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Kirche und Gemeinde

Aus Geistesforschung
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Kirche und Gemeinde – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

INTEGRATION ALS AUFGABE DER KIRCHE HEUTE

Was ist „die Kirche"?

Was ist ihre Aufgabe in der heutigen Zeit?

Unterschiedliche Begrifflichkeiten von Kirche

Im Griechischen gibt es zwei Worte für den Begriff „Kirche“:

  • Kyriakón – das Haus des Herrn
  • und Ekklesia – die Volksversammlung, die Gemeindeversammlung, die christliche Gemeinde.
  • Entsprechend hat sich auch über die Jahrhunderte die Auslegung des Wortes Kirche entwickelt.
  • Versammlung der Heiligen

So heißt es in der confessio augustana[1]: „Die Kirche aber ist die Versammlung der Heiligen, in der das Evangelium rein gelehrt wird und die Sakramente richtig verwaltet werden (est autem ecclesia concregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte ad ministrantur sacramenta)."

  • Gemeinschaft der Gläubigen

Für Luther ist Ecclesia die „Gemeinschaft der Gläubigen, die Gott zum ewigen Leben bestimmt hat (corpus fidelium quos deus ad vitam aeternam praedestinavit)".

  • Ethisch gemeines Wesen

Bei Kant finden wir den philosophischen Kirchenbegriff als den eines „ethisch gemeinen Wesens", durch das „die völlig unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden". Dies gipfelt in seiner Idee der „unsichtbaren Kirche", von der er sagt, dass ihre Verfassung „am besten mit der einer Hausgenossenschaft unter einem gemeinschaftlichen, ob zwar unsichtbaren, moralischen Vater steht".

  • Leib des Herrn

Dann wiederum wird Kirche aufgefasst als Haus bzw. als Leib des Herrn, wie dies zuletzt 1943 in der päpstlichen Enzyklika „Mystici Corporis" sehr eingehend beschrieben worden ist.

  • Vereinigung unterschiedlicher Bekenntnisse – Ökumene

Gegenwärtig ist man im Rahmen des ökumenischen Impulses der Kirchen bestrebt, die unterschiedlichen christlichen Kirchen und Bekenntnisse als eins zu sehen, wenn es darum geht, Christus mit „seiner Kirche" in Verbindung zu denken.

  • Gebäude für Menschengemeinschaft

Würden wir heute eine Umfrage machen, was Menschen unter einer Kirche verstehen, würde der eine mehr das der Versammlung dienende Gebäude im Auge haben und der andere mehr die sich dort versammelnde Menschengemeinschaft.

Gründe für Kirchenaustritte

Die vielen Kirchenaustritte in unserem Jahrhundert hängen sicher auch damit zusammen, dass die Kirche nicht mehr als eine persönliche Realität empfunden wird. Die Nähe oder gar Anwesenheit des Christus zu erleben bzw. Menschen zu treffen, die ebenso den Christus suchen, sind Erfahrungen, die vielen Menschen fremd geworden sind.

Man hört aber auch von Menschen, die durchaus religiös sind und dennoch aus der Kirche austraten, dass ihnen die Kirche ein viel zu eng gesteckter Rahmen gewesen wäre. Sie würden mit dem Christentum eine weltumspannende, tolerante und ganz und gar nicht sektiererische Weltanschauung in Verbindung bringen. Sie können sich mit der Kirche nicht mehr ausreichend identifizieren, um dort mehr als ein stilles Mitglied sein zu wollen. Sie erleben ihre Fragen an das moderne Leben und die schwierigen Zeitverhältnisse von kirchlicher Seite nicht befriedigend aufgegriffen und beleuchtet.

Neue Glaubensgemeinschaften

Dennoch sind auch im 20. Jahrhundert neue Glaubensgemeinschaften und Kirchen entstanden. So auch die Christengemeinschaft, die 1922 mit der Hilfe Rudolf Steiners begründet wurde. Man kann nicht sagen, dass sie sich aus der evangelischen oder katholischen Kirche „abgespalten" habe. Denn der Gründerkreis der Christengemeinschaft umfasste Mitglieder aus beiden Richtungen. Heute hat die Christengemeinschaft eigene Kirchenbauten, nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch in Nord- und Südamerika, in Australien und Neuseeland, in Asien und in Südafrika.

Dennoch ist sie im Vergleich mit der evangelischen und katholischen Kirche und deren Nebenströmungen eine sehr kleine Gemeinschaft. Doch selbst die größte Kirche, die katholische, zählt nur etwa 840 bis 890 Millionen Mitglieder und macht damit nur etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung aus.

Die Tatsache, dass die Menschheit so vielen verschiedenen Religionen und Glaubensbekenntnissen angehört, gehört zu den großen Rätseln der menschlichen Entwicklung. So faszinierend der Gedanke wäre, dass es nur eine Religion gäbe, so problematisch wäre das doch auch. Denn gerade die Verschiedenheit der Religionsbekenntnisse und -gewohnheiten hat etwas ungeheuer Befreiendes und hilft dem Einzelnen, die Frage nach der Religion als eine existenzielle persönliche Herausforderung zu begreifen.

Unterschiedliches Bemühen, ein Ideal zu verwirklichen

Nimmt man das Wort Kirche in seiner doppelten Bedeutung als Wohnung bzw. Haus Gottes einerseits und als weltweite Menschengemeinschaft, die ihren Zusammenhang mit der göttlich-geistigen Welt sucht, andererseits findet man sich jenseits aller besonderen Religionsbekenntnisse wieder und steht einer Idee, ja einem großen Ideal gegenüber. Dann lassen sich all die unterschiedlichen religiösen Bewegungen und Kirchengründungen als Bestrebung begreifen, dieses Ideal auf die eine oder andere Weise in dieser oder jener Zeit, mit diesen oder jenen Menschen bzw. Möglichkeiten, auf dieser oder jener Tradition aufbauend mehr oder weniger weitreichend zu verwirklichen.

Dieses Ideal kann eine große Hilfe sein, umfassende Toleranz nicht nur im Hinblick auf die unterschiedlichen christlichen Kirchen, sondern auf die Religionssysteme überhaupt zu entwickeln. Das Schöne daran ist, dass das keine Nivellierung bedeuten würde. Vertreter aller großen Weltreligionen haben gezeigt, dass beides vereinbar ist: das Pflegen der eigenen religiösen Überzeugung und ein tiefes Verstehen dessen, was allen religiösen Bemühungen gemeinsam ist. Diese Haltung gebietet von selbst, die anderen Richtungen zu tolerieren.

So mag eine Kirche wie die Christengemeinschaft im Vergleich zu anderen äußerlich gesehen sehr klein erscheinen. In Wahrheit entspricht ihre Größe dem Ausmaß an Toleranz und Menschenverständnis ihrer Mitglieder. Auch wenn für die Pflege von spezifischen kultischen Handlungen und Glaubensinhalten bestimmte Formen und Verbindlichkeiten notwendig sind, so kann doch die Haltung, mit der der Kultus und die Sakramente gefeiert werden, etwas ganz Offenes, Freies und Weltumspannendes an sich haben. Ein die Menschheit umspannendes Religionsverständnis ist heute die Voraussetzung dafür, dass man sich wieder engagiert einer bestimmten Kirche und ihren Aufgaben im Menschheitsganzen zuzuwenden gewillt ist.

Bau an der unsichtbaren Kirche statt Machtentfaltung

Viele Menschen besitzen heute erstaunliche Integrationsfähigkeiten im Äußeren. Die Fähigkeit, zwischen zerstrittenen Parteien zu vermitteln, ist eine der gesuchtesten heutzutage. Sie bringt aber eine große Gefahr mit sich: die Versuchung, aufgrund der Überschau, die durch die Integrationsfähigkeit entsteht, Macht ausüben zu wollen. Ein Mensch, dem primär die äußere Größe einer Kirche wichtig ist, sieht an ihrer eigentlichen Aufgabe bzw. Sinnhaftigkeit vorbei. Gelingt es den Kirchen, diese Versuchung klar im Auge zu behalten und der Machtentfaltung im Äußeren zu widerstehen und stattdessen die Integration des Ganzen im Inneren zu vollziehen, durch innere Anteilnahme und Bewusstseinsarbeit, so werden sie ihrer Aufgabe gerecht. Einzig die innere Größe einer Kirche ist wichtig, die sich als integrative Kraft äußert, durch die an der unsichtbaren Kirche gebaut wird, zu der die ganze Schöpfung gehört. Dann bekommt auch das Feiern der Sakramente eine neue Strahlkraft und Dimension: Das einzelne Kind, das die Taufe empfängt, oder das Paar, das sich trauen lässt, werden jetzt als Angehörige der Menschheit erlebt, die durch die sakrale Handlung in ihrer Entwicklung gestärkt wird.

So können heute gerade kleine Kirchen durch die Art, wie sie das Gemeindeleben fördern, Vorbilder sein und, anstatt äußeres Wachstum voranzutreiben, die integrative Kraft stärken und dadurch inneres Wachstum fördern. Dadurch kann unter unterschiedlichen Kirchgemeinden ein gemeinsames Bewusstsein der Zusammengehörigkeit entstehen: Jeder dient an seinem Platz im unsichtbaren Tempel der Menschheit und erfüllt seine Aufgabe in der großen Gemeinde der Menschheit. So können sich Kirchen heute als „die Ersten“[2], gleichsam als Vorreiter, empfinden, die ihrer Aufgabe so lange treu bleiben, bis möglichst alle Menschen den Anschluss an das Menschheitsziel gefunden haben. Damit werden sie auch „die Letzten" sein, die nicht ruhen, bis alle anderen vor ihnen ans Ziel gelangt sind.

Vgl. „Integration - Aufgabe der Kirche heute“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997


[1] Die im Folgenden wiedergegebenen Zitate entstammen dem Historischen Wörterbuch der Philosophie (HG Karlfried Gründer; Joachim Ritter, Darmstadt 1971-2007), Bd. 4, Stichwort Kirche.

[2] Gemäß dem Bibelwort: „Die Ersten werden die Letzten sein“, Matthäus 20, 16.

DIE FÄHIGKEIT DER INTEGRATION

Inwiefern ist die Fähigkeit der Integration heute notwendig im Kontext von Kirche?

Integration von Göttlichem ins Menschliche

Die Besinnung auf den Leib-Seele-Zusammenhang kann uns das Wort vom „Tempel des Leibes“ verständlich machen und uns ahnen lassen, welch weitreichende Bedeutung es hat, dass das Schöpfungsprinzip des Anfangs, der Logos, sich einmal im Lauf der Evolution in einen menschlichen Leib und in ein menschliches Seelen- und Geistesleben hereinbegeben und sich dort seiner selbst auf menschliche Weise bewusst geworden ist: Auf diesem Wege hat Christus das Welt- und das Menschenbewusstsein miteinander verbunden. Der menschliche Leib ist seither zugleich

  • Abbild der Gottheit,
  • Ort der Integration der Weltgesetze,
  • Tempel dieser Weltgesetze und des sich darin abbildenden Gottesbewusstseins.

Integrieren, um zu heilen

Ein solcher Tempelbegriff legt nahe, den Integrationsgedanken ganz in den Vordergrund zu rücken. Integration bedeutet in der Mathematik das harmonische Zusammenfügen aller Bezugspunkte zu einer bestimmten Kurve oder Figur. Auf die Religion übertragen ist es eine Fähigkeit des Menschen, der sich seines Zusammenhanges mit der Welt bewusst geworden ist: Er wird sich als „Integrator“ betätigen, wo immer etwas beziehungslos oder unvereinbar aufeinanderprallt.

Der Körper ist im Zuge von Aufbau-, Regenerations- und Heilungsvorgängen ständig am Integrieren. Das Gleiche sollen wir mit Hilfe des Denkens bewusst auch tun, das ist unsere Aufgabe. Das Christentum will sich heilend im Menschheits- und Weltganzen betätigen. Nichts anderes bedeutet Integration.

Es gibt immer mehr Menschen, die sich der Kriege, der Not, des Elends und der Dramen in weiten Teilen der Erde bewusst sind und die fortwährend mitleiden. Wird dieses Mitleiden von dem Bewusstsein begleitet, dass Gedanken und Gefühle auf der geistigen Ebene ebenso real sind wie sinnlich Sichtbares auf dem physischen Plan, so kann es zur Überwindung der leidbringenden Zustände beitragen. Denn über unser Bewusstsein können wir Beziehung zu den Betroffenen aufnehmen, uns mit ihnen verbinden und ihnen helfende Kräfte in Form von guten Gedanken und Gefühlen zukommen lassen.

Indem wir in einem weiteren Schritt die Ursachen zu verstehen beginnen, arbeiten wir direkt an einem kulturellen Wandel mit.

Warum wird in unserem so stark materialistischen Zeitalter ein Drittel der Menschheit durch Elend und Not ständig an die Schwelle zur geistigen Welt geführt?

In jedem Menschenleben halten sich durch die verschiedenen Verkörperungen hindurch Schmerz und Freude, Elend und Glück die Waage. Das Gleiche trifft auch auf die Menschheit als Ganzes zu: Was der Materialismus an Bequemlichkeit und Abgestumpftheit dem Geist gegenüber mit sich bringt, fordert geradezu Wachheit und Schmerz an einer anderen Stelle heraus.

Einzelerscheinungen im Zusammenhang mit dem Ganzen sehen

Die Fähigkeit der Integration zu entwickeln bedeutet, menschheitlich denken zu lernen, Einzelerscheinungen wieder im Zusammenhang mit dem Ganzen zu sehen. Victor E. Frankl vermochte sogar im Konzentrationslager sein Leben so zu ordnen, dass er unter größtmöglichem Zwang innere Freiheit erleben konnte.[1]

Die Botschaft seines berühmten Buches und der von ihm entwickelten Psychotherapie ist, dass es letztlich eine Frage der Einstellung ist, wie wir leben und wie wir die Ereignisse, die uns begegnen, annehmen können. Frankl hat sich in innerer Freiheit zu der Einsicht hindurchgerungen, dass er durch seine furchtbaren Erfahrungen im Konzentrationslager persönlich etwas über sich und sein Schicksal und die Menschheit lernte, was für ihn nur dort und nur so in dieser grundlegenden Weise erfahrbar war.

So wie der Mensch als Einzelner mit der richtigen Einstellung zu seinem Leben und Schicksal ringt, so hat Christus dies in Bezug auf die ganze Schöpfung getan. In diesem Sinne nimmt er alles auf, was Menschen entwickeln, was von Menschen erarbeitet wird im Fortgang dieser Schöpfung. Er begleitet diese sich immer weiter fortsetzende neue Schöpfung seinen eigenen Worten nach bis an ihr Ende. Damit ist er nicht nur der Erste, sondern auch der Letzte, nicht nur das Alpha, sondern auch das Omega.[2]

Vgl. „Integration - Aufgabe der Kirche heute“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997


[1] Victor E. Frankl, Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychiater erlebt das Konzentrationslager, 7. Aufl. München 1995.

[2] Neues Testament, Offenbarung 22, 13.

SELBSTBEWUSSTSEIN ENTWICKELN ALS GEMEINDE

Wie kann eine Gemeinde Selbstbewusstsein entwickeln?

Was ist ein Gemeinde-Selbst?

Leibunabhängiges Selbstbewusstsein erwerben

Das gewöhnliche Selbstbewusstsein des Menschen ist an die Intaktheit des physischen Leibes gebunden, und zwar so sehr, dass es rasch zusammenbrechen kann, wenn der Leib erkrankt oder seine Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird und der Betreffende sich überflüssig vorkommt. Daher ist es nötig, an einem dauerhaften, leibunabhängigen Selbstbewusstsein zu arbeiten. Das kommt jedoch dem gleich, was man zu allen Zeiten die „zweite Geburt“ genannt hat. Im Gespräch mit Nikodemus[1] wird auch im Evangelium davon gesprochen. Die Möglichkeit zu einer solchen zweiten Geburt trägt jeder Mensch in sich. Goethe beschreibt in seinem Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie, wie die Schlange das Gold in sich aufnimmt und dann zu leuchten beginnt:

„… zur größten Freude bemerkte sie, dass sie durchsichtig und leuchtend geworden war. Lange hatte man ihr schon versichert, dass diese Erscheinung möglich sei (…)." [2]

Diese Worte beschreiben den entscheidenden Schritt vom bloßen Wissen, dass etwas möglich ist, zur Erfahrung, wie es wirklich ist.

Selbstbewusstsein durch Denken

So ist es für die zweite Geburt entscheidend, eine persönliche Beziehung zur Gedankensphäre – zum Gold der Schlange – zu bekommen und zu erleben, wie man sich durch Gedanken verwandeln und ein so unzerstörbares Selbstbewusstsein entwickeln kann, wie Gedanken selbst unzerstörbar sind.

Der Geburtsschmerz, der dieser Geburt „im Geist" vorangeht, ist die Ohnmacht, durch die man erkennt, dass die Gesundheit des Leibes oder eigenes Wissen und eigene Fähigkeiten nicht mehr ausreichen, das Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten. Diese Ohnmacht ist der Anfang des neuen Selbstbewusstseins. Denn ich selbst muss zu mir „Ja“ sagen lernen, zu dem, was ich in mir trage – ganz unabhängig davon, was die Welt von mir hält und was ich „kann".

Fichte hat dies in seiner Wissenschaftslehre mit den Worten ausgedrückt: „Das Ich setzt sich selbst". So hängt es von einem selbst ab, mit welchen Zielen man sich identifizieren möchte, um erst zu werden, was man vorher glaubte zu sein: ein Mensch. Der Gedanke von Wesen und Bestimmung des eigenen Ich und die Werte, mit denen sich dieses Ich identifiziert und die es sich zu eigen macht, haben geistigen Bestand. Sie sind ewig und unzerstörbar und können auch den Tod überdauern. Sie tragen den Menschen – bildlich gesprochen – auf geistigen Flügeln über den Strom zwischen der irdischen und der geistigen Welt.

Gemeinsame Ziele verständlich formulieren

Dieser Prozess gilt auch für eine Gemeinschaft von Menschen bzw. für eine Gemeinde. Gelingt es, innerhalb der Gemeinde Aufgaben und Ziele so zu formulieren, dass möglichst viele diese Aufgaben und Ziele verstehen und sich auch für ihr Leben zu eigen machen können, beginnt die Gemeinde, ein gesundes höheres Selbstbewusstsein zu entwickeln. Dann leuchtet durch die gemeinsam erkannten Aufgaben und Ziele das höhere Selbst dieser Gemeinde in Form des gefassten Ideals und der erkannten Zielvorstellung auf und wirkt sich auf jeden Einzelnen aus. Es bewirkt, dass die Menschen mehr Freude aneinander haben, mehr miteinander anzufangen wissen, wenn sie sich innerhalb der Gemeinde begegnen, und sie sich kräftiger und lebensfähiger fühlen. Dadurch wird der Einzelne in seiner Entwicklung zusätzlich gefördert – über das hinaus, was er allein an sich oder aus seinem sonstigen Lebenskreis heraus zu tun in der Lage wäre.

Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997


[1] Neues Testament, Johannes 3.

[2] Johann Wolfgang von Goethe, Das Märchen, 12. Absatz. Das Märchen ist die letzte Erzählung aus Goethes Novellenzyklus ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter‹ von 1795, zuerst erscheinen in der von Schiller hrsg. Zeitschrift Die Horen.

JOHANNES UND DIE GEMEINDE, DIE SEINEN NAMEN TRÄGT

Was kann die Wesenheit des Johannes zur Gemeindebildung beitragen?

Die Johanneswesenheit ergründen

Wenn eine Gemeinde den Namen des Johannes für ihre Kirche wählt, ist damit die Aufgabe verbunden, diese Johanneswesenheit kennenzulernen. Einzelne oder auch Gruppen von Gemeindemitgliedern können sich mit der einen oder anderen Eigenschaft des Johannes auseinandersetzen. In einem weiteren Schritt können sie sich darum bemühen, diese Eigenschaften selbst auch zu erarbeiten und dadurch etwas von seinem Wesen in der Gemeinde zur Wirksamkeit zu bringen.

Dazu möchte ich ein Beispiel nennen. Johannes steht in einer engen Verbindung zur Erweckung des Lazarus und damit zu den Evangelien-Worten: „Lazarus komm heraus!" Das Erweckt-Werden vom Tode steht für die Tatsache, dass man ein zweites Leben geschenkt bekommt. Um das Bewusstmachen dieser Realität geht es heute: Jeder Mensch hat in diesem Leben auch noch ein zweites Leben, nur sind sich viele dessen nicht in aller Konkretheit bewusst. Man kann sich dafür sensibilisieren durch folgende Fragen:

Bin ich schon einmal in Lebensgefahr gewesen?

Wie oft konnte ich dem Tod dadurch entgehen, dass mir in kritischen Situationen nichts passiert ist – sei es nun im Straßenverkehr oder bei einsamen nächtlichen Reisen oder in einer fremden Großstadt oder, oder, oder ...?

In der Auferweckungsenergie leben

Wenn man sich bewusst geworden ist, dass man das Leben durch dieses oder jenes Ereignis noch einmal geschenkt bekam, liegt es nahe, sich zu fragen:

Was will ich mit diesem geschenkten Leben tun?

Werden wir nicht in gewisser Weise jeden Morgen neu aufgerufen, das Leben fortzusetzen?

Es ist eine lohnende Gedanken- und Gefühlsübung, sich an drei Tagen im Jahr vorzustellen, man wäre schon gestorben, und dann diese Tage so zu leben, wie man leben würde, wenn man aus dem Totenreich noch einmal für drei Tage wieder auf die Erde kommen dürfte.

Was wäre einem dann wichtig?

Womit würde man sich beschäftigen?

Zu welchen Menschen würde man vielleicht hingehen, um die Beziehung in Ordnung zu bringen?

Mit dem Gedanken an die Auferweckung des Lazarus, der zum Johannes wurde,[1] kann einem deutlich werden, dass eine Kirche, die diesen Namen trägt, einen Lehrer hat, der die Schwelle zur geistigen Welt persönlich kennengelernt hat. Christus ist ihm an dieser Schwelle begegnet und hat ihn zu einem neuen Leben mit einem neuen Namen aufgerufen. Ein solches Schwellenbewusstsein zu pflegen, kann viel zur Gemeinschaftsbildung innerhalb einer Gemeinde beitragen und gibt auf der anderen Seite der Wesenheit des Johannes die Möglichkeit, in der Gemeinde wirksam zu sein, weil er sich erkannt und angesprochen fühlt.

Vgl. „Wie ist Entwicklung zur Selbständigkeit und Gemeinschaftsbildung vereinbar?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997


[1] Rudolf Steiner wies in Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums (1902, GA 8) und später darauf hin, dass die im Johannesevangelium geschilderte Totenerweckung des Lazarus in Wahrheit ein durch das Schicksal eingeleiteter Einweihungsakt war. Lazarus ging, wie in vorchristlichen Mysterien gebräuchlich, durch einen dreieinhalbtägigen Todesschlaf, aus dem ihn der Christus erweckte. Von da an trug Lazarus den Einweihungsnamen Johannes (hebr.: „der HERR (JHWH) ist gnädig“; im Judentum Ausdruck einer als göttliches Geschenk gegebenen Geburt). Johannes, der erweckte Lazarus, ist nach Steiner identisch mit dem Schreiber des Johannesevangeliums, dem Evangelisten Johannes. (Vgl. Anthrowiki – Lazarus und Johannes.)