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Identität und Ich

Aus Geistesforschung
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Identität und Ich – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

DAS ICH ALS KERN DER PERSÖNLICHKEIT

Inwiefern ist das Ich der Kern unserer Persönlichkeit?

In welchem Verhältnis steht die Ich-Organisation dazu?

Wesensglieder als Arbeitsorgane des Ich

Die Ich-Organisation als Wesensglied ist keineswegs identisch mit dem Ich, dem Persönlichkeitskern. Die vier Wesensglieder, zu denen die Ich-Organisation gehört, werden in jedem Erdenleben für die jeweils zu bewältigenden Aufgaben neu konzipiert, allerdings unter dem Fortwirken von Taten und Ereignissen aus früheren Erdenleben und in Vorbereitung künftiger Erlebnisformen.

Diese Wesensglieder dienen jeweils für ein Erdenleben als Instrumente des Ich, als seine Werkzeuge, Ausdrucksmöglichkeiten und Arbeitsbereiche. Sie sind als Wesensglieder Arbeitsorgane des Ich, sind jedoch nicht dieses Wesen selbst. Nirgendwo kann man das so gut beobachten wie bei schwer mehrfachbehinderten Menschen oder bei Menschen, die im Sterben liegen bzw. beim Sterbevorgang selbst.

Das körperlose Wesen des Ich erfahren

Der Frage nach dem menschlichen Wesen kann nicht weiter nachgegangen werden, ohne dass man sich einen Begriff von der körperlosen geistigen Welt bildet. Wer ein Nahtodeserlebnis hatte, sei es während einer Reanimationsmaßnahme, im schweren Schock oder durch eine gefährdende Drogenerfahrung, hat seine körperlose Existenz erlebt – er hat sich selbst als ein helles, leichtes und doch kraftvolles Gedankenwesen erfahren, das durch Gegenstände hindurchgehen kann und nicht mehr an den Raum gebunden ist. Wer so etwas noch nicht selbst erlebt hat, ist auf sein Denken angewiesen.

· Zu Lebzeiten

Die Selbstbeobachtung zeigt, dass sich der Mensch im Denken als freies, leibunabhängiges, körperloses Wesen erfahren kann. Jeder Mensch kann im Denken den physischen Leib verlassen und sich im Ätherleib als Gedankenwesen erfassen und jeder kann auch Astralleib und Ich in ihrer rein geistigen Natur als „leibfreies“, d.h. außerkörperlich wirksames, von ihm selbst gelenktes Empfinden und Wollen erfahren.

· Nach dem Tode

Nach dem Tode erlebt sich der Mensch noch eine Zeit lang in diesen übersinnlichen Hüllen, die aus Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen bestehen. Im Laufe des nachtodlichen Lebens werden dann auch sie in einem Lebensrückblick „verarbeitet“ unter der schicksals-gerechten Beurteilung der Engelhierarchien – „im Angesicht der Gottheit“. Das Menschen-wesen nimmt aus seinen Wesensgliedern alles dasjenige als eine Art „Extrakt“ mit, womit es sich während des Erdenlebens über Gedanken, Gefühl und Willen ganz identifizieren konnte und was dadurch zu seinem Eigentum geworden ist. Die Identifikationskraft des Ich gehört zum Geheimnisvollsten der menschlichen Ich-Natur. Auf diese Weise mit dem „Wesentlichsten“ ausgestattet, betritt das Menschenwesen im weiteren Leben nach dem Tode als rein geistiges Wesen die geistige Welt und erlebt dort die schon in ältesten Mysterien-Traditionen beschriebene „Mitternachtsstunde des Daseins“, bevor die neue Verkörperung vorbereitet wird.[1]

Ewiges Menschen-Ich und Person

Wenn wir den Menschen in dieser Weise betrachten, müssen wir differenzieren zwischen seinem ewigen Wesenskern und der jeweils während eines Erdenlebens in Erscheinung tretenden Person. „Personare“ heißt ja dem Wortsinn nach „durchtönen“. Die Person ist Ausdruck davon, wie sich das ewige Menschen-Ich durch seine in jedem Erdenleben einmalige, spezifische Wesensgliederkonfiguration „hindurchzutönen“ und darzuleben versucht.

Unserem Alltagsblick erscheint ein Mensch umso begabter, je vollkommener er sich durch seinen Körper bzw. seine vier Wesensglieder darstellen kann, und als umso unbegabter, je weniger ihm dies gelingt. Das Menschen-Ich, als Kern der Persönlichkeit, ist weder behindert noch begabt, weder krank noch gesund ist. Es leuchtet vielmehr deutlicher oder schwächer durch die physische und seelische Behinderung bzw. Begabung der Wesensgliederkonfiguration hindurch. Es arbeitet an diesem Körper, stößt an die Behinderung und wird sich dadurch seiner selbst zunehmend bewusst.

Das Ich ist das Allgemein-Menschliche in jedem Menschen und damit auch Träger aller menschlichen Eigenschaften, die sich jeder einzelne auf ganz individuelle Weise durch seine eigenen Wesensglieder bewusst machen und erarbeiten muss. Es geschieht dies im Verlauf der Inkarnationen durch eine Fülle von Lernprozessen. Wir alle tragen unser Menschentum als Ursprung und Ziel in uns, bedürfen jedoch schmerzhafter Entwicklungs- und Erfahrungsprozesse, um uns dieses Menschentums wirklich bewusst zu werden. Es gilt, die uns durch die Natur gegebene Entwicklungsmöglichkeit zum „vollendeten Menschsein“ zu erkennen.  Dann haben wir die Aufgabe – ein scheinbarer Widerspruch in sich –, diese uns durch Geburten und Tode hindurch immer wieder neu mit Naturnotwendigkeit gegebene Entwicklungsmöglichkeit nochmals ganz aus eigenem Entschluss heraus zu „wollen“ und „anzunehmen“ und uns durch Übung und Arbeit zu autonomen Menschen zu entwickeln.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 12. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004


[1] Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, Kapitel „Schlaf und Tod“. GA 13, Dornach 1989;

Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen. GA 141, Dornach 1983;

Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.

IDENTIFIKATION UND SCHICKSAL

Wer bin ich wirklich?

Wer denkt eigentlich, wenn ich über mich nachdenke?

Doppeldeutigkeit des kleinen Wörtchens „ich“

Zu den Eigentümlichkeiten des kleinen Wortes „ich“ gehört es, dass jeder Mensch, der zum Selbstbewusstsein erwacht ist, dieses Wort auf sich selber anwendet, indem er sich selbst damit bezeichnet. So wird es einerseits zum Allerpersönlichsten, was der Mensch empfinden und ausdrücken kann; andererseits verbindet es ihn mit allen anderen Menschen, da alle Menschen es auf sich anwenden. Hinzu kommt, dass dieses Wort anders gelernt wird als alle anderen Worte, die in den ersten Lebensjahren aufgenommen werden. Obwohl das kleine Kind ständig hört, wie die Menschen zu sich „ich“ sagen, nennt es sich zunächst mit dem Namen, mit dem es von seiner Umgebung gerufen wird und spricht von sich in der dritten Person: „Peter haben“ oder „Sabine auch gehen“.

Es ist ein besonderer Moment, meistens im zweiten, dritten Lebensjahr, in dem das Kind plötzlich das Wort „ich“ benützt. Das ist oft mit einem besonderen Ereignis verbunden, mit dem Erleben von Freude oder Schreck. Das Kind weiß plötzlich: Ich bin ICH. Erstmals erlebt es selbstbewusst seine Identität. Von diesem Augenblick an zieht sich das „Ich“-Erleben als ein roter Faden des Selbstbewusstseins durch die Fülle der Lebenseindrücke und Erinnerungen.

Es gehört zu den Besonderheiten des Wortes „ich“, dass sein Inhalt schwer zu fassen ist. Die Freude, mit der ein dreijähriges Kind zu sich „ich“ sagt, und das stolze Aufstampfen, wenn es laut verkündet – „Ich will aber nicht!“ – verlieren im Laufe der Kindheit ihren Glanz und machen einer zunehmenden Unsicherheit Platz, die in der Pubertät kulminiert und den Jugendlichen so verwundbar macht. Er weiß nicht, wer er ist, er will nicht so sein, wie er ist, und schon gar nicht so, wie die Umgebung ihn haben möchte. Er will er selber werden, anders sein, eigen – aber wie? Und dann beginnt seine lebenslange Suche nach dem wahren Ich.

Das Ich als Wächter über sich selbst

Damit beginnt der Jugendliche aber auch immer stärker zu erleben, was er nicht ist oder nicht sein möchte. Er entdeckt den Schattenwurf seines Lebens in Taten, Worten und Gedanken, die so waren, dass er sich ihrer später schämt bzw. sich gerne davon distanzieren würde. Er fragt sich: „Warum bloß habe ich diese verletzende Bemerkung gemacht? Es lag doch eigentlich gar kein Grund dafür vor. Und jetzt zieht das solche Kreise und beschäftigt mich das ganze Wochenende – so ein Blödsinn!“ „Ich war nicht ganz bei mir“, sagt man vielleicht hinterher bei sich selbst über solch ein Ereignis; aber es ist geschehen und bleibt mit dem eigenen Ich, mit der eigenen Person, verbunden. Denn niemand als man selber war es, der diese Verletzung ausgesprochen hat. So besitzt das Ich die Fähigkeit, sich selbst gegenüberzutreten und über sich selbst zu wachen und zu urteilen. Es kann wahrnehmen und bestimmen, was es als zu sich gehörig empfinden will und wovon es sich distanzieren möchte.

Wer übernimmt dafür die Verantwortung, wenn ich mich davon distanziere?

Kommt es auf den Müllplatz der Weltgeschichte?

Wer entscheidet, was damit geschieht?

Oder ist eine Tat nicht etwas, womit derjenige, der sie vollbracht hat, verbunden bleibt?

Alle Handlungen haben Konsequenzen

Spätestens mit diesen Fragen dämmert ein sehr konkreter Schicksalsbegriff auf: Man ahnt, dass jede noch so kleine Handlung, jedes Gefühl und jeder Gedanke etwas bewirken, das nicht mehr rückgängig zu machen ist, weil es bereits geschehen ist. Der Gedanke wurde gedacht, das Gefühl bekam Raum in der Seele, die Handlung wurde ausgeführt.

So erschreckend diese Erkenntnis vielleicht auch sein mag, so großartig ist sie doch auch. Denn sie besagt, dass ich nicht nur mit Taten verbunden bin, mit denen ich mich identifizieren kann, zu denen ich mich voll bekenne als von mir gewollt und getan, sondern auch mit Taten, bei denen ich mich unfrei, schwach, als „nicht ich selbst“, unter dem Zwang von Emotionen oder Irrtümern stehend erlebte. Alle Ereignisse und Taten wirken als die meinen fort; sie sind von mir ausgegangen und haben ihre Konsequenzen für mich und andere im weiteren Verlauf des Lebens. Das Fortwirken von beidem, den selbstgewollten, bejahten und den ungewollten, nicht bejahten Taten, überdauert auch meinen Tod und bildet und bestimmt mein Schicksal mit.

Die Gnade, selbst bereitetes Schicksal zu verwandeln

Damit wird deutlich, dass mein Schicksal nicht etwas ist, das mir blind oder zufällig „zu-fällt“ – vielmehr bin ich es selbst, der es sich zubereitet hat und der es verwandeln, „erlösen“ oder weiterentwickeln kann. Das hat jedoch nichts mit einer „Selbsterlösungstheorie“ zu tun – ein Vorwurf, der der Anthroposophie bisweilen von kirchlicher Seite gemacht wird. Vielmehr wird damit dem in der christlichen Prophetie liegenden Freiheitsimpuls Rechnung getragen. Das johanneische Prinzip – „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“[1] – will jedem Menschen bewusst machen, dass er zu Freiheit und Mitverantwortung berufen ist. Freiheit ist jedoch ohne die Möglichkeit, eben diese Freiheit zu missbrauchen, nicht denkbar. Demgemäß kann Gnade als die Möglichkeit gesehen werden, aus eigener Kraft etwas zum Ausgleich unserer Verfehlungen zu tun. Das steht nicht im Widerspruch zum christlichen Erlösungsgedanken – denn es liegt gerade in diesem Erlösungsgedanken, dass das menschliche Ich durch seine innere Teilhabe an der Liebe des Christus für alle Menschen die Kraft bekommen hat, Schicksal in Freiheit und Würde gestalten zu lernen – für sich selbst und für andere.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 2. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004


[1] Neues Testament, Joh. 8, 32.

IDENTIFIKATION UND INKARNATION

Inwiefern spiegelt der menschliche Körper die Ebenen des Mensch-Seins?

Wie lässt sich das enge Zusammenspiel von Inkarnation und Identifikation erklären?

Dreigliedriger Körper und Ich

Der Bau des menschlichen Körpers entspricht den Arbeitsfeldern des Denkens, Fühlens und Wollens bzw. Tätig-Seins:

  • Der Kopf kann sich allenfalls ein wenig drehen, wenn man ihn jedoch zum Denken benützen will, muss man ihn stillhalten. Hier muss Ruhe herrschen. So stellt der Kopf den Ruhepol des Körpers dar.
  • Für die Gliedmaßen dagegen ist Bewegung das Normale als angemessener Ausdruck des Tätig-Seins.
  • In der Körpermitte werden die beiden Qualitäten von Ruhe und Bewegung ausgeglichen: Das zeigt sich im rhythmischen Wechsel von Ein- und Ausatmung mit dem Ruheumschlagspunkt und beim Herzrhythmus mit Systole – Diastole – Diastase.

Hier zeigt sich: Überall wo Polaritäten aufeinandertreffen, stoßen sie ein rhythmisches Geschehen an, das einen Ausgleich herbeiführt – so auch im Körper: Die Polarität von Kopf (Ruhe) und Gliedmaßen (Bewegung) findet ihren Ausgleich in den rhythmischen Körperfunktionen der Organe des Brustraumes.[1] Dieses rhythmische Geschehen steht wiederum in enger Beziehung zu dem Auf- und Abwogen der Gefühle.

Ich-hafte Aneignung von Körper, Geist und Seele

Was die verschiedenen Sublimationstheorien zu beschreiben versuchen, erhält durch die Anschauung von der Inkarnation und Identifikation des Ich als eines rein geistigen Wesens mit eigener Intention und gerichteter Aufmerksamkeit eine neue Dimension. Auf allen Ebenen muss „Aneignung“, „Vermenschlichung“ stattfinden. Das Ich muss lernen, den Körper mit seinen Trieben und Begierden zum Ausdruck bringen zu lassen, was es ist und tun will. Das betrifft auch die Welt der Gefühle und Gedanken.

Gelingt die Aneignung von Körper, Seele und Geist nicht bzw. nur teilweise, bleiben bestimmte Vorgänge in Leib, Seele und Geist dem Menschen-Ich „fremd“. Es kann sich nicht mit ihnen identifizieren, kann mit ihnen nicht als mit etwas Eigenem umgehen. So kommt es zu den in der Psychologie beschriebenen Entfremdungs- und Abspaltungsprozessen, die sich nach außen in Form von Kontrollverlust oder Fehlverhalten bis hin zu bewusst gelebter „Unmenschlichkeit“ zeigen können.[2] Wenn ein Erwachsener wiederholt aggressiv reagiert oder sich auch, wie man so treffend sagt, als „kopflos“ oder „herzlos“ erweist, liegt eine tiefe Entwicklungsstörung vor, die ihre Ursache in Kindheit und Jugend des Betreffenden hat und an der therapeutisch gearbeitet werden muss.

Lebenslange Arbeit der Identifikation

Diese Arbeit der Identifikation auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene stellt für jeden Menschen eine lebenslange Aufgabe dar, die keinesfalls mit den Entwicklungsjahren abgeschlossen ist. Wie oft geschieht es z.B., dass wir uns nicht mit dem identifizieren können, was wir tun, fühlen oder denken. Wie oft haben wir etwas getan, von dem wir später sagen, dass wir es nicht gewollt haben, oder dass wir es gar nicht selbst gewesen sind. „Es“ hat in einem gelacht oder gefühlt. Ganz unvermittelt sind einem Gedanken gekommen oder Gefühle bzw. Emotionen aufgestiegen, die man nicht in der Hand hatte, so dass wir etwas getan haben, was nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann.

  • Andererseits gibt es auch Handlungen, mit denen wir uns ganz und gar identifizieren können: Das war ich, das habe ich getan, das wollte ich so.
  • Auch gibt es Gefühle, die reinster Wesensausdruck des betreffenden Menschen sind und Ausdruck dessen, worin dieser völlig lebt und sich verwirklicht.
  • Ebenso ist es mit all denjenigen Gedanken, die wir uns selbst erarbeitet haben und hinter denen wir „ganz stehen können“.

Wer diese beiden Seiten seines Wesens – das, was er sich schon aneignen konnte und das, was noch fremd geblieben ist – betrachtet, rührt damit an die Problematik des „Nicht-Ich“, des „Gegen-Ich“, des „Schattens“, des „niederen Ich“ bzw. des Doppelgängers. Auf diese Thematik wird an anderer Stelle näher eingegangen.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 11. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997


[1] Vgl. Wolfgang Schad, Säugetiere und Mensch. Zur Gestaltbiologie vom Gesichtspunkt der Dreigliederung. Stuttgart 1985, 2. Aufl. 2012.

[2] Vgl. Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft. GA 34.

ICH-ERLEBEN, IDENTITÄTSENTWICKLUNG UND AGGRESSION

Wer ist es eigentlich, der handelt, will, fühlt und denkt?

Wer betätigt sich denn in Leib, Seele und Geist des Menschen?

Wer oder was ist diese Persönlichkeit, die ihr Zentrum im Gefühlsleben, in ihrer Beziehungsfähigkeit erlebt?

Wenn Gedanken, Wille oder Gefühle sich regen, geht dies immer von einem bestimmten Menschen aus. Wir rühren damit an das Geheimnis des menschlichen Ich, den Kern der Persönlichkeit. „Personare“ heißt „durchtönen“. Persönlichkeit ist dem Wortsinne nach dasjenige, was von diesem menschlichen Ich durch Leib, Seele und Geist hindurchtönt und sich durch sie äußern kann. Diese drei erweisen sich somit bei genauerem Hinsehen als Arbeitsfelder des Ich, mit denen es sich auseinandersetzen und in denen es sich „inkarnieren“ (Leib), „beheimaten“ (Seele) und „selbst finden“ (Geist) muss.

Die Wirkung gerichteter Aufmerksamkeit

Es gehört zu den schönsten Beobachtungen, dieses Menschen-Ich beim Tätig-Sein unmittelbar wahrzunehmen als konzentrierte, gerichtete Aufmerksamkeit. Das beginnt schon im Säuglingsalter, wenn der Säugling hingebungsvoll wahrnimmt, was der Erwachsene mit ihm tut: Insbesondere das Schmecken der Nahrung wird so intensiv erlebt und gefühlt, dass der Leib des Kindes bis in die Fußspitzen hinein an diesem Vorgang mitbeteiligt ist. Das Ich ist sich zwar seiner selbst denkend noch nicht bewusst, erlebt sich jedoch empfindend und wollend sehr stark im vertrauensvollen Hingegeben-Sein an die Umgebung, die einen trägt, nährt, schützt und pflegt.

Werden dieses Vertrauen und diese Hingabefähigkeit seitens der Erwachsenen mit liebevollem Interesse begleitet, so kann sich das in der Sinnestätigkeit anwesende aufmerksame Ich mit der Umwelt in Beziehung setzen und im Nachahmen des Erlebten sich selbst in seinem Körper als tätig erleben. Zurückweisung sowie körperliche Vernachlässigung und Misshandlung führen zum Rückzug des Ich aus seinem Leib. Die betroffenen Kinder fühlen sich in ihrem Leib unwohl und fremd und – im Falle der Misshandlung – auch qualvoll gefangen. Solche Entfremdungsprozesse machen es dem Ich schwer, sich zu verkörpern und heimisch zu werden im Leib. Jede Form von Unwohlsein und Selbstentfremdung fördert die Neigung zu aggressiven Willensäußerungen.

Phasen der Willensentwicklung als Arbeitsfelder des Ich

1. Bewegungsentwicklung und Aggression im Vorschulalter – Leib

Die Kindheit bis hin zur Vorpubertät ist andererseits das Lebensalter, in dem aggressive Willensäußerungen „normal“ und „altersentsprechend“ sind: In dieser Zeit muss das Kind Schritt für Schritt lernen, sich im Leib heimisch zu fühlen – das geht nicht ohne Krisen ab. Im Vorschul- und ersten Schulalter ist es gesund und normal, dass bewegungsfreudige Kinder sich auch körperlich begegnen, dass sie einander schubsen, drängeln, sich ärgern, kneifen, an den Haaren ziehen und Ähnliches. Die körperliche Begegnung ist ein wichtiges Feld der Selbsterfahrung, das in jeder Familie, in der mehrere Kinder sind, in reichem Maß gegeben ist. Diese Aktivitätsbereitschaft, das kindliche Willens- bzw. Aggressionspotential auf körperlicher Ebene auszuleben und „auszutoben“, ist in der Regel nicht besorgniserregend und sollte – wenn es nicht zu wirklich schlimmen Auswüchsen kommt – vom Erwachsenen auch nicht gestört und beeinflusst werden. Der Wille der Kinder wird nicht durch ständiges Ermahnen und Hinterherlaufen zu mehr Menschlichkeit erzogen, sondern durch altersentsprechende eigene Lebenserfahrungen und das Vorbild des Erwachsenen. Wenn ein Kind immer wieder geärgert, gekniffen, geschubst wurde, weiß es, wie sich das anfühlt und lernt, mit diesen Erlebnissen umzugehen und sie weder sich noch anderen zuzumuten. Was wir Aggressionspotential oder auch Angriffsbereitschaft nennen, ist nichts anderes als der auf körperlicher Ebene noch nicht beherrschte, noch nicht genügend auf bestimmte Handlungen gerichtete Wille des Kindes.

Willens- und Aggressionspotential sind identisch. Aggressivität ist der noch unkultivierte, noch nicht genügend gelenkte und gesteuerte Wille. Und so kann man Eltern von wilden oder auch aggressiven Kindern immer auch die hoffnungsvollen Worte sagen: Was sich jetzt in der Wut und im Toben äußert, sind dieselben Willenskräfte, mit denen der Mensch später Gutes bewirken kann, wenn er gelernt hat, sie unter die Herrschaft des Ich zu bringen. Daher findet in der Vorschulzeit und den ersten Schuljahren vorwiegend Willenserziehung über Bewegung statt.

2. Gefühlsentwicklung und Aggression im Schulalter – Seele

Das ändert sich mit dem achten, neunten Lebensjahr deutlich: Jetzt wird das Gefühlsleben der Ort, an dem die Willenserziehung sich fortsetzt. Es geht jetzt darum, sich mit den erwachenden Gefühlen und immer bewusster werdenden Emotionen und Trieben auseinanderzusetzen. Gefühle wie Scham, Schuld, Angst, Hass müssen durchlebt werden. Das Ich muss lernen, sich selbst in dieser Seelenlandschaft der Gefühle immer bewusster zu erkennen und auch auszudrücken. Dabei ist die Sprache die entscheidende Hilfe. Im Gespräch miteinander und mit Erwachsenen lernen Kinder, über Gefühle zu sprechen, sie auszudrücken und sie zu handhaben.

In dem Zusammenhang sei auch auf die Bedeutung der künstlerischen Erziehung für das Gefühlsleben hingewiesen: Jeder künstlerische Ausdruck ist auch ein Sprechen, nur mit anderen Mitteln als denen des Wortes. So kann man durch Farben, Formen, Töne und Bewegungen „sprechen“ und Gefühle zum Ausdruck bringen und diese bewusst formen und gestalten. Dadurch wird das Ich mit seiner Aufmerksamkeits- und Anwesenheitsbereitschaft auch im Gefühlsleben heimisch. Ein entscheidender Entwicklungsschritt wurde vollzogen, wenn Jugendliche sich anschreien oder heftig miteinander diskutieren – aber keinen Anlass mehr sehen, körperlich aufeinander loszugehen, sich quasi auf dieser Ebene zu „unterhalten“.

Für die Entwicklung einer gesunden Identität ist es notwendig zu lernen, sich mit allen Gefühlen nicht nur auseinanderzusetzen, sondern sie auch als zu sich gehörig anzunehmen. Nur dadurch wird auch der Umgang mit den negativen Gefühlen gelernt, wenn über Hass, Angst, Wut, Ohnmacht oder Ärger in der gleichen Weise gesprochen werden kann wie über Freude und Lust.

3. Entwicklung des Denkens und Aggression nach der Pubertät – Geist

Nach der Pubertät richten sich Aufmerksamkeit und Interesse des Ich primär auf das Denken. Schon vom elften, zwölften Lebensjahr an bemerken Kinder mit Freude, dass sie nicht nur in Worten denken, sondern auch unabhängig von bestimmten Worten Gedanken haben können. Es ist dies die Zeit, in der sie die sogenannten „Teekessel“ lieben und sich gegenseitig von Worten erzählen, die unterschiedliche Bedeutungen haben, wie z.B. der Schimmel als weißes Pferd und als bläulicher Belag auf dem Käse. Bevor einem bewusst wird, dass der gedanklich erfasste Sinn etwas über Worte Hinausgehendes und damit auch vom Wort Unabhängiges haben kann, sind Denken und Sprache noch sehr eng miteinander verbunden. In der Pubertät vollzieht sich zunehmend die Loslösung des Denkens von der Sprache und wird als eine gefühlsunabhängige, eigenständige geistige Betätigungsmöglichkeit erlebbar.

Der Jugendliche bemerkt diese wachsende Eigenständigkeit im Denken daran, dass er nun mit Hilfe des Denkens beruhigend auf sein Gefühlsleben einwirken kann. Er erlebt plötzlich die Möglichkeit, dass er zwar Wut empfinden kann, sie aber nicht in Wort oder Tat „herauslassen“ muss. Wenn er geärgert wird, kann er sich fragen:

Will ich mich überhaupt von diesem Blödmann ärgern lassen?

Er beginnt zu entdecken, dass ihm das Denken die Möglichkeit gibt, sich von der Umwelt zu distanzieren und damit auch gegen Angriffe „immun“ zu werden, sodass er nicht mehr auf alles und jedes reagieren muss, wie dies in früheren Jahren der Fall war. Er will und kann jetzt zunehmend selbst entscheiden, was für ihn richtig ist. Er lernt, geistige Auseinandersetzungen zu führen, bei denen polare Ansichten aufeinanderprallen, ohne dabei emotional zu werden und den anderen persönlich zu verletzen.

Willenserziehung im Bereich des Denkens

Jetzt findet die Willenserziehung im Bereich des Denkens statt, in der geistigen Betätigung und Auseinandersetzung. Damit haben die aggressiven Kräfte ein Gestaltungsfeld gefunden, auf dem sie sich trotz schärfster – geistiger – Angriffe gegenüber Lügen oder Ansichten, die man problematisch findet, betätigen können, ohne einem anderen Menschen dabei persönlich zu nahe zu treten oder ihn zu schädigen. Auf der geistigen Ebene ist die Auseinandersetzung, ja der Kampf zwischen verschiedenen Ansichten, gesund und menschenwürdig, wenn es gelingt, auf der Gefühls- und Körperebene die Würde des anderen zu wahren.

Je stärker das Selbstbewusstsein eines Menschen ausgebildet ist, umso leichter wird es ihm fallen, es bei der geistigen Auseinandersetzung bewenden zu lassen und nicht emotional zu werden. Denn er braucht das starke Selbsterleben in der emotionalen Entladung oder der aggressiven körperlichen Handlung nicht mehr, um seine Identität zu erleben und sein Selbstbewusstsein aufrechtzuerhalten. Er hat sich jetzt auf der dritten Ebene selbst verwirklicht: auf der geistigen.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 11. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

DIE ICH-NATUR DES MENSCHEN – EIN „ZWEISCHNEIDIGES SCHWERT“

Inwiefern kann das Ich als zweischneidiges Schwert aufgefasst werden?

Das Geheimnis des menschlichen Willens

Beim Lesen der Apokalypse des Johannes erschüttern uns die ungeheuren Visionen des Bösen, die Schrecknisse bestialischer Ausbrüche der Menschennatur, die zunächst unversöhnlich neben den Offenbarungen des Christus-Prinzips zu stehen scheinen. Genau das aber weist auf das Geheimnis des individuellen menschlichen Willens hin. Es gehört zu den tiefsten Rätseln des Christentums, dass ihm der Passionsweg beigegeben ist. Das heißt, dass Folter, Martyrium und gewaltsamer Tod, begleitet von Hass, Hohn und Spott als Offenbarungen der bösen Möglichkeiten der menschlichen Natur „dazugehören“.

Dieses Rätsel kann sich lösen, wenn wir in der Ich-Natur des Menschen das zweischneidige Schwert erkennen, von dem in der Apokalypse die Rede ist.[1] Diese Zweischneidigkeit ist mit der Freiheitsfähigkeit des Ich verbunden: Zum einen muss sich das Ich auf seinem Individualisierungsweg aus allem Vertrauten herauslösen und „es selbst“ werden. Zum anderen hat es die Möglichkeit, sich freiwillig wieder zu verbinden, zu identifizieren. Es hat immer wieder neu und geistesgegenwärtig die für den Augenblick stimmige Entscheidung zu treffen, so dass ein mittlerer Weg erlebbar und sichtbar werden kann.

Mitten hindurch

Dieser Weg führt zwischen Willkür und Zwang, Hochmut und Selbstaufgabe, Verschwendung und Geiz, Tollkühnheit und Feigheit, den eigenen Bedürfnissen und denen des sozialen Umkreises, mitten hindurch. So darf es auch nicht wundern, dass die Abirrungsmöglichkeiten und Schrecknisse, die infolge der Ich-Begabung im Laufe der Menschheits­entwicklung noch auftreten werden, bildhaft in diesen apokalyptischen Schilderungen vorweggenommen sind. Sie sollen gerade nicht dazu führen, uns verzagt zu machen, sondern wollen vielmehr den Willen befeuern, sich für Handlungen zu entscheiden, die das Gute wollen.[2]

Als meditative Orientierung für die neue Führungs- und Sozialkultur formulierte Steiner das „Motto der Sozialethik“:

„Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft.“[3]

Wenn der Einzelne bewusst und freiwillig seinen Beitrag dem Ganzen leistet und die anderen dabei unterstützt, dies auch zu tun, so können neue Verantwortungsstrukturen und soziale Arbeitsformen entstehen.[4] Im Tun, im Verwirklichen des individuell Erkannten und von Herzen Gefühlten liegt der Ansatz zu einer neuen Spiritualisierung der Kultur.

Vgl. Alte Mysterienstätten und neue Sozialkultur, in: Meditation in der Anthroposo­phi­schen Medizin, 1. Kap., Berlin 2016


[1] Neues Testament, Offenbarung des Johannes, Apokalypse 1,16.

[2] Peter Selg, Die «Wärme-Meditation»: Geschichtlicher Hintergrund und ideelle Beziehungen, Verlag am Goetheanum, Dornach 2013.

[3] Rudolf Steiner, Edith Maryon, Briefwechsel 1912-1924, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1990, S. 182.

[4] Michaela Glöckler, Rolf Heine (Hrsg.), Führungsfragen und Arbeitsformen in der anthroposophisch-medizinischen Bewegung, Verlag am Goetheanum, Dornach 2015.

KUNST ALS WEG ZUR ERGREIFUNG DES ICH

Wie hängen Kunst und menschliche Konstitution zusammen?

Welche Verbindung stellt die Anthroposophische Medizin als Heilkunst zur Kunst her?

Der Anthroposophische Kunstimpuls

Worin besteht der Anthroposophische Kunstimpuls?

Ich möchte gerne mit einem Text von Marie Steiner[1] beginnen, den sie im Jahre 1928 schrieb, als sie den Zy­klus „Kunst im Lichte der Mysterienweisheit“[2] herausgab:

Ein Weg der lebensdurchpulsten, lebenserhärteten, aber auch besonnenen und durchsonn­ten Ergreifung des Ich ist die Kunst. Es ist einer der gesündesten und der aufschlußreichs­ten, einer der geradesten, der am spätesten von seiner Ursprungsstätte, dem Tempel der Mysterienweisheit, abgebogen ist.“

Für sie war Kunst der Weg zur Ergreifung des Ich, der dem Ursprung alter Mysterienweisheit noch am nächsten ist, der aber auch am ehesten wieder den Anschluss an die neue Mysterienweisheit finden kann. Abstrakt formuliert ermöglicht dieser Weg die Vorbereitung der Naturreiche auf den Jupiter, ist also reine Zukunftssaat. Konkret gesprochen ist er praktizierte Menschenerkenntnis.

Kunst und Heilkunst

Rudolf Steiner nennt die Anthroposophische Medizin eine Heilkunst. Denn das Bedeutendste, was die Anthroposophie der Medizin geben konnte und kann, ist der Kunstimpuls. Das zu erkennen genügt aber nicht. Vieles scheitert, weil man das Erkannte noch nicht beherrscht. Das gilt auch für die Heilkunst. Der Kunstimpuls ist veranlagt, jetzt müssen wir lernen, ihn umzusetzen.

Alle Kunst ist eine Projektion der menschlichen Konstitution – das herausgefunden zu haben, ist Rudolf Steiners bahnbrechender künstlerischer Erneuerungsimpuls:

  • Ohne die physische Beschaffenheit der Knochen gäbe es keine sich ständig wandelnde originelle Architektur.
  • Ohne Lebenstätigkeit, Wachstum, Ausstülpung, Einstülpung gäbe es keine Plastik. Der lebendige Körper hat diese Formen zuerst gebildet.
  • Ohne Gefühls- und Seelentätigkeit gäbe es keine Malerei.

Darauf möchte ich im Folgenden genauer eingehen.

Bildegesetze des Körpers und Kunstrichtungen

1. Architektur

Die Baugesetze des physischen Leibes spiegeln sich in der Architektur: Die Architektur nimmt die Baugesetze des Kristallinen und gestaltet mithilfe diverser Baumaterialien Äußeres auf der Grundlage dieser inneren Gesetze. Und so hat auch das Goetheanum eine Außengestaltung und eine Innengestaltung. Alles beruht jedoch auf den Baugesetzen des physischen Leibes: Wir sehen hier im Goetheanum keine Form, die man der Veranlagung nach am menschlichen Körper nicht auch findet – die Säulen, das Dach und alle anderen Formen entsprechen den Rippen, den Schulterblättern, dem Kopf usw. Die so genannte organische Architektur entnimmt ihre Form den Knochen, den Bändern, den Muskelzügen, aber insbesondere den Knochen, wie man hier überall sehen kann.

Das lässt sich anhand eines anatomischen Atlas nachprüfen: Die Formen unserer Knochen finden wir in Dreiecken und Quadern, aber auch in allen ge­bogenen Flächen wieder, wie z.B. die zweifach gekrümmte Fläche, für die unser Schlüsselbein der Archetyp ist. Das Rechteck und die Rundung des Gesichts, der Kubus und die Wölbung des Kopfes, das Oval des Rumpfes, der aufrechte Mensch als Vorbild für die geraden Säulen – das alles sind Projektionen der körperlichen Konstitution.

2. Plastisches Gestalten

Wahr ist außerdem, dass wir mit denselben Kräften künstlerisch tätig sind, die unseren Körper aufgebaut und geformt haben und mit denen wir geistig tätig sind. Beim plastischen Gestalten, beim Plastizieren werden diese Gesetzmäßigkeiten der Bildekräfte unseres ätherischen Organismus abgebildet.

3. Malerei

In der Malerei finden wird die Bildegesetze des Astralisch-Ätherischen wieder. Dreidimensionales wird auf die Fläche projiziert, in die Zweidimensionalität. Es erscheint auf der Fläche abgebildet. Der Schwerpunkt verlagert sich auf den Prozess. Es geht in der Malerei um Farbklänge, um Stimmungen, wobei die Farben dem seelischen Empfinden Ausdruck verleihen. Sie sind dem Seelischen unmittelbar zugänglich. Dabei zeigt sich die Regenbogenbefindlichkeit des Menschen: von dunkel bis hell, je nachdem, wie der Mensch gerade gestimmt ist.

Leonardo Da Vinci schrieb ein Buch für Maler[3] und sagte dort sinngemäß: „Man kann den ungeübten Maler vom professionellen durch eine Sache unterscheiden: Der Ungeübte merkt nicht, dass er sich beim Malen immer selbst portraitiert. Der geübte Maler weiß, was er gestaltet und passt auf, dass er sich nicht selbst in seinen Bildern projiziert.“

In der ersten Stunde einer Maltherapie lässt der anthroposophische Therapeut seine Patienten völlig frei malen. Selbstverständlich malen sie ihre Krankheit, projizieren diese aufs Papier. Nur wenn der Therapeut sich nicht ganz sicher ist, dürfen drei Bilder gemalt werden. Diese Erstlingsbilder sind diagnostische Bilder.

Rudolf Steiner wollte nicht, dass die Lehrer an den Waldorfschulen ihre Schüler aus dem Bauch heraus frei malen lassen. Warum? Hin und wieder ist es sinnvoll, damit der Lehrer den aktuellen Zustand der Kinder sieht, aber ansonsten wollte Rudolf Steiner, dass die Kinder Aufgaben gestellt bekommen, damit sie an einer konkreten Aufgabe lernen, die eigenen, oft nicht ganz gesunden konstitutionellen Verhältnisse zu ordnen, zu strukturieren und zu klären und damit eine gesundende Rückwirkung auf das Zusammenspiel von Körper und Seele zu erzielen.

Wir gestalten und beeinflussen über die Malerei unsere seelische Befindlichkeit. Um einen gesundenden Einfluss auf die Seele ausüben zu können, müssen wir lernen, unsere Beziehung zur Welt objektiv zu gestalten und darzustellen und uns nicht immer wieder nur aus unserem subjektiven Empfinden heraus selbst darzustellen.

4. Musik

Musik ist die Projektion der wundervollen Gesetze des Ich mit seinen Verlust- und Wiedergeburts-Erfahrungen, die musikalische Projektion des Ich im Astralischen.

Deswegen kann es gar nicht anders sein, als dass Musik echte Initiationserfahrungen ermöglicht: Der Mensch erlebt durch die Musik sein Schicksal, die Abgründe, die Auf- und Abstiege und Turbulenzen seines Lebens, aber auch die Zerrissenheit und das Zersplittert-Sein seines Ich-Bewusstseins; durch die Musik kann man unmittelbar und in Reinform zum Ausdruck bringen, was das Ich vernichtet und was es erhebt.

In der Musik – insbesondere beim Gesang lässt es sich fast mit Händen greifen – offenbart sich das Ich in seiner seelischen Befindlichkeit: So wie das Ich in der Seele lebt, so wie es sich in die Seele projiziert, so drückt es sich in der Musik aus.

Deswegen lieben wir Musik. Wir kommen durch sie entweder ganz zu uns oder wir erhalten durch sie die Möglichkeit, von unserer niederen Befindlichkeit loszukommen, uns wegzuträumen, abzuheben, seelisch auszusteigen. Durch die Musik werden unserem Ich seelische Abgründe und der damit verbundene Läuterungs-, Klärungs- und Selbstfindungsbedarf deutlich bewusst.

5. Wortkunst

Durch das Wort ragt eine höhere Wirklichkeit in uns herein. Man öffnet sich der geistigen Welt. Denn mit Worten sind ganz reale Wesen und Realitäten verbunden.

Wir haben viele Möglichkeiten, die Heilkraft des Wortes therapeutisch zu nützen:

  • Im therapeutischen Gespräch
  • In Krankenmeditationen, die über heilende Worte wirken.
  • Ein weiteres therapeutisches Feld eröffnet sich in der Dichtung, in der Arbeit mit dem Wort. Die Dichtkunst, das verdichtete, weisheitsvoll gestaltete Wort ist eine Projektion aus der Geistselbst-Region, der geläuterten Astralität.
  • Der Sprachtherapeut kann aber auch direkt an der Gestaltung, der Artikulation der Sprache arbeiten.

6. Eurythmie

Eu­rythmie ist eine Projektion aus der Lebensgeist-Sphäre und vereint alle genannten Gesetzmäßigkeiten in sich: Durch Eurythmie wird der physische Leib von dem erstarkten Ätherleib zur Gänze ergrif­fen und wird zu einer sich im Raum konfigurierenden, bewegten Plastik, die ätherischen Gesetzmäßigkeiten folgt. Sie handhabt ganz bewusst die Lebensgesetze und bringt dadurch Körper, Seele und Geist in harmonische Übereinstimmung. Diese Bewegungskunst ist die beste Gesundheits- und Lebensvorsorge, die es gibt.

Eurythmie integriert alle Künste: den architektonischen Aufbau, die plas­tische Gestaltung, Farben, Licht, Musik und Wort. Diese Kunstrichtung ist eine Projektion des alles umfassenden Menschengeistes, die vollbewusste Arbeit am eigenen Schicksal möglich macht.

Rudolf Steiner spricht das zwar nicht so direkt aus, erläutert diese Zusammenhänge aber an einer Stelle, an der er über das Karma spricht. Dieser höchste Kunstimpuls ist eine Möglichkeit, die eigene Men­schenwesenheit systematisch zu verwandeln.

Wenn ich ausdauernd Eurythmie mache, bringe ich mein Denken, Fühlen und Wollen ganz bewusst in ein harmonisches Zusammenspiel. Ich ermögliche es geistig-seelischen Kräften, gesunden Formen, Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen, die ganz selbstlos sind und nicht meine Befindlichkeit widerspiegeln, sich in meinem Körper auszuwirken. Ich kann Bauchweh haben und trotzdem noch ein schönes B machen.

Ich kann mich selbst überwinden durch den Prozess und durch die Form und kann etwas Höheres, Wahreres, Reineres in meinen Körper hineinbringen und durch den Körper hindurchgehen lassen. Dadurch wird mein geistig-seelisch-körperlicher Zusammenhang in sich stimmiger und gesünder.

Manchmal werde ich aufgrund meines ungesunden Lebens, meines vielen Herumreisens, gefragt, wie ich diese Art zu leben aushalte. Wieso ich bei alledem nicht krank werde. Ohne garantieren zu können, dass ich nicht just morgen krank werde, kann ich auf diese Frage nur antworten: Ich verdanke meine Gesundheit der Eurythmie. Ich verdanke sie dem anthroposophischen Kunstimpuls, weil er mir hilft, wenn ich mich irgendwo verrannt habe oder eine Einseitigkeit entwickelt habe, wieder in mir selbst stimmig zu werden, mit mir selbst in Einklang zu kommen.

7. Schicksalskunst

Christian Morgenstern prägte das wunderbare Wort, dass es darauf ankomme, „sich selbst zum Kunstwerk zu machen“.

Wenn wir uns an die geistig-medita­tive Schulung machen, müssen wir lernen, unsere unbewussten Projektionen, die uns veranlassen, Ansprüche an andere zu stellen anstatt an uns selbst, aufzudecken und „heimzuholen“.

In der Medizin gibt es eine Reihe von Therapieverfahren, durch die man lernen kann, die eigenen Lebensprobleme nicht mehr nach außen zu projizieren: auf das Elternhaus, auf die schwierige Situation in der Schule, auf die Kollegen, auf die Situa­tion am Arbeitsplatz usw. Wir Menschen sind alle sehr einfallsreich, wenn es ums Dele­gieren der Verantwortung für unsere eigenen Schicksalsprobleme an die Umwelt geht. Wenn wir unseren Blick dafür schulen, erkennen wir, dass wir mit dieser Haltung unser kostbarstes künstle­risches Selbstgestaltungsmaterial weggeben und die Arbeit an uns selbst anderen aufhalsen.

Der anthroposophisch-meditative Schulungsweg als siebte Kunst schult uns darin, in kleinen Schritten unbewusste Projektionen der eigenen noch nicht geläuterten Menschenwesenheit Stück für Stück heimzuholen und Probleme an dem Platz zu bearbeiten, von dem sie ausgegangen sind.

Vgl. Vortrag auf der Jugendtagung „Mittendrin“, Dornach, Juli 2007


[1] Marie Steiner, auch Marie Steiner-von Sivers, geborene Marie von Sivers oder Sievers, Siebers (* 14. März 1867 in Włocławek; † 27. Dezember 1948 in Beatenberg, Schweiz), war eine deutsch-baltische Schauspielerin, Regisseurin, Theosophin und Anthroposophin. Als zweite Ehefrau Rudolf Steiners (Begründer der Anthroposophie) besaß sie die österreichische Staatsbürgerschaft. (ges. am 24.04.2024 auf https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Steiner)

[2] Rudolf Steiner, Kunst im Lichte der Mysterienweisheit. Acht Vorträge, gehalten in Dornach vom 28. Dezember 1914 bis 4. Januar 1915 mit einem Geleitwort von Marie Steiner. GA 275.

[3] Leonardo da Vinci, Das da Vinci Universum - Die Notizbücher des Leonardo, Hrsg. Emma Dickens, Berlin 2006.

DAS ICH ALS TRAGEKRAFT ÜBER DEN ABGRUND

Was hilft, wenn uns Hass zu übermannen droht?

Was hilft uns, aus Freiheit das Gute zu tun?                                    

Wende am Abgrund

Ein unvergesslicher Moment in meiner Vater-Tochter-Begegnung war, als ich meinen Vater fragte, was für ihn die größte Herausforderung im Krieg war. Er war Journalist an vorderster Front und hatte so den gesamten 2. Weltkrieg als Kriegsberichterstatter mitgemacht. Er hat viel Furchtbares gesehen und gehört. Auf meine Frage hin erzählte er Folgendes: Auf dem Russland-Feldzug kamen sie abends in ein verlassenes Dorf, in dem vor ihnen schon deutsche Soldaten genächtigt hatten. Sie betraten in eine kleine Hütte, in der an der Holzwand ein Zettel hing mit einem Bild von Adolf Hitler. Als er dieses Bild sah, stieg abgrundtiefer Hass in ihm auf, weil dieser Mensch so viel Leid und Elend verursacht hatte. Er konnte fast nicht an sich halten vor Hass – doch im nächsten Moment überkam ihn tiefe Scham und er hörte in sich die Frage: Könntest du für diesen Menschen beten?

Solch ein Erlebnis bringt uns Menschen an den Abgrund der eigenen Existenz. In dem Nichts, das sich vor uns auftut, dürfen wir den freien Entschluss fassen, unsere Haltung zu ändern, eine Wende herbeizuführen. Denn das Wesen der Freiheit zeichnet sich dadurch aus, dass es aus Freiheit das Gute zu tun vermag – nicht, weil es gerecht ist, sondern weil wir Menschen freie Wesen sind und das Böse nur in der Welt ist, um uns diese Freiheit zu ermöglichen. Dazu muss das Gute „in Urlaub“ sein, d.h. frei vom Guten zu sein, gehört auch zu unserem Dasein dazu.

Unverletzlichkeit der Ich-Sphäre

Das Großartige ist, dass man nicht im Bodenlosen versinkt, wenn man den Ich-Begriff im Denken fassen konnte. Das ist vielleicht der Grund, weswegen die Esoterik so viel vom Abgrund redet. Wenn man genau aufpasst, kann man am Abgrund zweierlei erleben:

  1. Zum einen spürt man den Impuls zu kämpfen.
  2. Außerdem kann man erleben, dass das eigene Ich-Bewusstsein überallhin mitgeht, auch in den Hass. Dieses Ich-Bewusstsein ließ meinen Vater fragen: Könntest Du für ihn beten?

Es ist eine große Hilfe, wenn wir darauf aufmerksam werden, dass da immer jemand ist, der an unserer Seite geht; der durch die schlimmsten Abgründe mitgeht und die höchsten Höhen miterlebt, aber nie darin aufgeht, sondern darüber hinaus da ist und immer stärker ist als derjenige, der alles erlebt; einer, der zuschaut und merkt, dass da einer etwas erlebt. Diesen wahrnehmenden Begleiter, unser Ich, ins Bewusstsein zu bekommen, wirkt als Tragekraft über den Abgrund. In der Unverletzlichkeit der Ich-Sphäre sind Mut, Vertrauen sowie Gewissheit über die Ewigkeit des Geistes und die eigene Identität begründet.

Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013