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Selbstbewusstsein
Selbstbewusstsein – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
KONTINUITÄT UND WIEDERHOLUNG IM ALLTAG
Warum sind gerade für kleine Kinder Kontinuität und Wiederholung so wichtig?
Gesundes Selbstbewusstsein veranlagen
Erziehung zu einem gesunden Selbstbewusstsein verlangt Kontinuität. Denn solange das Kleinkind noch nicht über ein abstraktes Erinnerungsvermögen verfügt, d.h. solange es alles, was es nicht sieht, sogleich vergisst, solange ist das kindliche Selbstbewusstsein ganz von den gegenwärtigen Sinneseindrücken abhängig; es muss sein Selbsterleben ständig daran erneuern. Erst wenn es zu denken beginnt, gelingt es ihm, das Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten. Daher ist es so wichtig, dass jedes Kleinkind seine Ecke, seine Gegenstände, sein Bettchen als etwas zu ihm Gehöriges hat, worin es sich immer und immer wieder findet.
Es kann sein, dass ein Kind die Mutter stark entbehrt und darunter leidet, beispielsweise dann, wenn die Mutter morgens noch stillt und das Kind danach abgibt. Dann kann es hilfreich sein, neben das Kopfkissen des Kindes eine Milchvorlage aus dem Büstenhalter der Mutter zu legen, die den Geruch der mütterlichen Brust festhält, sodass das Kind die Kontinuität der mütterlichen Geruchswahrnehmung erlebt. Man hat festgestellt, dass Säuglinge schon in den ersten Lebenstagen, wenn sie in Bauchlage den Kopf gerade ein wenig anheben können, das Gesicht sofort auf die Seite drehen, auf der solche mütterlichen „Geruchsartikel” hingelegt wurden. Wenn diese Gegenstände von einer anderen Frau stammen, erfolgt gar keine Reaktion. Der Geruchsinn ist also ganz und gar auf die Mutter eingestellt. Manche Mütter tragen dieser Tatsache instinktiv Rechnung: Wenn die Kinder anfangen allein zu schlafen, darf noch eine Wolljacke oder ein anderes Kleidungsstück der Mutter mit ins Bettchen und der Schlaf ist ruhig.
Wiederholung verstärkt das Selbstgefühl
Warum aber bedeutet die Wiederholung des Gleichen eine Verstärkung und Vertiefung des Selbstgefühls?
Warum verleihen die vertraute Umgebung, dasselbe liebe Gesicht, dieselben lachenden Augen, dieselbe warme Hand, derselbe Geruch, derselbe Geschmack Lebenssicherheit?
Dass Säuglingsernährung so langweilig, so wenig „abwechslungsreich“ ist, dass es immer gleich schmeckt, ist gerade das, was Kinder brauchen. Wir Erwachsenen haben diese Eintönigkeit nicht mehr nötig, wir essen gerne jeden Tag etwas anderes. Die Sinne des Säuglings aber verlangen nach der Wiederholung des Gleichen, weil sich das Ich nur über die Sinneserfahrung betätigen und allmählich mit dem Leib verbinden kann.
Daher verwenden wir im Umgang mit kleinen Kindern auch die wundervollen Quintenklänge, die ganz und gar den Lebenssinn ansprechen und das Ich dazu anfeuern, sich selbst zu erfahren. Die Quint ist der Laut des Lebens: Jeder Atemzug bewegt die Lungen im Verhältnis drei zu zwei, im Verhältnis der Quint, so wie wir auch rechts drei und links zwei Lungenlappen haben. Die Quinte ist unter den Intervallen dasjenige, durch das man sich im Körper auf harmonische Weise an der Grenze zwischen der Umwelt und der melancholischen Innenwelt erlebt; sie ist der Klang des heiteren, gesunden Selbstbewusstseins.
Die Terz ist Ausdruck von Melancholie, bringt einen schon ein wenig auf den Weg in das „genüssliche Deprimiertsein“. Und bei der Sext und Septim ist man schon ein wenig am Aussteigen, am Exkarnieren. Die Quintenklänge liegen gerade dazwischen. Wenn wir sie für Kinder im ersten, zweiten, dritten Lebensjahr immer wieder auf der Leier erklingen lassen und mit Geschichten und Liedchen verbinden, trägt das aufs Innigste zur Stärkung des Selbstbewusstseins, zur Selbsterfahrung, zum „Mitte finden“ der Kinder, bei.
Für Sie selbst wird das Herausfinden, was ein Kind von Zuhause im Sinne der Kontinuität braucht, zu einer objektiven Seelenübung, in der Ihre Sympathien und Antipathien zu Wahrnehmungsorganen für das werden, was das Kind gernhat. Sie sollten nicht meinen, dass das, was Sie selbst als das Schönste betrachten, auch für das Kind das Schönste ist. Es kann durchaus dasselbe sein, muss es aber nicht.
Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft
AUFBAU EINES GESUNDEN SELBSTBEWUSSTSEINS
Was macht ein gesundes Selbstbewusstsein aus?
Wie kommt unser Ich-Bewusstsein zustande?
Schritte zu einem gesunden Selbstbewusstsein
Das bewusste Ergreifen des Ich, das mit dem Erwerb von Selbstbewusstsein Hand in Hand geht, erfolgt in drei Schritten, die ich im Folgenden näher erläutern will.
1. Das Ich als Punkt, der sich auf die Welt bezieht
Unser Ich-Bewusstsein entspricht einem Punkt. Wenn es uns nicht gelingt, uns zur fokussieren, uns zu konzentrieren, sodass wir schließlich ganz bei uns sind, sind wir „zerstreut“ und nicht wirklich „da“. Das ist der eine Aspekt.
Das andere hat mit der Fülle unserer Gedanken und Bestrebungen zu tun, mit dem, was wir tun wollen und oft nicht können, weil uns dies oder jenes behindert – aber auch mit den komplexen Lebensverhältnissen eines jeden Menschen. Alles, was uns umgibt, bildet unser Umfeld. Das Wichtigste im Hinblick auf das Selbstbewusstsein ist nun, dass die Welt, in der ein Mensch lebt, in ihm einen Bezugspunkt findet, von dem aus er die Möglichkeit hat, sich mit allem in Beziehung zu setzen, ohne dabei den Bezug zu sich selbst zu verlieren.
Es ist doch ein Wunder, dass unser Selbstbewusstsein so stark ist, dass wir uns in der Fülle der Gedanken, Meinungen nicht verlieren! Das ist ein Geschenk des physischen Leibes, denn er ermöglicht uns durch seine Abgegrenztheit erst, uns als Selbst zu erleben. In den Gesetzmäßigkeiten des physischen Leibes ist die ganze Weltweisheit zusammengefasst, bis dahin, dass man sein Gleichgewicht und seinen Schwerpunkt darin findet. Aus diesem physischen Schwerpunkt heraus bildet sich wiederum der geistige Schwerpunkt: die Möglichkeit, sich selbst als Punkt in einem Umkreis zu erfassen.
2. Schicksalsumkreis und Ich-Bewusstsein
Der zweite Schritt der Ich-Bewusstseinsbildung hängt mit unserem Schicksal zusammen. Auch das Schicksal kann als Kreis um den Ich-Punkt dargestellt werden. Wir sind ständig mit unserem Schicksal im Gespräch – es ist unser Partner bzw. die Sphäre, mit der wir uns verständigen müssen, um mit unserem Leben klarzukommen. Je besser es uns gelingt, uns mit unserem Schicksal zu verständigen über den Sinn und die positiven Seiten gerade auch von schwierigen Schicksalsumständen, desto stärker wird unser Ich-Bewusstsein. Es gibt ein wunderschönes Wort aus der mittelalterlichen Mystik von Angelus Silesius:[1]
„Ich weiß nicht, wer ich bin.
Ich weiß nicht, was ich weiß.
Ich bin ein seltsam Ding,
ein Pünktchen und ein Kreis.“
Diese Worte enthalten eine tiefe Lebensweisheit: Zur Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins als Ich-Punkt gehört das Gewahr-Werden seiner selbst am Schicksalsumkreis ebenso wie die Fähigkeit, mit dem eigenen Schicksal im Gespräch zu bleiben. Nur so kann man die Entwicklungschancen erkennen, die das Schicksal bietet. Diese beiden Aspekte müssen kreativ und unternehmerisch so miteinander in Verbindung gebracht werden, dass eine Entwicklungsspur entsteht, die zu verfolgen sich lohnt im Rahmen der aktuellen Biografie.
3. Unser wahres Wesen, die Persona, das Ich
Die dritte Komponente unseres Selbstbewusstseins ist die Persona, unser wahres Wesen, das hindurchtönt durch den Leib: die Art, wie man denkt, fühlt und handelt. Das bildet die Ausstrahlung eines Menschen. Das vollkommen freie Ich hat nun zwei Instrumente:
- den Leib als Träger des Ich-Bewusstseins
- und das Schicksal als Träger der Entwicklungsmöglichkeiten.
Alles Gute wie auch alles Problematische an unserem Tun schreibt sich dem Astralleib, dem Ätherleib und dem physischen Leib ein. Unsere Wesensglieder sind gleichsam das Briefpapier, auf das wir schreiben, oder der Malblock, auf den wir zeichnen. Unser Ich, das ICH-BIN-Wesen in uns, dagegen hat den Sündenfall nicht mitgemacht. Es ist rein und frei von Schuld, ist unschuldig im besten Sinn des Wortes. Die Christus-Worte im Evangelium, „ICH BIN der Weg, die Wahrheit, das Leben“[2] treffen auch auf unser wahres Ich zu. Es ist reine Liebe, reines Licht.
Alle Tugenden, auch die männlichen Tugenden der Tatkraft, des Mutes, der Kraft, der Klarheit und der Orientierung, sind Ausdrucksformen des Ich, das weder männlich noch weiblich ist. Das Ich kann durch einen männlichen Körper andere persönliche Eigenschaften entwickeln und ausstrahlen als durch einen weiblichen Körper, andere in China als in Peru. Das hängt auch davon ab, was einem der Umkreis zu tun gestattet. Manche Möglichkeiten der Verwirklichung des Ich nimmt man mit ins Grab, weil man sie gar nicht realisieren konnte: Es gab keine entsprechenden Fragen, keinen Partner, keine Schicksalsresonanz. Dann bleibt man mit manchen Themen allein und hebt sie für ein späteres Leben auf. Zurückhaltung und Ausstrahlung sind die beiden Seiten der Ich-Kultur.
Vgl. Vortrag bei der Welterziehertagung in Dornach, April 2012
[1] Angelus Silesius, Der Cherubinische Wandersmann. U.a. Zürich 1979. Erstes Buch, Geistreiche Sinn- und Schlussreime, Nr. 5.
[2] Neues Testament, Johannes 14, 6.
ZUR ENTSTEHUNG VON (SELBST)BEWUSSTSEIN
Wie entsteht Bewusstsein?
Was kann man tun, um das Selbstbewusstsein zu stärken?
Aspekte der Bewusstseinsbildung
Ich möchte zwei allgemeine Aspekte zur Bewusstseinsbildung an den Anfang stellen:
1. Bewusst durch Grenzerfahrungen
So schwer es ist zu erklären, was Bewusstsein geistig-seelisch und physisch-körperlich gesehen ist, so leicht ist es zu sagen, unter welchen Bedingungen Bewusstsein entsteht: Immer, wenn ich irgendwo anstoße, wenn ich eine Grenze erlebe, durch die ich in Berührung komme mit mir selbst, oder wenn ich mich selbst berühre, werde ich mir meiner selbst bewusst. Bewusstsein entsteht an Grenzen und Berührungs- und Begegnungsflächen.
Ein altes mystisches Sprichwort besagt: „Wär’ ich ein König und wüsst’ es nicht, so wär’ ich kein König.“ Ich habe nichts von meinen Möglichkeiten, wenn ich mir ihrer nicht bewusst bin. Bewusstsein gibt uns die Möglichkeit, von uns selbst zu wissen und dadurch auch bewusst mit uns und unseren Möglichkeiten umzugehen.
Angesichts eines Menschen mit einem gestörten Selbstbewusstsein aufgrund unzureichender Selbsterfahrung müssen wir uns fragen:
In welchem Bereich liegt ein Mangel vor, sodass dieser Mensch nicht in ausreichendem Maße Bewusstsein von sich selbst erwerben konnte?
Was hinderte ihn daran, mit sich und seinen Möglichkeiten, nachdem er sich ihrer bewusst geworden war, konstruktiv umzugehen?
2. Bewusstsein durch eigenes Tun
Der andere Aspekt ist, dass Bewusstsein vom eigenen Selbst sich nur bilden kann, wenn man tätig ist. Ich kann mir meiner selbst nur bewusstwerden, wenn ich etwas tue, an dem ich mich selbst erlebe und erkenne. Ohne Tätig-Sein gibt es kein Bewusstsein und kein Selbstbewusstsein.
Aus der Therapie von Depressionen weiß man, wie wichtig es ist, dass man die Betroffenen wieder dahin bringt, etwas zu tun. Tun und Selbsterfahrung gehen Hand in Hand. Wenn die Depression schon so weit fortgeschritten ist, dass das Selber-Tun gar nicht mehr richtig zu entfachen ist, ist es sehr schwer, diesen Punkt wieder zu erreichen. Wird er aber erreicht, beginnt sich die positive Aufwärtsspirale erneut zu drehen. Ich kann mir meiner selbst nur positiv bewusstwerden, wenn ich mich selbst in positiver Weise tätig erleben kann.
Das Tätig-Sein und die damit verbundene Grenzerfahrung gehören zu jeder Sinnesaktivität. Denn jede Sinneserfahrung ist eine Tätigkeit und zugleich eine modifizierte Grenzerfahrung. Die Sinnesorgane befinden sich an Körperperipherie oder an Stellen, an denen Organe sich berühren und sich gegenseitig wahrnehmen. Aufmerksamkeit, Intentionalität und Aktivität sind die Voraussetzung dafür, dass die Sinne überhaupt tätig werden und Wahrnehmung stattfindet.
Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, 9.11.1997
SELBSTBEWUSSTSEIN DURCH AUSEINANDERSETZUNG UND IDENTIFIKATION
Inwiefern tragen Auseinandersetzungen zu einem gesunden Selbstbewusstsein bei?
Schmerzhafte Verstärkung von Selbstbewusstsein
Eine Auseinandersetzung wird immer in einem Bereich gesucht, in dem man das für die eigene Entwicklung bewusst oder unbewusst braucht. Denn in einer Auseinandersetzung verstärkt sich das Selbstbewusstsein auf schmerzhafte Weise. Krieg, Streit und Zwist sind Formen der Auseinandersetzung und sind somit „Väter des Selbstbewusstseins“. Wer in seinem Leben immer wieder mit anderen „Krach" hat, kann zu der Einsicht kommen: Offenbar ist mein Selbstbewusstsein noch so schwach, dass ich diese Auseinandersetzungen brauche, um mich selber stärker wahrzunehmen. Denn so wie Schmerz und Konflikt die Selbstwahrnehmung stärken, so droht bei zu großer Harmonie die Gefahr, dass man im Vertrauen aufeinander schläfrig, träge und unselbständig wird.
Wer die Botschaft des Krieges nicht kennt, kann auch über die Bedingungen des Friedens wenig sagen. Man muss beides verstehen:
- warum Christus das trennende Schwert bringt
- und damit zugleich auch den Frieden anbahnt.
Dieses Paradox hängt mit dem Geheimnis des menschlichen Ich zusammen, das zu der Christus-Wesenheit – unserem höheren, wahren Selbst – in direkter Beziehung steht. ER ist es, der die Lehre vom ICH gebracht und als Opfer für die Menschheit sinngemäß verkündet hat: „Ich bin das Brot des Lebens, das Licht der Welt, die Türe, der gute Hirte, die Auferstehung und das Leben, der Weg, die Wahrheit und das Leben, der rechte Weinstock.“
Das Geheimnis der Selbstwerdung
Das sind alles Sätze der Identifikation, die auf das Geheimnis der Selbstwerdung des Menschen hinweisen, der sich in der Begegnung mit der Welt und ihren Werten der eigenen Innenwelt und mit dieser korrespondierenden Wertewelt bewusst wird.
Rudolf Steiner formuliert diesen Tatbestand in der „Theosophie“[1] wie folgt: „Das Ich empfängt Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist.“ Das, womit man sich identifiziert, was man als zu sich gehörig erlebt oder was man sich erarbeitet – das macht das eigene Wesen aus: Übt man Wahrhaftigkeit, so wird man wahrhaftiger. Das trifft auf alle Eigenschaften und Tugenden zu, um die wir uns bemühen können.
Das Ich bezieht Nahrung, Bewusstsein und Kraft aus Körper, Seele und Geist – sie sind die drei Arbeitsfelder des Ich, auf denen es sich betätigt und sich dadurch seiner selbst bewusst wird. Das aus dem göttlichen Wesen hervorgegangene, das von IHM geschaffene und gewollte Ich ist sich seiner selbst noch nicht bewusst. Es ist wie paradiesisch schlafend hingegeben an die Vorgänge der Welt und beginnt sich erst durch die Vereinzelung im Körper der Tatsache seines „Geschaffen“ bzw. Geworden-Seins bewusst zu werden. Ist dieses Bewusstsein jedoch einmal erwacht, stellt sich die große Frage nach dem Wohin und Wozu und wie es weitergehen soll.
Vgl. „Wie ist Entwicklung zur Selbständigkeit und Gemeinschaftsbildung vereinbar?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997
[1] Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.
SELBSTBEWUSSTSEIN ERRINGEN ALS ERWACHSENER
Wie können wir als Erwachsener auf seelisch-geistiger Ebene Selbstbewusstsein erringen?
Einseitige Sicht auf Selbstbewusstsein
Selbstbewusstsein zu haben bedeutet, dass man von sich weiß. Heute arbeitet jeder mehr oder weniger stark an seinem „Outfit“. Dieses auf das Äußere gestützte Selbstbewusstsein ist jedoch sehr verletzlich, ebenso dasjenige, das sich auf den sogenannten neuesten Stand der Wissenschaft stützt.
Ich nenne nur das magische Wort „Brain-Research“, Gehirnforschung. Wenn etwas von der Gehirnforschung „belegt“ wird, wird es sofort zitiert und in Erziehungsmaximen umgesetzt; der „Wissende“ fühlt sich dadurch in seinem Selbstbewusstsein gestärkt. Er denkt jedoch oft gar nicht weiter darüber nach, fragt sich nicht, ob die zitierten Erziehungsmaximen auch wirklich sinnvoll sind. Er schaltet seinen gesunden Menschenverstand – der in den letzten Jahrzehnten ohnehin sehr gelitten hat – überhaupt nicht mehr ein. Ein solches von der physischen Welt abhängiges Selbstbewusstsein ist nicht echt und hat in der geistigen Welt keinen Bestand.
Nun gibt es aber zwei weitere Stufen des Selbstbewusstseins und der Selbsterfahrung, die wir nicht nur in uns selbst entwickeln, sondern vor allem auch bei kleinen Kindern veranlagen müssen: Selbsterfahrung auf seelischer Ebene und Selbsterfahrung auf geistiger Ebene durch Denken.
Viele kennen die Ausstellung „Körperwelten". Dort wird jedes Detail des menschlichen Organismus gezeigt: physisch gesehen, von außen. Aber alles, was man dort sieht, jedes Präparat, das dort ausgestellt ist, ist das Ergebnis hoher gedanklicher Leistung. Das gilt für alles, was wir über die äußere Welt wissen, für die ganze auf materielle Dinge gerichtete Forschung. Normalerweise nehmen wir das Denken als etwas so Selbstverständliches wie das Wasser; wir verschwenden keinen Gedanken daran. Erst wenn wir über das Denken selbst nachdenken, merken wir, was uns damit in die Hand gegeben ist: ein flügelleichtes, helles, unzerstörbares, lichtes, nichtmaterielles Kraftsystem.
Sich als geistiges Wesen unter geistigen Wesen erleben
Menschen, die im Gefängnis saßen oder unter Folter zu leiden hatten, beschreiben, was sie am Leben hielt und ihnen half, die Traumatisierung zu überwinden: Es waren bestimmte Gedanken, Bilder, Menschen, die ihnen sehr plastisch erschienen, wie anwesend waren. Auch Verstorbene können das sein oder übersinnliche Wesen, die auf einmal in die Vorstellungswelt eintreten und Trost spenden. Erleben wir unser Selbstbewusstsein in diesem unzerstörbaren Gedankenraum, dann erleben wir uns als geistige Wesen unter geistigen Wesen. Dann stabilisiert sich unser Selbstbewusstsein „von innen“ und ist nicht mehr abhängig von äußerer Anerkennung.
Unser geistiges Wesen können wir uns nur in dem Teil des menschlichen Wesens vergegenwärtigen, der so ewig und unzerstörbar ist wie ein Gedanke. Und so können wir auch nur in Gedanken und Gefühlen, diesen rein seelisch-geistigen Fähigkeiten, die Beziehung zu Verstorbenen halten, können in Bildern vor uns sehen, was physisch nicht mehr da ist.
In Gedanken und Gefühlen kann sich die geistige Welt offenbaren: Die guten geistigen Wesen können sich in guten Gedanken und Gefühlen verkörpern, während unsere hässlichen Gedanken Teufel und dämonische Wesen anziehen, die uns mit Angst, Gewissensbissen und Schuldgefühlen attackieren. Wir müssen entdecken, dass wir geistige und damit gedankendurchdrungene Wesen sind, dass wir aber auch seelische und damit gefühlsdurchdrungene Wesen sind.
Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 1. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft
EIN GESUNDES SELBSTBEWUSSTSEIN ERWERBEN
Was macht ein gesundes Selbstbewusstsein aus?
Wie kommt unser Ich-Bewusstsein zustande?
Das Ergreifen des Ich in drei Schritten
Unser Ich-Bewusstsein entspricht einem Punkt. Wenn es uns nicht gelingt, uns zu fokussieren, uns zu konzentrieren, sodass wir schließlich ganz bei uns sind, sind wir nicht wirklich „da“. Das ist der eine Aspekt.
Der andere hat mit der Fülle unserer Gedanken und Bestrebungen zu tun, mit dem, was wir tun wollen und oft nicht können, weil uns dies oder jenes behindert – aber auch mit den bereits genannten komplexen Lebensverhältnissen. Dazu gehört alles, was um mich herum ist, mein Umfeld: Das Wesentliche ist, dass die Welt, in der ich lebe, in mir einen Bezugspunkt findet, der mir die Möglichkeit gibt, mich in Beziehung zu setzen, ohne mich dabei zu verlieren.
Ist es nicht ein Wunder, wie stark das Selbstbewusstsein ist?
So stark, dass wir uns in der Fülle unserer Gedanken, Meinungen und Bewegungen nicht verlieren?
1. Selbstbewusstsein durch den physischen Leib
Das Wissen um uns selbst ist ein Geschenk des physischen Leibes, denn an ihm erwacht das Selbstbewusstsein. In den Gesetzmäßigkeiten des physischen Leibes ist die ganze Weltweisheit zusammengefasst, bis dahin, dass ich mein Gleichgewicht finde und meinen Schwerpunkt. Aus diesem Schwerpunkt heraus bildet sich wiederum mein geistiger Schwerpunkt, die Möglichkeit, mich selbst in einem Punkt zu fassen.
2. Schicksalsumkreis und Ich-Bewusstsein
Nun zum zweiten Schritt der Ich-Bewusstseinsbildung, der mit unserem Schicksal zusammenhängt. Rudolf Steiner schreibt zur Knüpfung von Schicksalsbanden im Vorgeburtlichen:
„Eine Seele, die sich anschickt, verkörpert zu werden, weiß zum Beispiel, dass sie zu ihrem nächsten Erdenleben eine gewisse Art von Erziehung braucht, eine gewisse Art von Kenntnissen, die sie aufnehmen muss, schon in früher, früher Jugend. Aber sie sieht, da oder dort kann ich die Möglichkeit finden, eine solche Erziehung zu bekommen. – Aber das ist oftmals nur möglich, wenn man in der Kindheit verzichtet auf ein solches Elternpaar, das einem ein glückliches Dasein in anderer Beziehung geben könnte, und wenn man seine Zuflucht nimmt zu einem Elternpaar, das einem vielleicht kein glückliches Leben gewähren kann. Würde man ein anderes Elternpaar vorziehen, so würde man sich sagen müssen: Gerade das Wichtigste kannst du nicht erreichen. – Man darf nicht alle Verhältnisse des geistigen Lebens sich so verschieden vorstellen von denen auf der Erde. So sieht man Seelen, die vor der Geburt in furchtbarsten Kampfe sind, sieht zum Beispiel eine Seele, die sich sagt: Ich werde vielleicht in meiner Jugend misshandelt von einem rohen Elternpaar. Wenn eine solche Seele in dieser Lage kommt, dann gibt das furchtbare innere Kämpfe für sie. Und man sieht in der geistigen Welt vielen Seelen an, die an die Vorbereitung für die Geburt schreiten, wie sie sich diese ungeheuren Kämpfe bereiten. Dazu muss man nehmen, dass man in der geistigen Welt diese Kämpfe etwa wie eine Art von Außenwelt vor sich hat. In der geistigen Welt ist das, was ich jetzt schilderte, nicht nur innerer Seelenkampf, nicht nur Kampf des Gemütes, sondern diese Kämpfe projizieren sich nach außen, und man hat sie sozusagen um sich. Man sieht in aller bildlichen Anschaulichkeit die Imaginationen, die einem anschaulich machen, wie diese Seelen innerlich gespalten zu ihrer nächsten Inkarnation schreiten müssen."[1]
Hier gibt uns Rudolf Steiner ein Beispiel für den Vorblick auf das neue Erdenleben aus der Sicht der Ungeborenen, die sich vorbereiten auf ihre Inkarnation.
Tragische Auswirkungen der vorgeburtlichen Diagnostik
Früher war es möglich, dass man sich über eine lange Zeit hinweg ein bestimmtes Elternpaar, eine bestimmte Erdgegend, eine bestimmte Generationenfolge suchte. Heute ist das gar nicht mehr so einfach. Die vorgeburtliche Diagnostik hat u.a. zur Folge, dass jährlich hunderttausende von Mädchen an vielen Orten der Erde von Ärzten schlicht ermordet werden. Man wünscht als Familie höchstens ein Kind, und das muss ein Junge sein, doch kein Mädchen, eine halbe Portion! Ein Vollmensch soll es sein, ein starker! Diese Seelen müssen sich jetzt anders orientieren.
Die vorgeburtliche Sphäre ist zu einem Kampfplatz geworden durch die besondere Art, wie wir die Vorgeburtlichkeit medizinisch und auch sonst behandeln: Unendliches Leid entsteht durch das ständige Zurückgewiesen-Werden. Zusätzlich gibt es den Kampf, den Rudolf Steiner in der obigen Passage schildert: Man muss sich zwischen einem glücklichen Familienleben oder einer glücklichen Erziehungskonstellation und einem schrecklichen Familienleben entscheiden. Wenn man Glück hat, hat man beides, aber wer hat schon dieses Glück. Das widerfährt nur einer Elite.
Der Schicksalsumkreis des Menschen
Das Schicksal kann als Kreis um den Ich-Punkt dargestellt werden. Wir sind ständig mit unserem Schicksal im Gespräch – das Schicksal ist unser Partner: Es ist die Sphäre, mit der wir uns verständigen müssen, mit der wir unausgesetzt im Dialog sind. Und je mehr wir uns mit unserem Schicksal verständigen können über den Sinn, das Positive, das, was wir lernen können, gerade auch in ganz schwierigen Schicksalsumständen, desto besser geht es unserem Ich-Bewusstsein. Es gibt ein wunderschönes Wort von Angelus Silesius aus der mittelalterlichen Mystik:
„Ich weiß nicht, wer ich bin.
Ich weiß nicht, was ich weiß.
Ich bin ein seltsam Ding,
ein Pünktchen und ein Kreis.“[2]
Diese Worte enthalten eine tiefe Lebensweisheit: Zur Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins aus Ich-Punkt und Schicksalsumkreis gehört das Gewahr-Werden meiner selbst am Kreis und die Fähigkeit zum Dialog mit meinem Schicksal, das Erkennen der Entwicklungschance, die ich durch mein Schicksal habe. Es geht darum, diese beiden Aspekte kreativ und unternehmerisch miteinander so in Verbindung zu bringen, dass eine Entwicklungsspur entsteht, die zu verfolgen sich lohnt im Rahmen dieser Biografie.
3. Unser wahres Wesen, die Persona, das Ich
Jetzt kommt noch eine dritte Komponente dazu: die Persona, unser wahres Wesen, das hindurchtönt durch den Leib, die Seele und die Art, wie ich denke, fühle und handle. Man spricht von der Ausstrahlung des Menschen. Dieses Durchstrahlende ist vollkommen frei von aller Bindung an den physischen Leib und an die Schicksalsumstände. Dem Astralleib, dem Ätherleib und dem physischen Leib schreibt sich alles ein, was wir an Gutem und Schwierigem getan haben: Unsere Leiber sind das Briefpapier, auf das wir schreiben, oder der Malblock, auf den wir zeichnen. Unser Ich dagegen hat den Sündenfall nicht mitgemacht, es ist rein und frei von Schuld, ist unschuldig im besten Sinn des Wortes. Es ist, wie es im Evangelium heißt, „der Weg, die Wahrheit, das Leben“.[3] Es ist reine Liebe, reines Licht.
Alle Tugenden, auch die männlichen Tugenden der Tatkraft, des Mutes, der Kraft, der Klarheit und der Orientierung, sind Ausdrucksformen des Ich, das weder männlich noch weiblich ist. Das Ich kann durch einen männlichen Körper andere persönliche Eigenschaften entwickeln und ausstrahlen als durch einen weiblichen Körper, andere in China als in Peru. Das hängt sehr stark auch davon ab, was einem der Umkreis zu tun gestattet. Vieles an Möglichkeiten nimmt man mit ins Grab, weil man sie gar nicht realisieren konnte: Es gab keine entsprechenden Fragen, keinen Partner, keine Schicksalsresonanz. Dann bleibt man mit manchen Themen allein und spart sie auf für ein späteres Leben. Zurückhaltung und Ausstrahlung sind die beiden Seiten der Ich-Kultur.
Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012
[1] Rudolf Steiner, Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. GA 140, 4. Aufl. 1990, Seite 354-355.
[2] Angelus Silesius, Der Cherubinische Wandersmann. U.a. Zürich 1979. Erstes Buch, Geistreiche Sinn- und Schlussreime, Nr. 5.
[3] Neues Testament, Johannes 14, 6.
WIDRIGKEITEN SELBSTBEWUSST BEGEGNEN
Wie kann man mit Widrigkeiten konstruktiv und kraftvoll umgehen?
Wie kann man sich vor Beleidigungen oder persönlicher Demontage schützen und dennoch aus dem Vorfall das Notwendige lernen?
Selbstachtung pflegen lernen
Wir leben in einer Zeit, in der das Selbstbewusstsein der Menschen so sensibel, verwundbar und wach ist wie wohl nie zuvor.
Es ist heute schon in der Schule so, dass die Kinder eine auffällige Empfindlichkeit an den Tag legen. Eigentlich bräuchte jedes Kind täglich eine kleine Extrabestätigung und Bejahung für sein Selbstbewusstsein. Das empfindliche Reagieren auf Äußerungen, auf Ablehnung oder Tadel ist überstark. Bei Kindern und Erwachsenen ist eine gleichermaßen hohe Sensibilität in Bezug auf das eigene Selbst zu beobachten, womit eine große Verletzlichkeit im Gefühlsbereich und eine damit verbundene problematische Selbstwahrnehmung einhergeht.
Bei Kindern ist es noch relativ einfach, sie mit Sympathie zu umgeben und ihnen die Bejahung zu geben, die sie brauchen, um bei Lernprozessen auch mit Hindernissen und Enttäuschungen fertig werden zu können. Als Erwachsene dürfen wir eine solche rücksichtsvolle Behandlung seitens unserer Mitmenschen nicht erwarten. Wir müssen auf andere Möglichkeiten zurückgreifen, wie wir unser Selbstbewusstsein aufrechterhalten und unsere Selbstachtung pflegen können.
Ein Beispiel von Rudolf Steiner
Rudolf Steiner gibt hierzu ein schönes Beispiel:
„Es fügt uns jemand eine Beleidigung zu. Vor unserer Geheimerziehung wenden wir unser Gefühl gegen den Beleidiger. Ärger wallt in unserem Innern auf. In dem Geheimschüler aber steigt sofort bei einer solchen Gelegenheit der Gedanke auf: ‚Eine solche Beleidigung ändert nichts an meinem Werte‘; und er tut dann, was gegen die Beleidigung zu unternehmen ist, mit Ruhe und Gelassenheit, nicht aus dem Ärger heraus. Es kommt natürlich nicht darauf an, etwa jede Beleidigung einfach hinzunehmen, sondern darauf, dass man so ruhig und sicher in der Ahndung einer Beleidigung der eigenen Person gegenüber ist, wie man wäre, wenn die Beleidigung einem anderen zugefügt worden wäre, bei dem man das Recht hat, sie zu ahnden.“[1]
Allein diese Frage, warum z.B. die Beleidigung etwas an meinem Wert geändert haben soll, ist sehr hilfreich. So lernt man das Ausmaß an Verletzlichkeit im eigenen Gefühlsbereich selbst zu bestimmen: Unberechtigtes weist man klar von sich, lässt es nicht an sich heran. Wenn an der Beleidigung etwas Wahres daran war, fügt uns diese Wahrheit denselben Schmerz zu, den jeder Selbsterkenntnisprozess uns zugefügt hätte. Dann aber ist es ein gesunder Schmerz, der wach macht für das, was wir zu lernen haben. Und so ist Selbsterziehung das Mittel, sich weder von Lob noch von Vorwürfen, die von außen an einen herankommen oder die man selber gegen sich erhebt, allzu sehr beeindrucken zu lassen.
Bedeutung von freiwilligem Tun
Ein anderes wichtiges Element für die Selbsterziehung kann im Umgang mit Menschen aus der Erfahrung gewonnen werden, dass man das am liebsten tut, was man freiwillig und aus sich heraus unternimmt, auch, dass man sich besonders über Gedanken freut, auf die man durch eigene Anstrengung gekommen ist. Führt man sich dieses Phänomen in aller Deutlichkeit vor die Seele, fällt es leichter, sich anderen Menschen gegenüber so zu verhalten, dass man sie nicht belehrt und sie nicht mit faszinierenden Argumenten zu überzeugen versucht. Man sollte sich lieber bemühen, dem anderen Fragen zu stellen, die ihm helfen, selbst auf das zu kommen, was für ihn wichtig oder hilfreich ist. Rudolf Steiner formuliert diesen Gedanken so:
„Nicht darauf kommt es an, dass ich etwas anderes meine als der andere, sondern darauf, dass der andere das Richtige aus Eigenem finden wird, wenn ich etwas dazu beitrage.“[2]
Mit Hilfe dieser einfachen Regel kann Konflikten vorgebeugt werden, die dadurch entstehen, dass – z.B. in einer Ehe – der eine Partner dem anderen intellektuell weit überlegen ist und im Grunde bei allem und jedem immer genau sagen könnte, was jetzt „das Richtige“ ist. Gelingt es, dieses Wissen zurückzuhalten aus Respekt vor der Freiheitssphäre des anderen und zu warten, bis er selbst aktiv wird, oder ihm weiterführende Fragen zu stellen, entsteht wieder Luft zum Atmen und beide haben die Möglichkeit, etwas zu lernen und in ihrer Entwicklung weiterzukommen.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 1. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10.
[2] A. a. O. Durch Gespräche und gezieltes Fragen den anderen zu Erkenntnisprozessen anzuregen, taucht als Methode bereits in den Dialogen Platons in der Antike auf, in vollkommener und bis heute gültiger Weise.
WAS DAS SELBSTBEWUSSTSEIN PRÄGT
Welche Faktoren prägen unser Selbstbewusstsein?
Problematische Quellen für Selbstbewusstsein
Es hängt in hohem Maß vom eigenen Selbstbewusstsein ab, wie man später mit „schlechten“ Erfahrungen umgeht:
- Ist das Selbstbewusstsein mit dem Empfinden von Stolz gekoppelt, wird man immer leicht zu kränken sein, wenn dieser Stolz, auf welche Art auch immer, verletzt wird. Dann weist man vieles von vornherein als Zumutung ab, um sich so weit wie möglich vor derlei Verletzungen zu schützen.
- Bestimmt Eitelkeit das Selbstbewusstsein, ist es angreifbar durch jede Form von Gesichtsverlust oder Versagen, das von anderen bemerkt wird. Der Betreffende wird alles daransetzen, sich zu rechtfertigen, sein Gesicht zu wahren und sich dadurch zu schützen.
- Beherrscht Machtgefühl das Selbstbewusstsein, fühlt man sich nur dann als Mensch und nicht als „halbe Portion“, wenn man seine Übermacht über andere erlebt.
- Ist das Selbstbewusstsein von der Sympathie anderer Menschen abhängig, wird es in dem Augenblick ins Wanken geraten, in dem diese Sympathie wegfällt.
Es ist wichtig, sich bei einem solchen Rückblick auf das eigene Leben in aller Ehrlichkeit zu fragen, auf welche Empfindungen sich das eigene Selbstbewusstsein stützt, wodurch es verletzlich und angreifbar wird und welche Gefühle es gerade angesichts von Verletzungen und Angriffen schützen und stärken können.
Labiles Selbstbewusstsein stärken
Es gibt Menschen, die ihr angegriffenes Selbstbewusstsein sehr rasch wieder stärken können, wenn sie einen längeren Spaziergang in schöner Naturumgebung unternehmen, oder wenn sie sich zu Hause mit ihren Kindern beschäftigen. Andere brauchen das Gespräch mit dem Ehepartner oder mit Freunden. Wieder andere verarbeiten die Verletzungen des Lebens in der Stille für sich und machen sich so bewusst, dass ihr eigener Wert und ihre Würde nicht abhängig sind von der Anerkennung anderer Menschen, sondern durch sich selbst begründet sind.
Dem Selbstbewusstsein haftet immer eine gewisse Labilität an, da es stets in Entwicklung begriffen ist. Es wird von großen Gegensätzen beeinflusst: von der Polarität von Liebe und Hass, von Freundlichkeit und Angst, Wärme und Kälte, Bosheit und Friede, Harmonie und Disharmonie, Leichte und Schwere, und nicht zuletzt von dem unbewussten Körperleben und dem bewussten seelisch-geistigen Leben. Wohin wir auch in unsere Vergangenheit blicken, stets müssen wir feststellen, dass wir uns irgendwo im Bereich dieser Gegensätze befanden, und dass es letztlich sie waren, in deren Spannungsfeld wir die Impulse für unser Selbstbewusstsein und die Entwicklung der Persönlichkeit bekommen haben.
Die Polarität von Sein und Nicht-Sein
Hegel entdeckte, dass jede These und jedes Gesetz ein ihm polares, eine Antithese hervorruft. Und so fand er die Urpolarität der Welt liegend im Sein und dessen Gegenteil, dem Nicht-Sein. Ihm wurde klar, dass wir ohne den Seins-Begriff das Nichts, als Abwesenheit von Sein, nicht denken können und ohne den Begriff des Nichts wiederum nicht wüssten, was Sein ist. Jedes braucht den Gegensatz, um sich selbst im Bewusstsein geltend machen zu können.
Zwischen diesen Gegensätzen aber liegen jene Qualitäten, die unsere Lebenswirklichkeit ausmachen. Denn der Mensch lebt weder im Sein noch im Nichts. Er bewegt sich vielmehr vom Sein in das Nichts – unterliegt dem Prozess des Vergehens – und umgekehrt, vom Nichts ins Sein – beim Prozess des Werdens. Alles Leben auf der Erde ist dem Werden und Vergehen unterworfen. Das entspricht der Realität der sinnlichen Wirklichkeit: Hier erscheinen und verschwinden die Dinge. Mit dieser Polarität von Sein und Nichts wird auch auf die große Weltpolarität von Geist und Materie hingedeutet. Dabei gilt für den Materialisten die Materie als der Bereich des Seins, die Welt des Geistes hingegen als Bereich des Nichts. Umgekehrt bezeichnet der Spiritualist das Geistige als das eigentliche Sein und das Materielle als Maja, als Schein, als Nichts.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
GEKRÄNKTES SELBSTBEWUSSTSEIN
Wie äußert sich ein geschwächtes Selbstbewusstsein?
Wie lässt sich die erhöhte Empfindlichkeit in Kombination mit Empathieverlust erklären?
Was sind die Ursachen und wie kann man Abhilfe schaffen?
Symptome eines schwachen Selbstbewusstseins
Wir leben heute in einer Zeit – und das können wir gar nicht genug betonen – in der das Selbstbewusstsein der meisten Menschen gekränkt und geschwächt ist. Die meisten unserer sozialen Probleme sind darauf zurückzuführen.
· Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen
Das zeigt sich beispielsweise darin, dass jemand keine Kritik ertragen kann; er wehrt sich vehement gegen das, was er als einen Angriff gegen sich empfindet, und versucht mit allen Mitteln zu beweisen, wie gut er doch ist, wie sehr er im Recht ist. Man kann dieses Phänomen die ganze Schulzeit hindurch und auch bei den Erwachsenen beobachten. Diese Empfindlichkeit bis hin zur Überempfindlichkeit ist offensichtlich nicht nur an das Alter gebunden, sondern ist eine bestimmte Zeitphysiognomie, eine Zeitsymptomatik.
· Geringe Frustrationstoleranz
Auch Kinder sind heutzutage schon sehr früh in einem viel stärkeren Maß empfindlich und empfindsam, als das noch vor zwanzig Jahren der Fall war. Wenn man z.B. als Betreuer ein Kind darauf aufmerksam macht, dass es ein Wort falsch geschrieben hat, kann es heute vorkommen, dass es einen schlägt, weil es die Frustration, mit einem Fehler konfrontiert zu werden, nicht aushält. Wir beobachten auch im kollegialen und sozialen Bereich, dass die Toleranzschwelle immer niedriger wird.
· Wachsender Empathieverlust
Das zweite Phänomen, das wir beobachten können, ist, dass Menschen anderen gegenüber zunehmend eine gewisse „Dickfelligkeit“ entwickeln, eine wachsende Respektlosigkeit, einen Verlust an Empathie. Kritik zu äußern fällt leicht, zu sagen, was einem alles nicht gefällt, aber die Wahrnehmung dessen, was in dem anderen Menschen lebt, was ihn beschäftigt, worum es ihm überhaupt geht, ist ganz schwach ausgebildet.
Man kann sagen: Der Welt gegenüber stumpfen wir ab, nehmen nicht mehr wahr, verlieren den Respekt, und uns selbst gegenüber werden wir immer empfindlicher, nehmen alles überzeichnet wahr und reagieren entsprechend.
· Wachsende Aggressionsbereitschaft
Ich darf an einen furchtbaren Unfall in Norwegen erinnern, der durch die Presse ging und der mich seither wie ein Archetyp begleitet: Ein sechsjähriger Junge schlug ein fünfjähriges Mädchen mit einem Plastikschlitten bewusstlos und ließ es im Schnee liegen, sodass es verstarb. Im Norden ging ein Aufschrei durch die Gesellschaft. Der Junge hatte sich über das Mädchen geärgert, weil sie ihn nicht mit ihrem Schlitten hatte fahren lassen. Sie hatten sich gestritten und schließlich hatte er dem Mädchen den Schlitten weggerissen und auf es eingeschlagen, damit es zu schreien aufhörte, wie er später sagte.
Die Mutter des Mädchens wurde damals gefragt, ob sie dem Jungen und seinen Eltern gegenüber Hass empfinde. Sie antwortete: „Ich kann keinen Hass empfinden, nur unendliches Mitleid, wenn ich daran denke, dass dieser Junge sein ganzes Leben mit einer solchen Schuld leben muss, die ihm niemand nehmen kann, an der er nur arbeiten kann, um sie zu verkraften.“
· Abhängigkeit von Anerkennung
Ein weiteres Symptom eines schwachen Selbstbewusstseins ist die Abhängigkeit von Anerkennung durch die Umwelt. Die Betreffenden machen alle möglichen Anstalten, liebenswert zu erscheinen, niemanden zu verletzen, sind immer auf der Hut. Bekommen sie nicht die gewünschte Reaktion, können sie kaum damit umgehen.
Ursachen und therapeutischer Ansatz
Die Hauptursachen liegen in der frühen Kindheit bis hin zur Vorschulzeit. Denn was hier erlebt wird, geht sehr tief, wird sozusagen noch aufgenommen in die körperliche Grundreifung des Organismus. Oft braucht es dann viele Jahre der Therapie oder des konsequenten Selbstmanagement, um die aus dieser Zeit herrührenden Schädigungen zu lindern bzw. zu heilen und ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Für den therapeutischen Umgang mit diesen Zeitphänomenen kann es sehr aufschlussreich sein, das bewusste Augenmerk auf die Anamnese im Hinblick auf die Sinnespflege und Sinneserfahrung in der frühen Kindheit zu legen. Denn es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Sinnestätigkeit und dem Selbstbewusstsein des Menschen. Diejenigen, die es schaffen, Verluste und Frustrationen zu verkraften, werden in sich stärker, spiritueller, charakterlich gefestigter – ihr Selbstbewusstsein wächst dadurch.
Ein Mensch mit einem gesunden Selbstbewusstsein wiederum kann mit Frustration und fehlender Anerkennung nüchtern umgehen. Er kann sich Kritik mit gleichsam wissenschaftlichem Interesse anhören. Er wird sich fragen, was daran berechtigt ist – dann wird er dafür dankbar sein – und was unberechtigt ist – dann lässt er sich nicht davon berühren und erkennt, dass das Problem offenbar nicht bei ihm, sondern bei seinem Kritiker liegt.
Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997
EINSTRÖMEN DES EWIGEN ICH UND SELBSTBEWUSSTSEIN
Wie hängen Selbstbewusstsein und ewiges Ich zusammen?
Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Einem Menschen, der die Angst sich zu verlieren erst einmal überwunden hat, der sich seiner selbst sicher ist, der im besten Sinne selbstbewusst geworden ist, der vom „Christus in mir“ sprechen und entsprechend handeln kann, werden neue Kräfte zuzuströmen beginnen.
Entwicklung des viergliedrigen Menschen
In den allerersten Seiten des 4. Vortrags der „Meditativ erarbeiteten Menschenkunde“[1] ist die einzige Stelle zu finden, in der Rudolf Steiner auf eine bestimmte Art über die Entwicklung des viergliedrigen Menschen spricht: Er erwähnt wie auch an anderen Stellen die vier Geburten von physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich-Organisation. Zusätzlich sagt er jedoch im Zusammenhang mit der jeweiligen Geburt:
- Wenn mit sieben Jahren der Ätherleib leibfrei wird als Gedankenorganismus bzw. als Denkvermögen, dann kann das ewige Ich darin einströmen.
- Wenn mit vierzehn der Astralleib geboren, also leibfrei wird als Gefühlsorganismus bzw. als Gefühlsleben, kann das ewige Ich in diesen leibfreien Astralleib einströmen.
- Wenn die Ich-Organisation geboren wird, kann das ewige Ich in den leibfreien Teil davon, das freie Wollen, einströmen.
Kontaktaufnahme mit dem Höheren Ich
Das Gefühlsleben im 3. Jahrsiebt braucht die Anknüpfung an dieses Höhere Ich, an die Ideale, die erziehend wirken, an das, was da hereinströmen will in den sich befreienden Willen, der noch sehr leibverbunden ist. Die Ich-Organisation und der freie Wille sind noch nicht voll geboren, aber das Gefühl ist schon weitgehend geboren. Deshalb wird In der Opferfeier erstaunlich oft an das Wort Sehnsucht appelliert: „Unser Sehnen trachte nach Dir.“[2] Ich finde das total berührend.
In der oben gennannten Vortragsstelle, sagt Rudolf Steiner nicht nur, dass
- der Ätherleib, wenn er den physischen Leib durchgestaltet hat, für das Denken frei wird,
- der Astralleib, wenn er den physischen Leib durchdifferenziert hat, für das Fühlen frei wird,
- die Ich-Organisation, wenn sie den physischen Leib zu einer Ganzheit hat werden lassen, frei wird für das Wollen.
Er sagt zusätzlich, dass das Höhere Ich über die Wärme als reine Geisteswärme in diese leibfrei gewordenen Wesensglieder hereinwirken kann.
Man spricht von Geistesgegenwart, von spiritueller Anwesenheit, wenn der Mensch, das Kind, der Pubertierende, der Jugendliche über sein Selbstbewusstsein zu diesem ewigen Ich Kontakt aufnimmt. Nur mithilfe des Selbstbewusstseins wird der sich entwickelnde Mensch sich des Höheren bewusst und kann daran anknüpfen: Dann bemerkt er es, fühlt es und kann es zu handhaben beginnen.
Vgl. „Ängste im Jugendalter und ihre Überwindung“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013
[1] Rudolf Steiner, Meditativ erarbeitete Menschenkunde. Vier Vorträge, vom 15.-22. September 1920. In: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis. GA 302a.
[2] In: Rudolf Steiner, Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts. GA 269.
SELBSTBEWUSSTSEIN ÜBER DEN TOD HINAUS
Was geschieht mit unserem Selbstbewusstsein an der Todesschwelle?
Was ist der „zweite Tod“ aus religiösen Überlieferungen?
Wachsendes Selbstbewusstsein der Menschheit
Der Mensch im 20. Jahrhundert ist wach geworden dafür, dass er selbst für seine Entwicklung verantwortlich ist, dass er sich nicht mehr auf Familie, Staat, Kirche oder andere Autoritäten berufen kann. Das ist neu. Erstmals in der Entwicklung der Menschheit entsteht im Einzelnen das Bewusstsein, dass es auf ihn selbst ankommt. So schreitet die Menschheit und mit ihr der Einzelne in seiner Entwicklung fort. Der Mensch nimmt im Tode zunehmend Selbstbewusstsein mit über die Schwelle und schläft nicht nur in die göttliche Welt hinein.
Früher war Sterben ein Einschlafen in die göttliche Welt. Der Mensch tauchte aus diesem Schlaf erst wieder bei der nächsten Geburt auf; von der geistigen Welt erlebte er so gut wie nichts. Nur hoch entwickelte, auf der Erde eingeweihte Menschen konnten sich ihr Bewusstsein über den Tod hinaus bewahren. Die christliche Prophetie, vor allem die Johannes-Apokalypse und auch andere religiöse Urkunden, sprechen in drastischen Bildern davon, wie schlimm es ist, den zweiten Tod zu sterben. Das bedeutet nichts anderes, als dass eintritt, was früher immer eingetreten ist: Man verliert nach dem Tod das Bewusstsein und erwacht nicht zum ewigen Leben. Es ist ein Missverständnis, man würde da gleichsam umgebracht oder wäre nicht mehr vorhanden. Man ist sehr wohl noch vorhanden, aber man weiß nichts von sich.
Über den Tod hinaus selbstbewusst
Auf der neuen Entwicklungsstufe der Menschheit kommt es darauf an, auf der Erde ein Selbstbewusstsein zu entwickeln, das so stark ist, dass es über den Tod hinaus erhalten bleibt. Das setzt voraus, dass ein Mensch sich nicht nur, wie es in unserer materialistischen Zeit üblich ist, mit Dingen beschäftigt, die ausschließlich für die Erde Gültigkeit haben. Nur wer sich einen Begriff vom ewigen, geistigen Menschen erringt, auf dem erst ein wirkliches Selbstbewusstsein aufbauen kann, bereitet sich vollbewusst darauf vor, diesen zweiten Tod nicht zu erleiden.
Angelus Silesius formulierte dies so:
„Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt.“
Wer sich hingegen ein im Geistigen wurzelndes Selbstbewusstsein erarbeitet, lebt selbstbewusst über den Tod hinaus weiter.
Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 1. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft