperlichen Ebene nötig: Die Leber muss z.B. wahrnehmen, was und wie viel von bestimmten Stoffen produziert werden muss, wie viel der Organismus braucht; wie die Glycolyse durchgeführt werden muss, damit das Blut nicht zu viel und nicht zu wenig Zucker enthält. Die Abstimmung der Organe untereinander vollzieht sich über Botenstoffe, über Hormone, über elektrolytische Gleichgewichtsregelungen, aber auch über zentrale und periphere, vagotone und sympatikotone, feinste nervöse Wahrnehmungsfähigkeiten, die unserem Organismus innewohnen. Man könnte auch sagen, dass auf biologischer Ebene ein ganz feines „Interesse“ und Empfinden füreinander herrscht.
- Dieselbe gesunderhaltende Weisheit, die den physischen Organismus reguliert und die Organfunktionen aufeinander abstimmt,
- drückt sich leibfrei als Wahrhaftigkeit im Denken
- und als Liebesfähigkeit im Fühlen aus.
Es handelt sich dabei um dieselben Kräfte, nur im geistig-seelischen Bereich, durch die unser Körper sich unbewusst reguliert. Deswegen wirken sich gelebte Werte wie Wahrhaftigkeit und Liebe so gesundend auf den physischen Leib aus.
Vgl. Vortrag „Gesundheit und Lebensfreude im Alltag“ vom 25.11.2007