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Anthroposophie
Anthroposophie – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
AUFGABE DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT
Was ist die Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft?
Braucht die Welt die Anthroposophische Gesellschaft in einer Zeit, in der die Anthroposophie vom Ansatz her längst zu den Zivilisationsprinzipien gezählt wird?
Aufgaben laut Weihnachtstagung
Die Anthroposophie ist heute „da“. Das Wesen „Anthroposophie“ wirkt weltweit in sehr, sehr vielen anthroposophischen Einrichtungen, Schulen, therapeutischen und heilpädagogischen Einrichtungen, nicht nur in anthroposophischen Kreisen. Die anthroposophische Bewegung breitet sich weiter aus, so dass keiner mehr überblicken kann, wo überall die Anregungen Rudolf Steiners aufgegriffen wurden und werden.
In den Statuten der Weihnachtstagung werden drei Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft genannt:
1. Geistige Aufgabe – Pflege des Geistesgutes:
Das anthroposophische Geistesgut zu pflegen auf einem örtlichen, sachlichen oder beruflichen Felde.
2. Soziale Aufgabe – Repräsentant sein, Gruppen bilden:
Repräsentant zu sein der Allgemeinen Gesellschaft, vor Ort dazustehen, sodass sich hier neue Mitglieder finden können und Menschen sich gerne einer solchen Gruppe anschließen oder angeregt werden, eine solche Gruppe zu bilden, nachdem sie Mitglied geworden sind.
3. Beitrag zur Humanisierung der Kultur/Arbeit der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft
Rudolf Steiner richtete 1923/24 die Hochschule ein, formulierte die Prinzipien der Anthroposophischen Gesellschaft und übernahm selber die Leitung. Nach seinem frühen Tod 1925 stellten sich viele die Frage, in welcher Weise er, der so viel über die Verbindung der Lebenden mit den Verstorbenen gesprochen hat, jetzt selber „von drüben“ zu uns Nachgeborenen und seinem Werk steht. In seinem Schulungsbuch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten"[1] bietet er dem Leser im Nachwort an, das Buch wie ein Gespräch zu nehmen, das der Verfasser mit dem Leser führt. So hängt es von jedem Einzelnen ab, in welcher Form und mit welcher Intensität er an einer solchen Gemeinschaft Lebender und Verstorbener arbeiten will. Es verändert sich die Lebenshaltung, wenn man im Bewusstsein der Todesschwelle lebt.
Ungebrochene Aktualität
Man hört unter Freunden, jüngeren und älteren, immer wieder die Frage, ob diese Worte, die 1924 gesagt wurden, heute genauso gelten wie damals, noch dazu, wo die Geschichte der Gesellschaft seit Rudolf Steiners Tod von vielen Schwierigkeiten belastet war.
In der heutigen Zeit geht es angesichts von alledem mehr denn je um diese beiden Aufgaben: Lassen Sie uns einmal das Gedankenexperiment machen, es gäbe die Anthroposophische Gesellschaft nicht, sondern wir lebten als Anthroposophen mit der Gesamtaufgabe in völlig freier Weise und hätten nur die Arbeitszusammenhänge auf beruflichem Felde oder ganz privat vor Ort. Es gibt ja viele Anthroposophen, die sich nicht der Gesellschaft angeschlossen haben. Stellen wir uns einfach einmal vor, das wäre überall so.
Was würde unserer Zeit dann fehlen?
Man kann anhand dieses Gedankenexperiments empfinden, dass gerade das fehlen würde, was unsere Gegenwart braucht, um eine gedeihlichere, heilsame, sozial gesündere Zukunft vorzubereiten.
Vgl. „Aufgaben und Ziele heutiger Zweigarbeit“, Farrach 1993
[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.
DIE BERECHTIGUNG DER ALLGEMEINEN ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT IM 21. JAHRHUNDERT
Worauf gründet die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft?
Welche wichtige Aufgabe hat sie heutzutage?
Persönliche Erfahrungen vorneweg
Mit diesem Beitrag möchte ich der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass die „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ (AAG) ihrer Aufgabe im 21. Jahrhundert in einer Weise gerecht werden kann, wie es Rudolf Steiner bei ihrer Begründung auf der Weihnachtstagung 1923/24 im Hinblick auf die Zukunft veranlagt hat.
Seit meinem 16. Lebensjahr ist die Anthroposophie für mich ein unentbehrlicher Begleiter geworden. Mit ihrer Hilfe konnte ich mir die vielen Fragen, die mich als Jugendliche in der Nachkriegszeit und angesichts des atomaren Wettrüstens in Amerika und Russland beschäftigt haben, so beantworten, dass ich trotz Holocaust und Weltuntergangsszenarien das Leben auf der Erde liebgewinnen konnte. Mit 18 Jahren hatte ich eine Gastkarte, um die Mitgliedervorträge im Rudolf-Steiner-Haus in Stuttgart besuchen zu können. Mit 21 wurde ich dann Mitglied der „Anthroposophischen Gesellschaft“ und zwei Jahre später auch in der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“.
Zweifel an der Berechtigung der AAG
In der Begegnung mit Freunden und Bekannten, KommilitonInnen und BerufskollegInnen habe ich jedoch immer wieder erlebt, dass die Begeisterung für Anthroposophie sehr oft kein Grund war oder ist, auch Mitglied in der Anthroposophischen Gesellschaft zu werden. Zumal es zahlreiche offene esoterische Fragen, aber auch Fragen im Hinblick auf das sogenannte Konstitutionsproblem mit seinen verschiedenen Facetten gibt.
Wer will schon Mitglied in einer Gesellschaft werden, die ihre eigene Identität infrage stellt und immer wieder Zeit und Kraft investiert in Diskussionen über die oben in aller Kürze angedeuteten Fragen?
Es stimmt, dass nach dem Tod Rudolf Steiners 1925 vieles geschehen ist, das diese Zweifel und Fragen untermauern mag. Das Protokoll der vierten außerordentlichen Generalversammlung des „Bauvereins“[1] gibt jedoch – so wie die Vorläuferdokumente – klare Auskunft über die Gegebenheiten wie auch die Anmeldung für das Handelsregister, die Rudolf Steiner und die anderen Vorstandsmitglieder am 8. Februar unterschrieben haben auch. Darin wird der Name des Vereins des Goetheanum der freien Hochschule für Geisteswissenschaft/„Bauverein“ abgeändert in „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“. Womit klar belegt ist, dass der ehemalige „Bauverein“ jetzt Träger des Namens der zu Weihnachten begründeten Gesellschaft ist.
Plädoyer für die Wichtigkeit der Existenz und Aufgabe der AAG
Da ich zutiefst davon überzeugt bin, dass die Anthroposophische Gesellschaft in der gegenwärtigen Zeit eine zentrale Aufgabe hat, die dringend erfüllt werden muss im Hinblick auf die Herausforderungen der Zukunft, haben mich die vielen Gründe, die gegen eine Mitgliedschaft ins Feld geführt werden, schmerzlich berührt. All diese kritischen Einwände und Argumente haben mir jedoch auch geholfen, immer klarer zu verstehen, welche wichtige Rolle die AAG innehat, nicht zuletzt als Träger und Förderverein der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum“. Die vielen Gegenargumente, ja Gegnerschaften, weisen zudem darauf hin, dass es hier um etwas Wesentliches geht.
Auch ist es für mich im Sinne einer freien Meinungsbildung stimmig, dass „Fürs“ und „Widers“ in gleicher Weise existieren. Denn wir sind erst dadurch wirklich frei, uns ganz aus eigener Motivation heraus für eine Mitgliedschaft zu entscheiden.
Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen
[1] Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a S. 559 ff.
DAS BESONDERE DER WEIHNACHTSTAGUNG VON 1923/24
Warum wird diese Weihnachtstagung so in den Vordergrund gestellt?
Was geschah im Ätherischen, nachdem das erste Goetheanum einer Brandstiftung zum Opfer gefallen war?
Was veranlasste Rudolf Steiner, die „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ zu gründen?
Nach dem Brand des ersten Goetheanum
Das Einmalige dieser Tagung hängt damit zusammen, dass im Jahr zuvor das von Rudolf Steiner erbaute erste Goetheanum einer Brandstiftung zum Opfer gefallen war. Das Ergebnis einer zehnjährigen Zusammenarbeit von Bauleuten und KünstlerInnen aus 17 Nationen wurde in der Silvesternacht 1922/23 vernichtet. Auf der Erde blieb eine Brandruine zurück.
In der geistigen Welt erschien aufsteigend von der Erde ein übersinnlicher ätherisch-geistiger Tempelbau, der seitdem dort zugänglich ist. So wurde dies von vielen erlebt, die damals Zeitzeugen waren. Mir hat es die Heileurythmistin Isabella de Jaager nahegebracht, deren Mann als Bildhauer am ersten Goetheanum mitgewirkt hatte. Sie sagte: „Der Bau ist jetzt in der geistigen Welt – seither können wir uns geistig mit ihm in Verbindung halten".
So wird auch verständlicher, warum Steiner den zweiten Goetheanumbau als „physisches Symbolum“ des ersten Goetheanum bezeichnete. Der ursprüngliche Tempelbau, „das Haus des Wortes“ ist jetzt zwar den physischen Blicken entzogen – es bleibt aber geistig bestehen, was in Liebe aufgebaut wurde. Steiner sagte dazu auf der Weihnachtstagung: „Wir stehen da als Goetheanum in der Seele, als seelisches Goetheanum, das natürlich möglichst bald den äußeren Bau haben muss.“[1]
Notwendigkeit einer Gesellschaft mit geistigem Inhalt
Durch die Brandkatastrophe war zudem deutlich geworden, dass die 1912/13 aus der Theosophischen Gesellschaft hervorgegangene „Anthroposophische Gesellschaft/AG“ nicht die Kohärenz und Stoßkraft besaß, um für die Kulturwirksamkeit der Anthroposophie ein geeignetes Instrument zu sein. So stand das Jahr 1923 für Rudolf Steiner unter folgenden Fragestellungen:
Wie kann und soll es mit der Gesellschaft und der Hochschule weitergehen?
Was bedeutet diese Zäsur in Folge der Brandkatastrophe für die anthroposophische Arbeit?
Ist überhaupt der Wille zum Wiederaufbau des Goetheanum da?
Wie wird aus dem „Chaos zusammenhangloser Gruppen“ der bestehenden AG „eine Gesellschaft mit geistigem Inhalt“ und ausstrahlende Kulturwirksamkeit?[2]
Gründe für eine Neubegründung der Gesellschaft
Drei Tatsachen waren es, die Rudolf Steiner bewogen, die Initiative zur Neubegründung der Gesellschaft zu ergreifen und sich zu entschließen, nicht nur selbst geeignete Vorstands-mitglieder vorzuschlagen, sondern auch selber den Vorsitz der Anthroposophischen Gesellschaft zu übernehmen:
1. Die Gründung von anthroposophischen Landesgesellschaften in diversen Ländern.
2. In der Schweiz, in Deutschland und darüber hinaus erkannte man die Notwendigkeit, sich finanziell für den Wiederaufbau des Goetheanum zu engagieren.
3. Ein entscheidendes Drittes war aber ein Gespräch, das Rudolf Steiner und Ita Wegman im Sommer 1923 in Penmaenmawr/England im Rahmen des „Vortragszyklus über Initiationserkenntnis“[3] hatten.
Dort fragte sie ihn, ob es möglich sei, die medizinischen Mysterien alter Zeit zu erneuern – in einer neuen, zeitgemäßen Form. Dies sei für ihn, so Steiner später zu dem holländischen Arzt Willem Zeylmans van Emmichhoven, „die Parzival-Frage“ gewesen, die es ihm ermöglicht hätte, die Weihnachtstagung in der Form durchzuführen, wie dies dann geschehen sei.[4]
Alle, die an dieser Tagung teilnahmen, bemerkten unmittelbar, dass hier keine „schöne weihnachtliche Tagung“ vor sich ging. Vielmehr wurden sie Zeugen einer Inaugurationstat Rudolf Steiners: der Begründung eines neuen Mysterienwesens, ja, eines „Welten-Zeitenwende-Anfangs“.[5]
Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen
[1] Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24, GA 260, S. 121.
[2] Rudolf Steiner, Briefe an die Mitglieder, 5. Mitgliederbrief, S.33.
[3] Rudolf Steiner, „Initiationserkenntnis“, GA 227.
[4] J. Emanuel Zeylmans van Emmichhoven, Wer war Ita Wegman? Bd.II, S. 216f.
[5] Siehe FN 1, S. 281.
DIE STATUTEN DER ALLGEMEINEN ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT
Rudolf Steiner charakterisiert die Aufgabe der Statuten im Bericht vom 13. Januar 1924 so: „Der anthroposophischen Gesellschaft eine Form zu geben, wie sie die anthroposophische Bewegung zu ihrer Pflege braucht, das war mit der eben beendeten Weihnachtstagung am Goetheanum beabsichtigt. (…)
Was an die Stelle eines gewöhnlichen Statuts zu treten habe, war zu sagen. Eine Beschreibung dessen, was Menschen in einem rein menschlichen Lebenszusammenhang – als anthroposophische Gesellschaft – vollbringen möchten, solle an die Stelle eines solchen „Statuts“ treten.“[1]
Statuten zur Regelung der Zusammenarbeit
Statuten im bürokratischen Sinn, d. h. Regeln, nach denen man sich zu verhalten habe, waren für Rudolf Steiner ein Graus. Darüber sprach er sich an verschiedenen Stellen aus – so auch während der Weihnachtstagung. Das Weihnachtsstatut hingegen sollte beschreiben, was Menschen miteinander vorhaben, die Art wie sie zusammenarbeiten wollen. Zugleich sollte es jedoch auch einem rechtsfähigen Statut entsprechen, das man in das Schweizer Handelsregister eintragen konnte, das der Leitung der Gesellschaft in rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht volle Gestaltungsfreiheit lassen würde. Diese Absicht formuliert Steiner am 29. Juni 1924 unmissverständlich:
„Und Sie werden sehen, die Statuten sind in einer Weise abgefaßt, daß alles Verwaltungsmäßige, alles, was jemals durch sich selber Veranlassung geben könnte, in Bürokratie umzuschlagen, aus diesen Statuten heraußen ist. Diese Statuten sind auf das rein Menschliche eingestellt. Sie sind nicht eingestellt auf Prinzipien, sie sind nicht eingestellt auf Dogmen, sondern in diesen Statuten ist etwas gesagt, was rein an das Tatsächliche und Menschliche anknüpft, meine lieben Freunde. (…)
Sehen Sie, damit habe ich Ihnen die Grundbedingungen wenigstens angedeutet, die beim Ausgang unserer Tagung vor unsere Herzen hingestellt werden müssen für die Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Sie muß in dem angedeuteten Sinne eine Gesinnungsgesellschaft, keine Statutengesellschaft sein. Die Statuten müssen nur äußerlich ausdrücken dasjenige, was lebendig in den Seelen ist.[2]
Diese besonderen Statuten möchte ich hier im Wortlaut wiedergegeben, da ich immer wieder die Erfahrung mache, wie wenig bekannt und im Alltag präsent die Beschreibung dieses „rein menschlichen Lebenszusammenhangs“ unter den Mitgliedern ist.
Die Statuten der AAG im Wortlaut
1. Die Anthroposophische Gesellschaft soll eine Vereinigung von Menschen sein, die das seelische Leben im einzelnen Menschen und in der menschlichen Gesellschaft auf der Grundlage einer wahren Erkenntnis der geistigen Welt pflegen wollen.
2. Den Grundstock dieser Gesellschaft bilden die in der Weihnachtszeit 1923 am Goetheanum in Dornach versammelten Persönlichkeiten, sowohl die Einzelnen wie auch die Gruppen, die sich vertreten ließen. Sie sind von der Anschauung durchdrungen, dass es gegenwärtig eine wirkliche, seit vielen Jahren erarbeitete und in wichtigen Teilen auch schon veröffentlichte Wissenschaft von der geistigen Welt schon gibt und dass der heutigen Zivilisation die Pflege einer solchen Wissenschaft fehlt. Die Anthroposophische Gesellschaft soll diese Pflege zu ihrer Aufgabe haben. Sie wird diese Aufgabe so zu lösen versuchen, dass sie die im Goetheanum zu Dornach gepflegte anthroposophische Geisteswissenschaft mit ihren Ergebnissen für die Brüderlichkeit im menschlichen Zusammenleben, für das moralische und religiöse sowie für das künstlerische und allgemein geistige Leben im Menschenwesen zum Mittelpunkte ihrer Bestrebungen macht.
3. Die als Grundstock der Gesellschaft in Dornach versammelten Persönlichkeiten erkennen zustimmend die Anschauung der durch den bei der Gründungsversammlung gebildeten Vorstand vertretenen Goetheanum-Leitung in Bezug auf das Folgende an: „Die im Goetheanum gepflegte Anthroposophie führt zu Ergebnissen, die jedem Menschen ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion als Anregung für das geistige Leben dienen können. Sie können zu einem wirklich auf brüderliche Liebe aufgebauten sozialen Leben führen. Ihre Aneignung als Lebensgrundlage ist nicht an einen wissenschaftlichen Bildungsgrad gebunden, sondern nur an das unbefangene Menschenwesen. Ihre Forschung und die sachgemäße Beurteilung ihrer Forschungsergebnisse unterliegt aber der geisteswissen-schaftlichen Schulung, die stufenweise zu erlangen ist. Diese Ergebnisse sind auf ihre Art so exakt wie die Ergebnisse der wahren Naturwissenschaft. Wenn sie in derselben Art wie diese zur allgemeinen Anerkennung gelangen, werden sie auf allen Lebensgebieten einen gleichen Fortschritt wie diese bringen, nicht nur auf geistigem, sondern auch auf praktischem Gebiete.“[3]
4. Die Anthroposophische Gesellschaft ist keine Geheimgesellschaft, sondern eine durchaus öffentliche. Ihr Mitglied kann jedermann ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung werden, der in dem Bestand einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes sieht. Die Gesellschaft lehnt jedes sektiererische Bestreben ab. Die Politik betrachtet sie nicht als in ihrer Aufgabe liegend.
5. Die Anthroposophische Gesellschaft sieht ein Zentrum ihres Wirkens in der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach. Diese wird in drei Klassen bestehen. In dieselbe werden auf ihre Bewerbung hin aufgenommen die Mitglieder der Gesellschaft, nachdem sie eine durch die Leitung des Goetheanums zu bestimmende Zeit die Mitgliedschaft innehatten. Sie gelangen dadurch in die erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Die Aufnahme in die zweite, beziehungsweise in die dritte Klasse erfolgt, wenn die um dieselbe Ansuchenden von der Leitung des Goetheanums als geeignet befunden werden.
6. Jedes Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft hat das Recht, an allen von ihr veranstalteten Vorträgen, sonstigen Darbietungen und Versammlungen unter den von dem Vorstande bekanntzugebenden Bedingungen teilzunehmen.
7. Die Einrichtung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft obliegt zunächst Rudolf Steiner, der seine Mitarbeiter und seinen eventuellen Nachfolger zu ernennen hat.
8. Alle Publikationen der Gesellschaft werden öffentlich in der Art wie diejenigen anderer öffentlicher Gesellschaften sein. (Anmerkung: Öffentlich sind auch die Bedingungen, unter denen man zur Schulung kommt, geschildert worden und werden auch weiterhin veröffentlicht werden.) Von dieser Öffentlichkeit werden auch die Publikationen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft keine Ausnahme machen; doch nimmt die Leitung der Schule für sich in Anspruch, dass sie von vornherein jedem Urteile über diese Schriften die Berechtigung bestreitet, das nicht auf die Schulung gestützt ist, aus der sie hervorgegangen sind. Sie wird in diesem Sinne keinem Urteil Berechtigung zuerkennen, das nicht auf entsprechende Vorstudien gestützt ist, wie das ja auch sonst in der anerkannten wissenschaftlichen Welt üblich ist. Deshalb werden die Schriften der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft den folgenden Vermerk tragen: „Als Manuskript für die Angehörigen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, Goetheanum Klasse... gedruckt. Es wird niemand für die Schriften ein kompetentes Urteil zugestanden, der nicht die von dieser Schule geltend gemachte Vor-Erkenntnis durch sie oder auf eine von ihr selbst als gleichbedeutend anerkannte Weise erworben hat. Andere Beurteilungen werden insofern abgelehnt, als die Verfasser der entsprechenden Schriften sich in keine Diskussion über dieselben einlassen.“
9. Das Ziel der Anthroposophischen Gesellschaft wird die Förderung der Forschung auf geistigem Gebiete, das der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft diese Forschung selbst sein. Eine Dogmatik auf irgendeinem Gebiete soll von der Anthroposophischen Gesellschaft ausgeschlossen sein.
10. Die Anthroposophische Gesellschaft hält jedes Jahr im Goetheanum eine ordentliche Jahresversammlung ab, in der von dem Vorstande ein vollständiger Rechenschaftsbericht gegeben wird. Die Tagesordnung an dieser Versammlung wird mit der Einladung an alle Mitglieder sechs Wochen vor der Tagung von dem Vorstande bekanntgegeben. Außerordentliche Versammlungen kann der Vorstand berufen und für sie die Tagesordnung festsetzen. Er soll drei Wochen vorher die Einladungen an die Mitglieder versenden. Anträge von einzelnen Mitgliedern oder Gruppen von solchen sind eine Woche vor der Tagung einzusenden.
11. Die Mitglieder können sich auf jedem örtlichen oder sachlichen Felde zu kleineren oder größeren Gruppen zusammenschließen. Die Anthroposophische Gesellschaft hat ihren Sitz am Goetheanum. Der Vorstand hat von da aus das an die Mitglieder oder Mitgliedergruppen zu bringen, was er als die Aufgabe der Gesellschaft ansieht. Er tritt in Verkehr mit den Funktionären, die von den einzelnen Gruppen gewählt oder ernannt werden. Die einzelnen Gruppen besorgen die Aufnahme der Mitglieder; doch sollen die Aufnahmebestätigungen dem Vorstand in Dornach vorgelegt und von diesem im Vertrauen zu den Gruppenfunktionären unterzeichnet werden. Im Allgemeinen soll sich jedes Mitglied einer Gruppe anschließen; nur wem es ganz unmöglich ist, die Aufnahme bei einer Gruppe zu finden, sollte sich in Dornach selbst als Mitglied aufnehmen lassen.
12. Der Mitgliedsbeitrag wird durch die einzelnen Gruppen bestimmt; doch hat jede Gruppe für jedes ihrer Mitglieder 15 Franken an die zentrale Leitung am Goetheanum zu entrichten.
13. Jede Arbeitsgruppe bildet ihre eigenen Statuten; nur sollen diese den Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft nicht widersprechen.
14. Gesellschaftsorgan ist die Wochenschrift «Das Goetheanum», die zu diesem Ziele mit einer Beilage versehen wird, die die offiziellen Mitteilungen der Gesellschaft enthalten soll. Diese vergrößerte Ausgabe wird nur an die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft abgegeben.
15. Gründungs-Vorstand
Erster Vorsitzender: Dr. Rudolf Steiner
Zweiter Vorsitzender: Albert Steffen
Schriftführer: Dr. Ita Wegman
Beisitzer: Marie Steiner, Dr. Elisabeth Vreede
Sekretär und Schatzmeister: Dr. Guenther Wachsmuth.
Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen
[1] Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a, Bericht an die Mitglieder, 13. Jan. 1924.
[2] Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924, GA 260, S. 41ff.
[3] Anmerkung d. Verf.: Die Anthroposophische Gesellschaft knüpft an die im Jahre 1912 gegründete Anthroposophische Gesellschaft an, möchte aber für die damals festgestellten Ziele einen selbständigen, dem wahren Geiste der Gegenwart entsprechenden, Ausgangspunkt schaffen.
GRUNDSÄTZLICHES ZUR „ALLGEMEINEN ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT“
Stellt die „Anthroposophische Gesellschaft“ eine Art neue Glaubensgemeinschaft dar?
Worum es geht
Die Anthroposophie ist keine Glaubensgemeinschaft. Sie wendet sich an das selbstständige Denken der Menschen und deren Bereitschaft, an ihrer eigenen Lebenserfahrung zu prüfen, ob Gesichtspunkte aus der Anthroposophischen Geisteswissenschaft sich bewahrheiten oder nicht.
Anthroposophie appelliert an die Bereitschaft, sich in den Dienst der Menschheitsentwicklung zu stellen. Rudolf Steiner sprach in dem Zusammenhang bereits 1908 von den neuen, christlichen Mysterien, die er als Mysterien des Willens bezeichnete.[1] Die alten Mysterien dagegen waren Mysterien der Weisheit.
Bei allen anthroposophischen Bemühungen geht es um
- Selbsterkenntnis,
- soziales Menschenverständnis
- und darum, aus dieser Erkenntnis heraus zeitgemäße und menschenwürdige Lebens- und Arbeitszusammenhänge zu schaffen.
Eine solche verbindliche Haltung bzw. Bereitschaft zur Mitarbeit wird nur von den Mitgliedern der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ erwartet, nicht aber von den Mitgliedern der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“.
Offenheit der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft
In den Statuten der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ steht auch, dass die AAG offen ist für alle Menschen, „unabhängig von ihrer wissenschaftlichen, künstlerischen und religiösen Überzeugung“.
Mich berührt dabei am meisten, dass die Ausbreitung der anthroposophischen Kulturimpulse „von innen“ kommt und nicht durch einen „Businessplan“ und Geld quasi von außen organisiert wird. Auch das Goetheanum steuert diese Entwicklung nicht, koordiniert aber die unterschiedlichen Bereiche und unterstützt weltweit, wo immer dies gewünscht wird – allerdings nicht finanziell, da das Goetheanum selbst auf Spenden zu seinem Unterhalt angewiesen ist.[2]
1919 hatte Rudolf Steiner bereits in seinen „Vorträgen über soziale Zukunft“[3] drei Gesell-schaftstypen charakterisiert:
- die pyramidale Machtgesellschaft der Vergangenheit,
- die „demokratische Tauschgesellschaft“ der Gegenwart
- und die Gemeingesellschaft als die Gesellschaftsform der Zukunft, deren Grundnerv die Selbstlosigkeit sei.
Im selbstlosen Dienst an der Menschheit sah er die Aufgabe der zu Weihnachten begründeten „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“, an die sich die Zweige und Gruppen der anthroposophischen Landesgesellschaften anschließen können.
Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen
[1] Rudolf Steiner, „Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums“, GA 8.
[2] Bis heute gab und gibt es weltweit Menschen, die das Goetheanum und seine Sektionen lieben und – auch unter schwierigen finanziellen Verhältnissen – am Leben gehalten haben. So lebt es als Wahrzeichen der Anthroposophie und als inzwischen auch – nicht nur unter Architekten – international bekanntes Bauwerk und Zentrum der anthroposophischen Bewegung.
[3] Rudolf Steiner, Soziale Zukunft, GA 332a.
UNTERSCHIED ZWISCHEN AAG-MITGLIEDSCHAFT UND HOCHSCHUL-MITGLIEDSCHAFT
Worin besteht der Unterschied zwischen einer Mitgliedschaft in der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ (AAG) und einer Mitgliedschaft an der Hochschule?
Sozial-therapeutisches Gesamtkunstwerk
Vor 100 Jahren wurde die „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ (AAG) als eine im Geist gegründete Arbeitsgemeinschaft gestiftet, an die sich jede/r in der ihm/ihr möglichen Form anschließen kann. Es ist eine durch die geistige Grundsteinlegung[1] verbundene Gemeinschaft der Lebenden und der Verstorbenen. Sie hat ihren Tempel in der geistigen Welt und das physische Symbolum davon, das Goetheanum auf dem Dornacher Hügel, als Tagungs-Begegnungs- und Arbeitsort und zugleich Sitz der AAG und der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“.
Am 27. Dezember 1923 erläutert Steiner auf der Weihnachtstagung[2] anhand einer Skizze den sozialen Bau von AAG und Hochschule mit ihren drei Klassen, die horizontal übereinander-liegen mit der AAG an der Basis und den 3 Klassen darauf aufbauend, und den neu eingerichteten Sektionen,[3] die vertikal ausgerichtet sind und die Arbeitsebenen von Klassen und AAG kreuzen und gleichzeitig miteinander verbinden.
Mitgliedschaft in der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“
Die Mitgliedschaft in der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ hat als einzige Bedingung, im Goetheanum als Einrichtung[4] etwas Berechtigtes zu sehen und folglich auch bereit zu sein, einen bescheidenen Unterstützungsbeitrag in Form eines Mitgliedsbeitrags zu leisten.
Wer will, kann auch in freier Weise in der Gesellschaft aktiv werden und einen eigenen Zweig oder eine Gruppe auf sachlichem Feld begründen, deren Arbeitsformen und ggf. auch Statuten man ebenfalls eigenständig realisieren kann. Die eigenen Statuten sollen nur dem Weihnachtsstatut[5] nicht widersprechen.
Mitgliedschaft in der Hochschule
Das verhält sich bei der Mitgliedschaft in der Hochschule anders. Bewerber, die in die Hochschule aufgenommen werden wollen, sollten die folgenden drei Bedingungen beherzigen, die in den „Briefen an die Mitglieder“[6] eingehend erläutert werden:
- den Anthroposophischen Schulungsweg ernst zu nehmen,
- sich im Zusammenhang zu halten mit den anderen Hochschulmitgliedern
- und den Entschluss zu fassen, „sich wirklich zu Repräsentanten der Anthroposophischen Sache im Leben in allen Einzelheiten machen wollen“.
Mit der Hochschule wurde eine verbindliche geistbrüderlich/schwesterliche Gemeinschaft gestiftet, die entscheidend dazu beiträgt, dass trotz der maximalen Freiheit des Einzelnen in der „Anthroposophischen Gesellschaft“ kein Chaos zusammenhangloser Gruppen, sondern „eine Gesellschaft mit geistigem Inhalt“ und klarer Kulturaufgabe entstehen kann.
Durch geistige Grundsteinlegung verbundene Gemeinschaft
Dazu trägt selbstverständlich auch das Arbeiten auf der Grundlage der Weihnachtsstatuten bei. Dadurch, so Steiner, könnten die Hochschulmitglieder eine Art soziales Korrektiv bilden, so dass Hochschule und Gesellschaft in ihrem Zusammenhang der Aufgabe gerecht werden können, auf den verschiedenen Lebensfeldern die spirituellen Kulturimpulse der Anthroposo-phie zur Wirksamkeit zu bringen.
Die Notwendigkeit, das Initiationsprinzip „unter die Zivilisationsprinzipien aufzunehmen“, wie Steiner es formulierte, also der eigenen Lebensarbeit eine spirituelle Orientierung zu geben und dadurch die Anthroposophie auf den verschiedenen Lebensgebieten kulturwirksam werden zu lassen, war auch das Kernthema der Abend- und Morgenvorträge während der Weihnachtstagung 1923/24.
Was mich dabei besonders berührt, ist die Tatsache, dass diese Arbeitsgemeinschaft trotz mancher Krise unverbrüchlich stabil geblieben ist. Es gab immer genügend Mitglieder in der AAG und Hochschule, die keinen Zweifel aufkommen ließen an der Realität des zu Weihnachten 1923 Begonnenen, und die mit ihren Möglichkeiten zum Gedeihen des Anthroposophischen Kulturimpulses beitragen wollten und konnten.
Berufsgemeinschaften mit einem esoterischen Kern
Denn eines gilt für alle Berufs- und Lebensfelder, die durch die Anthroposophie inspiriert wurden und werden: Es sind Berufsgemeinschaften mit einem esoterischen Kern, einem gemeinsamen geistigen Ort der Inspiration. Das gilt für alle folgenden Berufsgruppen:
- die Lehrerschaft der Waldorfschulen,
- die Priesterschaft der Christengemeinschaft,
- die im September 1924 von Rudolf Steiner und Ita Wegman noch auf den Weg gebrachte spirituelle Ärzteschaft,
- die durch eine gemeinsame Meditation verbundene Gemeinschaft der Heilpädagogen,
- für den Versuchsring biologisch-dynamische Landwirtschaft,
- das meditative Gut, das die Künstlerinnen und Künstler jeweils auf ihrem Felde verbindet
- das auf den verschiedenen Wissenschaftsgebieten von Rudolf Steiner Ausgeführte.
Dies inspirierende Geistesgut zu pflegen und lebendig zu halten ist Aufgabe der Hochschulsektionen am Goetheanum. Auch wenn beispielsweise in einem anthroposophischen Krankenhaus unter den über 800 Mitarbeitern nur wenige Mitglieder in der AAG oder Hochschule sind, so sind doch diese Wenigen in gewisser Weise die Garanten für die anthroposophische Qualität des Hauses.
Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen
[1] Für diese Grundsteinlegung gab Rudolf Steiner den Grundsteinspruch als geistiges Fundament der anthroposophischen Bewegung.
[2] Die Weihnachtstagung 1923/1924 zur Begründung der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ fand vom 24. Dezember 1923 bis zum 1. Januar 1924 in Dornach am Goetheanum statt.
[3] Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft mit ihren zwölf Sektionen ist in Forschung, Entwicklung, Lehre und der praktischen Umsetzung ihrer Ergebnisse wirksam und wird in ihrer Arbeit durch die Anthroposophische Gesellschaft gefördert (https://goetheanum.ch/de/hochschule).
[4] Das Goetheanum ist der Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und eine Freie Hochschule für Geisteswissenschaft.
[5] https://www.anthroposophische-gesellschaft.online/resources/Statuten-der-Anthroposophischen-Gesellschaft.pages.pdf.
[6] Rudolf Steiner, Briefe an die Mitglieder, Brief vom 15.2.24, Einleitung.
LEITMOTIVE DER ANTHROPOSOPHIE
Was sind die Leitmotive der Anthroposophie?
Wissenschaft vom Geistigen
Die Anthroposophie ist ihrem Selbstverständnis nach weder eine Religion noch Glaubensersatz. Sie ist eine dem konsequenten und kritischen Denken zugängliche Wissenschaft von der geistigen Seite des Daseins.
Denkansatz und Menschenbild der Anthroposophie orientieren sich am Entwicklungsgedanken der abendländischen Kultur. Im Zentrum stehen zu entwickelnde Werte und Eigenschaften, die den Kernidealen des Christentums entsprechen und über Länder- und Religionsgrenzen hinweg als Synonyme für Menschlichkeit erlebt werden: Wahrhaftigkeit, Liebe, Freiheit.
Wo immer es um die Entwicklung von Menschlichkeit geht,
- braucht das Erkenntnisleben die Orientierung an der Wahrheit,
- das Gefühlsleben die Orientierung am Ideal der Liebesfähigkeit,
- und das Willens- und Handlungsleben das Leitmotiv der Autonomie, der Authentizität bzw. der Freiheit.
Das Wort aus der christlich-mittelalterlichen Alchemie – Christus verus mercurius est – ist das zentrale Berufsideal für anthroposophische Ärzte und Pharmazeuten[1].
Denn letztlich geht von der Vermittlung der genannten Entwicklungsziele alles Gesundende im persönlichen und sozialen Leben aus: „Lassen Sie unseren Weg zum Geistigen durch Anthroposophie zugleich sein den Weg zu Christus durch den Geist!“ So formulierte Rudolf Steiner sein Anliegen einmal in einem Vortrag in Oslo.[2] Einen Satz wie diesen kann man als äußerst anspruchsvoll empfinden. Andererseits zeigt er deutlich die Intention, sich nicht auf Glaubenssätze zu stützen, sondern auf klare Gedanken und den Willen, einen Erkenntnisweg zum bewussten Erfassen geistiger Wirklichkeiten zu gehen.
Spiritualität und Wissenschaft
Viele Menschen – auch Wissenschaftler – erleben heute, dass Wissenschaft ohne Spiritualität und Moral eine Gefahr für alle darstellt. Es sei an dieser Stelle beispielhaft erwähnt, dass der Karl Friedrich Haug Verlag die Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag des Verlages der Zeitschrift „Erfahrungsheilkunde“ (NN 2003) dem Thema „Spiritualität und Wissenschaft“ gewidmet hat.
Der Umweltmediziner Harald Wallach fasst seinen engagierten Beitrag zum Thema so zusammen: Wissenschaft und Spiritualität haben einen gemeinsamen Grund – die Erfahrung von Wirklichkeit. Während jedoch die Wissenschaft von da an den Weg nach außen antritt, hin zur äußeren Erfahrung, mit der die ursprüngliche Intuition ausgefaltet, gesichert und spezifiziert wird, wendet sich die Spiritualität konsequent weiter nach innen. Sie vertieft die Erfahrung durch fortschreitende Betrachtung und Verinnerlichung. Wissenschaft und Spiritualität sind wie Geschwister, die einen gemeinsamen Ursprung haben. Und wie wirkliche Geschwister, die sich nach einer Zeit der gegenseitigen Abgrenzung und Differenzierung wieder auf ihren gemeinsamen Ursprung besinnen, werden sich auch diese beiden Seiten des menschlichen Erkenntnisstrebens auf ihre gemeinsamen Wurzeln besinnen.[3]
Der anthroposophische Erkenntnisansatz bietet eine Möglichkeit für eine solche Besinnung.
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Peter Selg, Krankheit und Christus-Erkenntnis. Anthroposophische Medizin als christliche Heilkunst, Verlag am Goetheanum, Dornach 2001.
[2] Rudolf Steiner, Rhythmen in der Menschennatur, in: Geisteswissenschaftliche Menschenkunde, Vorträge 1909, GA 107.
[3] Harald Wallach, Spiritualität und Wissenschaft, Erfahrungsheilkunde, Band 52, S 659. 2003.
DIE SIEBEN BEDINGUNGEN DES ANTHROPOSOPHISCHEN SCHULUNGSWEGES
Wie lauten die Bedingungen für den anthroposophischen Schulungsweg?
Wie stehen diese zu den Wesensschichten des Menschen?
Richtlinien für eine gesunde Lebensführung
Der anthroposophische Schulungsweg spricht von sieben Bedingungen, die auch in einem Kapitel von „Wie erlangt man Erkenntnisse Höherer Welten“[1] nachzulesen sind. Wenn jemand mich fragen würde, was das Wichtigste an dem Buch wäre, würde ich auf das Kapitel mit den sieben Bedingungen verweisen. Sie sind die Richtlinien für eine gesunde Lebensführung. Sich an sie zu halten ist die Grundvoraussetzung für den Schulungsweg.
· Bedingungen für die Stärkung der Wesensglieder
Die erste Bedingung betrifft die physische Ebene und ist formuliert als Aufforderung, auf die Gesundheit zu achten.
Die zweite Bedingung betrifft das Erwachen im Ätherischen und fordert dazu auf, sich immer im Zusammenhang mit dem Ganzen, dem übrigen Leben, zu fühlen – sich nicht herauszunehmen, sondern stets auf den Gesamtzusammenhang zu achten; sprich: das Leben selbst ernst zu nehmen.
Die dritte Bedingung betrifft unser Denken, Fühlen und Wollen als astrale Realitäten. Sie fordert dazu auf, so zu leben, als wären Gedanken und Gefühle genauso real wie Handlungen. Was man denkt, erschafft ebenso Realitäten wie das, was man tut; jedes Wort, das ich spreche, schafft eine Realität, die ich verantworten muss: Ich habe es gesagt, das war niemand anderes, das war ich. Es geht darum, sich immer wieder klarzumachen, dass es nicht egal ist, wie ich über andere Menschen denke: Es ist so, als würde ich ihnen gegenübersitzen. Menschen fühlen sich besser, wenn ich gut über sie denke. Diesbezüglich habe ich eine Verantwortung. Gedanken, Gefühle und Handlungen sind alle real, nur auf unterschiedlichen Ebenen – geistig, seelisch und in der physischen Welt.
Die vierte Bedingung betrifft die Vertikale, das Ich, und soll dazu beitragen, unabhängig zu werden von äußerer Anerkennung.
· Bedingungen für das Erschaffen von Zukünftigem
Die folgenden Wesensschichten müssen wir noch erringen durch Verwandlung:
Die fünfte Bedingung betrifft das Geistselbst (hier und bei einigen Worten in diesen Absätzen gibt es im Original eine Kursivschrift, hier aber nicht), den verwandelten Astralleib: Hier besteht die Übung darin, dass man sich bei allem, was man macht, ganz genau Rechenschaft ablegt darüber, warum man es macht. Dass man das, was man tut, bewusst und mit Liebe tut.
Die sechste Bedingung betrifft den Lebensgeist: dass man die Entschlüsse, die man gefasst hat, konsequent umsetzt; dass man dem Leben gegenüber tiefe Dankbarkeit entwickelt, dass man lernt, für alles dankbar zu sein, was einem das Leben bringt. Das ist keine einfache Übung. Es geht vor allem darum, dass man, wenn schlimme Dinge passieren, lernt, auch darin einen Sinn zu entdecken – dass man den Sinn des Lebens lebt, indem man ihn in allem findet.
Die siebte Bedingung betrifft den Geistesmenschen: dass man sein ganzes Leben an den sechs genannten Bedingungen ausrichtet.
Zu wissen, dass es im Hinblick auf jede Schicht des eigenen Wesens etwas gibt, das geübt werden kann, hilft schon sehr viel dabei, sich nicht abhängig zu machen von Lob und Tadel. Die meisten Menschen sind durch Lob korrumpierbar und durch Tadel konditionierbar, weil sie Angst haben, schlecht da zu stehen, und weil sie das Lob genießen. Lob und Tadel sprechen das Ego an. Die Angst vor Tadel ist die Angst vor Liebesentzug, die Angst davor, dass der Andere sagt: „Wenn du das machst, kannst du mich vergessen.“ Es kann sich aber auch um die Angst handeln, seinen Job zu verlieren – oder ihn gar nicht erst zu bekommen.
Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010 im Gespräch mit jungen Menschen
[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse Höherer Welten, GA 10.
BESINNNUNG AUF DEN GRUNDIMPULS DER ANTHROPOSOPHIE
Was war der ursprüngliche Impuls der Anthroposophie?
Woran zeigt sich, dass er neu ergriffen werden muss?
Was muss damit einhergehen?
Kultur aus der Entschlusskraft vieler
Wir müssen uns als Gemeinschaft der Anthroposophischen Gesellschaft neu besinnen auf unseren ureigensten Impuls: eine Kultur zu schaffen, die aus der Trage- und Entschlusskraft und dem Übe-Willen vieler einzelner menschlicher Ich-Wesen hervorgeht. Tun wir das nicht, werden wir diesen Impuls verlieren. Denn Rudolf Steiner sagt in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“[1], dass die darin genannten Übungen entweder zum Guten oder zu nichts führen. Die Vorstufen des Nichts sind Siechtum, Unzufriedenheit, Kraftlosigkeit und vieles mehr, echte Alarmsignale, die sich auch bei uns andeuten. Die Notwendigkeit, diesen Impuls neu aufzugreifen und sogar zu verstärken, liegt also auf der Hand.
2017 feierten wir auch „Hundert Jahre Kunstimpuls München 1907“. Mit den Ereignissen damals assoziieren viele von uns „Apokalypse“, „die beiden Säulen“ und dann hört es schon wieder auf. Man realisiert meist nicht, dass in dieser Zeit auch
- das christliche Mysterium von Rudolf Steiner enthüllt wurde;
- die Waldorfpädagogik inauguriert wurde, die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft;
- die großen Vorträge über Gesundheit und Ernährung gehalten wurden;
- die Schicksalsbegegnung mit Ita Wegman stattfand, die damals in München Medizin studierte und auf dem Kongress aus der Theosophischen Gesellschaft, ihrer geistigen Heimat, kommend auf Rudolf Steiner zuging, weil sie erkannte, dass das, was Rudolf Steiner vorhatte, das war, was sie wollte. Daraufhin fielen ihre bedeutungsschweren Worte: „Herr Doktor, ich bleibe bei Ihnen.“ Daraufhin, so wird berichtet, habe er ihr Bedeutungsvolles über ihrer beider Schicksalsbestimmung eröffnet und über die Möglichkeit einer vertrauensvollen, unverbrüchlichen Zusammenarbeit, der wir die grundsätzliche Veranlagung der Anthroposophischen Medizin verdanken.
Nötige Erneuerung des Impulses
In dreimal dreiunddreißig ein Drittel Jahre, also hundert Jahren, entwickelten sich aus alledem die Keime für unsere kulturellen Tätigkeiten. Es entwickelte und entäußerte sich etwas, das das Denken, Fühlen und Wollen von drei Generationen durchdrungen hat.
Jetzt aber ist ein völlig neuer Einschlag nötig. Dieser Impuls – und das betrifft auch unsere Berufsbewegungen – kann nur erneuert werden, wenn er von der Instanz im Menschen ausgeht, von der der Christus sagt: „Siehe, ich mache alles neu“, von der menschlichen Instanz, zu der das Wort „autós“ oder „authentisch“ passt: vom wahren Selbst. Doch dieses Selbst beginnt sich ja erst ganz anfänglich im meditativen Üben, aber auch in allen äußeren Gestaltungen, zu erfassen.
Was ein Mensch tut und je getan hat in Gedanken, in Worten und in jeder noch so kleinen Handlung, kann er nicht von sich weisen. Es geht mit ihm als sein Schicksal. In diesem Bereich sind Inneres und Äußeres eins, auch wenn man sich in einem späteren Erdenleben, wenn einen die manchmal eigenartigen Konsequenzen von früheren Taten treffen, dagegen verwehrt und sagt: „Das gehört nicht zu mir, das spalte ich ab; meine Umwelt ist schuld an meinen Problemen.“ Diese Notwendigkeit, die ursächliche Verantwortung für das eigene Schicksal (auch der Gesellschaft) im eigenen Wesen suchen zu lernen, war ein weiterer Grund für die Themenwahl.
Noch ein Grund war, dass die Kunst selbst als ganz bedeutungsvoller Zweig anthroposophischer Arbeit neu ergriffen werden muss. Die Kunstszene der heutigen Welt, in der wir leben, braucht den Einschlag einer Ich-geführten Spiritualität. Diese Gründe zusammengenommen weisen auf ein großes Vorhaben. Andererseits weisen sie aber auch auf etwas Stilles, Bescheidenes: auf die Stille, die beim Üben entsteht.
Vgl. Vortrag „Wege zum Herzdenken durch meditatives und künstlerisches Üben“ an der Jahresversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft 2007
[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse Höherer Welten, GA 10.
WAS DAS WESEN ANTHROPOSOPHIA VON UNS BRAUCHT
Was waren die Aufgaben und Errungenschaften der ersten Mitglieder der „Anthroposophischen Gesellschaft“?
Was sind die Aufgaben und Herausforderungen für die heutigen Mitglieder?
Inwiefern muss und kann Anthroposophie als ein Wesen aufgefasst werden, das unsere Unterstützung braucht?
Heutige Aufgabe der „Anthroposophischen Gesellschaft“
Eine der vorrangigsten Aufgaben der „Anthroposophischen Gesellschaft“ heute wäre aus meiner Sicht das Bemühen, das höhere Selbst zu wecken und zu verstärken, indem man voneinander lernt, sich über Wesentliches unterhält und sich füreinander interessiert. Steiner nannte dies „das Erwachen am Seelisch-Geistigen des Anderen“. Um das damit verbundene Wecken moralischer Kräfte geht es auch heute mehr denn je. Die heutige „Anthroposophische Gesellschaft“ lebt deshalb mit der Herausforderung, immer wieder neue die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass eine solche Erweckung bzw. Stärkung von ihren Mitgliedern erlebt werden kann.
Nach der Weihnachtstagung hat Rudolf Steiner den Mitgliedern der „Anthroposophischen Gesellschaft“ vieles über ihr Karma enthüllt und ihre Kulturaufgabe beschrieben.[1] Er erläuterte die karmischen Zusammenhänge und benannte die menschheitlichen Kulturströmungen, die sich zu Trägern der anthroposophischen Impulse machen konnten – gerade auch wegen ihrer Verschiedenheiten und karmischen Differenzen.
Anthroposophen damals und heute
Diese karmischen Betrachtungen Rudolf Steiners in Bezug auf die ersten Mitglieder und seine Aussagen in Bezug auf die Kulmination der Anthroposophischen Bewegung am Ende des letzten Jahrtausends sind insofern gewinnbringend, als sie uns dadurch zweierlei karmische Gegebenheiten klar unterscheiden lassen.
1. Gründungsimpuls und erste Anthroposophen
Der Gründungsimpuls der ersten „Anthroposophischen Gesellschaft“ hängt mit den damaligen sowie den am Ende des 20. Jahrhunderts wiederverkörperten Anthroposophen und ihren Lehrern zusammen. Durch diese Menschen wurde unter der Führung von Rudolf Steiner die „Anthroposophische Gesellschaft“ und Bewegung nicht nur gegründet, sondern am Ende des 20. Jahrhunderts auch zu einer Kulmination, quasi zum Erblühen, gebracht.
2. Weiterführung des Impulses durch die heutigen Mitglieder
Heute aber geht es darum, diesen Impuls aufzugreifen, das heißt, ihn nicht nur am Leben zu erhalten, sondern ihn weltweit fortzusetzen. Das ist unter den heutigen Zivilisations-bedingungen viel schwieriger als zur Zeit der Kulmination, also zwischen 1975 und 1997. Dazu braucht es vor allem eine viel größere Anzahl an Menschen als nur diejenigen, die diese Gründung und deren Kulmination als eine Art Pioniertat mit andere zusammen ermöglicht haben.
Notwendigkeit starker Menschengemeinschaften
Die Anthroposophie, also die Quelle aller dieser anthroposophischen Initiativen auf allen Lebensfeldern, ist eben keine „Lehre“, ebenso wenig, wie das Christentum eine „Lehre“ ist. Sie ist vielmehr eine Wesenheit, ein Lebensimpuls, etwas, das wie das Christentum gelebt werden will, das unter Menschen leben will und muss, damit es existieren kann.
Rudolf Steiner nennt das Wesen der Anthroposophie deshalb während der Weihnachtstagung auch „Anthroposophia“. Dieses Wesen inspiriert die anthroposophische Geisteswissenschaft, birgt in sich das Menschenziel und begleitet die Menschheitsentwicklung. Gleichzeitig steht es im Zusammenhang mit der ganzen Fülle der geistigen Wesen und ihren Welten.
Die Anthroposophia als Wesenheit kann ihre Menschheitsaufgabe jedoch nur erfüllen, wenn sich Menschengemeinschaften bilden, die über längere Zeiträume hinweg bereit sind, diesem Wesen eine irdische Hülle zu geben und die es in seiner irdischen Wirksamkeit unterstützen wollen. So gesehen ist die „Anthroposophische Gesellschaft“ – wie Rudolf Steiner sie auch einmal genannt hat – „eine Versuchsgesellschaft des Allgemeinmenschlichen“.
Gegenüber den die gegenwärtige Menschheit in hohem Maße beherrschenden ahrimanischen Gewalten braucht es gerade heute starke Menschengemeinschaften, die sich dem geistig entgegenstellen, indem sie Zukunftskeime des Menschlichen der Menschheit unter sich aufleben lassen und weiterentwickeln.
Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen
[1] Rudolf Steiner, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge. Vierter Band. Das geistige Leben der Gegenwart im Zusammenhang mit der anthroposophischen Bewegung, Vortrag am 5. September 1924, GA 238, S.11 ff.
ERKENNTNISWISSENSCHAFTLICHE GRUNDLAGEN DER ANTHROPOSOPHIE
Was sind die erkenntniswissenschaftlichen Grundlagen der Anthroposophie?
Wie wurden Ideen im Laufe der Menschheitsgeschichte philosophisch verortet?
Vor welchem philosophischen Hintergrund entwickelte Rudolf Steiner seinen ideenrealistischen Ansatz?
Grundfragen rund um den Ideenrealismus Steinerscher Prägung
Die Frage nach den erkenntniswissenschaftlichen Grundlagen für innere Evidenz, der eigenen inneren Überzeugtheit von etwas, rührt an 2000 Jahre Geschichte des Platonischen Ideenrealismus. Der Ideenrealismus Steinerscher Prägung meidet die Falle des dualistischen Konzepts, in dem sich der Idealismus bis dahin dem materiellen Dasein gegenüber positionierte. Er gründet in der Doppelnatur des Denkens von Körperleben und Gedankenleben und in der sich darin bewusst und unbewusst tätig erlebenden Ich-Instanz.
Der Jugendpsychiater und Wissenschaftler Peter Selg widmete seine Dissertation Steiners spiritueller Humanphysiologie.[1] Er fasst in Anknüpfung an Karl-Martin Dietz[2] die philosophische Reflexion zum Ideenrealismus so zusammen:
- Platons „Ideen" waren von ihm als „universalia ante rem" gedacht.
- Für Aristoteles waren die geistigen Realitäten wesentlich, also „in rebus",
- Die Philosophen der mittelalterlichen Scholastik dagegen näherten sich dem menschlichen Bewusstsein vornehmlich so, dass sie Begriffe und Ideen „nach" der Erkenntnisauseinandersetzung mit den Dingen, also „post rem", ansetzten.
Erst in dieser geistesgeschichtlichen Situation konnte man sich die Frage stellen, ob Begriffe überhaupt Realitäten sind; ob sie der Welt innewohnen und vom menschlichen Bewusstsein aus ihr herausgelöst werden, oder ob sie nicht im Gegenteil nur notwendige Konstrukte sind, die dem Menschen dazu dienen, sich in der Welt zurechtzufinden.
Ideen zwischen Nominalismus und Realismus
Sind Begriffe real (res) oder sind sie nur Benennungen (nomina, voces)?
Um diese Frage geht es im Streit zwischen Nominalismus und Realismus, der am Ende des Mittelalters mit dem Sieg des Nominalismus endet: Die Natur wird nun nicht mehr als von Göttlich-Geistigem bewegt angesehen, sondern sie ist zur „Werk-Welt“ geworden, zu einem fertigen Werk, in dem das Bewirkende nicht mehr erfahrbar ist. Geist wird fortan nicht mehr in der Natur gesucht oder geahnt, sondern nur im menschlichen Bewusstsein. Denken ist zu etwas Subjektivem geworden.[3]
Rudolf Steiner beginnt mit der eigenständigen Formulierung seiner Anthroposophie als Geisteswissenschaft erst, nachdem er seine erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit Kant über die apriorischen Formen des sinnlichen Anschauens und des Denkens sowie die Nicht-Erkennbarkeit der „Dinge an sich" und das Studium der von Goethe inaugurierten, phänomenologischen Naturwissenschaft abgeschlossen hatte. Auf dieser Basis baute er eine ideenrealistische Neufassung des Thomismus als anthroposophische Geisteswissenschaft auf.
Erkenntniswissenschaftliche Betrachtungen der Gegenwart
Der Altphilologe und Kulturphilosoph Karl-Martin Dietz setzte diese erkenntniswissenschaftliche Betrachtung bis in die Postmoderne fort.[4] Er stellt die Frage, was im 20. Jahrhundert an die Stelle der metaphysischen Spekulation getreten ist. Zunächst erinnert er an die schon von John Locke vertretene Forderung des Empirismus, aus dem Erkenntnisprozess alles auszuschließen, was dem menschlichen Bewusstsein selbst entspringt und infolgedessen zur Subjektivität führt. Das ist in erster Linie das Denken. Als „objektiv" bleibt dann nur noch übrig, was die Sinneswahrnehmung und deren Erweiterung durch das Experiment liefern. Geschichtlich gesehen hat sich damit eine extreme Gegenposition zu den Anfängen des europäischen Denkens als Inspiration und Ideenschau entwickelt.
Als Zweites verweist Dietz auf die seit den 60er Jahren tätige Gegenbewegung, die von Karl Popper angestoßen wurde, der nachwies, dass es reine Fakten, wie sie der Empirismus voraussetzt, gar nicht gibt. Vielmehr steckt in aller wissenschaftlichen Tätigkeit und nicht zuletzt auch in den raffiniert entwickelten Messgeräten bereits ein hohes Maß an Gedankentätigkeit, die derjenige vergisst, der meint, er könne vom Messgerät objektive Ergebnisse ablesen. Was in der Natur als dort vorhandene Naturgesetzlichkeit vorausgesetzt werden muss, die sich nur dem Denken erschließt, wird bei physikalischen Versuchsanordnungen durch den Menschen selbst vorausgedacht und hereinkonstruiert, auch wenn hinterher nur die Messergebnisse interessieren. „Theoriefreie Fakten" gibt es nicht.
Dietz zieht die Konsequenz, indem er sagt: „Denn wenn in einem ersten Schritt der Empirismus alles Nichtsinnliche für nicht wirklich erklärt und jetzt auch das rein Sinnliche als Garant von „Wirklichkeit" entfällt, dann erleben wir einen totalen Wirklichkeitsverlust. (...) Was in der Scholastik nur der göttlichen Welt gegenüber galt – dass sie sich dem menschlichen Zugriff entzieht – das gilt jetzt auch gegenüber der sinnlichen Welt."
Kollektivismus, Irrationalismus und Konstruktivismus
In Antwort auf die Frage, womit sich die Wissenschaft befasst, hat sich seit den 60er Jahren mehr und mehr eine neue Wahrheitstheorie, die „Konsensus-Theorie, durchgesetzt: Wahrheit ist, worin ein kompetentes Kollektiv übereinstimmen kann.[5]
Auch für die sogenannte Axiomatik, die die nicht weiter beweisbaren mathematischen oder geometrischen Grundannahmen umfasst, gilt, dass Wahrheit als relativ und konsensusabhängig angesehen wird.
Entsprechend werden die erkenntniswissenschaftlichen Ergebnisse nicht mehr als objektiv, sondern als intersubjektiv bezeichnet. Damit, so Dietz, hat der Wirklichkeitsverlust in die offizielle Sprachregelung Eingang gefunden.[6]
Parallel zum Kollektivismus des Erkennens in Folge der Popperschen Empirismuskritik entstand der von Thomas S. Kuhn angestoßene Irrationalismus. Er konnte zeigen, dass Vieles in den geschichtlichen Abläufen der Wissenschaft weder auf Empirie noch auf rational-logisch nachvollziehbaren Wegen zustande gekommen ist.
Auf dieser Basis hat sich der neue – im Wesentlichen von den USA nach Europa kommende – Konstruktivismus geltend gemacht, der die Ansicht vertritt, dass mit dem Erkennen bestimmter Wirklichkeiten auch deren Erzeugen verbunden ist.[7]
Der ideenrealistische Ansatz Steiners
Steiner stand bewusst mitten in dieser Erkenntnisdramatik des 20. Jahrhunderts. In seiner „Philosophie der Freiheit" zeigt er das sich und die Welt reflektierende Ich als Ursache intentionaler Wahrnehmungs- und Gedankentätigkeit auf. Bis in das Mittelalter hinein hatte sich noch die Auffassung erhalten, dass die Gedanken des Menschen unmittelbare Inspirationen aus dem „Geist der Welt“ darstellen.
Seit der Neuzeit erkennt der denkende Mensch zunehmend, dass er selbst urteilt in seinem Gedankenleben und damit auch die Freiheit hat, gedankenschöpferisch tätig zu sein. Diese Freiheit macht die verschiedenen erkenntniskritischen Theorien erst möglich. Sie gibt uns Menschen die Chance, das eigene Selbst, das Ich, als geistig-schöpferisches Wesen zu erkennen, das im Denken geistig tätig ist. Erkennt sich das spirituelle Wesen Mensch im geistigen Medium des Denkens selbst als geistig tätige Instanz, so ist damit der selbstevidente Ausgangspunkt für eine ideen- bzw. gedankenrealistische Weltauffassung gegeben.
Wer in dieser Weise anfängt, die Funktionalität seines Gedankenlebens aktiv zu reflektieren und zu beobachten, steht anders zur Frage des Ideenrealismus als jemand, der einen äußeren Beweis dafür haben möchte, ob es die ideenrealistische Evidenz gibt oder nicht.
Zu der in der Naturwissenschaft geforderten äußeren, empirischen Evidenz muss die von der anthroposophischen Geisteswissenschaft geforderte aktiv durch Erkenntnisarbeit errungene innere Evidenz treten.
Wie innere Evidenz erlebbar wird – ein Beispiel
Wer sich auf diesen ideenrealistischen Ansatz einlässt, kann bald bemerken, wie die Gedankenwelt an Kraft und Realität gewinnt und damit auch als neue Bewusstseinserfahrung auftritt.
Ein einfaches Beispiel soll dies verdeutlichen: Der Leser möge einen kleinen Gegenstand in die Hand nehmen, zum Beispiel einen Löffel, und ihn zu Boden fallen lassen.
Dabei bedenke er die Gesetzmäßigkeit des freien Falls so, wie er dies in der Schule gelernt hat oder es im Physikbuch nachschlagen und sich wiederum vergegenwärtigen kann.
Was hat er damit getan?
- Er hat ein Objekt zu Boden fallen lassen.
- Er hat sich die Gesetzmäßigkeit klar gemacht, in Folge derer der Gegenstand fallen musste.
- Diese Gesetzmäßigkeit wurde anhand einer Vielzahl von Untersuchungen und daran sich anschließenden Berechnungen gewonnen und konnte schließlich als allgemein gültiges Gesetz vom freien Fall formuliert werden.
- Mit diesem Gesetz steht ein Gedankenzusammenhang in Form einer begrifflichen Beschreibung des freien Falls zur Verfügung. Gedanklich wird damit dasjenige erfasst, wonach sich das Objekt in der sinnlich gegebenen Wirklichkeit verhält, ja verhalten muss, wenn es fällt.
- Jetzt kann beides beobachtet werden: zum einen der fallende Gegenstand, zum anderen das Zustandekommen der nur gedanklich erfahrbaren und beschreibbaren Gesetzmäßigkeit.
- Jetzt beginnt die entscheidende Überlegung: Augenscheinlich wirkt in den Dingen selber etwas als „real tätige" Gesetzmäßigkeit, was sich auch im menschlichen Denken zeigt: Die Gedankenform, das auffindbare Gesetz.
- Nun schließt sich eine Selbstreflexion an: Offenbar ist es dem Menschen gegeben, das Wirksame in der Welt – die Gesetzmäßigkeiten – abstrakt zu erfassen. Auf der anderen Seite kann er die Phänomene der Sinneswelt zunächst nur beobachten.
Könnte es nicht sein, dass nur für den Menschen aufgrund seiner Konstitution Wahrnehmung und Begriff auseinanderfallen, sie in der außermenschlichen Natur jedoch stets verbunden sind?
Und könnte es darüber hinaus nicht sein, dass das Auseinanderfallen von Wahrnehmung und Begriff erst die Möglichkeit zur Freiheit und zur Selbstreflexion eröffnet, die nur beim Menschen vorhanden ist?
Die Stoffe, Kräfte und Gestaltprinzipien in Aufbau und Funktion des menschlichen Organismus haben in irgendeiner Weise Anteil an allen Gesetzmäßigkeiten in Natur- und Geisteswissenschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass eben diese ihn konstituierenden Welt- und Naturgesetze in seinem Denken „abstrakt", d.h. losgelöst von der Körperkonstitution, auftauchen können. Damit kann die Anthroposophie als Gedanken- und Ideenwissenschaft vom Ansatz her verstanden werden. Denken – normalerweise als Instrument wissenschaftlichen Bewusstseins betrachtet – wird zum Ort eines Erkenntnisweges zum Geistverständnis, zur „inneren Evidenz“.
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Peter Selg, Vom Logos menschlicher Physis. Die Entfaltung einer anthroposophischen Humanphysiologie im Werk Rudolf Steiners, S 31-36, Dornach 2000.
[2] Karl-Martin Dietz, Metamorphosen des Geistes. Das Erwachen des europäischen Denkens (= Beiträge zur Bewusstseinsgeschichte, Nr. 5, S. 204), Stuttgart1989.
[3] Siehe Fußnote 2.
[4] Karl-Martin Dietz, Rudolf Steiners „Grundlinien" im Zusammenhang der Bewusstseinsgeschichte. (Tycho de Brahe-Jahrbuch für Goetheanismus 1986, S. 103-120), Niefern-Öschelbronn1986.
[5] Ebenda; außerdem: Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, S. 111, Frankfurt a.M. 1976.
[6] Ebenda.
[7] Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, zitiert nach Dietz, Fußnote 3, S. 117.
ANTHROPOSOPHIE ALS NEUES MYSTERIENWISSEN
Was unterscheidet die Mysterien der Weisheit bzw. des Wissens von den neuen Mysterien des Willens?
Grundgedanken der neuen Mysterien
Rudolf Steiner sprach bereits in seinem öffentlichen Vortrag vom 17. Juni 1908 in Nürnberg[1] über den Grundgedanken der neuen Mysterien:
„Je mehr der Mensch individuell wird, desto mehr kann er Liebeträger werden. Wo das Blut die Menschen zusammenkettet, da lieben die Menschen aus dem Grunde, weil sie durch das Blut hingeführt werden zu dem, was sie lieben sollen. Wird dem Menschen die Individualität zuerteilt, hegt und pflegt er den Gottesfunken in sich, dann müssen die Impulse der Liebe, die Wellen der Liebe von Mensch zu Mensch gehen aus freiem Herzen heraus. Und so hat der Mensch mit diesem neuen Impuls das alte Band der Liebe, die an das Blut gebunden ist, bereichert. Die Liebe geht nach und nach über in die geistige Liebe, die von Seele zu Seele fließt, die zuletzt die ganze Menschheit umfassen wird mit einem gemeinschaftlichen Band allgemeiner Bruderliebe. Der Christus Jesus aber ist die Kraft, die lebendige Kraft, durch die, so wie sie in der Geschichte war, wie sie sich den äußeren Augen zeigte, zum ersten Mal die Menschheit zur Verbrüderung gebracht worden ist. Und die Menschen werden lernen, dieses Band der Bruderliebe als das vollendete, als das vergeistigte Christentum aufzufassen. (…)
Der Wahrheit nach können Sie allerdings, wenn sie tief genug forschen wollen, das, was das Christentum an Lehren enthält, in den anderen Religionen auch finden. Neue Lehren hat das Christentum nicht gebracht. Aber das Wesentliche im Christentum liegt nicht in den Lehren. (…)
Dass der Christus sichtbar in die Erscheinung, sichtbar in die Welt getreten ist als Mensch unter Menschen, das ist es, was den Unterschied des Christus-Evangeliums ausmacht gegenüber der göttlichen Verkündigung von anderen Religionen. (…)
Wie der Schüler, der in alten Zeiten eingeweiht wurde, einen Rückblick haben konnte auf die alten, auf die vergangenen Zeiten des Geisteslebens, so erhalten diejenigen, welche im christlichen Sinne eingeweiht werden, durch die Teilnahme an den Impulsen des Christus Jesus die Fähigkeit zu sehen, was aus dieser unserer Erdenwelt wird, wenn die Menschen im Sinne des Christus-Impulses wirken. (…)
Während so die frühere Einweihung eine Einweihung in die Vergangenheit, in uralte Weisheit ist, geht die christliche Einweihung dahin, dem Einzuweihenden die Zukunft zu enthüllen. (…)
Der sinnliche Alltagsmensch setzt sich Ziele für den Nachmittag, für den Abend, den Morgen. Der geistige Mensch vermag aus den geistigen Prinzipien heraus ferne Ziele sich zu setzen, die seinen Willen durchpulsen, seine Kräfte lebendig machen. So der Menschheit Ziele setzen, d. h. im wahren höchsten Sinn, im Sinn des ursprünglichen christlichen Prinzips, das Christentum esoterisch erfassen. So hat es derjenige verstanden, der das große Prinzip der Einweihung des Willens geschrieben hat, der die Apokalypse geschrieben hat. Man versteht die Apokalypse schlecht, wenn man sie nicht versteht als den Impulsgeber für die Zukunft, für das Handeln, für die Tat.“
Von der Verschwiegenheit zur Offenbarung
So Steiner bereits 1908. Es ist aber ein großer Unterschied, etwas zu hören und zu wissen – oder aber etwas zum rechten Zeitpunkt am rechten Ort zu realisieren. Die eigentliche Tat Rudolf Steiners auf der Weihnachtstagung war, die neuen Mysterien so zu stiften, dass sie seit diesem Zeitpunkt zu den Kulturtatsachen dieser Welt gehören.
- Die Weisheitsmysterien unterlagen einer strengen Schweigepflicht – wer eingeweiht war, durfte darüber zu Ungeweihten nicht sprechen. Die Weisheitsmysterien waren eingebettet in Volkstraditionen. Tempel und Rituale gaben den weltlich und geistlich Herrschenden Weihe und Autorität.
- Im Gegensatz dazu geht das christliche Mysterium auf die „Apokalypse“, die Offenbarung, zurück: Der Tod auf Golgatha, dieses tiefste Mysterium der Menschheit, fand vor aller Augen statt. Hier haben die Willensmysterien ihren Ursprung. Diese neuen christlichen Mysterien sind allgemeinmenschlich ausgerichtet und urständen im sich zur Freiheit entwickelnden Individuum und dessen Willen, sich konstruktiv in den Dienst der Menschheitsentwicklung zu stellen.
Dass die Umsetzung nicht einfach ist, dass hier Missverständnisse auftreten können, Fehler gemacht werden und es insbesondere schwer ist, den neuen Geist einer solchen Gemeinschaft zu begreifen, liegt auf der Hand. Das erklärt, warum die weitere Entwicklung nach Rudolf Steiners Tod vielen Unwägbarkeiten ausgesetzt war und weiterhin sein wird. Dennoch sind die Arbeitsziele dieser neuen Mysterien seither auf dem Weg in die Realisierung und begeistern viele Menschen weltweit.
Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen
[1] Rudolf Steiner, Die Apokalypse des Johannes, GA 104, S.28-32.
ANTHROPOSOPHIE ALS GEISTESWISSENSCHAFT
Warum ist Anthroposophie als Geisteswissenschaft zu verstehen?
Was zeichnet das Werk Rudolf Steiners aus?
Werk eigenständiger Forschung
Alles, was Rudolf Steiner zur Anthroposophie sagte und schrieb, liegt in Form einer Gesamtausgabe seiner Werke vor. In grundlegenden Büchern und Schriften sowie rund 6000 Vorträgen vor Fachleuten und Laien hat Rudolf Steiner eine Fülle von meditativen Forschungen spirituellen Tatsachen, Inhalten und Weisheiten dargestellt und unter dem Begriff Anthroposophie der Welt zur Verfügung gestellt.
Von außen betrachtet mag es so aussehen, als hätte Steiner bereits vorliegendes Wissen aus der theosophischen und christlich-mystischen Tradition bzw. anderer großer Geister der Kulturgeschichte lediglich verbunden und in größere Zusammenhänge gesetzt. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch die Authentizität und persönliche Handschrift von Steiners eigenen Forschungen.
Auf die Unterstellung, er habe sein Wissen lediglich zusammengesucht und nicht eigenständig erforscht, entgegnete er in einem Vortrag vor Medizinern: „Ich möchte nicht versäumen, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass dasjenige, was ich hier vortrage, nicht entlehnt ist älteren medizinischen Schriften, sondern auf durchaus gegenwärtiger geisteswissenschaftlicher Forschung beruht. Nur muss versucht werden, zuweilen in der Terminologie auf die ältere Literatur zurückzugreifen, weil ja die neuere Literatur eine Terminologie nach dieser Richtung hin noch nicht ausgebildet hat. Aber derjenige, der glauben würde, dass irgendetwas hier vorgetragen wird, was nur älteren Schriften entnommen ist, der würde sich eben sehr irren.“[1]
Die von ihm dargestellten Zusammenhänge über Mensch und Welt, Natur und Geist sind Ergebnisse seiner eigenen geisteswissenschaftlichen Forschung und werden von ihm anthroposophische Geisteswissenschaft genannt. Anfangs sprach er auch gemäß alter spiritueller Tradition von „Geheimwissenschaft“.[2]
Innere Evidenz anstelle von Glauben
Dass die Anthroposophie in die Nähe von Weltanschauung und Religion gerät, liegt an der Komplexität und Fülle geistiger Tatsachen, die Steiner vor seinen Zuhörern darlegte. Daher betont er wiederholt, dass es sich bei seinen Schilderungen und Sichtweisen um authentisches Wissen handle, das von ihm selbst erarbeitet wurde und das als Erkenntnis und nicht als Glaubensinhalte angesehen werden müsse. Er wollte das von ihm Dargestellte als anregende Idee bzw. als Arbeitshypothese verstanden wissen, die Menschen selbst überprüfen sollten, ob sie der eigenen Lebenserfahrung und Erkenntnissuche standhalten und ob sie dem eigenen Leben dienlich sein können.
Auch hoffte er, ja forderte dazu auf, dass akademisch geschulte Leser seiner Schriften die Anstrengung unternehmen würden, seine auf meditativen Wegen errungenen Einsichten mit Hilfe zeitgemäßer empirischer Forschungsmethoden nachzuweisen. Damit führte Steiner in den wissenschaftlichen Diskurs das Prinzip der internen bzw. inneren Evidenz ein: Was man, gestützt auf Erfahrung und Einsicht, als richtig erkannt hat, empfindet man als „innerlich evident“. Es bedarf dann aber auch noch der externen Evidenz, damit man anhand reproduzierbarer Fakten die Legitimität des als richtig Erkannten aufzeigen kann. Beide Evidenzen zusammen ergeben eine umfassende Erkenntnis von Mensch und Welt und die Möglichkeit, sich ein ganzheitliches Menschen- und Weltverständnis zu erarbeiten.
Vgl. Artikel in der Deutschen Apothekerzeitung DAZ Nr. 39, 2015
[1] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin, GA 312, Sechster Vortrag, Dornach, 26. März 1920. S. 118, Dornach 1999.
[2] Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13, Dornach 1989.
ANTHROPOSOPHIE UND RELIGION
Wie steht die Anthroposophie zur christlichen Religion?
Und wie zu anderen Religionen wie dem Hinduismus oder dem Islam?
Christus-Impuls und Anthroposophie
Die größte, höchste, alles umfassende Inspirationsquelle der Anthroposophie ist das Mysterium von Golgatha, der Christus-Impuls. Dennoch ist Anthroposophie in erster Linie eine Wissenschaft und keine Religion: Sie hat kein Dogma, ist kein System, kein Kompendium von Verhaltensweisen. Nur weil das so ist, lässt sie sich – weltweit – auf jede Lebenssituation anwenden.
Und wie jede Wissenschaft ist sie unabhängig vom Moralstatus dessen, der sich damit befasst. Jeder kann an den Erkenntnissen Rudolf Steiners teilhaben, kann die „Theosophie“[1] und andere Grundlagenwerke lesen – es liegt aber an dem Betreffenden selbst, inwieweit er Erkanntes umzusetzen sucht. Rudolf Steiner bringt es auf den Punkt, indem er sinngemäß sagt: „Die Anthroposophie ist nicht moralisch, aber sie wirkt auf die Moral.“
Moralische Impulse aus Erkenntnis
Wer eine Erkenntnis aus der Anthroposophie auf sich anwendet, dem gibt sie möglicherweise Impulse hinsichtlich seiner Moral. Es gibt nun zahlreiche Menschen, die die Anthroposophen anklagen, weil sie nicht moralischer sind als andere Menschen, manchmal sogar unmoralischer. Daran sieht man, was die Anthroposophie ist: ein Erkenntnis-Instrument. Sie ist weder eine Belohnung noch eine Garantie für gutes Benehmen. „Gutes Benehmen“ muss man erst einmal selbst erringen. Man muss es wirklich auch wollen. Da ist keiner, der von außen sagt, so oder so müsse man etwas machen – zumindest sollte es so sein.
Das verweist uns auf einen ganz delikaten Punkt auch in unseren Kreisen: auf die Rolle der Freiheit und damit auch die Rolle des Lehrers, der Autorität. Eine Wissenschaft ist sich selbst Autorität. Wer vieles weiß, fühlt sich jedoch oft auch autorisiert andere zu lehren – mit der Konsequenz, dass diejenigen, die auf solche selbsternannten Lehrer hören, von ihnen und dem, was sie lehren, abhängig werden. Der anthroposophische Weg setzt aber bei der Freiheit der Selbstschulung an. Wer „Die Philosophie der Freiheit“[2] bereits studiert hat, weiß wo er steht. Er ist sich bewusst darüber, inwiefern er in seinem Denken schon autonom ist und wo noch nicht. Das ist alles, was für den einzelnen zählt, worauf es für seine weitere Entwicklung ankommt.
Notwendigkeit direkter Offenbarung
Rudolf Steiner sagte ganz lapidar, das Christentum hätte zwar als Religion begonnen, es wäre aber von größerer Bedeutung als irgendeine Religion es sein könnte, die christliche eingeschlossen. Das Christentum ist nicht nur eine Religion, es ist der umfassende, letzte Sinn dieser Schöpfung.
Eine der Schwächen des Kirchenchristentums ist, dass es so dogmatisch ist. Die Konfessionen, in die es sich aufgespaltet hat, sind in dem Sinne degeneriert, als sie sippenhaft geworden sind. Ich kenne viele katholische und protestantische Christen, die wesentlich weiter entwickelt sind als ihre Kirchenführer: Sie würden als Katholiken sofort Protestanten an der Heiligen Messe teilnehmen lassen und umgekehrt, würden einen ökumenischen Gottesdienst wünschen oder Frauen zu Priestern weihen lassen. Aber die klerikale Konserviertheit und Tradition lässt das nicht zu. Das nur ein Beispiel von vielen.
Die zweite Schwäche ist der Verzicht auf die direkte Offenbarung. In der katholischen Kirche ist die direkte Offenbarung, der Kontakt zum Heiligen Geist, nur über die Kirche, die Ekklesia möglich. Dort ist laut ihrer Lehre der Heilige Geist zu Hause, nicht in einem individuellen Menschen. Der Papst darf kraft seiner Weihe stellvertretend für den Heiligen Geist ex cathedra sprechen. Er darf für die Kirche sprechen, darauf gründet er seine Macht. Kein Katholik darf das. Das heißt, man darf glauben, aber nicht direkt wissen. Die Anthroposophie dagegen baut als Erkenntnis-Christentum auf die direkte Offenbarung.
Ibrahim Abouleish und die Anthroposophie
Ich möchte an dieser Stelle die Geschichte von Ibrahim Abouleish[3] erzählen. Als er die Anthroposophie kennenlernte, wurde ihm klar, dass er wieder zurück in sein Land nach Ägypten musste. Er stammt aus einer reichen Familie und war zum Studium nach Europa gekommen, hatte eine Österreicherin geheiratet und dann war ihm die Anthroposophie begegnet. Er studierte mit einer alten Anthroposophin in Wien „Die Philosophie der Freiheit“.[4] Dieses Buch packte ihn so, dass ihm klar wurde, dass er mit dieser Freiheit etwas tun musste. Er wollte kein schönes Leben in Österreich führen als Doktor der Chemie und Pharmazie. Er nahm also sein ganzes Geld, ging zurück in sein Land, kaufte dort ein Stück Wüste und machte es urbar, belebte es. Daraus entstand das berühmte SEKEM-Projekt[5], für das er den „Alternativen Nobelpreis“ bekam. Die Initiative hat jetzt noch ein weiteres riesiges Stück Wüste gekauft. Mittlerweile kommen Stammesfürsten aus ganz Afrika, um sich das Projekt anzuschauen und zu lernen, wie in ihrem eigenen Land kaputte Böden wieder kultiviert werden könnten.
Neuer Zugang zum Islam
Das Beeindruckende ist aber, dass Ibrahim Abouleish sich durch die Anthroposophie seine eigene Religion, den Islam, ganz neu erarbeiten konnte. Seit er in Ägypten lebt, übersetzt er mit einer Gruppe von Menschen jeden Tag einen Abschnitt aus dem Koran und interpretiert ihn aus anthroposophischer Sicht, so dass sie ihn verstehen und etwas damit anfangen können.
Als ich das erste Mal dort zu Besuch war, lud er mich in die Waldorfschule ein. Auf dem Schulgelände steht eine kleine Moschee. Am Freitag findet morgens immer eine Schulfeier statt und danach gehen sie in die Moschee.
Normale Waldorfschulen veranstalten einmal im Quartal eine Monatsfeier. Steiner wollte, dass jeden Monat gemäß dem Rhythmus des Ätherleibes so ein Fest gefeiert würde, an dem das Gelernte gebündelt und vorgezeigt werden sollte. Das gehört zu den vielen Dingen, die nicht mehr durchgeführt werden. Die Waldorfschule, wie Steiner sie angedacht hatte, ist noch ein Konzept der Zukunft.
Entwicklung sichtbar machen
Umso erstaunter war ich, dass in dieser Waldorfschule jeden Freitag alle Klassen auf die Bühne gehen und zeigen, was sie in der Woche gelernt haben. Sogar der Kindergarten darf auftreten. Daraufhin sagte ich zu Abouleish: „Weißt du nicht, dass Rudolf Steiner sagte, man sollte erst in der zweiten Klasse auf die Bühne gehen, damit nicht frühzeitig die Eitelkeit gefördert wird? Und du machst es mit dem Kindergarten! Und außerdem ist es doch eine Monatsfeier und keine Wochenfeier. Warum machst du das?“
Er sagte: „Ich kann dir genau sagen, warum wir das so machen. Wir haben es hier mit einer ganz anderen Kultur zu tun. In den arabisch-ägyptischen Sprachen gibt es kein Wort für ‚Entwicklung‘. Deswegen sind in unseren Moscheen nur Ornamente und keine Bilder zu sehen. Keine Bilder, die die Sehnsucht nach Entwicklung stimulieren könnten, sondern nur geometrische Muster als Abbild des Ewigen. Ich möchte aber, dass die Kinder, die bei mir aufwachsen, das Konzept der Entwicklung mitbekommen. Das können sie nur, wenn sie Entwicklung sehen, weil Entwicklung in Sprache und Bild nicht vorkommt. Der Wochenrhythmus, die Sieben, ist ein Entwicklungsrhythmus. Aus diesem Grund möchte ich, dass alle Kinder, vom Kindergarten bis zur Oberstufe, jede Woche sehen können, was die anderen gelernt haben, wie sie aussehen, wie sie sich benehmen und wie sie sich von Woche zu Woche mehr ändern.“
Das hat mich tief beeindruckt.
Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010
[1] Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.
[2] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. GA 4. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995.
[3] Dr. Ibrahim Abouleish, Ägypter, gründete 1977 SEKEM, das heute von seinem Sohn geleitet wird.
[4] Siehe FN 2.
[5] SEKEM ist eine Entwicklungsinitiative auf 70 Hektar Wüste nordöstlich von Kairo. Das Unternehmen forciert den landesweiten Einsatz biologisch-dynamischer Anbaumethoden mit einer umweltverträglichen Schädlingsbekämpfung, insbesondere beim Baumwollanbau. Es betreibt Schulen, Arbeits- und Erziehungsprogramme, ein medizinisches Zentrum und eine Akademie für angewandte Kunst und Wissenschaften.
ANTHROPOSOPHIE ALS WEG ZUR WAHRHEIT
Was unterscheidet die Anthroposophie von einer Kirche?
Was ist das verbindende Element der Anthroposophie?
Was macht sie zu einem christlichen Weg?
Erkenntnis-Christentum
Die Anthroposophie ist ein Weg zur Wahrheit und keine Ideologie, die Wahrheiten verkündet. Alles, was Rudolf Steiner an Wissen darlegt, sind nur Beispiele, wie Wege gefunden werden können. Als Kernsatz der Theosophie[1] steht ganz am Anfang: „Nicht glauben sollst du, was ich dir sage, sondern es denken.“ Ich will dich nachdenklicher machen, sonst nichts. Das hat mit Wissenschaft zu tun, mit Erkenntnis, nicht mit Religion. Die Anthroposophie ist vielmehr ein radikales, nicht kirchliches Erkenntnis-Christentum, ein esoterisches Christentum. Das ist etwas völlig anderes als das exoterische Kirchenchristentum.
Wir Anthroposophen suchen die direkte Offenbarung, das Gralsmysterium: Im Parzival sind auch alle katholisch, aber nicht kirchlich. Das ist ein riesiger Unterschied. Wir sind keine Religion, sondern suchen das Christentum, die spirituelle Kommunion im Denken. Unsere geistige Arbeit zielt darauf, direkte Berührung mit der geistigen Welt zu haben, ohne dass ein Papst oder sonst ein Kirchenvertreter dazwischensteht und uns von sich abhängig macht. So etwas ist vollkommen gegen den Gedanken der Autonomie.
Deswegen sehe ich nur dann eine Zukunft für die Kirchen, wenn sie den individuellen Weg und die direkte Offenbarung zulassen. Das ist heute noch nicht der Fall, weswegen die Anthroposophie von den Kirchen erbittert als „Eso-Sekte“ abgelehnt wird. Wir stellen für die Kirchen eine große Gefahr dar, weil wir alle quasi „Päpste“ sind und uns ein eigenes Urteil zutrauen. Wir sind nicht mehr beherrschbar. Aber auch Freidenker, freie Menschen, dürfen Christen sein, nicht nur Gruppengläubige.
Alle dürfen dazugehören
Zur Anthroposophie dürfen alle dazugehören: Unter unseren Hochschulmitgliedern sind auch Buddhisten. Ich kenne einen japanischen zen-buddhistischen Priester, den Leiter eines Tempels, der gleichzeitig Anthroposoph und Hochschulmitglied ist. Durch seine meditativen Praktiken war er so außerkörperlich geworden, dass er praktisch nicht mehr begriff, was er erlebte und Gefahr lief, psychisch krank zu werden. Durch die Anthroposophie lernte er seine spirituellen zen-buddhistischen Erlebnisse zu deuten und konnte seine Erfahrungen schließlich einordnen und für sich klären – das hat ihn gerettet. Er ist jetzt ein begeisterter Anthroposoph und gleichzeitig auch buddhistischer Priester.
Der Begründer der Heilpädagogik, Karl Schubert, arbeitete an der ersten Waldorfschule mit Kindern in einer Förderklasse. Er war wie Steiner Österreicher und katholisch. Als im Oktober 1922 die Christengemeinschaft von katholischen und protestantischen Priestern gemeinsam gegründet wurde, fragte er Steiner, ob er nun aus der katholischen Kirche austreten müsse. Man kann sich fast an den Fingern abzählen, was Steiner antwortete: „Du musst nicht aus der katholischen Kirche austreten, wie denn auch? Es ist ein großer Gewinn für die katholische Kirche, wenn du ihr Mitglied bleibst.“ Schubert ist nicht ausgetreten und hat sich auch katholisch bestatten lassen.
Es steht nicht nur in den Statuten, dass Menschen aller Religionen, aller esoterischen Systeme und Hautfarben Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft werden können. Das ist gelebte Praxis. Welche Begriffe die Einzelnen für ihre spirituelle Erfahrung wählen oder welche göttliche Instanz, welches höhere, wahre Selbst sie in sich entdecken, hängt meist mit der Kultur zusammen, in der sie leben. Die Hauptsache ist, dass wir uns alle in der tief menschlichen Kernsubstanz treffen, die in dem wahren menschlichen „Ich bin“ zuhause ist und die uns in dieser großartigen Schöpfung führt und leitet.
Toleranz durch Erkenntnis – ein Friedensweg
Die Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der alle mitnimmt. Das macht sie aus meiner Sicht so christlich. Sie interessiert sich für alles und will jede Ausrichtung, jede Erfahrung verstehen. Das Verstehen will sie in das Menschheitsganze integrieren, sodass möglichst wenige Dinge unverstanden, unverbunden, hart und manchmal feindlich oder kriegerisch nebeneinanderstehen. Toleranz entsteht nur durch Verständnis. Unsere Welt ist so intolerant, weil wir so wenig verstehen. Lapidar könnte man sagen, die Anthroposophie ist dafür da, diese Erkenntnisdefizite ein bisschen auszugleichen. Sie ist ein Friedensweg, weil sie durch Erkenntnis toleranter macht.
Die Anthroposophie ist also weder konfessionell noch auf eine bestimmte esoterische Richtung festgelegt. Die spirituelle Orientierung der Anthroposophie hängt einzig mit dem Selbstverständnis des eigenen Denkens zusammen. Wir lernen als Anthroposophen, das Denken als die spirituelle Kraft im Menschen zu entdecken und zu handhaben, sodass jeder sich kraft seines eigenen Denkens bewusst und auf individuelle Weise in eine Religionsgemeinschaft, eine esoterische Gruppierung, in irgendeine spirituelle Gruppierung hineinzustellen in der Lage ist, auf die Art, wie er es verantworten kann.
Sich eine eigene Weltanschauung erarbeiten
Entwicklung zur Freiheit ist in diesem Kontext eine Erziehung zur Fähigkeit, sich seine eigene Weltanschauung, seine eigene spirituelle Orientierung, zu erarbeiten, mit der man durchs Leben gehen will. Wenn Menschen sagen – „Aber die Anthroposophie ist doch ganz und gar christlich!“ – muss man sagen: „Das stimmt, aber nicht in einem konfessionellen Sinn, sondern die Anthroposophie ist christlich im Sinne der drei wesentlichen tief menschlichen Ideale: „Ich bin der Weg, die Wahrheit, das Leben.“[2] Alles in der Entwicklung geht durch das Nadelöhr dieser drei „Ich bin“:
- Wahrheit ist Ehrlichkeit.
- „Wenn zwei in meinem Namen zusammen sind, bin ich mitten unter ihnen“ – das bedeutet liebevolles Verständnis.
- Die Botschaft im Johannesevangelium – „Die Wahrheit wird euch frei machen“ – bedeutet Respekt vor der Freiheit.
Die christliche Spiritualität ist also ganz allgemein-menschlich und die Anthroposophie hat diese Orientierung. Sie kann deshalb auch für andere religiöse Richtungen wie die buddhistische, hinduistische, islamistische u.a.m. zu einer Möglichkeit werden, im eigenen Denken zu erwachen. Die Anthroposophie kann jedes Religionsbekenntnis vertiefen helfen, indem man durch sie die eigene Religion besser verstehen lernt.
Vgl. Seminargruppe „Die fünf Inspirationsquellen der Anthroposophie“, Witten 2010
[1] Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.
[2] Neues Testament, Johannes 14, 6.
ANTHROPOSOPHIE ALS MENSCHHEITSHEILMITTEL
Inwiefern kann Anthroposophie als Heilmittel für die Menschheit gesehen werden?
Was ist mit zweiter Geburt gemeint?
Welches sind die Bedingungen der medizinischen Kultur?
Das Göttliche in uns finden
All das schlimme Leid auf Erden, das Menschen zugefügt wird, kann nur dadurch kompensiert und geheilt werden, wenn wir bereit sind, das Göttliche in uns zu finden. So gesehen ist die Anthroposophie als Erkenntnisweg ein Menschheitsheilmittel, ein Heilmittel für den Materialismus. Sie ist nur ein Beitrag von vielen – es gibt noch viele andere Wege. Aber sie ist ein ganz wichtiger Beitrag, dem wir uns hier verpflichtet fühlen – mit dem Ziel, Leid durch Erkenntnis vorzubeugen, aber auch Menschen zu segnen und zur Wandlung zu verhelfen kraft der „zweiten Geburt“: indem man eine persönliche Beziehung zur Gedankensphäre bekommt und erlebt, wie man sich durch Gedanken verwandeln und ein unzerstörbares Selbstbewusstsein entwickeln kann.
Aufgrund dieser Zusammenhänge weist Rudolf Steiner im 1. Kap. von „Grundlegendes...“[1] mit Nachdruck darauf hin, dass für den Arzt – und für jeden, der heilend tätig ist und sein will – die Werke, die er dort zitiert, ein absolutes Muss sind als Voraussetzung dafür, den Ansatz der Anthroposophischen Medizin überhaupt verstehen zu können. Deswegen sprechen wir im Rahmen des Abschlussgesprächs unseres internationalen Ärztezertifikats (IPMT) immer auch über diese beiden Werke als fundamentale Elemente dieser Ausbildung.
In „Wie erlangt man…?“[2] werden diverse Übungen beschrieben, die diese zweite Geburt vorbereiten, ohne dass es zu großen inneren und äußeren Brüchen kommen muss. Sie helfen aber auch, wenn es bereits zu inneren und äußeren Brüchen gekommen ist, deren Sinn zu verstehen. Im Grunde wird in diesem Buch jedoch ein gesunder, stiller Weg beschrieben, der ohne Krisen auskommt, wenn er in Freiheit beschritten wird.
Das zweite Buch, „Die Geheimwissenschaft…“,[3] zeigt uns unsere eigene Entwicklung im Zusammenhang mit der riesengroßen Evolution von Welt und Mensch und wirft damit Licht auf die Verantwortung, die wir diesen überpersönlichen Entwicklungen gegenüber haben.
Zu den esoterischen Klassenstunden
Eine der Quellen für die erforderlichen Qualitäten sind die Meditationen der Klassenstunden. Wer von Euch also noch nicht Klassenmitglied ist, sollte sich dringend überlegen, es zu werden. Die drei Bedingungen, die man als Mitglied erfüllen muss,[4] entsprechen den drei Bedingungen unserer medizinischen Kultur:
- Lebenslange Weiterbildung: den Weg möglichst aktiv zu gehen, nie stehen zu bleiben.
- Sich in Zusammenhang halten mit den anderen, mit der Berufsgemeinschaft, damit man sich mit gegenseitiger Hilfe weiterbildet – das ist der Sinn unserer Jahreskonferenz und der Konferenzen in vielen Ländern.
- Würdiger Repräsentant sein, in unserem Falle der Anthroposophischen Medizin, in allen Einzelheiten unserer Arbeitswelt.
Darum bemühen wir uns doch alle, ganz unabhängig davon, ob wir nun Mitglieder in der Anthroposophischen Gesellschaft und in der Hochschule sind oder nicht. Und weil das so ist, kann sich jeder überlegen, ob er nicht auch noch diesen Schritt machen möchte.
Das Mysterium des menschlichen Leibes
Der esoterische Pfad hat einen tiefen Sinn und folgt unglaublich tiefen Intentionen: den Leib in seiner Heiligkeit als Tempel des Geistes zu begreifen und wertzuschätzen. Im Mittelpunkt der esoterischen Klassenstunden steht also das Mysterium des menschlichen Leibes:
- das Aus-Gott-geboren-Sein: „Ex deo nascimur“,
- die Verwandlungsfähigkeit im Sinne des „In-Christo-Morimur“,
- und das Erwachen im Geiste als tiefster Sinn dieser Meditationen: „In spiritu sancto reviviscimus“, um das heilbringende, heilmachende Element guter, fördernder Gedanken zu leben, aber auch, um die Wesen zur Kenntnis zu nehmen, die hinter diesen Gedanken stehen und sich dadurch offenbaren.
Denn wir dürfen eines nicht vergessen: Ohne unsere Gedanken, ohne diese selbstlose Äthersphäre, die das gemeinsame Lebensfluidum für Lebende und Verstorbene, für ewig Lebende und für vergänglich Lebende ist, würde das gesamte esoterische Wissen nichts erreichen können. Alle unsere Worte sind gedankengestützt, gedankenbestimmt. Die ganz große Aufgabe besteht darin, durch dieses Denken zur geistigen Wirklichkeit zu gelangen, sich diese geistige Realität ganz zart in Gedanken, die wie eine ätherische Saat wirken, zu erschließen. Dabei sind die Meditationen der Klassenstunden sehr hilfreich.
Wenn wir aus dem Geist der Anthroposophie heraus im Leben stehen, handeln wir aus Liebe zur Sache und sind frei von Machtspielen – mit der Haltung: Das objektiv Wahre soll geschehen, vor dem Hintergrund dessen, was gebraucht wird. Dann handeln wir im Sinne der modernen Mysterienschule und können uns des Segens guter Einfälle gewiss sein.
Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK Dornach 2014
[1] Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. GA 27.
[2] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1992.
[3] Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss. GA 13. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989.
[4] Siehe FN 1.
ANTHROPOSOPHIE ALS REHABILITATION DES DENKENS
Was ist mit Rehabilitation des Denkens gemeint?
Welche Rolle spielt das Denken in der Wissenschaft?
Auferstehung im Denken
In der Anthroposophie geht es um die Rehabilitation des Denkens bzw. darum, dem Denken seine Würde wiederzugeben. Rudolf Steiner nennt es auch „Auferstehung im Denken“: dass das Denken wieder zur Aufrichtigkeit führt, dass es vertikal, wahrhaftig, verantwortlich und gewissensfähig macht – zu etwas, das den Menschen aufrichtet. Das ist der Auftrag der Anthroposophie – wenn man überhaupt von einem Auftrag reden kann –, ihre exoterische Aufgabe. Sie soll helfen, die Denkfähigkeit, die individuelle Denkkompetenz des Menschen maximal zu steigern. Das kann jeder jedoch nur auf individuelle Art machen. Die Anthroposophie ist so gesehen eine Schule des Denkens, eine Schule für unseren Geist. Und die Kulmination der Gedankenentwicklung ist die geistige Anschauung.
Goethe handhabte das intuitiv so, ohne es zu reflektieren. Das hat Rudolf Steiner als Goetheforscher umso mehr getan.[1] Goethe war durch seine Art der Anschauung hellsichtig geworden und prägte auch den wunderbaren Begriff von der ‚anschauenden Urteilskraft’. Er hat sein Denken in keiner Weise zum ‚Egotrip’ degradiert. Für ihn war das Denken nicht „die Magd der Empirie“, wie für die materialistische Wissenschaft, die es nur nützt, um Fakten zu ordnen und zu erklären. Das Denken besitzt in der Wissenschaft keine Eigenwürde; die Würde wird ausschließlich den Fakten zugesprochen. Die keusche, selbstlose Gedankenkompetenz wird dabei zu einer Dienstleistung, die sich für die Fakten prostituiert: Fakten kann man messen und kaufen, damit lässt sich handeln und streiten. Die geistige Kraft, die dies alles erst möglich macht, interessiert den Wissenschaftler jedoch überhaupt nicht. Sie wird verleugnet, verspottet, als Philosophie abgetan.
Bittere Erfahrung
Das habe ich auch während meines Medizinstudiums erlebt. Als ich meinen Physiologie-Assistenten fragte: „Was ist Kraft?“, sagte er: „Ein Physiker misst Kräfte. Wenn Sie wissen wollen, was Kraft ihrem Wesen nach ist, müssen Sie die Philosophen oder Theologen fragen.“ Das Thema hat ihn überhaupt nicht interessiert; es hat ihn nur geärgert. Er hat mich schließlich im Test durchfallen lassen. Das war der einzige Test, in dem ich während meines Medizinstudiums durchgefallen bin. Das war hart, weil man für das Physikum das große Praktikum brauchte. Ich durfte es schließlich in den Semesterferien bei einem Kollegen nachholen, weil ich glaubhaft machen konnte, dass der Assistent mich auch ein zweites Mal durchfallen lassen würde – weil ich ihm zu kritische Fragen gestellt hatte. Diese unschöne Erfahrung hat mir gezeigt, dass die Menschen einen regelrechten Hass auf spirituelle Kompetenz entwickeln können – und dann oft mit Spott reagieren.
Vgl. Seminargruppe „Die fünf Inspirationsquellen der Anthroposophie“, Witten 2010
[1] Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. GA 2. Dornach: Rudolf Steiner Verlag. 2003.
KULTURLEISTUNG ANTHROPOSOPHISCHER INITIATIVEN
Wie zeigt sich das kulturprägende Element anthroposophischer Initiativen?
Nachhaltige kulturelle Impulse
Das Anliegen der Anthroposophie, sich ganz primär für die Entwicklung von mehr Menschlichkeit einzusetzen, deckt sich heute mit vielen Ansätzen des gegenwärtigen Lebens.
Das Grandiose ist: Alles, was damals neu und innovativ von Rudolf Steiner begründet wurde als Kulturimpuls der Vermenschlichung auf vielen Gebieten, ist heute in jedem guten Beratungsbuch nachzulesen, das man als Bestseller am Flughafen kaufen kann. Man findet Ideen von Rudolf Steiner z.B. in den modernsten Anweisungen wieder, wie Büroräume heute mitarbeitergerecht einzurichten sind: Da wird von der Bedeutung von Farben und Formen, gesprochen, von passenden Materialien – möglichst alles sollte aus Holz sein, Kunststoff ist „out“. Es gibt eigene Business Consultings, die nur dahingehend beraten, wie Büroräume mitarbeitergerecht und „menschlicher“ gestaltet werden können. Freundliche, helle Räume sind angesagt, um die Arbeitsfähigkeit und Arbeitsfreude der Mitarbeiter zu erhöhen.
Inspiration durch geistige Arbeit
Wurden diese Innovationen von den Waldorfschulbauten abgeschaut?
Sicher nicht. Das entspräche auch nicht den Gesetzen der geistigen Welt. Was vielmehr der geistigen Welt entspricht, ist das Phänomen der „wundersamen Brotvermehrung“ durch geistige Arbeit: Was an einer Stelle auf unserem Globus ernsthaft gedacht und oft unter großen Widerständen umgesetzt und realisiert wird, kann an jedem anderen Orte dadurch erscheinen, dass es jemandem „einfallen“ kann als gute Idee. Dadurch, dass es einmal gedacht wurde, ist es der Gedankensphäre der Erde real eingeprägt. Im Denken sind wir Gott sei Dank nicht so abgegrenzt wie in unserem physischen Leib, sondern sind miteinander vernetzt. Deswegen hat keine große Erfindung oder Entdeckung in der Wissenschaft jemals nur an einem Ort stattgefunden. Immer hatten zwei oder drei Menschen an unterschiedlichen Orten die gleiche wissenschaftliche Erleuchtung, weil sie abrufbar „in der Luft lag“, wenn die Zeit dafür reif war bzw. schon von Einem initial vorgedacht wurde.
Auf diese Weise hat die anthroposophische Arbeitsgemeinschaft weltweit in den ersten hundert Jahren ihrer Geschichte eine große Kulturleistung vollbracht: Was vielerorts an Schulen, in landwirtschaftlichen Betrieben, in heilpädagogischen Heimen oder Krankenhäusern errungen und verwirklicht wurde, wird heute von anderen Menschen mit u.U. recht anderen Worten und anderen Ideen verbunden aufgegriffen.
Unsere Bundeskanzlerin (Angela Merkel) spricht fast selbstverständlich locker von Ökologie und Klimawandel und wo immer möglich auch von Umweltschutz. Wir wurden als Anthroposophen vor dreißig Jahren noch ausgelacht mit unserer Sorge um die Umwelt. „Öko“ war damals ein Schimpfwort. Auch wir anthroposophischen Ärzte wurden mit unserer Zurückhaltung beim Einsatz von Antibiotika und fiebersenkenden Mitteln oft belächelt. Das ist heute ganz anders. Heute ist der zurückhaltende Einsatz von Antibiotika und Antipyretika Mainstream-Ansicht. Die zukunftsweisende Kraft der anthroposophischen Kulturinitiativen zeigt sich uns in ihren globalen Auswirkungen, wenn wir bereit sind, das Netzwerk des guten Willens trotz anderer Sprachformen in seiner Identität zu erkennen.
Vgl. Festvortrag zum vierzigjährigen Jubiläum von Herdecke am 10. November 2009
FRIEDEN STIFTEN – ABER WIE?
Warum braucht es die „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ auch heute noch – über 100 Jahre nach ihrer Neugründung an der Weihnachtstagung 1923/24?
Frieden den Menschen, die eines guten Willens sind
Die christliche Weihnachtsbotschaft lautet: Es offenbart sich Gottes Geist in den Höhen – und er bringt Frieden den Menschen, die eines guten Willens sind.
Diese Botschaft war ein zentrales Anliegen bei der Neubegründung der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ 1923/24. Sie war konzipiert als eine Gesellschaft, in der Menschen verschiedenster Erdgegenden, Traditionen und spiritueller, wissenschaftlicher und künstlerischer Orientierungen die Möglichkeit haben, sich kennen, respektieren und verstehen zu lernen – und wo immer möglich auch zusammenzuarbeiten.
Diese Aufgabe besteht fort – darum braucht es diese Gesellschaft auch heute und in der Zukunft.
Wichtigkeit des Bemühens um ein harmonisches Zusammenwirken
Wenn es nur um mich geht, um mein Interesse für die Anthroposophie, um meinen Arbeitskreis, indem ich mich mit den Menschen treffe, mit denen ich gerne zusammenarbeiten will, dann brauche ich selbstverständlich keine „Anthroposophische Gesellschaft“. Das entspricht ja auch dem heutigen Zeitgeist, wo man sich nur ungern sozial bindet oder sonst wie verpflichtet. Das Leben eines jeden stellt große Anforderungen, das Private gewinnt zunehmend an Bedeutung. Deshalb meidet man jede weitere unnötige Belastung.
Dieser Tendenz steht der Impuls Marie Steiners[1] diametral entgegen, verschiedenen Menschheitsströmungen ein harmonisches Zusammenwirken zu ermöglichen, den sie in ihrer Einleitung zur Buchausgabe der Weihnachtstagung beschreibt:[2] „Die tiefste Esoterik könnte darin bestehen, bisher divergierende frühere geistige Strömungen in einigen ihrer Repräsentanten jetzt zum harmonischen Ausgleich zu bringen. Das wäre eine esoterische Aufgabe (…).
Jetzt kann man sich fragen, warum gerade das Bemühen um ein harmonisches Zusammen-wirken so wichtig ist.
Schwierigkeiten überwinden, statt davor wegzulaufen
Tatsache ist, dass jeder Krieg und Streit, jede Spaltung, jeder soziale Unfrieden gerade in diesen persönlichen Differenzen zwischen den unterschiedlichen karmischen Strömungen und verschiedenen geistig- kulturellen Ausrichtungen ihre Ursache haben. Das erkennt jeder, der sich wirklich für sozialen Frieden interessiert.
Wer nach den Entwicklungsbedingungen in Erziehung und Selbsterziehung fragt, damit die christliche Weihnachtsbotschaft – „Offenbarung aus den Höhen und Friede auf Erden den Menschen, die eines guten Willens sind“ – realisiert werden kann, kommt nicht umhin, zu erkennen, dass eine solche Friedensfähigkeit nur in verbindlichen Gemeinschaften gelernt und geübt werden kann: wo man nicht wegläuft, wenn es schwierig wird, sondern sich entwickelt, indem man lernt, die Schwierigkeiten zu überwinden.
Mit dieser Frage steht man mitten in unserer Gegenwart darin, die nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert auch jetzt im 21. Jahrhundert in nur schwer erträglicher Weise von Krieg, Streit, Korruption und Machtmissbrauch vielerorts gekennzeichnet ist – Tendenz steigend.
Da kann es schon begeistern, wenn man die Frage nach der Friedensfähigkeit stellt und auch über die dafür nötige Sozialkompetenz verfügt, zu erkennen, dass man dies besonders gut in den Arbeitszusammenhängen von „Anthroposophischer Gesellschaft“ und Hochschule lernen kann. Im vertrauten Freundeskreis findet man diese Entwicklungsgegebenheiten aufgrund fehlender Herausforderungen nicht, wohl aber im Umgang mit „schwierigen“ Menschen bzw. solchen, die anders sind als wir selbst. Unsere besten Entwicklungspartner sind meist Menschen, die wir uns nicht spontan zu Freunden wählen würden.
Auseinandersetzung mit dem Bösen nicht scheuen
Was der Einzelne leistet, ist an sein Schicksal und seine Lebens- und Arbeitszeit gebunden. Was eine Institution leistet, hat eine andere Art der Wirksamkeit und historische Kontinuität – hier spielt Überindividuelles herein, eine soziale Leiblichkeit für ein höheres Wesen als es der individuelle Mensch ist. Denn mit jeder Institution verbindet sich ein diese führender Gruppengeist und damit verbunden auch mögliche Doppelgänger-Qualitäten.
So gibt es auch den guten Geist des Goetheanum,[3] aber auch luziferische und ahrimanische Doppelgänger-Qualitäten, die den guten Geist des Goetheanum in seiner Wirksamkeit behindern. Rudolf Steiner charakterisiert diese Qualitäten in den Statuten der Weihnachts-tagung[4] in Form von Dogmatik, Sektierertum und politischen Bestrebungen. Eine christliche Mysterienstätte, wie es das Goetheanum sein will, darf die Auseinandersetzung mit dem Bösen nicht scheuen.
Rudolf Steiner nennt eindrücklich das esoterische Entwicklungsgeheimnis unserer gegenwärtigen fünften Kulturepoche der Bewusstseinsseele „das Geheimnis des Bösen“ – da ohne Abirrungsmöglichkeiten die Entwicklung von Freiheit und Würde nicht möglich wären.
Frieden stiften durch gegenseitiges Verstehen
Sich der „Anthroposophischen Gesellschaft“ und ihrer Hochschule bewusst anzuschließen stärkt den menschlichen Zusammenhang, den Rudolf Steiner und seine MitarbeiterInnen zusammen mit den 700 bis 800 anwesenden Mitgliedern vor 100 Jahren begründet haben. Steiner nennt die Gesamtheit dieser Persönlichkeiten im Weihnachtsstatut den „Grundstock“ dieses Arbeitszusammenhangs. An diesen Grundstock haben sich seither jedes Jahr immer neue Menschen angeschlossen.
Im Laufe der Jahrzehnte ist jedoch auch die Gemeinschaft der verstorbenen Mitglieder gewachsen, die mit ihrem Erdenwirken verbunden bleiben und uns Lebende ebenfalls inspirieren können. Die „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ ist eine wachsende weltweite Gemeinschaft, die Menschen aller Kulturen und Glaubensrichtungen umfasst. Dort gibt es als Mitglieder Schintoisten, Hinduisten, Buddhisten, Menschen jüdischen Glaubens, Muslime, Materialisten, Christen der verschiedensten Bekenntnisse und andere mehr. Sie alle lernen durch die Anthroposophie ihre eigene spirituelle Ausrichtung besser verstehen.
Da die Anthroposophie keine Glaubensrichtung ist, sondern vielmehr ein Weg, andere Menschen und ihre Orientierungen zu verstehen und dadurch in der eigenen Selbsterkenntnis weiterzukommen, kann sie dieses Wunder vollbringen: Frieden zu stiften durch gegenseitiges Verstehen.
Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen
[1] Marie Steiner, auch Marie Steiner-von Sivers, geborene Marie von Sivers oder Sievers, Siebers (* 14. März 1867 in Włocławek; † 27. Dezember 1948 in Beatenberg, Schweiz), war eine deutsch-baltische Schauspielerin, Regisseurin, Theosophin und Anthroposophin. Als zweite Ehefrau Rudolf Steiners (Begründer der Anthroposophie) besaß sie die österreichische Staatsbürgerschaft (wikipedia).
[2] Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924, GA 260, S. 18.
[3] Das Goetheanum ist der Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und eine Freie Hochschule für Geisteswissenschaft.
[4] Vgl. LT „Anthroposophie“: Die Statuten der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft.