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Anthroposophische Medizin
Anthroposophische Medizin – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
ITA WEGMAN UND DIE ENTWICKLUNG DER ANTHROPOSOPHISCHEN MEDIZIN
Wie kam es zur Begründung der Anthroposophischen Medizin?
Wie entwickelte sich die Zusammenarbeit von Ita Wegmann und Rudolf Steiner?
Schicksalhafte Zusammenarbeit
Die Anthroposophische Medizin verdanken wir der Zusammenarbeit von Rudolf Steiner und Ita Wegman. Wegman bekam von Rudolf Steiner den Anstoß, nach ihrer Ausbildung in Schwedischer Massage auch noch Medizin zu studieren. Dafür musste sie jedoch das Abitur nachholen, was für die bereits Siebenundzwanzigjährige eine große Herausforderung war. In der Zeit der Prüfungsvorbereitung schrieb sie Rudolf Steiner einen bewegenden Brief, ob er nicht etwas wüsste, das ihr helfen würde, sich besser zu konzentrieren. Leider ist uns die Antwort nicht bekannt. Jedenfalls ging alles gut, und sie begann auf Anraten Marie Steiners ihr Studium in Zürich. Deren Begründung für die Ortswahl war: „Unsere ganze Bewegung kommt ja doch einmal in die Schweiz.“
Zu diesem Zeitpunkt war jedoch noch keine Rede davon – die Zentren der anthroposophischen Arbeit waren München und Berlin. So vollzog sich die Verbindung von anthroposophischer Geisteswissenschaft und materialistischer Schulmedizin, die bis heute für die Weiterbildung zum Anthroposophischen Arzt unerlässlich ist.
1907, bei der Spaltung der theosophischen Gesellschaft, stellte sich Ita Wegman klar auf die Seite Rudolf Steiners und der Anthroposophie. Das war nicht selbstverständlich. Denn seit ihrem 18. Lebensjahr hatte sie sich dem Gedankengut der Theosophie gewidmet als Mitglied der Theosophischen Gesellschaft. Doch nach dem schicksalhaften Zusammentreffen mit Rudolf Steiner in Berlin war sie seine persönliche Schülerin geworden.[1] Ita Wegman engagierte sich dann mit anderen dafür, dass Rudolf Steiner oft in die Schweiz kam, um Vorträge zu halten. Wenn sie zu viel reiste, um auch in anderen Städten und in Deutschland seine Vorträge hören zu können – sie war auch 1911 in Prag bei dem Vortragszyklus über die okkulte Physiologie – ermahnte Rudolf Steiner sie, dass sie auch studieren müsste, um ihr Medizinstudium abzuschließen.
Fruchtbare Konsequenzen
Wegman war quasi der Prototyp eines anthroposophischen Arztes: nicht primär der Homöopathie oder einer spirituell-komplementärmedizinischen Richtung verbunden, sondern akademisch ausgebildet an einer renommierten Universität. Ihre fachärztliche Weiterbildung zur Gynäkologin absolvierte sie am Spital Liestal ganz in der Nähe von Dornach. Anschließend ließ sie sich in Basel als Allgemeinärztin nieder. 1921 entschloss sie sich, ein klinisch-therapeutisches Institut in Arlesheim zu eröffnen. Zu ihrer großen Freude sagte Rudolf Steiner zu, dort mit ihr zusammenzuarbeiten.
So ist Ita Wegman eng mit der Geschichte der anthroposophisch-medizinischen Bewegung verbunden: Die Zusammenarbeit mit Rudolf Steiner reichte von der Beratung beim Abitur und beim Studium über die parallelen Studien der Mainstream-Medizin und der Anthroposophie bis hin zur Begründung der ersten Klinik und der gemeinsamen Behandlung vieler Patienten, wovon hunderte dokumentierter Krankengeschichten zeugen. Zuletzt, in seiner Krankheitszeit vor seinem Tode, begleitete sie Rudolf Steiner zusammen mit Ludwig Noll als seine Ärztin.
Die Krönung dieser Zusammenarbeit war jedoch die im Herbst 1923 begonnene Arbeit an dem ‚Medizinischen Buch’, das nach dem Tode Rudolf Steiners unter dem Titel „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“[2] herauskam und dessen 18. Kapitel der Heileurythmie gewidmet ist.
Die Parzifal-Frage als entscheidender Impuls
Ita Wegman war es auch, die Rudolf Steiner im Sommer 1923 die für die gesamte anthroposophische Bewegung entscheidende Frage nach der Erneuerung der Mysterien gestellt hatte. Als dieser nach dem Brand des ersten Goetheanum und dem Versagen der Anthroposophischen Gesellschaft mit der Frage lebte, ob er einen Orden gründen und sich aus der Anthroposophischen Gesellschaft zurückziehen sollte, sagte sie zu ihm: „Aber Herr Doktor, Sie können doch die Gesellschaft nicht alleine lassen!“ Im Sommer 1923 dann, in England, wurde ihr das zentrale Anliegen ihres Lebens bewusst, welches sie Rudolf Steiner gegenüber etwa so formulierte: „Ich möchte gerne eine Medizin haben, wie es sie zu den Zeiten der alten Mysterien gab – nur in christlicher Form.“
Bernard Lievegoed hat wiederholt erzählt, wie Rudolf Steiner zu Zeylmans van Emmichhofen gesagt hätte, dass diese Frage Ita Wegmans für ihn „die Parzival-Frage“ gewesen wäre, die ihn veranlasst hätte, die Weihnachtstagung von 1923/24 zur Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft abzuhalten. Ohne diese Frage wären die Neubegründung der Gesellschaft und die öffentliche Begründung der Hochschule für Geisteswissenschaft durch Rudolf Steiner gar nicht möglich gewesen.
Vgl. „Vom Wesen der Heileurythmie als Herzorgan der Anthroposophischen Medizin“, 1. Weltkonferenz für Heileurythmie am Goetheanum, 30. Mai 2008
[1] Peter Selg hat in seinem Buch zum Münchner Kongress 1907 dieses Schicksalsmoment neu dokumentiert und zugänglich gemacht.
[2] Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
ENTWICKLUNG UND DERZEITIGER STAND DER ANTHROPOSOPHISCHEN MEDIZIN
Wie hat sich die anthroposophische Medizin seit ihrer Entstehung entwickelt?
In welchen philosophischen und ethischen Prinzipien hat sie ihre Wurzeln?
Historische Entwicklung
Die Anthroposophische Medizin wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von dem österreichischen Philosophen Dr. Rudolf Steiner (1861-1925) und der Ärztin Dr. med. Ita Wegman (1876-1943) in Zusammenarbeit mit weiteren Ärzten entwickelt. Die Grundlagen dieser Medizin wurden 1920-1924 im Rahmen von Kursen vermittelt, die Steiner auf Einladung von Ärzten und Medizinstudenten hielt, die nach einem Menschenbild suchten, das sich sowohl auf die Naturwissenschaft als auch auf die anthroposophische Geisteswissenschaft beruft. Ihr Anliegen war von vornherein nicht alternativ-medizinisch, sondern integrativ, d.h. es orientierte sich an der Wirklichkeit des Menschen selbst.
Inzwischen gibt es die Anthroposophische Medizin in über 80 Ländern.
In Europa sind einige größere Akutkliniken entstanden. Hinzu kommen Sanatorien, Reha-Einrichtungen und zahlreiche Arztpraxen aus nahezu allen Fachrichtungen sowie weltweit über 400 Institutionen für Menschen mit Behinderungen. In den letzten dreißig Jahren kamen neu Einrichtungen für die Altenpflege und die Suchtbehandlung dazu.
Anthroposophische Ärzte arbeiten auch in Kooperation mit Pädagogen als Schulärzte sowie in der medizinischen Forschung und in der Arzneimittelherstellung.
Im ambulanten Bereich haben sich aus der interdisziplinären Zusammenarbeit von Ärzten, Krankenschwestern, Kunsttherapeuten, Physiotherapeuten u.a. vielerorts so genannte „Therapeutika" entwickelt, d.h. ein neuer Typ von Gemeinschaftspraxen.
Erkenntnistheoretische Wurzeln
Erkenntnistheoretisch und ethisch wurzelt die Anthroposophie in der Philosophie und Kunstauffassung des deutschen Idealismus, wie sie insbesondere von Goethe (1749-1832), Schiller (1759-1805), J. G. Fichte (1762-1814), Novalis (1772-1801) und Schelling (1775-1854) vertreten wurden. So trägt Steiners erkenntnistheoretisches Frühwerk (1884) den Titel: „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“.[1]
Die Suche nach einer im Geist gegründeten Anschauung vom Menschen, die sich selber stützen kann im Erarbeiten einer inneren und äußeren Evidenz, sowie der Wille zu Entwicklung von Autonomie und Verantwortung prägen die ethische Grundhaltung anthroposophischer Ärzte und Therapeuten.
Die Weiterbildung zum anthroposophischen Arzt ist durch eine international vereinbarte Zertifizierung geregelt. Der anthroposophische Arzt hat die Verpflichtung, die Ergebnisse aus Steiners Geistesforschung selbständig nachzuvollziehen und anhand der eigenen Lebens- und Berufserfahrung zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Werden Mitteilungen Steiners unreflektiert übernommen, besteht die Gefahr der Ideologisierung und Dogmatisierung, was der Anthroposophischen Medizin schadet bzw. ihrer Entwicklung im Wege steht.
Haltung der Mitverantwortung fördern
Heinrich Schipperges führt in seinem Buch „Moderne Medizin im Spiegel der Geschichte“[2] aus, dass die gegenwärtige Medizin nach einer Phase des unaufhörlichen Fortschritts und trotz aller großartigen Leistungen zunehmend in eine bedrohliche Krise geraten ist. Genau genommen ist diese Krise jedoch die medizinische Spielart der Menschheitskrisen von heute: ökologische Katastrophen, Armut, Hunger, Genozid, Bildungsnotstand, Energiekrise u.a. Diesen Krisen ist gemeinsam, dass ihre Ursache in einem Menschen- und Naturverständnis liegt, das keinen inneren geistigen Zusammenhang zu den Naturerscheinungen und dem Menschen herstellt. Wird dieser Zusammenhang bewusst erlebt, führt er zu einem starken Gefühl der Solidarität mit dem gesamten Evolutionszusammenhang von Erde, Natur und Mensch. Diese mitfühlende Verantwortlichkeit für alles Lebendige möchte die Anthroposophische Medizin fördern.
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, GA 2.
[2] Heinrich Schipperges, Moderne Medizin im Spiegel der Geschichte, Stuttgart 1970.
WARUM ANTHROPOSOPHIE IN DER MEDIZIN
Wozu braucht es Anthroposophie?
Inwiefern handelt es sich bei der Anthroposophischen Medizin um eine „Weltanschauungsmedizin“?
Was sind die grundlegenden Aspekte der Anthroposophischen Medizin?
Medizin als Ausdruck einer bestimmten Sicht auf Mensch, Natur und Umwelt
Die Anthroposophie (Anthropos = Mensch, Sophia = Weisheit, Wissenschaft) gilt bis heute als nicht leicht zugänglich. Auch wenn viele anthroposophische Initiativen auf den Gebieten der Heilpädagogik und Pädagogik, der Landwirtschaft und Medizin bekannt sind, bleibt das, was als integratives Welt- und Menschenbild der Anthroposophie dahintersteht, meist vage. Man weiß nicht so recht, ob es sich dabei um eine Philosophie handelt, eine Art Religion oder um eine diffizile oder auch „eklektische“ Weltanschauung. Man fragt angesichts der Vielfalt anthroposophischer Einrichtungen und Initiativen auch, ob der anthroposophische „Überbau“ dafür überhaupt nötig sei, ob man ähnlich Gutes nicht auch ohne diesen leisten könne.
Jedes medizinische System ist Ausdruck einer bestimmten Sicht auf Mensch, Natur und Umwelt und insofern eine „Weltanschauung“. Das gilt auch für den naturwissenschaftlichen Materialismus, für Idealismus, Realismus und andere philosophische oder geistige Orientierungen. Wer glaubt, keine Weltanschauung zu haben, hat seinen eigenen Standpunkt und, was diesen stützt, noch nicht reflektiert – was eines der Haupthindernisse ist, die „Normalität“ der Anthroposophischen Medizin anzuerkennen. Eine individuell erarbeitete Weltanschauung wie die Anthroposophie ist jedoch klar abzugrenzen von der familiären oder traditionellen Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft.
Anthroposophie als Verständnishilfe
Jedem ganzheitlichen medizinischen System – ob nun traditionell chinesische, ayurvedische oder homöopathische Medizin – liegt ein spirituelles Menschen- und Weltbild zugrunde, das die gemeinsame Evolution von Mensch, Erde und Weltall beschreibt. Neu ist bei der anthroposophischen Medizin nur, dass Steiner sich auf keine dieser alten Traditionen beruft, sondern einen Erkenntnisweg beschreibt, auf dem jeder selber die Möglichkeit entwickeln kann, sich mit seinem Wahrnehmungs- und Denkvermögen an die spirituellen Quellen anzuschließen.[1] Durch eigene Beobachtung, Empathie und situationsgerechtes Denken zu den nötigen Einsichten für Diagnose und Therapie zu kommen ist das Arbeitsideal – nicht nur eine traditionelle Heilweise oder Technik zu lernen.
Ich war viele Jahre in verschiedenen asiatischen Ländern und auch weltweit mit einem Ausbildungsprogramm für Anthroposophische Medizin unterwegs. Es hat mich anfangs gewundert, dass Chinesen, Japaner, Taiwanesen, Inder, Indonesier, Philippiner sich für Anthroposophische Medizin interessieren. Als Motive nannten sie das Menschenbild der Anthroposophie, das ihnen hilft, die Brücke zu bilden zwischen dem heutigen Denken und den alten überlieferten Bildern und Werten ihrer Heilverfahren, die zwar gute Ergebnisse liefern, aber für den modernen Menschen oft nicht genau aufschlüsseln können, wie sie wirken. Die Anthroposophie half ihnen, ihre eigenen Medizinsysteme und ihre Wirkungsweisen besser zu verstehen. In Indien gab es ayurvedische Ärzte, die keine Zertifikate für Anthroposophische Medizin wollten, sondern zu uns kamen, um bessere Ayurveda-Ärzte zu werden.
Grundlegende Aspekte Anthroposophischer Medizin
Wer der Anthroposophie begegnet, trifft auf vier Aspekte, die je nachdem alle vier oder auch nur der eine oder andere das Interesse wecken und zum weiteren Studium anregen können.
1. Philosophischer Aspekt
Das philosophische Fundament der Anthroposophie schließt an die Erkenntnisweise Goethes an sowie an den deutschen Idealismus mit dessen Idealen von Freiheit und Würde, Wahrheit und Liebe.[2] Rudolf Steiner benannte sogar seine Anthroposophische Hochschule in Dornach nach Goethe: Goetheanum.[3] Das zeugt von der großen Wertschätzung, die er diesem Genie mitteleuropäischer Geistes- und Kulturgeschichte zeitlebens entgegenbrachte.
Für manche Menschen ist Philosophie nicht wichtig, man möchte gute Ideen für seine Arbeit und sein Leben haben und keine Zeit mit intellektuellen Grübeleien verlieren. Es gibt aber auch Menschen, die nur deshalb Anthroposophen werden, weil sie hier eine Erkenntnistheorie und deren philosophische Begründung finden, durch die sie sich selbst und ihren Zusammenhang mit der Welt besser verstehen.
Philosophie ist die Kunst des eigenständigen Denkens. Steiner formuliert diese „erkenntnis-künstlerische“ Herausforderung in seinem philosophischen Hauptwerk, „Die Philosophie der Freiheit“, so: „Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“[4] Das heißt, wer Gedanken und Ideen anderer übernimmt und nicht eigenständig bedenkt und bewertet, gerät in Abhängigkeit der Autoritäten, von denen diese Gedanken stammen. Mit Hilfe dieses Ansatzes, selbst hinzuschauen, zu fragen, zu bedenken, zu verstehen, ist jeder Student der Anthroposophie angeregt, seine eigene Philosophie zu reflektieren.
2. Aspekt der Selbstschulung
Anthroposophie beinhaltet einen Weg der Selbstschulung, welcher zu seelischer Weiterentwicklung, Selbsterkenntnis und Willensstärkung führt.[5] Es gibt heute viele Menschen, die auf der Suche nach einem interreligiösen Weg spiritueller Selbsterfahrung sind. Sie wollen sich nicht einer bestimmten Glaubensgemeinschaft oder einer bestimmten spirituellen Gruppierung anschließen. Sie suchen einen allgemein-menschlichen Weg für ihre innere Entwicklung. Einige davon finden diese Möglichkeit in der Anthroposophie und ihren Organisationen.
Da die Anthroposophische Gesellschaft international organisiert und offen für alle wissenschaftlichen, religiösen und künstlerischen Überzeugungen ist, findet man Vertreter der verschiedensten spirituellen Orientierungen. Angehörige der christlichen Konfessionen, des Buddhismus, Daoismus, Shintoismus, der Hindi-Religion, der Zarathustra-Spiritualität, des Judentums sowie einzelne Vertreter des Islam und viele ohne eine bestimmte spirituelle Ausrichtung können hier mehr über ihre eigene spirituelle Identität lernen, indem sie zusätzlich den Weg der Selbstschulung der Anthroposophie gehen. Was sie in dieser Gesellschaft verbindet, ist der Entwicklungsgedanke in der Anthroposophie sowie das Bestreben, das gesellschaftliche Leben menschlicher und zukunftsfähiger zu machen.
Der Biologe Bernd Rosslenbroich wies in einer naturwissenschaftlichen Studie das Autonomieprinzip als Grundlage der gesamten Evolution nach, deren Gipfel die menschliche Entwicklung sei.[6] Dieses Autonomieprinzip liegt auch der anthroposophischen Selbstschulung zugrunde. Autonomie konstruktiv leben zu lernen ist nicht leicht. Scheitern und immer wieder neu Ansetzen gehören ebenso dazu wie die stille innere Ausrichtung des eigenen Lebens und Arbeitens an den Idealen von Freiheit und Würde, Ehrlichkeit und Liebe.
3. Aspekt der Geisteswissenschaft
Wo aber ist der „Geist“ als Fundament dieser anthroposophisch-geisteswissenschaftlichen Weltsicht zu finden?
Selbständiges Denken als Ausdruck von Geist
Die Antwort ist schlicht: das menschliche Denken. Normalerweise kennt jeder den Zustand des Gedanken-Habens, Wissens, Sich-Informierens oder sich in anerkannten bzw. vorgegebenen Denkmustern zu bewegen und diese wiedergeben zu können. Wer jedoch von der eigenen Denktätigkeit ausgeht, entdeckt auch denjenigen, der denkt, in seinem Denken.
Der idealistische Philosoph Johann Gottlieb Fichte[7] wies seine Studenten auf die zentral wichtige spirituelle Selbsterfahrung im Denken hin. Er führte mit ihnen die folgende Übung durch: Er fragte sie, ob sie die Wand des Hörsaals sähen. Dann sagte er: „Schließen Sie die Augen und denken Sie die Wand.“ Und dann kam die alles entscheidende Aufforderung: „Und jetzt denken Sie den, der die Wand gedacht hat...“[8]
Wer das durchführt, kann in seinem Denken das eigene Selbst als reinen Tätigkeitsquell, als innere Aktivitätsbereitschaft, als Ich, als eigenständiges Wollen bemerken als rein energetische spirituelle Selbsterfahrung im Denken. Damit hat er einen sicheren Ausgangspunkt gewonnen, sich seine eigene Weltsicht zu erarbeiten. Er steht jetzt geistig auf eigenen Füßen und ist in der Lage, sein Denken immer perspektivenreicher auszubilden. Je mehr er versteht, desto mehr sieht er von der Welt. Und je mehr ihn die Welt interessiert und zum Nachdenken anregt, desto differenzierter und klarer wird sein Denken. Sich selbst und die Welt zu verstehen und dadurch zu einer authentischen Selbst- und Weltsicht zu kommen, ist die Weltanschauung der Anthroposophie. Seinen Zeitgenossen zu zeigen, dass sie „durch das Denken zur Wirklichkeit des Geistes kommen“ können, war ein zentrales Anliegen Rudolf Steiners. Das eigene Ich als geistig reales Wesen im Denken erleben zu können, erschließt zugleich die spirituelle Dimension des Begriffs der menschlichen Würde als autonome und geistbewusste Kompetenz.
Rudolf Steiner formulierte diesen Tatbestand gegen Ende seines Lebens noch einmal so: „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte“.[9] Grundlage dafür ist die Gedankenarbeit eines jeden einzelnen Menschen. Hannah Arendt nannte diese Selbsterfahrung im Titel ihres gleichnamigen Buches „Denken ohne Geländer“.
4. Aspekt der Zusammenarbeit
Da Anthroposophie auf das sich zur Autonomie entwickelnde Individuum baut, findet man gerade unter Anthroposophen einen ausgeprägten Meinungs- und Standpunktepluralismus bis hin zur gern zitierten „Streitkultur“. Auch ist die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft von eindrücklichen Krisen und Konflikten geprägt, die von dem Ringen um individuelle und soziale Kompetenz zeugen, einem Bemühen, das alles andere als einfach ist. Umso erfreulicher ist es, dass sich diese Gesellschaft bis heute nicht in verschiedene Gruppierungen gespalten hat, sondern der Wille zum gegenseitigen Verstehen und zur Entwicklung von Toleranz gegenüber anders Denkenden stets überwogen hat.
Von dem Dichter und Anthroposophen Christian Morgenstern (1871 - 1914) stammt ein Gedicht, das dieses Spannungsverhältnis zwischen der notwendigen Individualisierung einerseits und der Befähigung zur Gemeinschaftsbildung andererseits meisterlich zum Ausdruck bringt:
Die zur Wahrheit wandern, wandern allein,
keiner kann dem andern Wegbruder sein.
Eine Spanne gehn wir, scheint es, im Chor ...
bis zuletzt sich, sehn wir, jeder verlor.
Selbst der Liebste ringet irgendwo fern;
doch wer's ganz vollbringet, siegt sich zum Stern,
schafft, sein selbst Durchchrister, Neugottesgrund –
und ihn grüßt Geschwister Ewiger Bund.[10]
Hier wird in künstlerischer Form zum Ausdruck gebracht, dass größtmöglicher Individualismus und „Gemeinschaft im Geist“ sich nicht widersprechen müssen. Vielmehr erscheinen die Ideale der Französischen Revolution – der Freiheit des Individuums, der Gleichheit und der brüderlichen Solidarität – so erst in ihrem wahren Licht: Denn wenn man weiß, dass jeder „auf dem Weg ist“, wächst der Respekt vor der Einmaligkeit und Würde des anderen. Und gleichzeitig erlebt man, wie uns dieser Tatbestand des Werdens „gleich“ macht. Da wir aber sowohl „gleich“ als auch „individuell sehr verschieden“ sind, sind wir Menschen immer wieder auf gegenseitige brüderliche Hilfe angewiesen. Wir gewähren sie, wenn wir die Bedürfnisse des anderen sehen, respektieren und, wo möglich, erfüllen.
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Mathias Girke , PF Matthiessen (Hrsg.), Medizin und Menschenbild, Bad Homburg 2015.
[2] Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller. GA 2. Dornach 2003.
[3] www.goetheanum.org
[4] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995.
[5] Dargelegt in Steiners Selbstschulungsbuch Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.
[6] Bernd Rosslenbroich, On the Origin of Autonomy. A New Look at the Major Transitions in Evolution, Hei-delberg, New York, Springer 2014.
[7] Johann Gottlieb Fichte, Philosoph (1762 - 1814).
[8] Überliefert von Steffens, einem Naturforscher und Zeitgenossen Fichtes.
[9] Rudolf Steiner, Anthroposophischer Leitsatz 1, 17. Februar 1924. In: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, S. 6 (1989).
[10] Christian Morgenstern, Wir fanden einen Pfad, Basel, Zbinden Verlag. 5. Aufl. 2004.
SCHULMEDIZIN, ANTHROPOSOPHISCHE MEDIZIN UND ÄLTERE GANZHEITLICHE ANSÄTZE
Wie steht die Anthroposophische Medizin zur Schulmedizin?
Und wie ist ihr Verhältnis zu anderen alternativen Ansätzen?
Verhältnis der Anthroposophischen Medizin zur Schulmedizin
Die Frage lässt sich kurz mit Nein beantworten. Rudolf Steiner (1861-1925) und Ita Wegman (1876-1943), die Begründer der Anthroposophischen Medizin, bemerken hierzu:
„Nicht um eine Opposition gegen die mit den anerkannten wissenschaftlichen Methoden der Gegenwart arbeitende Medizin handelt es sich. Diese wird von uns in ihren Prinzipien voll anerkannt. Und wir haben die Meinung, dass das von uns Gegebene nur derjenige in der ärztlichen Kunst verwenden soll, der im Sinne dieser Prinzipien vollgültig Arzt sein kann.
Allein wir fügen zu dem, was man mit den heute anerkannten wissenschaftlichen Methoden über den Menschen wissen kann, noch weitere Erkenntnisse hinzu, die durch andere Methoden gefunden werden, und sehen uns daher gezwungen, aus dieser erweiterten Welt- und Menschenerkenntnis auch für eine Erweiterung der ärztlichen Kunst zu arbeiten."[1]
Die reguläre akademische Aus- und Weiterbildung ist ebenso Voraussetzung dafür, sich Anthroposophischer Arzt nennen zu können, wie das Studium der anthroposophischen Geisteswissenschaft.
Salutogenetischer Ansatz bevorzugt
Der Anthroposophischen Medizin liegt ein Konzept ganzheitlicher, integrativer Medizin zugrunde, die den Menschen (griechisch: anthropos) mit all seinen Erkenntnis- und Erlebnisformen (griechisch: sophia, wörtlich: Weisheit) in den Mittelpunkt stellt. Für die Praxis heißt dies, dass symptomatisch wirkende Arzneimittel, wie zum Beispiel Antipyretika, Antiphlogistika, Antihypertensiva, Antihistaminika oder die Substitution fehlender, körpereigener Stoffe, oder aber Analgetika und Psychopharmaka selbstverständlich da zur Anwendung kommen, wo die speziellen Medikamente und Therapieverfahren der anthroposophischen Therapierichtung nicht (mehr) hinreichen, die erforderliche Selbstregulation und Heilung zu stimulieren.
Im Hinblick auf das therapeutische Vorgehen wird der salutogenetische Ansatz bevorzugt, also die Anregung körpereigener, physiologischer Prozessantworten. Diese sind immer individuell. Therapieschemata haben zwar einen wesentlichen, Orientierung gebenden Stellenwert. In praxi gehen die Medikationen jedoch oft darüber hinaus, da sich die Behandlung am Einzelfall orientiert. Anthroposophische Ärzte schätzen die schulmedizinische Behandlung als Akut- und Notfallmedizin hoch, möchten jedoch nicht bei deren Grenzen und Einseitigkeiten stehen bleiben.
Verhältnis zu älteren ganzheitlichen medizinischen Konzepten
Jedem ganzheitlichen medizinischen System – ob es sich nun um traditionell chinesische, ayurvedische oder homöopathische Medizin handelt – liegt ein spirituelles Weltbild zugrunde, das mehr oder weniger konkret die gemeinsame Evolution von Mensch, Erde und Weltall beschreibt. Rudolf Steiner bemerkt dazu im Hinblick auf seinen Ansatz[2]: „Ich möchte nicht versäumen, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass dasjenige, was ich hier vortrage, nicht entlehnt ist älteren medizinischen Schriften, sondern auf durchaus gegenwärtiger geisteswissenschaftlicher Forschung beruht. Nur muss versucht werden, zuweilen in der Terminologie auf die ältere Literatur zurückzugreifen, weil ja die neuere Literatur eine Terminologie nach dieser Richtung hin noch nicht ausgebildet hat. Aber derjenige, der glauben würde, dass irgendetwas hier vorgetragen wird, was nur älteren Schriften entnommen ist, der würde sich eben sehr irren."
Diese von Steiner entwickelte neue Art der geistigen Forschung ermöglicht als anthroposophische Erkenntnismethodik und dank ihrer Forschungsergebnisse auch neue Einsichten in die ganzheitlichen Konzepte und spirituellen Traditionen der Medizin. Daher gibt es unter ihren Vertretern immer auch „Anthroposophen".
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Rudolf Seiner und Ita Wegmann, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst. Dornach 1935, S. 9.
[2] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin, GA 312. Sechster Vortrag, Dornach, 26. März 1920. S. 118 (Ausgabe 1999).
ANSPRUCH UND AUFGABE DER ANTHROPOSOPHISCHEN MEDIZIN
Welchen Anspruch hat die Anthroposophische Medizin?
Worin sieht sie ihre Aufgabe?
Bemühen der Anthroposophischen Medizin um mehr Menschlichkeit
Die Anthroposophische Medizin ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Sie hat den Anspruch, naturwissenschaftliche, philosophische und spirituelle Erkenntnisse und deren therapeutische Anwendungen in ein ganzheitliches Konzept zu integrieren.
Als eigenständige medizinische Bewegung hat sie jedoch erst gut 80 Jahre Entwicklung hinter sich, weswegen sie noch nicht so breit im allgemeinen Bewusstsein verankert ist wie beispielsweise die Homöopathie. Darüber hinaus ist die Bezeichnung „Anthroposophische Medizin“ etwas schwer verständlich. Der Begriff „Homöopathie“ hat sich aus dem prinzipiellen Gegensatz zur gängigen „Allopathie“ gebildet. Er orientiert sich am Simile-Prinzip. „Anthroposophisch" heißt hingegen in der schlichtesten Übersetzung aus dem Griechischen einfach nur „menschlich". Entsprechend hat sich die Anthroposophische Medizin zur Aufgabe gesetzt, im Umgang mit Krankheit und Gesundheit in Theorie und Praxis das Bewusstsein und die Entwicklung von mehr Menschlichkeit ins Zentrum allen Bemühens zu stellen.
Damit weiß sie sich mit vielen Bestrebungen insbesondere der letzten Jahrzehnte im Konsens. So schreibt der berühmte amerikanische Kardiologe Bernard Lown im Vorwort seines Medizin-Bestsellers „Die verlorene Kunst des Heilens":[1]„Dieses Buch möge als ein Kompass dienen (...), indem es eine Medizin beschreibt, in welcher der Mensch im Mittelpunkt aller wissenschaftlichen Dienstleistungen steht – nämlich ein modernes Gesundheitswesen mit einem menschlichen Gesicht."
An der Heilung des erkrankten Planeten mitwirken
Lown nennt die heutigen großen Probleme beim Namen: Die ungerechte Weltordnung, die bewirkt, dass sich auch im neuen Jahrhundert die Kluft zwischen den armen Entwicklungsländern und den reichen Industrienationen immer schneller vertieft und viel zu viele der sieben Milliarden Menschen auf der Welt in einer quälenden, erbarmungslosen und erniedrigenden Armut leben. Er fordert von den Ärzten, aktiv beim Aufarbeiten der sozialen Missstände mitzuwirken sowie bei der Heilung unseres erkrankten Planeten. Das Wort des deutschen Pathologen Rudolf Virchow ist ihm Vorbild, dass Politik eine „Medizin im Großen" ist.
Wie aber wird eine medizinische Denkweise und Methode erarbeitet, die solches leisten kann?
Letztlich kann doch nur ein neues Denken über die alten, unerbittlich wachsenden Probleme dazu führen, diese nachhaltig zu lösen. Anthroposophische Medizin möchte in aller Konsequenz dazu beitragen.
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Bernard Lown, Die verlorene Kunst des Heilens, Berlin 2002.
METHODISCHE GRUNDLAGEN DES ANTHROPOSOPHISCHEN ANSATZES
Worin wurzelt die Methodik des anthroposophischen Ansatzes?
Wurzeln des anthroposophischen Ansatzes
Der anthroposophische Ansatz hat seine Wurzeln in der abendländischen Philosophie und der Erkenntnisdramatik des 20. Jahrhunderts. Er bemüht sich um ein spirituelles Verständnis von Mensch und Welt über die Weiterentwicklung des Denkens zu einer unmittelbaren geistigen Anschauung, von Steiner „Imagination“ genannt.
· Anthroposophische Medizin
Anthroposophische Medizin hat zum Ziel, sich am Menschen selbst zu orientieren und seinem Heilbedarf auf die jeweils bestmögliche Art zu entsprechen. So greift der konsequent integrativ-medizinische Ansatz nicht nur die verschiedenen Erkenntnis-, Erfahrungs- und Daseinsebenen des Menschen auf, sondern verfügt auch über eine Diversität methodischer Zugänge. Im Sinne des Goethe‘schen Paradigmas bedeutet das, die Art der Betrachtung von der Art des zu Betrachtenden abhängig zu machen. Da der Mensch selbst ein so vielschichtiges und kompliziertes Wesen ist, bedarf es zu seiner Erforschung und Beschreibung die dem jeweiligen Objekt der Erkenntnis angemessene Methode. Allerdings müssen die so erforschten Einzelaspekte dann untereinander vernetzt und konzeptionell so verknüpft werden, dass eine Ganzheit entsteht.
„Die Medizin des 21. Jahrhunderts muss wieder neu den Menschen entdecken, der immer mehr in ultrastrukturelle Teile zerbricht, weil ihr eine auf die Ganzheit gerichtete Erkenntnismethode – die intuitive – fehlt“.[1]
Den Menschen in seiner Totalität zu erfassen, ist ohne Intuition und Empathie nicht möglich. Diese Ganzheit dann aber je nach Fragestellung und Blickwinkel methodisch und inhaltlich zu gliedern und auch deduktiv zugänglich zu machen, bedarf eines differenzierten Erkenntnisansatzes, wie er in den methodischen Grundlagen der anthroposophischen Geisteswissenschaft vorliegt.
· Anthroposophische Geisteswissenschaft
Anthroposophische Geisteswissenschaft vermittelt keine „fertige" Weltanschauung. Vielmehr lehrt sie, sich eine eigene Weltsicht zu erarbeiten, indem sie bei der Ausbildung des „Selber-Denkens" ansetzt. Mit Hilfe dieses Ansatzes kann jeder Fragen aufgreifen, die ihn im Zusammenhang mit der eigenen Religion oder spirituellen Heilweise interessieren. So gibt es nicht nur Schulmediziner, sondern auch Homöopathen und Vertreter anderer Therapierichtungen, die sich zu anthroposophischen Ärzten weiterbilden.
· Anthroposophische Arzneimittel
Aufgrund des integrativ-medizinischen Ansatzes können die Arzneimittel der anthroposophischen Therapierichtung weder methodisch noch von den Stoffgruppen her klar abgegrenzt werden:
Zum Beispiel wird eine Vielzahl von Arzneimitteln aus natürlichen Rohstoffen hergestellt, ohne dass Anthroposophische Medizin deshalb identisch mit der Naturheilkunde wäre. Es werden über 250 Heilpflanzen verarbeitet, dennoch ist Anthroposophische Medizin keine Phytotherapie. Denn im gesamten Arzneimittelschatz haben gerade die aus natürlichen mineralischen Rohstoffen hergestellten Präparate eine besondere Bedeutung. Schließlich ist Anthroposophische Medizin auch nicht mit der Homöopathie identisch, obwohl sie mit ihr – in modifizierter Form – die Technik des Potenzierens und die Potenzbezeichnung für sehr viele mineralische, pflanzliche und einige tierische Arzneimittel gemeinsam hat.
Auch liegt eine größere Anzahl von Präparaten in konzentriert-stofflicher Form vor, allen voran die Präparate aus der weißbeerigen Mistel zur Krebsbehandlung oder das gern gebrauchte Mittel zur Kreislaufregulation Cardiodoron®. Dennoch ist die anthroposophische Therapierichtung nicht zu der allopathischen zu rechnen.
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Volker Fintelmann, Intuitive Medizin, Hippokrates Verlag, Stuttgart: 1. Aufl. 1987, 5. Aufl. 2007.
NOTWENDIGER PARADIGMENWECHSEL IN DER MEDIZIN
Warum bedarf die Schulmedizin einer Ergänzung durch eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen?
Inwiefern kann die Anthroposophische Medizin zu einem Paradigmenwechsel beitragen?
Notwendige Demokratisierung des Gesundheitswesens
Das naturwissenschaftliche medizinische System orientiert sich an der Pathologie. Aus wirtschaftlicher Perspektive folgt daraus: Je mehr Diagnostik und Therapie betrieben werden, umso so mehr Umsatz kann gemacht werden. Anders ausgedrückt: Mit der Krankheit Geld zu verdienen, fördert das Krankheitswesen. Würde man jedoch mit Prävention und Gesundheitsstrategien Umsätze machen und dafür in eine Gesundheitskasse einzahlen, würde dies entschieden zur Volksgesundheit beitragen.
Rudolf Steiner forderte bereits 1920 eine „Demokratisierung des Gesundheitswesens“.[1] Ärzte, Apotheker, Hersteller und Verbraucher sind gefragt, gemeinsam und in Partnerschaft mit den Patienten bzw. Vertretern der Zivilgesellschaft Mitverantwortung für die Gestaltung des Gesundheitswesens zu übernehmen und für die hierzu erforderliche Methodenvielfalt und Therapiefreiheit einzutreten.[2]
Auf Prävention fokussieren
Der Paradigmenwechsel könnte sich allem voran darin äußern, dass man der Gesundheitsforschung höchste Priorität gibt. Dies erfordert aber eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen, weil Gesundheit nicht auf molekularer Ebene entsteht, sondern das komplexe Ergebnis des Zusammenwirkens geistiger, seelischer, ökologischer und körperlicher Vorgänge ist. Es gehört aber auch eine „physiologische Denkweise dazu“, die dies vermitteln kann. Diese bietet die Anthroposophische Medizin. Als Kinderärztin erlebte ich in der Praxis immer wieder mit Freude, wie lebens- und entwicklungsfreundlich diese physiologische Denkweise und das integrative Menschenbild der Anthroposophischen Medizin sind. Hierzu drei Beispiele:
• Vitamin D
Als das Vitamin D entdeckt wurde, reiste der anthroposophische Kinderarzt Wilhelm zur Linden von Kongress zu Kongress und informierte seine Kollegen, dass die Dosen, die sie den Kindern verabreichten – Vigantolstöße genannt – viel zu hoch und unphysiologisch wären und den Kindern nicht nur nützen, sondern auch schaden würden. Seine Warnungen blieben über Jahre ungehört – bis Studien und Beobachtungen in der Praxis endlich zeigten, wie recht er hatte.[3] Doch bis dahin hatten unzählige Kinder bereits Schaden genommen. Man hätte das durch eine gesunde Denkweise vermeiden können. denn später machte schließlich genau das, was zur Linden ganz zu Anfang schon empfohlen hatte: Man gab kleine, der Physiologie angenäherte Dosen, wie der Körper sie selbst bilden könnte.
• Fieberbehandlung
Ein weiteres Beispiel betrifft die Fieberbehandlung. Als ich mein Kinderärzte-Staatsexamen machte, mussten wir noch ankreuzen, dass Fieber eine Krankheit ist, die fiebersenkend, antipyretisch behandelt werden müsse, sonst wäre die Antwort falsch gewesen. Für das Facharzt-Examen besorgte ich mir dann die neueste Auflage der Kinderheilkunde von Professor Simonis. Dort las ich, nur der unerfahrene Kinderarzt würde bei jedem Fieber ein fiebersenkendes Mittel verordnen. Der erfahrene wisse, dass Fieber immunstimulierend wirkt und entscheidend zur Krankheitsbekämpfung beiträgt. Fieber sei ein natürliches Virostatikum und Antibiotikum. Bakterien und Viren sterben zwischen 39° und 40°. Man müsse das Fieber nur intelligent begleiten. Das belegen mittlerweile auch andere Studien weltweit.[4]
Zum Teil bis heute wurden und werden viele Kinder aber „falsch“ behandelt, obwohl man eigentlich weiß, dass es nicht gut ist! Und das nur, weil man im Medizinstudium nicht lernt, mit dem Organismus und im Sinne seiner Funktionen zu denken und zu fühlen und ihn in seinem Sosein optimal zu unterstützen. Selbstverständlich gibt man ein Antipyretikum, wenn man das Fieber nicht beherrschen kann. Aber das ist nur in wenigen Fällen nötig.
• Antibiotika
Noch in meiner Facharztprüfung Anfang der Achtziger musste ich die Schulmeinung wiedergeben, dass jede Mittelohrentzündung/Otitis Media breitbandantibiotisch behandelt werden müsse, jede! Mit großen Hochglanzprospekten wurden die Forschungen dazu vorgestellt. Dieselben Firmen der Pharmaindustrie hatten jedoch Mitte der Neunziger Jahre plötzlich großes Interesse daran, genau das Gegenteil zu beweisen: Damals hatte die Antibiotikaresistenz bestimmter Krankheitserreger so zugenommen, dass es für die Firmen teurer war, neue Antibiotika zu entwickeln, als die Einbußen durch Nichtbehandeln hinzunehmen. So „durfte“ man jetzt vernünftig behandeln.
Anthroposophische Ärzte haben jedenfalls – ebenso wie ihre Kollegen in Homöopathie und Komplementärmedizin – durch ihren nicht routinemäßigen, sondern individuell abgewogenen Einsatz von fiebersenkenden Mitteln und Antibiotika seit langem einen nachahmenswerten Beitrag geleistet, der heute so viel diskutierten Antibiotika-Resistenzentwicklung entgegenzuwirken.[5]
Rudolf Steiner sagte, die Ärzte der Zukunft werden Lehrer in Gesundheitswissenschaft sein und die Lehrer der Zukunft werden Präventionsärzte für die Heranwachsenden sein.[6] Das ist ein Konzept, an dem es sich zu arbeiten lohnt, für das ich mich zunehmend begeistern kann, weil es genau der Beitrag ist, den die Medizin der Gegenwart für ihren Paradigmenwechsel braucht.
Vgl. Was ist Anthroposophische Medizin?, Verlag am Goetheanum 2017
[1] Rudolf Steiner, Die Hygiene als soziale Frage. In: Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. GA 314. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989, S. 221 - 261.
[2] Mehr dazu unter: www.eliant.eu
[3] Eine ausführliche Darstellung der Vitamin-D-Schäden findet sich bei M.S. Seelig, Vitamin D and cardiovascular, renal and brain damage in infancy and childhood. Ann. New York Acad. Sci. 1969, 147:539 - 582.
[4] Ilene Claudius, Larry J. Baraff, Pediatric emergencies associated with fever. Emergency Medicine Clinics of North America 28: S. 67 - 84, 2010.
[5] Hamre, Harald J. / Glockmann, Anja / Schwarz, Reinhard / Riley, David S. / Baars, Eric W. / Kiene, Helmut / Kienle, Gunver S.: Antibiotic Use in Children with Acute Respiratory or Ear Infections: Prospective Observational Comparison of Anthroposophic and Conventional Treatment under Routine Primary Care Conditions. Evidence-Based Complementary and Alternative Medicine 2014: http://dx.doi.org/10.1155/2014/243801.
[6] Siehe auch: Waldorfpädagogik und Anthroposophische Medizin. Schwerpunktheft „Der Merkurstab“ 4:2012.
FÜNF URSACHEN FÜR KRANKHEIT UND FÜNF WEGE ZUR HEILUNG
Welche Ursachen für Erkrankung gibt es laut Paracelsus?
Und welche Wege der Heilung sieht die Anthroposophische Medizin?
Fünf Ursachen für Krankheit
Schon Paracelsus[1] hat gesagt, der Mensch sei ein fünfgliedriges Pentagramm.[2] Entsprechend gibt es fünf Wege, gesund bzw. krank zu werden.
Diesen Gedanken habe ich versucht, in die Anthroposophische Medizin und in die heutige Zeit zu übertragen. Ich stelle also Paracelsus’ Beispiel mit den Worten des einundzwanzigsten Jahrhunderts dar:
1. Physischer Standpunkt
Der erste Arzt vertritt den physischen Standpunkt: „Das ist doch klar: Der Patient ist durch den Cholerabazillus infiziert worden und letztlich an nicht mehr beherrschbaren Komplikationen verstorben.“
2. Ätherischer Standpunkt
„Eines wundert mich“, sagt der Zweite, „wenn gesichert ist, dass der Patient an einem Bazillus gestorben ist, warum sind dann nicht alle gestorben, die sich angesteckt haben? Denn die meisten meiner Patienten sind nicht gestorben. Also ist klar, dass der Patient gestorben ist, weil seine Selbstregulation versagt hat. Deshalb konnten auch die Komplikationen nicht beherrscht werden. Die Krankheitsursache liegt eindeutig im Ätherischen. Seine Abwehr war zu schwach, er hatte ein Immundefizit. Der Patient ist an seiner immunologischen Inkompetenz gestorben.“
3. Astralischer Standpunkt
Der dritte Arzt spricht vom Aspekt des Astralleibes her: „Liebe Kollegen, Immunkompetenz und Bazillenwirkung sind nicht das Ende der Medizin! Ich kann euch sagen, woran es liegt, dass das Immunsystem eines Menschen dekompensiert: Habt ihr noch nie etwas von der Psychoneuroimmunologie gehört? Meine Forschungsergebnisse belegen, dass positive Gefühle das Immunsystem stärken. Negative Gefühle lassen das Immunsystem früher oder später insuffizient werden. Die Ursache für den Choleratod liegt also in den negativen Gefühlen des Patienten. Er war bitter, kritisch, nörgelig – enttäuscht über sein Leben. Ihr habt ihn doch gekannt! Er war seelisch nicht besonders konstruktiv. Das hält doch kein Mensch auf Dauer aus. Der Cholerabazillus war nur der Effektor. Der Patient war eigentlich schon am Ende. Die Todesursache liegt also im Seelischen.“
4. Standpunkt der Ich-Organisation
Schließlich meldet sich ein Vierter und beleuchtet das Ganze vom Aspekt der Ich-Organisation her: „Ich könnte allem folgen, was ihr sagt, aber mich wundert, dass ihr meint, das wären die wirklichen Ursachen. Meine Erfahrung ist, dass es vom eigenen Identitätsbewusstsein abhängt, ob jemand bereit ist, an seinen negativen Gefühlen zu arbeiten. In meiner medizinischen Erfahrung habe ich gelernt, Patienten zu motivieren, an ihren negativen Gefühlen zu arbeiten und diese zu überwinden. Dadurch entwickeln sie immunologische Kompetenzen. Selbstüberwindung und die Bereitschaft, aus dem Negativen etwas Positives zu gewinnen, habe ich als das stärkste Wirkprinzip entdeckt. Diejenigen, die keine Lust am Lernen, an der Verwandlung, die keine Lust haben, auch das Negative als zum Leben gehörig zu betrachten, sondern sich immer nur darüber beklagen, werden früher oder später krank. Keine Seele hält es aus, wenn in ihr ein lahmes, inaktives Ich wohnt. Also sage ich: Der Patient ist daran gestorben, dass er sich zu wenig mit sich und seinem Leben identifizieren konnte.“
5. Schicksalsstandpunkt
Der fünfte Arzt sagt: „Ich habe das Horoskop des Patienten konsultiert – das stand auf Krise. Man muss zwar bis zuletzt alles tun, was möglich ist – aber gegen das Schicksal und Gottes Ratschluss sind wir ohnmächtig.“
Nun sind alle gespannt, was Paracelsus selber dazu sagen werde. Er überrascht seine Kollegen, indem er sagt: „De quinte entibus. Liebe Kollegen, es gibt fünf Wege zur Krankheit und entsprechend auch zur Heilung. Deswegen habt ihr alle fünf recht.“ Ein guter Arzt hat all dies im Auge und greift da an, wo er seiner ärztlichen Intuition gemäß die größten Heilungschancen sieht. Erzwingen können wir nichts, aber wir können bis zuletzt um das Leben des Patienten ringen und für seine Heilung kämpfen.
Fünf Wege zur Heilung in der Anthroposophischen Medizin
1. Auf der physischen Ebene:
Einsatz der Möglichkeiten der Schulmedizin.
2. Auf der ätherisch-prozessualen Ebene:
Prozessorientiert-wirksame Arzneimittel, Diät und Lebensstiländerungen.
3. Auf der astralen Ebene:
Neben dem therapeutischen Gespräch ist die Verordnung einer künstlerischen Therapie äußerst hilfreich. Darin können sich auch Kranke ausdrücken, die (noch) nicht bereit sind, über ihre Probleme zu sprechen. Auch Biographie-Arbeit hat sich bewährt.
4. Auf der Ich-Ebene:
Wichtig ist die Beachtung der Identitätsfrage. Manchmal muss man hier das Hauptaugenmerk darauf richten und bei Selbstwertfragen oder Identitätsproblemen Wege zu Selbstschulung nennen. Oft hilft auch die Empfehlung der Lektüre von Steiners Buch zur Selbstschulung „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“[3] oder aber eine erneute Suche nach religiöser Sinnfindung.
5. Auf der Ebene der spirituellen Orientierung:
Die Erarbeitung einer sinnstiftenden Weltanschauung ist das tragende Fundament einer gesunden Lebensführung. Hier ist jeder einzelne gefragt, das für ihn Stimmige zu suchen und die entsprechenden Gesichtspunkte im Leben anzuwenden und zu beherzigen. Der Arzt kann auf Grund seiner Lebenserfahrung und Empathie helfender Begleiter sein.
Vgl. Arbeitsgruppe zum Arztberuf und zur Anthroposophischen Medizin, Sommerakademie Witten 2010
[1] Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim, getauft als Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, (* vermutlich 1493 in Egg, Kanton Schwyz; † 24. September 1541 in Salzburg) war ein Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker, Laientheologe und Philosoph. Paracelsus hinterließ zahlreiche deutschsprachige Aufzeichnungen und Bücher medizinischen, astrologischen, philosophischen und theologischen Inhalts, die größtenteils erst nach seinem Tod gedruckt wurden. (wikipedia)
[2] Paracelsus, Opus paramirum und De quinte entibus.
[3] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10.
WIRKFAKTOREN IN DER ANTHROPOSOPHISCHEN MEDIZIN
Wie wirkt Medizin generell?
Welche Faktoren spielen dabei eine Rolle?
Wie Anthroposophische Medizin wirkt
Die Wirksamkeit der Anthroposophischen Medizin setzt sich aus verschiedenen Faktoren zusammen:
1. Stoffliche Qualität
Schwefel wirkt anders als Phosphor oder anderes. Dieses Enzym hat diese Wirkung und ein anderes Hormon eine andere. Wenn ich ein bestimmtes Mittel gebe, muss ich das berücksichtigen. Das ist die rein stoffliche Wirkung.
2. Pharmazeutisch-moralische Qualität
Es gibt verschiedene Stufen der ethisch-moralischen Zusatzwirkung. Wenn ein Pharmazeut seine Produkte mit Liebe herstellt, ist der Stoff nicht nur Träger seiner Eigenwirkung, sondern die positive Absicht, helfen zu wollen, überträgt sich vom Pharmazeuten auf das Produkt. Das ist eine pharmazeutische Qualität, die er moralisch beeinflussen kann. Das hat nicht nur mit Produktreinheit zu tun, ob unsauber oder sauber gearbeitet wird, sondern mit der moralischen Integrität dessen, der das Produkt herstellt.
3. Ärztliche Qualität
Ärztliche Qualität entsteht, wenn ein Arzt ein Medikament aufgrund guter Überlegungen mit seinen eigenen Gedanken durchsetzt, mit seiner Liebe zum Patienten, mit seinem Willen, ihm zu helfen. Wenn er das Rezept aus dieser Gesinnung heraus dem Patienten gibt, geht diese innere Einstellung auf den Patienten über. Die Schulmedizin nennt das ‚Placebo-Effekt’, die ‚Droge Arzt’. Aber es gibt keinen Placebo-Effekt, es gibt nur Wirkungen, die man nicht versteht! Der Begriff des Placebos ist ein unwissenschaftlicher Lückenbüßer, den man auch so kennzeichnen müsste. Man muss verstehen, warum welches Placebo wie wirkt! Gute Gedanken sind wirksam:
Ist es nichts, wenn einer einem anderen „alles Gute“ wünscht?
Es macht einen Unterschied, wenn jemand lügt und dem anderen in Wirklichkeit nicht alles Gute wünscht!
Wenn ich jemandem Gutes wünsche bzw. wenn ich als protestantischer Christ die Fürbitten mache oder als Katholik bete, hat das doch eine Wirkung! Ich mache das doch nicht zur Selbstbefriedigung, um mir zu zeigen, wie moralisch einwandfrei ich bin oder um dem Pfarrer zu gefallen! Ich mache es, weil ich davon überzeugt bin, dass Gedanken wirksam sind.
Es gibt destruktive Gedanken und positive Gedanken, die nicht nur auf mein Immunsystem, sondern auch auf die Immunsysteme meiner Mitwelt wirken. Hass auf andere Leute ist destruktiv, nicht nur für mich, sondern auch für die Anderen. Das sind astrale Attacken, die Verletzungen seelischer Art erzeugen können. Auch wenn sie unbewusst sind, wirken sie. Sensible Leute spüren genau, wenn Menschen sie hassen oder sie vernichten, betrügen oder mobben wollen. Es braucht nicht real zu passieren, man spürt bereits die Intention als etwas Destruktives. Solche Wirkungen sind kein Placebo-Effekt, sondern geistig-seelisch genau zu beschreiben und kommen entweder aus dem Denken, dem Fühlen oder der Intention von Menschen.
Ärztliche Intention als Zusatzwirkung
Als Arzt gebe ich meine Intention dem Medikament mit. Rudolf Steiner sagt, der Arzt müsse seinem Arzneimittel eine „Aura“ mitgeben, eine Widmung. Wenn ich zum Beispiel Schwefel oder Phosphor oder Arnika verordne, denke ich in diesem Moment an diesen Menschen, an seine Lebenssituation und widme die Wirkung des betreffenden Mittels dieser Situation. Es ist eine weiter imponderable Zusatzwirkung zur normalen Arnika-Essenz im Fläschchen, wenn ich es einem älteren Menschen, der auf der Intensivstation liegt, als Umschlag verordne. Für diesen Menschen habe ich ganz andere Gedanken als für jemand anderen. Meine Gedanken sind Teil dieser individuellen Therapie. Auch eine Standardtherapie verordne ich individuell, weil jeder Mensch anders ist. Es gibt keine zwei gleichen Situationen, auch wenn ich vielfach dieselben bewährten Arzneimittel verwendet habe. Das ist die ärztliche Wirkkomponente.
4. Der Wille zur Gesundung
Die vierte Komponente betrifft den Eigenanteil des Patienten. Patienten wollen heute genau wissen: „Wofür ist das?“, „Wogegen ist das?“ Wenn sie dann den Beipackzettel lesen, bekommen sie oft Angst. Inzwischen gibt es auch anthroposophische Beipackzettel, auf denen beispielsweise steht: An Kindern nicht erprobt, bitte nicht unter 12 Jahren anwenden. Da bekommen Eltern Angst vor Arnika D6, weil es nicht erprobt ist, und halten es für gefährlich. Dadurch kann sich die positive Wirkung des Arzneimittels nicht voll entfalten. Oder die Mittel wirken nicht recht, weil der Patient eigentlich nicht wirklich gesund werden will. In diesem Fall braucht und will er seine Krankheit. Ein Patient, der nicht gesund werden will, muss erst einmal lernen, wieder gesund werden zu wollen. Er sucht noch die Flucht in die Krankheit, weil er diesen Schutzraum offenbar braucht. Das ist im Moment seine Identität. Ein Patient, der nicht gesund werden will, für den die Krankheit seine aktuell aushaltbare Gesundheit ist, verkraftet das Leben nicht. Er braucht eine andere Behandlung, als „auf Teufel-komm-raus“ gesund gemacht zu werden.
Viele Ärzte haben keine Zeit für eine gründliche Anamnese. Sie behandeln oft auch Menschen, die von Arzt zu Arzt gehen und in Wirklichkeit gar nicht gesund werden wollen. Man hätte schon in der Erstbegegnung eine Biografiearbeit dazwischenschalten oder sagen müssen: „Ich glaube, Sie sind wirklich krank. In ihrer jetzigen Situation würde ich ihnen raten, dass Sie sich für den Prozess des Gesundwerdens genügend Zeit nehmen. Lassen Sie sich im Moment von Ihrem Job beurlauben. Ich gebe Ihnen ein Zeugnis und wir nehmen uns einen ganz langsamen Weg zur Gesundheit vor, damit Sie so werden, wie Sie werden wollen.“
Das ist ein anderes therapeutisches Ziel, als jemanden so schnell wie möglich symptomfrei zu bekommen, damit er wieder funktioniert. Wirkliche Heilung kann erst erfolgen, wenn der „Gesund-mache-Wille“ des Arztes sich mit dem „Gesund-werde-Willen“ des Kranken verbinden kann.
5. Gnade
Das fünfte Therapieprinzip heißt schlicht Gnade. Man kann nicht gegen das Schicksal angehen. Manchmal ist das Schicksal des Kranken so, dass man trotz aller erdenklichen Mühe nicht helfen kann. Das fünfte Prinzip wurzelt in der Überzeugung, dass das Leben nicht in der ärztlichen Kompetenz, sondern in der Hand Gottes liegt. Wenn der Krebs erneut ausbricht, gehe ich mit dem Patienten anders um als zu Beginn einer Krebserkrankung. Jetzt ist größtmögliche Ehrlichkeit gefragt. z.B. das Eingeständnis: „Wenn nicht ein Wunder geschieht, könnte es diesmal der Anfang vom Ende sein. Überlege, ob Du Deinem Leben eine vollkommen andere Wendung geben willst und kannst. Jetzt hast Du nichts mehr zu verlieren, Du kannst nur noch gewinnen. Schau mal, ob Du Dich von allem, was Dich zwingt, freimachen kannst und frage Dich, was Du mit deinem letzten Lebensabschnitt wirklich machen willst. Folge nur Dir selbst!“
Dann passieren manchmal ungeahnte Wunder. Manchmal braucht es diese Todesnähe, bis ein Patient wirklich zu sich kommt und weiß, was für ihn im Leben zählt.
Beispiel einer terminalen Krebserkrankung
Ich hörte von einem Patienten mit terminalem Krebs. Der Arzt hatte ihm maximal drei Monate gegeben. Er trennte sich daraufhin von all seinem Hab und Gut, verkaufte sein Haus und ging auf Weltreise. Er wollte nun endlich umsetzen, wofür er sich sein Leben lang keine Zeit genommen hatte. Nach seiner Heimkehr wollte er den Rest seines Geldes verschenken und sich auf das Sterben vorbereiten. Als er zurückkam, war der Krebs jedoch weg.
Die Geschichte hat mir ein Kollege erzählt, der meinte, so etwas wäre eigentlich nicht möglich. Ebenso sah es die Uni-Klinik, in der er behandelt wurde. In der Schulmedizin nennt man das ‚Spontanheilung’. ‚Placebo-Effekt’ und ‚Spontanheilungen’ sind Begriffe, die zeigen, dass man sich in der Schulmedizin nicht mit Wirkfaktoren auseinandersetzen möchte, die etwas differenzierter sind und Spiritualität mit einbeziehen.
Vgl. Arbeitsgruppe zum Arztberuf und zur Anthroposophischen Medizin, Sommerakademie Witten 2010
HEILENDE VERBINDUNG VON MENSCH UND NATUR
Inwiefern stehen Mensch und Natur in einer heilsamen Verbindung?
Naturstoffe zur Arzneimittelherstellung
Die Natur ist nicht nur Lebensraum und Existenzgrundlage des Menschen. Ihre Stoffe und Kräfte liegen auch einer Fülle von Arzneimitteln zugrunde. Anthroposophische Arzneimittel sollen dazu beitragen, dass der Organismus – wann immer sinnvoll und möglich – in die Lage versetzt wird, eine Krankheit aus eigener Kraft zu überwinden. Sie stärken die gesundenden Kräfte und sind also vor allem darauf orientiert, die Körperfunktionen wieder ins Gleichgewicht zu bringen und die Abwehrkräfte zu stärken.
In der anthroposophischen Arzneimittelherstellung werden mineralische, pflanzliche, metallische und tierische Ausgangsstoffe verwendet:
- Gängige mineralische Substanzen sind u.a. Quarz, Schwefel oder Kalk.
- Bekannte Heilpflanzen sind z.B. Arnika, gelber Enzian oder Kamille.
- Als Metalle kommen häufig Gold, Silber, Kupfer, Eisen und Zinn in potenzierter Form zum Einsatz.
- Zu den tierischen Ausgangssubstanzen gehören z. B. Insektengifte von Biene, Ameise, Hornisse sowie Organextrakte von Säugetieren (aus Leber, Thymusdrüse, Nieren, Nerven u.a.).
Reicher Arzneimittelschatz
Alle anthroposophischen Medikamente werden nach komplexen Vorgaben der von Rudolf Steiner und Ita Wegman begründeten anthroposophischen Medizin hergestellt.[1] Die meisten Ausgangsstoffe werden in hoher Verdünnung (homöopathisch potenziert) eingesetzt, nur sehr selten konzentriert.
Anthroposophische Arzneimittel enthalten häufig mehrere Inhaltsstoffe. Diese sind nicht nur kombiniert, sondern komponiert. Wie bei einem Orchester, so kommt es auch bei einem zusammengesetzten Arzneimittel darauf an, in welchen Anteilen die verschiedenen Einzelkomponenten gemischt sind. In dieser Art gemischt, ergeben sie eine andere Wirkung denn als Einzelbestandteile. So wie ein Orchester anders klingt als eine Violine allein.
Der anthroposophische Arzneimittelschatz umfasst etwa 2000 Substanzen, Kombinationen und eine Vielzahl von Darreichungsformen:
Ampullen, Augentropfen, Dilutionen, Einreibungen (ölige), Emulsionen, flüssige Verdünnungen, Flüssigkeiten zur Inhalation, Flüssigkeiten zur äußeren Anwendung, Gelate, Globuli, Granulate, Injektionen, Kapseln, Lotionen, Metallspiegelfolien, Mischungen, Nasentropfen (ölige), Öle, Pasten, Pflaster, Puder, Pulver, Salben (fettarm), Salben, Sirup, Tabletten, Tees, Tinkturen zum äußeren Gebrauch, Triturationen, Tropfen, Vaginalglobuli, Vaginaltabletten, Verdünnungen (wässrige), Zäpfchen.
Der Mensch als umgekehrte Pflanze
Aus anthroposophischer Sicht gleicht der Mensch einer umgekehrten Pflanze:
- So wie der Mensch seine Nahrung – in Form von Nahrungsmitteln, aber auch als „seelische“ oder „geistige“ Nahrung in Form von Gedanken, Worten, Tatsachen aus Kunst und Wissenschaft, über den Kopf – aufnimmt, so versorgt sich die Pflanze über ihre Wurzeln mit den nötigen Nährstoffen.
- Umgekehrt verhält es sich mit der Fortpflanzungsregion. Diese ist bei der Pflanze oben, Luft und Licht gegenüber geöffnet, wohingegen sie beim Menschen nach unten und innen gelagert ist, zur Erde hin.
- Beiden gemeinsam ist, dass in der Mitte – bei der Pflanze über die Blätter, beim Menschen über die rhythmischen Funktionen von Atmung und Kreislauf – der Gasaustausch stattfindet.
Umgekehrte Wirkung der Pflanze auf den Menschen
So wirken die Anwendungen
- von Wurzeln unterstützend und heilend bei Erkrankungen der Kopf- und Nerven-Sinnesorganisation,
- Teeabkochungen und -zubereitungen aus Blättern bei Störungen der rhythmischen Funktionen (insbesondere von Herz und Lunge),
- Zubereitungen aus Früchten bei Stoffwechsel- und Verdauungsstörungen.
Entsprechendes gilt für die Ernährung. Wer darauf achtet, dass der Anteil von Wurzeln, Blattgemüse, Früchten und Samen ausgewogen ist, sorgt für eine an den Bedürfnissen des ganzen Körpers orientierte Ernährung.
Beim therapeutischen Einsatz von mineralischen, pflanzlichen und tierischen Substanzen gilt es, „die Weltaufgabe dieser Substanzen zu verstehen“. Steiner regte an zu erforschen, welche Aufgabe ein bestimmtes chemisches Element oder eine Stoffkombination wie Wasser, Salz, Asche, Gerbstoffe oder Pyrit im Haushalt der Natur innehat. Die Signatur dieser Aufgabe bzw. Tätigkeit sagt auch aus, welche Wirkung die betreffende Substanz im menschlichen Organismus entfalten kann.
Den Menschen als Mikrokosmos kennenzulernen im Kontext der großen Weltentwicklung mit ihren Prozessen und Stoffzusammenhängen – nach alter Tradition Makrokosmos genannt – ist der Schlüssel zum Verständnis der anthroposophischen Arzneitherapie.
Vgl. Artikel in der Deutschen Apothekerzeitung DAZ Nr. 39, 2015
[1] Rudolf Seiner und Ita Wegmann, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27, Dornach 1935.
ARZNEIMITTEL-SUBSTANZGRUPPEN UND WESENSGLIEDER
Auf welchen Ebenen und worüber ist der Mensch mit der Natur innig verbunden?
Welche Naturanteile machen seine Konstitution aus?
Wesensglieder und ihre Einbettung in die Natur
· Physischer Leib und Natur
Schon ein oberflächlicher Blick auf die Verbundenheit von Natur und Mensch zeigt, wie der Mensch die kristallinen Strukturen seines Körpers mit den Mineralien der ihn umgebenden Natur gemeinsam hat. Dieser sichtbare, mineralisch erscheinende Leib wird in der anthroposophischen Menschenkunde „Physischer Leib“ genannt.
· Ätherleib und Natur
Werden und Vergehen, Leben und Sterben hat der Mensch mit der Pflanzenwelt gemeinsam. Diese Gesetzmäßigkeiten in ihrem Zusammenhang nennt Steiner „Ätherleib“, weil ohne das blaue Himmelslicht (griechisch o aither) kein Leben auf der Erde möglich wäre.
· Astralleib und Natur
Atmung, Bewegung, Bewusstsein, Schmerz und Triebleben hat der Mensch mit den Tieren gemeinsam. Diese das Seelenleben konstituierenden Gesetze heißen in ihrer Gesamtheit „Astralleib“ von aster, lateinisch Stern. Die menschliche Seele fühlt sich der Sternenwelt mit ihren Rhythmen und Konstellationen verwandt.
· Rein menschliche Ich-Organisation
Die Fähigkeit jedoch, lebenslang lernen und immer wieder neu und anders kulturschöpferisch tätig sein zu können, ist spezifisch menschlich. Daher gibt Steiner diesem die „Ich-Natur“ des Menschen möglich machenden Gesetzes-Zusammenhang den Namen „Ich-Organisation“.
Da der Mensch durch diese vier verschiedenen Gesetzes-Zusammenhänge sein Wesen sowohl integriert als auch differenziert äußern kann, gab Steiner ihnen den Namen „Wesensglieder“.[1]
Arzneimittelwirkung auf die Wesensglieder
Die Substanzgruppen aus dem Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich haben einen therapeutischen Bezug zu diesen Wesensgliedern:
- Menschliche Substanz wie Muttermilch und in Form einer Blutspende stützt und erhält den physischen Leib.
- Präparate aus dem Tierreich regen den Ätherleib zu verstärkter Tätigkeit an,
- pflanzliche Arzneimittel wirken regulierend auf den Astralleib
- und Metalle und Mineralien auf die Ich-Organisation.
Potenzierungsstufen und Wesensglieder
Auch die Potenzierungsstufen der nach homöopathischem Verfahren hergestellten Arzneimittel haben ihren Bezug zu den Wesensgliedern:
- D1 – D4: Anregung des physischen Organismus und seines Kräftezusammenhangs
- D5 – D8: Anregung des ätherischen Organismus und seines Kräftezusammenhangs
- D10 – D15: Anregung des astralischen Organismus und seines Kräftezusammenhangs
- D20 – D60: Anregung der Ich-Organisation und ihres Kräftezusammenhangs
In Bezug auf die Dreigliederung des menschlichen Organismus gilt:
- D1 – D6: Anregung des Stoffwechsel-Systems
- D6 – D18: Anregung des rhythmischen Systems
- D18 – D30: Anregung des Nerven-Sinnessystems
Der Arzneimittelschatz der Anthroposophischen Medizin umfasst dementsprechend Ausgangssubstanzen mineralischer, pflanzlicher und tierischer Herkunft, die nach besonderen Verfahren vor allem von den Arzneimittelfirmen Weleda und Wala hergestellt werden.[2] In Deutschland wurden sie aufgrund des Arzneimittelgesetzes von 1976 in der vom Bundesgesundheitsamt – später Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) – eingerichteten Kommission C für die Zulassung aufbereitet. Ein Teil dieser regulativ wirksamen Arzneimittel ist sehr gut für die Selbstmedikation geeignet.[3]
Vgl. Artikel in der Deutschen Apothekerzeitung DAZ Nr. 39, 2015
[1] Rudolf Steiner, Theosophie, Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung, 2003 und ders. Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. In: Lucifer-Gnosis. GA 34. Dornach 1987, 309-344.
[2] International Association of Anthroposophic Pharmacists IAAP. Anthroposophic Pharmaceutical Codex. Stuttgart, 2014.
[3] M. Glöckler, B. Emde, Anthroposophische Medizin, in: Komplementärmedizin für die Kitteltasche. Beratungsempfehlungen für die Selbstmedikation, Stuttgart 2009 und ders.: Anthroposophische Medizin, in: Komplementärmedizin für Kinder. Beratungsempfehlungen für die Selbstmedikation, Stuttgart 2012.
WIRKSAMKEIT EINES HEILMITTELS VERMITTELN
Wie vermittelt der Arzt seinem Patienten, welches Heilmittel er braucht?
Was ist dabei zu beachten, worauf kommt es an?
Wirksamkeit der Gedanken und Gefühle miteinbeziehen
Ideal wäre es, mit dem Patienten über ein Heilmittel in einer Art zu sprechen, dass etwas von der Wirksamkeit desselben auf den Patienten überspringt und dieser sich freut, dass er dieses Mittel bekommt, ja, dass er dankbar dafür ist. Der Patient sollte es mit dem Gefühl nehmen, er habe etwas besonders Gutes bekommen. Denn Freude und Dankbarkeit wirken therapeutisch – sie sind nicht „Placebo“, sondern real und wirksam. Wir müssen begreifen, dass das, was und wie wir über eine Sache denken, viel mehr als nichts ist: Was jemand weiß, ist etwas.
Der Ätherleib als Träger der zeitlichen und „ewigen“ Lebenskräfte entfaltet diese Doppelwirksamkeit:
- Ihm verdankt unser Körper einerseits Leben, Regeneration, Wachstum und die individuelle Lebenszeit
- Andererseits verdankt der Mensch ihm sein Gedankenleben, je älter er wird, umso mehr, das sich aus all den ätherischen Kräften speist, die der Körper nicht mehr „verkörpert“ halten kann (und muss) und die er damit in die „außerkörperliche Wirksamkeit“ entlässt. Die Gedanken können über den Tod des Menschen hinaus weiterleben und ihn tragen.
Medikamente wirken auf beide Aspekte des Lebens – sprich: Auch was ich über etwas denke, bewirkt etwas. Wenn ich die Arnikawirkung denke, wirkt sie bereits, denn Gedanken wirken immer, sind ein reales Wirkprinzip. „Hab Sonne im Herzen, ob's stürmt oder schneit“. Wenn ich die Sonne meditiere, habe ich Licht und Wärme im Herzen, selbst wenn ich Bauchweh habe.
Denken vermindert Heilkraft, positive Gefühle verstärken sie
Indem ich denke, nehme ich der ätherischen Wirksamkeit im Körper aber auch etwas weg, weil es dieselben Kräfte sind, die dem Körper zur Gesundheit verhelfen. D.h, der Körper ist am gesündesten, wenn man nicht denkt, also im Schlaf, weil da die gesamten ätherischen Kräfte (auch diejenigen, die tagsüber außerkörperlich dem Denken dienen) in den physischen Leib einziehen und an seiner Regeneration arbeiten.
Am besten ist es, wenn der Patient über ein Heilmittel gerade so viel weiß, dass er sich freut und ihm ein bisschen warm wird bei dem Gedanken, dass er es jetzt einnehmen darf. Denn diese positiven Gefühle teilen sich auch dem Körper mit und beeinflussen den Stoffwechsel positiv. Positive Gefühle führen dem Ätherleib vom Seelischen her positive Kräfte zu, wie dies gesunde Ernährung vom Physischen her tut. Zuviel Nachdenken über die Wirkung mindert diese jedoch.
Noch weniger zuträglich ist es, wenn ein Patient nicht so recht weiß, wie ein Mittel wirkt, oder Angst bekommt, wenn er den Beipackzettel liest. Dann fühlt er sich verunsichert – weswegen 40 Prozent der Medikamente in den Müll und nicht in den Magen der Patienten wandern. Wieder zuhause entscheiden sie, dass es ihnen eigentlich gar nicht so schlecht geht und nehmen das verordnete Medikament lieber nicht.
Vgl. Arbeitsgruppe zum Arztberuf und zur Anthroposophischen Medizin, Sommerakademie Witten 2010
EIGENE ERFAHRUNGEN BEIM ARZTSTUDIUM
Was wirkt auf den Menschen konstruktiv bindend?
Was unterstützt einen Menschen in seiner Entwicklung?
Was bedeutet es eigentlich zu helfen?
Womit helfe ich und was macht mich sicher, dass ich dabei nicht ein neues Problem schaffe?
Fragen als Motivation fürs Medizinstudium
Ich komme ursprünglich aus der Pädagogik und habe gemerkt, wie stark mein Einfluss als Erzieher auf das Kind ist, wie stark das Vorbild wirkt, weil die Schüler alles sehr umweltoffen nachahmen, auch noch in der Oberstufe. Der Einfluss reicht bis ins Gesundheitliche hinein. Ich erlebte daran, welch riesige Verantwortung man hat durch die Art, wie man als Mensch auf andere wirkt. Ich habe mich zum Medizinstudium entschlossen, weil ich herausfinden wollte, wie es zu dieser Wirkung kommt. In dem Zusammenhang bewegten mich die oben genannten Fragen.
Angespornt von der Begeisterung die Antworten zu finden, begann ich mein Studium. Ich war damals 25 Jahre alt, eine Spätberufene also, und hatte das Glück, die Anthroposophie parallel zum Studium studieren zu können. Ich habe sozusagen als angehende Anthroposophin Medizin studiert.
Ich fühle mich sicher und gewiss, wenn es mir gelingt, ein anatomisches Substrat, ein Ergebnis, z.B. Phasen der Embryonalentwicklung, wirklich zu verstehen: etwas denken zu können und das, was ich denke, in dem, was ich sehe, als evident wiederzuerkennen; mein Denken und meine Wahrnehmung als kongruent zu erleben; wenn das, was ich denke, auch passiert oder ich es sehe. Dazu gehört auch, das, was ich sehe, zu verstehen, dass es mir nicht ein dunkles Rätsel bleibt; ein Evidenzerlebnis zu haben. Ich hatte durch die Anthroposophie die Möglichkeit, die Medizin sensibel zu hinterfragen und mir Evidenzerlebnisse zu erarbeiten.
Vieles lernt man, ohne es zu verstehen. Man hat etwas festgestellt und soll es anschließend wissen. Bei uns stand über allen Examensfragen: „Der Student soll wissen, dass…“ und dann kamen die Multiple-Choice-Angebote, aus denen man das Richtige heraussuchen musste. Es ist nervtötend, wenn nur Wissen abgefragt wird und kein Verständnis. Nur in den mündlichen Prüfungen ging es manchmal um echtes Verstehen.
Stoffwechsel und Wesensglieder
In den ersten vier Vorträgen im „Landwirtschaftlichen Kurs“[1] spricht Steiner über die spirituelle Bedeutung von Phosphor, Schwefel, Stickstoff, Sauerstoff und Wasserstoff. Die ganze Eiweißchemie bzw. Biochemie unseres Körpers beruht auf diesen Elementen. So konnte ich
- die Ich-Organisation mit dem Phosphor in Zusammenhang bringen,
- den Astralleib mit dem Stickstoff,
- den Sauerstoff mit dem Leben, dem Ätherischen,
- den Schwefel zwischen dem physischen Leib und dem Ätherleib wirksam sehen – denn „er macht den physischen Leib geneigt, die Wirkungen des Ätherischen aufzunehmen.
Es geht hier um die Erkenntnis, wie die vier Wesensglieder im Stoffwechsel aktiv sind, wobei diese vier Hauptelemente wie Tore sind.
Der Wasserstoff hat eine Sonderposition. Er gehört wesentlich zum Wärmeorganismus und ist sogar das Zentralelement des Wärmeorganismus. Er ist das leichteste Element, das von sich aus zur Sonne geht, der Gravitation nicht unterliegt, weil es zu leicht ist. Wenn es nicht regnen würde, würde der Wasserstoff die Erde verlassen und sich in der Sonne sammeln. Aber durch Regen, Blitze und Donner, diese enormen energetischen Entladungen, kommt es zur Knallgasverbindung, durch die der Wasserstoff wieder an den Sauerstoff gebunden wird und so wieder auf die Erde kommt.
Wissen als etwas Vorläufiges begreifen
Ich habe mir in dem Zusammenhang nie die Frage gestellt, ob etwas richtig oder falsch ist, sondern ob es mir zugänglich ist oder nicht. Wenn ich etwas verstanden hatte, war es für mich gewiss.[2] Wenn anschließend jemand erklärte, dass dies nur ein Vorgipfel wäre und die wahre Wirklichkeit noch tiefer läge, noch etwas komplizierter sei, war ich auch dafür offen. Das vorherige Endergebnis gilt dann eben als vorläufig.
Und man muss auch nicht von Anfang an alles wissen. Ich habe manchen Patienten damit glücklich gemacht, dass ich sagte: „Wir beginnen erst einmal mit diesem Therapieansatz – ich werde mich aber noch mit Kollegen beraten, was in Ihrem Fall das Beste ist.“ Wirkliches Wissen hat Prozesscharakter und kongruiert mit der wachsenden Lebenserfahrung, die durch die Menschen, mit denen wir zusammenleben und -arbeiten, bereichert wird.
Vgl. Arbeitsgruppe zum Arztberuf und zur AM, Sommerakademie Witten 2010
[1] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft (Landwirtschaftlicher Kurs), Acht Vorträge, Koberwitz bei Breslau, 07.06 – 16.06.1924.
[2] Dazu siehe auch: Glöckler, Michaela: Einblicke in die anthroposophisch-medizinische Forschung und die Arbeit der Medizinischen Sektion. In: Christiane Haid, Constanza Kaliks, Seija Zimmermann (Hg.): Goetheanum - Freie Hochschule für Geisteswissenschaft. Geschichte und Forschung der Sektionen. Verlag am Goetheanum, Dornach 2017: Rudolf Steiner betonte wiederholt, dass es sich bei seinen Schilderungen und Sichtweisen um ein Wissen handle, das von ihm selbst erarbeitet wurde und als Wissen oder Erkenntnis und nicht als Glaubensinhalt vorgebracht werde. Daher möge man das von ihm Dargestellte als anregende Idee, als Arbeitshypothese nehmen und selbst prüfen, ob es der eigenen Lebenserfahrung und Erkenntnissuche standhalten und dem Leben dienen könne. Auch hoffte er, dass der akademisch geschulte Leser seiner Schriften die Anstrengung unternehmen würde, seine auf meditativen Wegen errungenen Einsichten mit Hilfe empirischer Forschungsmethoden nachzuweisen. Damit führte Steiner in den wissenschaftlichen Diskurs das Prinzip der internen bzw. inneren Evidenz ein: Was man - gestützt auf Erfahrung und Einsicht - als richtig erkannt hat, empfindet man als „innerlich evident“. Es bedarf dann aber auch noch der externen Evidenz, damit man anhand reproduzierbarer Fakten die Legitimität des als richtig Erkannten aufzeigen kann. Beide Evidenzen zusammen ergeben eine umfassende Erkenntnis von Mensch und Welt und die Möglichkeit, sich ein ganzheitliches Menschen- und Weltverständnis zu erarbeiten.
DIE FÜNF FUNKTIONSBEREICHE IN DER ANTHROPOSOPHISCHEN MEDIZIN
Welche Funktionsbereiche deckt die Anthroposophische Medizin ab?
Funktionsbereiche des Lebens
Unser aller Leben spielt sich auf unterschiedlichen Ebenen ab, die ich hier Funktionsbereiche nennen möchte. Im Folgenden werde ich sie genauer beschreiben.
1. Physischer Funktionsbereich: Leben im Raum
Alles Physische findet im Raum statt und gründet auf räumlich fassbare Strukturen. Der physische Leib des Menschen ist umso gesünder, je besser er an sein Milieu, die jeweilige Umwelt angepasst ist. Vieles an unserer Umwelt macht uns über Wasser, Ernährung und Luft krank, aber auch – wenn es passend wirkt – gesund. Physisch sind wir offene Systeme. Auch was wir über die Sinne aufnehmen, prägen wir uns ein, prägt uns. Alles Schöne wirkt aufbauend, alles Unschöne schwächt. Alles wirkt, egal ob wir sofort krank werden oder nicht.
Hier ist die Domäne der Schulmedizin. Anthroposophische Ärzte sind zunächst alle auch Schulmediziner, das ist unsere Grundlage. Diagnostische Fragen zum Physischen lauten beispielsweise:
Sind Medikamente nötig, die am Ort des aktuellen Geschehens unmittelbar angreifen?
Ist eine Umgebungsveränderung vonnöten?
Muss in einem bestimmten Bereich Sinnesschulung nachgeholt bzw. verstärkt werden?
Wären Achtsamkeitsübungen bzw. irgendetwas, das die physische Resonanz mit dem Umfeld verbessert, hilfreich?
2. Ätherischer Funktionsbereich: Leben als Prozess
Auch im Ätherischen sind wir offene Systeme. Mit ätherischer Kraft bezeichnet man in der Anthroposophischen Medizin, was man in der orientalischen Tradition Chi oder Lebenskraft nennt. Das Ätherische umfasst alles Prozessuale, das eine Zeitstruktur und Rhythmus hat. Im aristotelischen Sinne befinden wir uns damit in der Kategorie der Zeit. Alles Ätherische ist prozessual, lebendig, zyklisch, miteinander zusammenhängend, voneinander abhängig. Selbstregulation, Selbstheilungsprozesse, Regeneration, Wachstum, Gestaltung haben hier ihren Wirkort. Die anthroposophischen Arzneimittel, die alle prozessorientiert sind, setzen hier an. Viele werden auch mit homöopathischen Verfahren hergestellt. Alle Prozesse, die uns kränken und gesunden lassen, verlaufen im Zeitlichen. So können sich Verstöße gegen gesunde Lebensrhythmen, z.B. unregelmäßige Ernährung, negativ auswirken, sofern die Selbstregulation dies nicht kompensieren kann. Auch die Lebensgewohnheiten, die Art wie man seine Zeit strukturiert oder eben nicht strukturiert, – wie chaotisch oder geordnet man lebt – beeinflusst diesen Wirkbereich.
Denn im Leben herrscht Ordnung, es ist ein geordneter Kosmos. Es wird durch die Sonne, die circadiane 24-Stunden-Rhythmik, durch den Wochenrhythmus und den lunaren Monatsrhythmus beeinflusst. Mit dieser „Bio-Kosmologie“ befasst sich die Rhythmusforschung. Die Sonne ist 150 Millionen Kilometer von uns entfernt. Wenn wir aber Sonnenbrand haben, haben wir ihn hier auf unserer Haut. Unser gesamter Knochenstoffwechsel hängt von der Sonne ab, auch die gesamte chlorophyllproduzierende Pflanzenwelt. Wir sind sonnengetragene Wesen, wir leben in diesem Sonnenraum. Es gibt kein Leben ohne Wasser und Sonne. Die Griechen nannten den durchsonnten blauen Himmel den Äther. Daher auch der Begriff „ätherische Organisation“ für diesen Funktionsbereich. Das Leben auf der Erde muss viel umfassender gedacht werden, als wir das gewöhnlich tun, wenn wir vom Leben sprechen.
Diagnostische Fragen zum Ätherischen zielen daher auf die Lebensgewohnheiten ab: Ernährung, Schlaf, Work-Life-Balance, aber auch Rituale, Gewohnheiten, religiöse oder meditative Hilfsmittel.
3. Astraler Funktionsbereich: seelisches Erleben in Beziehung zu sich und anderen
Hier geht es um das Gefühlsleben, um die unbewusste und bewusste Beziehungsgestaltung. Alles, was in einer Beziehung stattfindet, was im Gefühl und Bewusstsein lebt, geht über Raum und Zeit hinaus in die „Innerlichkeit“ und erhält durch die Erinnerbarkeit Dauer. Die Beziehung zu sich selbst und den Menschen und Dingen im Umfeld ist ein reicher Kosmos, ein komplexes Netzwerk, ist so etwas wie eine Sternenkonstellation. Das Wort „Aster“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Stern. Mit diesem Begriff möchte Rudolf Steiner nicht nur an die seelischen Sternkonstellationen erinnern, denen wir angehören, sondern auch an die himmlische Heimat der Seele und deren Verwandtschaft mit der Sternenwelt, die auch in den astrologischen Traditionen zum Ausdruck kommt.
Beziehungen können sich wandeln, wir können unser Verhältnis zu ihnen ändern. Wenn sie kaputt gehen, tut es so weh, dass man früher oder später wieder daran arbeiten wird. Unter dem Gesichtspunkt der Reinkarnation gibt es noch einen weiteren Aspekt, der das Ringen um eine positive Entwicklung in unseren Beziehungen in seiner Bedeutsamkeit unterstreicht. Christian Morgenstern drückt dies in einem seiner Gedichte so aus:
Wir müssen immer wieder uns begegnen
und immer wieder durch einander leiden,
bis eines Tages wir dies alles segnen.
An diesem Tage wird das Leiden weichen,
das Leiden, welches Selbstsucht zeugte,
das Leiden wenigstens, das Blindheit zeugte,
das uns wie blinden Wald im Sturme beugte.
Dann werden wir in neues Ziel und Leben
wie Flüsse in ein Meer zusammenfließen,
und kein Getrenntsein wird uns mehr verdrießen.
Dann endlich wird das „... suchet nicht das Ihre“
Wahrheit geworden sein in unsern Seelen.
Und wie an Kraft wird's uns an Glück nicht fehlen.[1]
Diagnostische Fragen zu der astralen Wirkrichtung betreffen biographische Zusammenhänge und damit verbundene Krankheitsursachen. Oft können Biographiearbeit, künstlerische Therapien, Bewegungstherapien und Körperarbeit helfen, das Bewusstsein für sich selbst und die Menschen im eigenen Schicksalsfeld zu harmonisieren.
4. Funktionsbereich der Ich-Organisation: als Individuum leben
Hier haben wir es mit dem Bereich zu tun, den Goethe „die Dauer im Wechsel“ nannte. Die Ich-Organisation ist gegenüber dem ewigen Wesen des Menschen, seinem spirituellen Kern, offen. Sie umfasst alle Gesetzmäßigkeiten, die mich vor mir selbst und vor anderen persönlich legitimieren, die nur die eigene Individualität betreffen, für die ich mir selbst die Arbeitsrichtung vorgeben kann. Von der eigenen Ich-Verfassung, vom Selbstwert-Gefühl und der Art der Identitätsbildung hängt es ab, wie lange man z.B. negative Gefühle zulässt oder wieviel Stresstoleranz man besitzt. Wer sein Leben, sein Schicksal, mit allen Hoch- und Tiefpunkten, als seinen persönlichen Entwicklungsweg sehen kann, findet in jeder Lebenslage Motive für das, was gerade hier und jetzt gelernt oder getan werden könnte und kann innere Ruhe und die Übereinstimmung mit sich bewahren. Die Resilienzforschung hat viele wertvolle Beweise dafür geliefert, in welch hohem Maße die Art des Umgangs mit sich selbst und der gewählte Lebensstil den Gesundheitszustand von Leib und Seele beeinflussen.[2]
Was muss geschehen, damit ein Mensch wieder zu einer positiven Identität und Lebenseinstellung findet, auch wenn seine Umstände traurig oder widrig sein mögen?
Welche Anregung für die innere Schulung, für sein Selbstmanagement, für seine Identität kann ich ihm vermitteln, damit er freudig und wahrhaft als Ich erleben kann?
Fragen dieser Art bewegen den Arzt – aber auch Fragen der Prävention: Was kann in den Erziehungsjahren geleistet werden, nicht nur für eine gesunde körperliche Entwicklung, sondern auch für die seelische und insbesondere die geistige, Identität stiftende Entwicklung?
5. Funktionsbereich der spirituellen Orientierung: Weltentwicklung bejahen
Hier treten wir aus unserem individuell Menschlichen völlig heraus. Der Kopf ist das Beziehungsorgan, das uns mit der ganzen Welt verbindet, ist unser offenes, rein zur unsichtbaren Welt der Gedanken, den Sinneseindrücken, Vorstellungen sowie dem Bewusstsein hin orientiertes Gebilde. Paracelsus[3] nannte diese Perspektive, die Art, wie wir mit den unsichtbaren Kräften des Denkens, Fühlens und Wollens umgehen, die Quinta Essentia. Die vier anderen „Essenzen“ haben mit den Aggregatzuständen fest, flüssig, gasförmig und Wärme zu tun, die alle noch physisch fassbar sind. Die Quinta Essentia jedoch ist rein spirituell, rein geistig. Sie wird uns zunehmend bewusst durch
- seelisch-geistige Verwandlungsprozesse dank meditativer Schulung,
- Verfeinerung der Gedanken,
- Gefühls- und Willenskultur der Achtsamkeit.
- Die Tugenden und verbindlichen Lebenswerte gehören ebenso in diesen Bereich,
- aber auch wie ich meine Beziehungen ordne, wie ich meine Identität erlebe.
Denn wie ich mein äußeres und mein biografisch-zeitliches Leben veranlage, hängt letztlich davon ab, wie ich über mich und andere, über die Welt und Gott denke. Eine echte spirituelle Orientierung ist die stärkste salutogenetische Perspektive.
Erlösende menschheitliche Perspektive
Meine Erfahrung ist, dass es heute immer mehr Menschen gibt, die von einer basalen Trauer und Sorge erfüllt sind in Bezug auf das Weltgeschehen und die Menschheitsentwicklung. Sie sind nicht krank oder deprimiert durch eine schlechte Lebensweise oder Drogen, auch nicht aufgrund negativer Beziehungen. Sie erleben sich vielmehr dadurch beeinträchtigt, dass sie den Eindruck haben, es geht mit der Menschheits- und Erdenentwicklung nicht gut voran.
Um dem konstruktiv begegnen zu können, braucht es eine große, umfassende, menschheitliche Perspektive, die aufzeigt, dass die Menschheit zwar heute eine besondere Krise durchmacht, verursacht durch den Zerfall von Werten und eine enge materialistisch-ökonomische Weltsicht. Es gilt jedoch zu verstehen, dass nur der Durchgang durch eine Periode des Verlustes spiritueller Perspektiven und humaner Entwicklungsbedingungen das Individuum aus allen kollektiven – auch der religiösen – Bindungen zu befreien vermag, damit es auf dieser Basis neu und selbstständig sein Verhältnis zum weiteren Verlauf der Geschichte zu bestimmen in der Lage ist. Nur ein echtes Verständnis dieser Entwicklungszusammenhänge kann dem sonst unweigerlich eintretenden Kulturpessimismus vorbeugen bzw. kann ihn heilen.
Der Anthroposophische Arzt wird seinen Patienten anamnestisch mit Bezug auf diese fünf Funktionsbereiche hin anschauen und womöglich befragen. Am Ende muss er intuitiv entscheiden, wie er den besten Zugang zu dem betreffenden Patienten finden kann, um den notwendigen Gesundungsprozess anzuregen.
Mehr hierzu in: Was ist Anthroposophische Medizin? Verlag am Goetheanum, 2017
[1] Christian Morgenstern, Stuttg. Ausgabe, Band 2 Lyrik 1906 – 1914, Urachhaus Verlag, Stuttgart 1992, S. 217.
[2] Siehe z.B. Fröhlich-Gildhoff, Klaus / Rönnau-Böse, Maike: Resilienz. Ernst Reinhardt Verlag, München 2015.
[3] Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim, getauft als Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, (* vermutlich 1493 in Egg, Kanton Schwyz; † 24. September 1541 in Salzburg) war ein Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker, Laientheologe und Philosoph. Paracelsus hinterließ zahlreiche deutschsprachige Aufzeichnungen und Bücher medizinischen, astrologischen, philosophischen und theologischen Inhalts, die größtenteils erst nach seinem Tod gedruckt wurden (wikipedia).
ANTHROPOSOPHISCHES UND NATURWISSENSCHAFTLICHES KRANKHEITSVERSTÄNDNIS
Ist Anthroposophische Medizin eine Glaubenssache?
Wie kann man in der Medizin konstruktiv mit unterschiedlichen Sichtweisen auf Krankheit umgehen?
Anthroposophisches Krankheitsverständnis
Um auf diese Fragen eingehen zu können, möchte ich vorab das Krankheitsverständnis aus der Anthroposophie heraus und das Schulmedizinische Krankheitsverständnis charakterisieren. Sie stehen nicht im Widerspruch zueinander, zumindest nicht aus Sicht der Anthroposophischen Medizin. Letztere versteht sich als eine Erweiterung der rein naturwissenschaftlichen Medizin, nicht als Gegensatz dazu.
„Die Aufgabe ist, nun wirklich darauf zu kommen, welcher Unterschied besteht zwischen den Prozessen im menschlichen Organismus, die wir als Krankheitsprozesse bezeichnen und die doch im Grunde genommen ganz normale Naturprozesse sind, nur eben durch bestimmte Ursachen hervorgerufen sein müssen, und denjenigen Prozessen, die wir gewöhnlich als die gesunden bezeichnen und die die alltäglichen sind. Dieser durchgreifende Unterschied muss gefunden werden. Er wird nicht gefunden werden, wenn man nicht eingehen kann auf eine Betrachtungsweise des Menschen, die zum menschlichen Wesen wirklich führt." [1]
Krankheit aus Sicht der naturwissenschaftlichen Medizin
In der naturwissenschaftlichen Medizin liegt der Fokus bei der Erforschung von Krankheitsursachen im Bereich des Netzwerkes molekulargenetischer Interaktionen. Dort wird nach Mutationen und „Fehlern" im Metabolismus gesucht. Damit ist aber das Kausalproblem nur von der Makro- auf die Mikroebene verlagert. Denn auch hier ist zu fragen, woher es kommt, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt beispielsweise eine Genmutation auftritt und ein Prozess, der bisher gesund ablief, nun mit einem Mal „verkehrt" bzw. Krankheit begünstigend stattfindet. Wenn der sogenannte Pathomechanismus aufgeklärt ist und die Ursache einer „Spontanmutation", einem „inborn error of metabolism" oder einer exogenen Schädigung zugeschrieben wird, so ist damit dem Kranken noch nicht geholfen, der verstehen will, was seine Krankheit mit ihm, seiner Entwicklung und seinem Schicksal zu tun hat – oder der sich dafür interessiert, welche Einflüsse sein bewusstes oder unterbewusstes Seelenleben auf die Lebensfunktionen seiner Organe oder auf die Stabilität seines Immunsystems hat. Auch ist es letztlich unbefriedigend, sich als Mensch in die verschiedenen Forschungs- und Fachdisziplinen aufgeteilt zu sehen, ohne „das geistige Band" im Sinne Goethes zu haben, das die Zusammenschau der unterschiedlichen Sichtweisen ermöglicht.
Unterschiedliche Sichtweisen integrieren
Paracelsus, der Integrationsmediziner am Beginn der Neuzeit, hat bereits eindrücklich auf dieses Dilemma hingewiesen.[2] Plastisch schildert er eine medizinische Szene aus dem damaligen Alltag: Sechs Ärzte sind um einen eben verstorbenen Cholerapatienten versammelt und sprechen darüber, was in seinem Falle wohl die Todesursache gewesen sein mag. Diese Szene sei hier in freier Form wiedergegeben:
Der Erste sagt: „Für mich ist klar, dass er durch die Infektion mit dem Cholerabazillus gestorben ist. Der Krankheitserreger wurde mit dem Wasser aufgenommen, hat sich im Organismus ausgebreitet und die Krankheil hervorgerufen, die jetzt zum Tode geführt hat".
„Das finde ich merkwürdig", sagt der Zweite. „Es sterben doch längst nicht alle Kranken, die sich mit dem Cholerabazillus angesteckt haben. Ich sehe die Todesursache vielmehr in der Tatsache, dass die Selbstheilungskräfte des Verstorbenen nicht stark genug waren, um die Infektion zu überwinden. Hätte er über mehr Widerstandskraft verfügt, so lebte er noch."
Da lächelt der dritte Kollege und fragt: „Habt ihr denn nicht sein Horoskop gelesen? Da konnte man lesen, dass dieser Mensch durch die ganze Konfiguration seiner seelischen Veranlagung und seines inneren Schicksals zum Tod in dieser Zeit prädestiniert war. Sein Tod war vorherbestimmt."
„Das leuchtet mir nicht ein", sagt der Vierte. „Wie viele Menschen leben unter derselben oder sehr ähnlichen Sternkonstellationen und kommen anders damit zurecht, gehen durchaus optimistischer mit der Herausforderung um, die ihre jeweilige Sternkonstellation für sie bedeutet. Meine Diagnose ist, dass er im Kern seiner ganzen Persönlichkeit, in seinem Ich, schwach war. Er hatte große Angst vor der Cholera, und nichts ist ein besserer Nährboden für Infektionen als Ängstlichkeit und Furcht. Ich habe viel schwächere Patienten die Krankheit überwinden sehen, weil sie mutiger waren und das Vertrauen nicht verloren."
„Mir kommt das alles töricht vor", schaltet sich jetzt der Fünfte in die Debatte ein: „Krankheit und Leid ist doch eine Geißel Gottes, ein Flagellum. Hätte Gott die Überwindung der Krankheit zugelassen, so hätte er diesem Betroffenen zur rechten Zeit den Arzt oder sonst eine Hilfe geschickt."
Nun blicken alle auf den Sechsten, der interessiert zugehört hat und fragen: „Wer von uns hat recht?"
Der bemerkt: „Jeder von euch hat recht. Jeder hat aber auch unrecht. Das Unrecht entsteht dadurch, dass jeder einzelne von euch nur an seine Sicht der Dinge glaubt und die Ansichten der anderen verneint oder missachtet. Das komplizierte Pentagramm Mensch muss individuell gelesen werden, um den jeweiligen Anteil an der Krankheitsursache herauszufinden. Ein solch differenziertes Lesen ist aber auch nötig, um die verschiedenen Wege kennen zu lernen, die zur Gesundheit, sprich: zur Überwindung der Krankheit führen.“
Diese Szene aus dem Werk des Paracelsus wird hier angeführt, um deutlich zu machen, dass ein tiefgreifendes Verständnis von Krankheitsursachen und Heilungsmöglichkeiten die verschiedenen Ebenen menschlicher Existenz und Lebensverwirklichung mitberücksichtigen muss. Das kann letztlich nur ein interdisziplinär-integrativer Ansatz leisten.
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Medizin, GA 312.
[2] Elise Wolfram und Paracelsus, Die okkulten Ursachen der Krankheiten. Volumen Paramirum, Unv. Nachdruck der Ausgabe von 1912, 4. Aufl. Dornach 1991.
DIE WESENSGLIEDER UND IHRE DIAGNOSTIK
Was versteht die Anthroposophische Medizin unter Wesensgliedern?
Wie lassen sie sich beschreiben?
Wesensglieder als Zusammenhänge von Gesetzmäßigkeiten
Das Wissen von Körper, Leben, Seele und Geist ist so alt wie die Menschheit. Rudolf Steiners Beitrag besteht jedoch darin, eine neue Zugangsweise zu diesen vier Erfahrungsfeldern aufgezeigt zu haben. Er verwendete für die von ihm in Medizin und Pädagogik eingeführte Terminologie die Worte „Leib“ bzw. „Organisation“.[1] Diese Termini machen nicht nur den Zusammenhang zwischen den Reichen der Natur und den Aggregatzuständen der Materie deutlich, sondern stehen auch für die differenzierte Ganzheit des Menschenwesens nach Geist (Ich-Organisation), Seele (astralische Organisation), Leben (ätherische Organisation) und Körper (physische Organisation). Sie zeigen die komplexen Zusammenhänge von Gesetzmäßigkeiten, durch die sich der Mensch erkennen, erleben, ausdrücken und betätigen kann.
In der Anthroposophischen Medizin wird also nicht nur die naturwissenschaftliche Beschreibung von Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers berücksichtigt, sondern auch die Wirkung der sogenannten Wesensglieder auf den Körper, die von der zugehörigen Gesetzmäßigkeit bestimmt werden und so in das Körpergeschehen eingreifen können.
Die Diagnostik der Wesensglieder ermöglicht ein differenziertes Erfassen des Inkarnationszustands des Menschen in Gesundheit und Krankheit, woraus sich der jeweils passende therapeutische Ansatz ableiten lässt.
· Physischer Leib – fest
Der physische Leib wird von Stoffen und Kräften im festen Aggregatzustand aufgebaut – sie machen die sinnlich beobachtbare Beschaffenheit des Körpers im Raum aus (griechisch physis = Körperbildung, Gestalt). Der ganzheitlich-systemische Begriff des Physischen umfasst den gesamten Bereich des Mineralisch-Anorganischen: Dazu gehören die Gesetze der Gravitation, der Mechanik, aber auch die Zerfalls- und Sterbeprozesse von Strukturen.
Was erkannt werden kann, wenn man dem menschlichen Organismus Stoffe, Gewebe und Partikel entnimmt und analysiert, gehört in das Gebiet des Physischen.
· Ätherleib - flüssig
Der Ätherleib umfasst die Gesamtheit der Lebensprozesse. Diese sind an den flüssigen Aggregatzustand gebunden und liegen allen Vorgängen zugrunde, die chemische und physikalische Prozesse zu biochemischen und physiologischen Prozessen steigern.
Das Wort „Äther“ kommt aus dem Griechischen und heißt Himmel. Damit schließt das Ätherische auch den durchsonnten, blauen Himmelsraum ein, ohne den Leben auf der Erde nicht möglich wäre. Insbesondere die Pflanzenwelt wird davon bestimmt: Das zeigt sich z.B. in der sonnenvermittelten Fotosynthese, die Grundlage der Lebenstätigkeit aller Pflanzen ist. Doch auch ihre Biorhythmen haben ihre Zeitgeber in der Solar- und Lunarperiodik.
· Astralleib – gasförmig, luftig
Die Kräfte und Gesetzmäßigkeiten, die Bewegung, Bewusstsein und seelischen Ausdruck ermöglichen, bezeichnete Steiner mit Astralleib, lateinisch „aster“ (Stern). Das Weltall mit seinen Sternkonstellationen ist ein Bild davon: Jeder Planet, jeder Fixstern ist anders als der andere und doch stehen alle in konkreten, sich stets wandelnden Beziehungen zueinander, Konstellationen genannt.
Physiologisch gesehen sind die Bewegungs-, Sprach- und Gefühlsäußerungen an das Vorhandensein von Luft gebunden. Der Astralleib kann nur über den Gaszustand der Materie in das Körpergeschehen eingreifen und ist auch im Hinblick auf seine Wirkungsweise von den Gesetzen bestimmt, die dem Gaszustand eigen sind.
· Ich-Organisation - Wärme
Für den Gesetzeszusammenhang, der es der selbstbewussten Persönlichkeit erlaubt, sich zu erleben und auszudrücken, wählte Steiner den Begriff Ich-Organisation. Diese ist an die Gesetze der Thermodynamik, der Wärme, gebunden. Jeder Mensch erlebt sein Ich und die Persönlichkeitsäußerungen des Anderen in Form von jeweils zum Ausdruck kommenden Wärmedifferenzen bzw. als Wärme- und Kälteausstrahlung. Die kritische Temperatur des jeweiligen Elementes entscheidet, in welchem spezifischen Aggregatzustand die Materie erscheint. Das dem gesunden Körperleben des Menschen zugrundeliegende Wärmeoptimum liegt bei 37°. Es wird durch eine komplizierte Temperaturregulation im Rahmen definierter tages- und jahresrhythmischer Schwankungen konstant gehalten. Auch hängt es jeweils vom geistigen Wärmezustand (Begeisterung) ab, ob und wofür ein Mensch seine Kraft im Leben einsetzt und wie er seine Persönlichkeit zentriert und beherrscht.
Berechtigte Annahme komplexer Ordnungsprinzipien
Mit der systemischen Begrifflichkeit der Wesensglieder ist einerseits die Brücke geschlagen zur aristotelischen Elementenlehre, die die Aggregatzustände konsequent mit den Naturreichen (Mineral, Pflanze, Tier, Mensch) verbindet. Andererseits kann dadurch auch ein konkreter Bezug hergestellt werden zur heutigen Faktenfülle naturwissenschaftlicher Forschungen als Grundlage für ein ganzheitliches Bild des Menschen, der sich in Körper, Seele und Geist gliedert.
Steiners Vorgehensweise, übergeordnete Begriffe zu bilden, wird untermauert von Annahmen aus der Systemforschung, die längst von höheren, vernetzten Formgebern und Prozessgestaltern ausgeht, die sie entweder entdeckt oder hypothetisch angenommen hat: Man verwendet den Begriff „Feld“[2] oder spricht von „intraorganischen Ordnungsmustern“ aus der mathematisch-geometrischen Symmetrie und Asymmetrie, die sich nicht mithilfe der darwinistischen Paradigmen von Selektion, Mutation und Anpassung erklären lassen.[3] Auch die Frage nach der Symmetrie als einem universalen Kausalprinzip gehört hierher. All diese Überlegungen und Forschungen besagen, dass es letztlich Gedanken, Gesetze, übergreifende Gesetzeszusammenhänge sind, die sich in den Ordnungen und Wandlungen der Evolution abbilden bzw. diese vorantreiben.
Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die derzeit oft gebrauchten Begriffe der Autoregulation, Selbstregulation oder Selbstheilung. Die Wesensgliederdiagnostik kann diese Begriffe mit einem differenzierten Inhalt füllen und dieses Selbst (griechisch: autos) in seinen körperlichen, seelischen und geistigen Ausdrucks- und Funktionsweisen beschreiben.[4]
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. GA 37, Rudolf Steiner Verlag, Dornach.
[2] Rupert Sheldrake, The presence of the past. Morphic resonance and the habits of nature. Hammersmith, UK 1988.
[3] Antonio Lima-de-Faria, Evolution without Selection. Form and Function by Autoevolution. New York 1988.
[4] Werner Hahn/ Peter Weibel (Hrsg.), Evolutionäre Symmetrietheorie. Selbstorganisation und dynamische Systeme. Stuttgart 1996.
PARAMETER DER WESENSGLIEDER-DIAGNOSTIK
Welchen Parametern folgt die Wesensglieder-Diagnostik?
Wesensglieder als Gesetzeszusammenhänge des Menschseins
In der phänomenologischen Philosophie und Psychologie ist man gewohnt, den Körper „Leib“ zu nennen. Man meint damit das individuell Geformte bzw. das „Gefäß", das von allen Funktionen und Seelenerlebnissen ein Aus- und Abdruck ist. Rudolf Steiner verwendet als Bezeichnung für die Wesensglieder je nach Kontext die Ausdrücke „Leib“, „Organisation“ und „Organismus“ oder „Gesetzeszusammenhang“. In der Diagnostik wird der körperliche Ausdruck der Wesensglieder im Einzelnen beschrieben:
1. Physischer Leib
Zu den Beurteilungsgrößen des physischen Leibes gehören neben Körpergröße und Körpergewicht die chemische Analyse (Labordiagnostik) sowie die Ausformung der einzelnen Organe, der konstitutionelle Habitus, und inwiefern dieser durchlässig ist für die Vorgänge des Lebens, der Seele und des Geistes – d.h. für den „Inkarnationszustand" des betreffenden Menschen.
2. Ätherleib
Zur Diagnostik des ätherischen Organismus gehört neben dem Erfassen der aktuellen Gesamtvitalität und der Vitalität der einzelnen Organe auch die Beurteilung von Wachstum, Entwicklung und Regenerationsfähigkeit sowie des Säure-Basen-Verhältnisses, des Wasser- und Elektrolythaushaltes und des Zusammenspiels der Biorhythmen, aber auch die Erfassung der Art der Gedankenführung.
3. Astralleib
Die Wirkungsweise des Astralleibes wird einerseits am Bewegungsspiel der Muskulatur und ihres Tonus abgelesen, andererseits aus der Art des Sprechens und der Atemführung sowie des Instinkt-Begierde-Verhaltens erschlossen. Empfindungsleben, „Sensibilität" und das Spektrum der Gefühlsäußerungen geben Aufschluss über seinen aktuellen Zustand.
4. Ich-Organisation
Stärke oder Schwäche der Ich-Organisation können am Zusammenspiel aller Funktionen und Wesensgliedertätigkeiten abgelesen werden. Jede Form von Integrations- und Kontrollverlust zeigt eine Schwächung oder Störungen im Bereich dieses Wesensgliedes an. An dieser Stelle ist es wichtig zu bemerken, dass die Ich-Organisation zwar dem geistigen Wesen Mensch, d.h. seinem Ich, die körperliche – und damit vergängliche –Möglichkeit zur Inkarnation bietet, mit dieser jedoch nicht identisch ist.
Faktenfülle durch Wesensgliederdiagnostik
Des Öfteren wird gefragt, warum die Wesensglieder-Diagnostik nötig ist, welche zusätzlichen Informationen sie über das hinaus bieten kann, was eine sorgfältige und umfassende klinische Diagnostik ohnehin leistet. Dazu ist zu sagen, dass das sehr umfassende Studium des jeweiligen Wesensgliedes und der damit zusammenhängenden Gesetzmäßigkeit zusätzliche Informationen liefert.
Die in der Tabelle unten angeführten Parameter implizieren eine große Faktenfülle und eröffnen durch ihre Zusammenschau neue Einsichtsmöglichkeiten in die menschliche Natur, vor allem auf den direkten Zusammenhang der seelisch-geistigen Funktionen mit den physiologisch-anatomischen Strukturen.
Wesensglied und Naturgesetzlichkeit | Selbsterleben und
kreative Handhabbarkeit |
Morphologie
Physiologie |
Physische Symptomatik |
Ich-OrganisationWärmeorganismus
Thermodynamischer Gesetzeszusammenhang |
Selbstbewusste
Gedankentätigkeit, Intentionalität, Initiative, Dicht- und Sprachkunst |
Integrationsprozesse Gesamtgestalt | Individuelle Wärmeverteilung „Ausstrahlung" |
AstralleibLuftorganismus
Aerodynamischer Gesetzeszusammenhang |
Bewusstsein, Gefühl, Impulsivität, Bewegung
Musik und Gesang |
Atmung
Katabole Stoffwechselvorgänge Heterostase Differenzierung Proportionen |
Muskeltonus
(Anspannung und Lösung) Lufthaushalt |
ÄtherleibWasserorganismus
Hydrodynamischer Gesetzeszusammenhang |
Auftrieb
Schwerelosigkeit Zeitprozesse plastisches Gestalten |
Anabole Stoffwechselvorgänge
Synthese Homöostase Proliferation |
Turgor
Wasserhaushalt Inkarnat Hautdurchblutung |
Physischer LeibFeste Organisation
Gravitation Gesetzeszusammenhänge der Festkörperphysik und Mechanik |
Egoität
Schwerpunkt erleben architektonisches Gestalten |
Ablagerungsprozesse
Strukturierungsprozesse Form-Zusammenhalt |
Dichte
Gewicht Laborparameter |
Tab. 1.1 Diagnostische Parameter im Funktionsbereich der Wesensglieder
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
GESUNDHEITSWISSENSCHAFTLICHER ANSATZ DER ANTHROPOSOPHISCHEN MEDIZIN
Welche Bereiche umfasst der gesundheitswissenschaftliche Ansatz der Anthroposophischen Medizin?
Es geht dabei um drei Bereiche:
- Um den Bereich des Ätherisch-Lebendigen und die hier agierenden Rhythmen
- Um das Zusammenspiel der Wesensglieder im so genannten dreigliedrigen Organismus
- Um eine dem Menschengeist gemäße Erziehung und Selbsterziehung
AD 1. ZUR RHYTHMUSFORSCHUNG
Gunther Hildebrandt, einer der führenden Rhythmus-Forscher im 20. Jahrhundert, hat sein Lebenswerk als Physiologe der systematischen Erarbeitung der rhythmischen Funktionen und deren adaptiven, erholsamen und stabilisierenden Wirkungen gewidmet.[1]
Er hatte in einer Vortragsnachschrift von Steiner gelesen, dass die rhythmische Organisation des Menschen ihren Ausdruck findet im Rhythmus der Blutzirkulation und dem Atemrhythmus und dass dieser Zusammenhang zu wenig beachtet wird. Beim erwachsenen Menschen haben diese beiden Rhythmen das Verhältnis 4:1. Das ist natürlich nur ein approximativer Durchschnittswert, der allerdings in seinen Abweichungen Auskunft gibt über Gesundheit und Krankheit des individuellen menschlichen Organismus. Diesen Hinweisen Steiners ist Hildebrandt mit den Methoden der Chronobiologie und der Rhythmusforschung nachgegangen. Anhand seiner Resultate konnte er belegen, wie sehr die anthroposophische Geisteswissenschaft mit der akademischen Naturwissenschaft übereinstimmt und dass sich neue Möglichkeiten des Verstehens erschließen, wenn man beide methodisch ernst nimmt.
Rhythmusforschung am Beispiel Schlaf
Hildebrandt konnte nachweisen, dass die Schlaferholung als zentral koordinierter Prozess nicht allein aus biochemischen und physiologischen Gesichtspunkten heraus erklärbar ist, sondern dass Selbstordnungsprinzipien am Geschehen beteiligt sind, die eine rhythmische Zeitstruktur haben und prozessual in Richtung Heilung oder Krankheit stimulierbar sind. Er konnte in vielfach bestätigten Befunden nachweisen, dass im Verlauf des Nachtschlafes die ganzzahlige Frequenzabstimmung zwischen Herz- und Atemrhythmus des gesunden Organismus bei jedem Menschen wieder hergestellt wird, und zwar unabhängig von der Richtung der am Tage aufgetretenen Abweichungen. Dasselbe konnte Hildebrandt auch hinsichtlich der ganzzahligen Frequenzabstimmungen von Atem- und Blutdruckrhythmus sowie von Blutdruckrhythmus und Minutenrhythmus der peripheren Durchblutung nachweisen.
Arbeitsrhythmen der Wesensglieder und autochrone Biorhythmen
Des Weiteren konnte Hildebrandt zeigen, dass die von Steiner erforschten basalen Arbeitsrhythmen der Wesensglieder tatsächlich den evidenten, adaptiven und autochronen Biorhythmen des Menschen entsprechen. Auch konnte er belegen, dass diese hygiogenetischen Prozesse in der Regel reaktiv ausgelöst werden und ihre Zeitstruktur nicht von den Eigenrhythmen der Wesensglieder bestimmt werden, sondern reaktiv von deren harmonischen Frequenzmultiplen.
· Jahresrhythmen unter Einfluss des physischen Leibes
Regenerative und adaptive Rhythmen des physischen Leibes hängen mit dem Jahreslauf der Sonne sowie der annualen Rhythmik zusammen. Die heteronomen trophisch-plastischen Wachstumsprozesse mit der submultiplen Periodendauer des Jahresrhythmus werden überwiegend von den Einflüssen bestimmt, die der physische Leib auf die hygiogenetische Aktivität des Ätherleibes hat.
· 7-Tage-Rhythmus bestimmt vom Ätherleib
Regenerative und adaptive Rhythmen des ätherischen Leibes entsprechen dem Monatsrhythmus sowie der lunaren Rhythmik.
· Monatsrhythmus bestimmt vom Astralleib
Adaptive und regenerative Rhythmen des Astralleibes von 7 Tagen entsprechen dem Wochenrhythmus, der zirkaheptanen Rhythmik.
Rhythmisches Zusammenspiel von Ätherleib und Astralleib
Die eigentlichen heilenden Prozesse, die sich als normgerichtete Regenerationsvorgänge äußern und eine funktionelle Normalisierung herbeiführen, werden im Zusammenwirken von Ätherleib und astralischem Leib zeitlich gegliedert. Ausdruck dieses Zusammenwirkens ist die Tatsache, dass der spontane Eigenrhythmus des Astralleibes mit 7 Tagen Periodendauer zugleich eine Submultiple des ätherischen Monatsrhythmus darstellt.
Die Eigenrhythmen der beiden Wesensglieder stehen bemerkenswerterweise auch im doppel-oktavischen harmonischen Verhältnis von 4:1. Das vielfach nachgewiesene Vorherrschen der zirkadianen Septanperiodik bei den spontanen und therapeutisch angestoßenen Selbstheilungsprozessen kann daher so gedeutet werden, dass der Astralleib mit seinem Eigenrhythmus den hygiogenetischen Prozessen eine Zeitstruktur vorgibt, der sich der Ätherleib durch Ausbildung einer submultiplen Periodik optimal einpasst.[2]
· 24-Stunden-Rhythmen unter Führung der Ich-Organisation
Adaptive und regenerative Rhythmen der Ich-Organisation entsprechen dem 24 Stunden-Rhythmus, der zirkadianen Rhythmik. Seine Forschungsergebnisse zusammenfassend führt Hildebrandt aus, dass die verschiedenen, stoffwechselbedingten Erholungsprozesse mit einer Periodendauer unter 24 Stunden, die dem Bestand und der Gesunderhaltung des Organismus dienen, der zeitlichen Führung seitens der Ich-Organisation unterliegen.
AD 2. ZUR FUNKTIONELLEN DREIGLIEDERUNG DES MENSCHLICHEN ORGANISMUS
Der Gedanke der funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus geht auf eine dreißigjährige Forschung Steiners zurück, die er erstmals 1917 publizierte.[3] Der Anatom und Morphologe Johannes W. Rohen griff diese Anregung in seinen Lehrbüchern für die Medizinstudenten auf.[4]
Diese Sichtweise des menschlichen Organismus verknüpft drei Aspekte miteinander:
- Sie macht den polaren Bau des menschlichen Organismus funktionell und morphologisch transparent.
- Sie liefert eine pathologisch und therapeutisch relevante Erklärung des Leib-Seele-Problems.
- Sie führt nicht nur zu einer neuen Sicht auf die Entstehung von Krankheit, sondern auch zu einem Konzept für die Entstehung von Gesundheit (Salutogenese, Hygiogenese).
Polarität und ausgleichende Prozesse
Morphologisch betrachtet sind die Rundheit der Schädelform und die radiale Form der Gliedmaßen echte Polaritäten. Entsprechend polar stehen auch die bewussten, im Kopf zentrierten Denk- und Sinnestätigkeiten den unterhalb des Zwerchfells lokalisierten unbewussten metabolischen Auf- und Abbauvorgängen gegenüber. Dazwischen entfalten sich die rhythmischen Transport- und Verteilungssysteme, wie sie von den Atmungsorganen und dem Herzen als Mittelpunkt des Kreislaufsystems ausgehen. Diese dreiteilige morphologische Grundgliederung bezeichnet Steiner mit:
- Nerven-Sinnes-System NSS: überwiegend im Kopf zentrierte „obere Organisation"
- Rhythmisches System RS: überwiegend im Thorax lokalisierte „mittl. Organisation"
- Stoffwechselsystem: überwiegend im Abdomen lokalisierte „untere Organisation"
Dieser Dreigliederung entspricht bereits die Polarität von Ektoderm und Entoderm und den sich aus dem Zusammenspiel beider ergebenden sekundären mesodermalen Strukturen in der Embryonalentwicklung.
Diese Dreigliederung findet sich auch in der Formation des Skelettes wieder: Wirbelsäule und Brustkorb haben einen rhythmisch gegliederten Aufbau (Wirbel, Rippen), im Gegensatz zur radialen Form der Extremitäten und der sphärischen des Kopfes.
Für die zeitlich-prozessuale und damit auch die physiologisch-biochemische Betrachtung ist jedoch das jeweils spezifisches Zusammenwirken der vier Wesensglieder in den drei Regionen des Körpers entscheidend:
Selbstverständlich gehört der Nervenzell-Stoffwechsel den Stoffwechselfunktionen an und umgekehrt ist das vegetative Nervensystem, das wahrnehmend und regulierend auf das gesamte Stoffwechselgeschehen einwirkt, Bestandteil des Nervensinnessystems.
Entsprechend ist das rhythmische System mit seinen Funktionsleistungen auch im Nervensinnes-System und beim Stoffwechsel wirksam. Es stellt mit den kurzwelligen Rhythmen der elektrochemischen Hirnpotentiale im Sekundenbereich und den langwelligen Eigenrhythmen der Stoffwechselorgane (z.B. Magen / Darmmotilität) im Stundenbereich die gesamte rhythmische Funktionsordnung im dreigliedrigen Organismus dar. Bei der Dreigliederung handelt es sich also nicht um eine Dreiteilung, sondern um eine funktionelle Gliederung, die sich gleichzeitig räumlich im polaren Aufbau des Körpers abbildet.
Zusammenspiel der Wesensglieder im dreigliedrigen Organismus
Werden die Funktionen des Nerven-Sinnes- und des Stoffwechselsystems mithilfe des rhythmischen Systems nicht genügend aufeinander abgestimmt, so tritt Krankheit auf:
„Derjenige wird den menschlichen Organismus in seinem gesunden und kranken Zustand – oder besser gesagt: in seinem Gesund-Sein und seinem Gesund-Werden – nicht eigentlich verstehen können, der nicht berücksichtigt, dass die so genannten normalen Funktionen im Grunde nur Metamorphosen sind, auch derjenigen, die wir hervorrufen müssen, um pathologischen Zuständen zu begegnen".[5]
Hildebrandt machte darauf aufmerksam, dass diese Aussage Steiners im Prinzip dem so genannten ersten Hauptsatz der Naturheilkunde entspricht, wie er zum Beispiel von Groote formuliert wurde: „Das, was den Gesunden gesund erhält, ist auch geeignet, den Kranken wieder gesund zu machen".[6]
Inkarnierende und exkarnierende Wesensgliedertätigkeit
Das Steinersche Paradigma von der Metamorphose der „inkarnierenden" Wesensgliedertätigkeit in die „exkarnierende", die das seelisch-geistige Leben ermöglicht, ist einerseits Grundlage für ein neues Verständnis des Leib-Seele-Zusammenhangs. Es bietet aber auch bisher nicht dagewesene Möglichkeiten, die Fachgebiete der Erziehungswissenschaften und Medizin in ihrem Zusammenhang zu verstehen und für die Weiterentwicklung von Therapie und Pädagogik zu nutzen. Denken, Fühlen und Wollen als seelisch-erfahrbare Qualitäten werden in ihrem Leibbezug durchschaubar:
- Der Ätherleib kann damit als Träger des Gedankenlebens erkannt werden,
- der Astralleib als Träger des Gefühlslebens
- und die Ich-Organisation als Träger des Wollens bzw. Tuns.
Die inkarnierende Wesensgliedertätigkeit ermöglicht Selbsterfahrung und ist somit die Grundlage von Selbstbewusstsein im Leib.
Die exkarnierende Wesensgliedertätigkeit, deren Medium das Denken ist, das „Leben im Geiste", ist Grundlage für die Entwicklung eines bewussten, vom Leib emanzipierten, persönlichen Innenlebens.
Die inkarnierende und die exkarnierende Wesensgliedertätigkeit hängen eng zusammen im Kontext der Entwicklung des Menschen. So entwickelt sich z.B. unser Denken erst aus der schrittweisen Emanzipation des Ätherleibes – von der leibgerichteten Tätigkeit hin zur leibfreien, rein gedanklichen Tätigkeit.[7] Wird die gesunde Inkarnation des Ätherleibes durch die Erziehung nicht unterstützt, sondern behindert durch kognitives Frühtraining und die Förderung abstrakten Denkens, emanzipiert sich der Ätherleib zu früh und ein Mangel an Vitalität in der zweiten Lebenshälfte ist die Folge.
„Alles hat seine Zeit" ist daher die Grundlage der Waldorfpädagogik und ihres altersspezifischen Lehrplans.[8](besser nicht in kursiv).
Entwicklungsgerechte Förderung
Die Organsysteme des menschlichen Organismus bedürfen einer entwicklungsgerechten, altersspezifischen Förderung, um sich gesund aufbauen und genügend ausreifen zu können. Nur dadurch kann die Inkarnation aller Wesensglieder optimal gewährleistet werden. Damit wird auch die physiologische Lockerung der Wesensglieder im letzten Lebensdrittel auf möglichst gesunderhaltende Art und Weise vorbereitet. Jeder alternde Organismus hat zwar die Disposition zu chronischen Erkrankungen des älteren Menschen, ob es jedoch zum Ausbruch einer entsprechenden Krankheit kommt bzw. welchen Schweregrad sie erreicht, ist bis zu einem gewissen Grad abhängig davon, wie das Kind oder der Jugendliche die Zeit der Inkarnation der Wesensglieder durchlaufen konnte.
Ein weiteres Kriterium ist die Frage, ob in der Lebensmitte durch geistige Aktivität Lebensfragen und Konflikte so verarbeitet wurden, dass die zur Gesunderhaltung von Leib und Seele nötige Übereinstimmung mit sich und dem Schicksal hergestellt werden konnte. Aaron Antonovsky spricht von der Notwendigkeit, ein „Kohärenzgefühl“ sich und seinen Lebensumständen gegenüber zu erwerben.[9]
AD 3. ERZIEHUNG UND SELBSTERZIEHUNG ALS QUELLE SALUTOGENER KOMPETENZ
Die von Rudolf Steiner konsequent verfolgte These einer Erziehung zur Freiheit und einer Lehre von der Gesundheit, basierend auf der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Lebens auf geistiger, seelischer und körperlicher Ebene, erfährt auf vielfältige Weise Bestätigung durch:
- die Hygiogenese (Hildebrandt 1985),
- die Salutogenese (Antonovsky 1997)
- die Resilienzforschung (Opp/Fingerle/Freytag 1999)
- sowie die Erforschung der seelischen Gesundheit durch die humanistische Psychologie (Maslow 1981).
Erforschung der seelischen Gesundheit
Maslow fand bei seinen Untersuchungen zur seelischen Gesundheit heraus, dass Menschen mit einer gesunden seelischen Gesamtverfassung sach- und nicht ich-bezogen handeln, dass sie tolerant und wahrhaftig sind, sich herzlich freuen, staunen und Dinge und Menschen bewundern können, dass sie Gefühle der Devotion aufbringen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie auf die eine oder andere Art auf eine spirituelle Höhepunkt-Erfahrung, die so genannte Peak-Experience, zurückschauen können.
Maslow konnte zeigen, in wie hohem Maße die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit und die persönliche Reife Einfluss auf den körperlichen Gesundheitszustand haben.[10]
Salutogenese – die Lehre von der Gesundheit
Antonovsky entwickelte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Theorie der Salutogenese. Er untersuchte die Bedingungen für das Entstehen von Gesundheit und wählte als Kernbegriff den „Sense of Coherence“ – das Kohärenzgefühl. Die Entstehung von Kohärenzgefühls unterliegt drei Vorbedingungen: Die Welt muss als
- verstehbar
- sinnhaft
- handhabbar
erlebt werden können.
Jeder in der Gesundheitsforschung Tätige kommt früher oder später zu der Überzeugung, dass Gesundheit ein labiler Zustand ist, der vom Individuum aktiv erhalten werden muss. Diese Auffassung steht im Gegensatz zum konventionellen, pathogenetischen Postulat, dass ein gesunder Organismus sich in „normaler", geordneter Homöostase befindet, die durch eine Krankheit aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Antonovsky stellt dem entgegen, dass es den geordneten Zustand der Homöostase nicht gibt, dass Gesundheit vielmehr das ständige Ringen mit heterostatischen Zuständen ist.
Er schreibt: „Zu jedem Zeitpunkt kann mindestens ein Drittel, möglicherweise mehr als die Hälfte der Bevölkerung in den Industrienationen aufgrund des einleuchtenden Parameters eines pathologischen Merkmals als krank bezeichnet werden. Das zeigt, dass Krankheit keine relativ seltene Abweichung irgendeiner Norm, sondern ein ubiquitäres Phänomen ist".[11]
Gesundheit ist so gesehen nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern die Beherrschung und Kompensierung vorhandener Krankheitstendenzen. Für diese gesundheitswissenschaftliche Sicht bietet das Konzept der Wesensglieder und ihr differenziertes Zusammenwirken im dreigliedrigen Organismus das notwendige theoretische und praxisrelevante Instrumentarium. Hinzu kommt, dass das Wesensgliederkonzept bisher das einzige Konzept ist, das dem denkenden Begreifen den Leib-Seele-Geist-Zusammenhang voll erschließen kann und die These von der „Blackbox" begründet hinterfragt.
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Amelung, W. / Hildebrandt, G. (Hrsg.), Balneologie und medizinische Klimatologie, Berlin 1985.
[2] Gunther Hildebrandt, Physiologische Grundlagen der Hygiogenese, in: Peter Heusser (Hrsg.), Akademische Forschung in der anthroposophischen Medizin. Beispiel Hygiogenese: Natur- und geisteswissenschaftliche Zugänge zur Selbstheilungskraft des Menschen, Bern 1999.
[3] Rudolf Steiner, Von Seelenrätseln, GA 21.
[4] Johannes W. Rohen, Morphologie des menschlichen Organismus. Versuch einer goetheanischen Gestaltlehre des Menschen, Stuttgart 2000.
[5] Rudolf Steiner, Anthroposophische Grundlagen für ein erneuertes christlich-religiöses Wirken, GA 342, Dornach 1993.
[6] L. R. Groote, K. E. Rothschuh, Der Arzt im Angesicht von Leben, Krankheit und Tod, hrsg. von K. E. Rothschuh, Stuttgart 1961.
[7] Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft in: Lucifer - Gnosis. 1903-1908, Dornach 1987;
M. Glöckler, Gesundheit und Schule. Schulärztliche Tätigkeit an Waldorf- und Rudolf-Steiner- Schulen. Dornach 1998.
[8] Tobias Richter, Lehrplan, Stuttgart 2003.
[9] Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1987.
[10] Abraham Maslow, Motivation und Persönlichkeit, Hamburg 1981.
[11] Siehe Fußnote 9.
FORSCHUNG UND WEITERENTWICKLUNG IN DER ANTHROPOSOPHISCHEN MEDIZIN
In welche Richtungen wird in der Anthroposophischen Medizin geforscht?
Welche Möglichkeiten der Evaluation gibt es?
Forschung und Evaluation
Aufgrund ihres natur- und geisteswissenschaftlichen Menschenbildes hat die anthroposophisch-medizinische Forschung zwei Arbeitsrichtungen:
- Eine, die sich den derzeit vorgegebenen akademischen Standards anpasst und Unbedenklichkeit und Wirksamkeit anthroposophischer Arzneimittel untersucht.
- Und eine andere, die nach den geistigen Ursachen von Krankheit und den heilenden Möglichkeiten der Natur mit ihren Substanzen und Prozessen fragt.
- Zu jeder seriösen Forschung gehören auch effektive Möglichkeiten der Evaluation.
Anthroposophische Medizin ist nicht nur historisch jung, sondern auch in ständiger Weiterentwicklung begriffen. Ihre weltweiten Arbeitszusammenhänge in Forschung, Ausbildung und Praxis werden in der Medizinischen Sektion am Goetheanum in der Schweiz koordiniert.[1] Dort findet sich auch eine Übersicht über die aktuelle Literatur, die Forschungsinstitute und Kliniken.
· Ad 1. Studiendesigns für anthroposophische Arzneimittel
Gegenwärtig wird an Studiendesigns gearbeitet, die der Herkunft, Herstellung und Anwendung anthroposophischer Arzneimittel gerecht werden.
Dem Freiburger Arzt und Wissenschaftler Helmut Kiene ist die im Juli 2000 erschienene komplementäre Methodenlehre der klinischen Forschung zu verdanken, in der er eine Cognition-based Medicine der Evidence-based Medicine gegenüberstellt.[2] Diese Methodenlehre erstreckt sich auf folgende Evidenzbereiche:
- Wirksamkeitsnachweis
- Effektivitätsbeurteilung
- Therapievergleich
Im „Freiburger Institut für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Methodologie“ wird derzeit an den praktischen Konsequenzen für ein neues Studiendesign gearbeitet, das sich auf hohem akademischem Niveau auf die individuelle Einzelfallanalyse stützt. Der Arbeit des Instituts entstammt auch die im Jahre 2003 erschienene umfassende Monographie zur Mistel in der Onkologie.[3] Mit diesem Buch liegt erstmals ein Werk vor, das den Stand der Forschung in Bezug auf die Misteltherapie bei onkologischen Erkrankungen für Mediziner, Wissenschaftler und Allgemeininteressierte verfügbar macht. Es leistet damit einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion wichtiger medizinischer Grundsatzthemen, aber auch zum Dialog der Denkstile. Es ist ein Beispiel einer gelungenen Synthese von naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlichem Ansatz auf der Höhe der derzeit gültigen akademischen Standards.
· Ad 2. Grundlagenforschung zu Krankheit und Heilung
Die Grundlagenforschung befasst sich mit der Erarbeitung von Korrespondenzen zwischen
- der Wesensgliedertätigkeit im Menschen,
- der Krankheitssymptomatik,
- bestimmten Prozessen in der Natur
- und der Wirkung von Substanzen.
Es geht darum, Naturprozesse aufzufinden und zu beschreiben, die für den jeweiligen Krankheitsfall die Selbstheilung anregen, einseitigen Funktionen entgegenwirken oder zu schwache Funktionen unterstützen können. Je genauer das therapeutische Ziel aufgrund der Erforschung des evolutiven Zusammenhanges von Mensch und Natur festgelegt werden kann, umso sicherer tritt in der Regel auch die erwünschte Wirkung beim Patienten ein.
Der Arzneimittelschatz der heute verfügbaren Anthroposophika entstammt der Zusammenarbeit von Ärzten, Pharmazeuten und Herstellern. Seit vielen Jahren fassen Anthroposophische Ärztinnen und Ärzte ihre Erfahrungen und Erkenntnisse zum Einsatz der Anthroposophischen Arzneimittel in einem Vademecum zusammen, das Fachkreisen zugänglich ist und ständig erweitert wird. Ideen zur Heilmittelfindung entstehen jeweils anhand konkreter Fragestellungen zum Patienten bzw. zu seiner Krankheitssituation.
Da die Ausgangsstoffe für die Arzneimittelherstellung mit Bezug auf Sicherheit und Unbedenklichkeit in der Regel schon bekannt sind, ist präklinische Forschung im Sinne von In-vitro- oder Tierversuchen nicht nötig. Wenn neue, noch nicht monographierte Naturstoffe Verwendung finden, unterliegen sie selbstverständlich dem allgemein üblichen Prozedere zur Feststellung von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der entsprechenden Substanz.
Von einem anthroposophischen Arzneimittel wird erwartet, dass es körperliche oder seelische Beschwerden mildern oder verschwinden lassen bzw. eine Krankheit verzögern, heilen oder womöglich auch verhindern kann. Da sich diese Art der Heilmittelfindung und -anwendung in der Regel am individuellen Patienten orientiert, sind Forschungs- und Evaluationsmethoden erforderlich, die diesem Umstand Rechnung tragen können.
· Ad 3. Projekte zur Evaluation der Anthroposophischen Medizin
Im Berliner Forschungsinstitut am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe wurde mit einem Projekt zur Evaluation Anthroposophischer Medizin begonnen – dem EvaMed-Projekt. Ziel ist die Schaffung einer wissenschaftlich fundierten Datenbasis als Grundlage für den Nachweis zur Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Anthroposophika. Mittels informationstechnologisch gestützter Netzwerke wird Outcome- und Versorgungsforschung innerhalb der Anthroposophischen Medizin betrieben.
An der medizinischen Fakultät der Universität Witten-Herdecke wurde 2003 der Stiftungslehrstuhl für Medizintheorie und Komplementärmedizin unter Prof. Dr. Peter Matthiessen eingerichtet, zu dessen Aufgaben neben Forschung und Lehre auch die Implementierung eines Begleitstudienganges für Anthroposophische Medizin gehört.
In Bern/Schweiz wurde bereits 1994 die „Kollegiale Instanz für Komplementärmedizin“ (KIKOM) eingerichtet und der Schweizer Arzt Dr. med. Peter Heusser mit der Dozentur für Anthroposophische Medizin beauftragt.
Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012
[1] Siehe unter: www.medsektion-goetheanum.org
[2] Helmut Kiene, Komplementäre Methodenlehre der klinischen Forschung: Cognition-based Medicine, Heidelberg – Berlin 2001.
[3] Gunver S. Kienle/ Helmut Kiene, Mistel in der Onkologie: Fakten und konzeptionelle Grundlagen, Schattauer 2003.
AKTUALITÄT DER FORSCHUNGEN RUDOLF STEINERS
Welche von Rudolf Steiner vorausgesehenen Entwicklungen in der Medizin sind inzwischen Stand der Wissenschaft?
Von Steiner vorausgesehene medizinische Entwicklungen
In Bezug auf die Medizin kann man feststellen, dass viele Aussagen in Bezug auf zukünftige medizinische Entwicklungen und Ergebnisse, die Rudolf Steiner vorausgesehen hat, mit denen er ganz selbstverständlich umging, wenn er über Medizin sprach, heute zum Allgemeingut der Wissenschaft gehören. Ich möchte im Folgenden zu jeder Ebene der menschlichen Konstitution Beispiele nennen.
· Erbgut und Immunsystem – physische Ebene
Rudolf Steiner sprach vor Heilpädagogen, Lehrern, Ärzten davon, dass das sich inkarnierende Kind selbst mit der Auswahl von Vater und Mutter und dem damit verbundenen Erbgut zu tun hat, und dass die sich inkarnierende Individualität selbst daran beteiligt ist, das Erbgut möglichst so zu mischen, wie es zu ihrem Inkarnationswillen passt. Er sagte auch, dass die sogenannten Kinderkrankheiten und fieberhaften Infekte, die während der ersten 8 – 9 Lebensjahre normalerweise gehäuft auftreten, der Individualität die Möglichkeit geben, den ererbten Leib sukzessive umzugestalten und an die eigenen Bedürfnisse anzupassen.
Genau diese Zusammenhänge wurden in den letzten Jahren im Rahmen der Epigenetik erforscht. Kein wissenschaftlich gebildeter Mensch glaubt mehr, dass das Erbgut ein geschlossenes System ist, das eine Marschroute vorgibt. Das Erbgut ist ein offenes System, das durch individuelle spirituelle Arbeit beeinflusst werden kann.
Das führt heute zu völlig neuen Forschungsfragen auf dem Gebiet der „Mind-Body-Medicine“. Man erforscht dort die Wirkung von Medikation auf die neuronalen Verschaltungen, auf den Kreislauf usw. und merkt, dass die Medikation auch immunstimulierend wirkt, bzw. dass das Immunsystem dadurch verändert wird. Das Immunsystem wiederum ist das Schlüsselsystem, welches das Erbgut aktiviert und dafür sorgt, dass bestimmte Gene blockiert werden und nicht mehr funktionieren bzw. neue gezündet werden und anfangen zu funktionieren.
Wir brauchen beide Ansätze, wenn wir eine wirklich humane menschliche Medizin schaffen wollen: Die Naturwissenschaft allein reicht nicht. Erst ergänzt um Erkenntnisse aus der Geisteswissenschaft wird Medizin wirklich menschengerecht. Denn es dauert viel zu lange, wenn erst jahrelang Nachweise von der Schädlichkeit einer Maßnahme erbracht werden müssen, bevor diese verboten wird, wie es der naturwissenschaftlichen Methodik entspricht. Dann kommt das Gute immer zu spät.
Rudolf Steiners Forschungsmethode der Verifizierung
Die Geisteswissenschaft macht methodisch das Umgekehrte. Sie macht aufgrund tiefer gehender Einblicke und Kenntnisse der menschlichen Konstitution Angaben über zu erwartende Ergebnisse einer Maßnahme. Man ist als Arzt und Therapeut immer frei, sich für das, was man für das Richtige hält, zu entscheiden. Das bedeutet, dass man für gut und richtig erkannte Maßnahmen und Methoden anwendet, auf diesem Wege verifiziert und anschließend dokumentiert, wie der Gedanke zum Tun und letztlich zu einem guten Ergebnis führte, wobei auftauchende Probleme reflektiert werden. Man erklärt z.B. genau, warum man eine Hypothese etwas modifizierte, um das gewünschte gute Ergebnis zu erzielen.
Das war die von Rudolf Steiner praktizierte Forschungsmethode: Aus profunder Menschenkenntnis und physiologischem Verständnis heraus eine Hypothese zu bilden und anschließend in der Praxis zu verifizieren, ob der hypothetisch angenommene Erfolg tatsächlich eintritt.
Auf diesem Wege wurde in der anthroposophischen Medizin ein System für individuelle Einzelfalldokumentation auf hohem akademischem Niveau erarbeitet.[1] Es ist extrem viel Arbeit, diese Zusammenhänge so nachzuweisen, dass sie vor dem empirisch orientierten Denken der heutigen Zeit Bestand haben.
· Rhythmusforschung – ätherische Ebene
Ein ähnlich begeisterndes Feld ist die Rhythmusforschung auf der ätherischen Ebene. Rudolf Steiner wurde nicht müde zu sagen: „Rhythmus trägt Leben“.[2] Beachtet und pflegt die Rhythmen – im meditativen Leben, in der Pädagogik, in der Medizin – und bedenkt, wann man was wie machen sollte.
Jedes Wesensglied hat seinen eigenen Rhythmus:
- Die Ich-Organisation folgt dem 24-Stunden-Rhythmus
- der Astralleib dem Wochenrhythmus
- der Ätherleib dem Monatsrhythmus
- der physische Leib dem Jahresrhythmus
Wenn wir diese Rhythmen in unserem Lebensalltag beachten, verfügen wir über robuste Gesundheit – das ist heute alles durch die moderne Rhythmusforschung bestätigt.
· Bindungs- und Beziehungsforschung – astrale Ebene
Auf seelischem Gebiet ist die Bindungs- und Beziehungsforschung angesiedelt. Heute ist klar nachgewiesen, was Rudolf Steiner immer wieder im paracelsischen Sinne betonte: dass die einzig wahre Arznei die Liebe ist. Was in der Arzt-Patienten-Beziehung als professionelle Liebe, als Hingabe an den Patienten wirkt, entspricht der Liebesqualität, die auch Lehrer- und Schülerseelen verbindet. Die Frage Steiners – „Kinder, habt ihr eure Lehrer lieb?“ – war keine rhetorische Frage. Steiner scheute nicht davor zurück, ein Kind in die Parallelklasse zu schicken, wenn es seinen Lehrer nicht lieben konnte.
Das findet in der heutigen Bindungsforschung seine Bestätigung: Eine Beziehung wirkt gesundend,
- wenn sie ehrlich ist,
- wenn sie von liebvollem Interesse für den anderen geprägt ist,
- wenn sie von Respekt vor der Autonomie des anderen getragen ist.
Das sind die drei christlichen Grundwerte – Wahrheit, Liebe, Freiheit – von denen wir in der Esoterik nicht müde werden zu sprechen. Alle esoterischen Übungen dienen der Entwicklung dieser Art von Menschlichkeit: dass es wahrhaftiger, liebvoller, freilassender, respektvoller wird im sozialen Miteinander. Dass das gegenseitige Verstehen gefördert wird, das Erwachen aneinander, das zum Verständnis führt. Nichts anderes wird helfen angesichts der Not und des Elends auf der Welt.
· Traumatherapie – geistige Ebene
Auch auf geistigem Felde gibt es spannende Erkenntnisse. Es gibt heute sehr viele Verfahren, insbesondere auf dem Gebiet der Traumatherapie, die erkannt haben, dass ein schweres Trauma, ein schwerer Angriff auf Leib und Seele, nur als Initiation aufgefasst sinnstiftend verarbeitet werden kann. Es gibt keinen anderen Weg, der wirklich greift. Man kann gewisse Symptome zwar mit psychisch wirksamen Drogen dämpfen. Das ist aber keine Heilung.
Ein schweres Trauma zu verarbeiten, ist ein langwieriger Prozess. Der erste Schritt besteht darin, das Trauma als Schwellenerlebnis in Bezug auf die geistige Welt zu erkennen. In der Folge gilt es dieses Erlebnis fruchtbar zu machen, indem man die Kräfte durchschauen lernt, die einen bedrücken und sie als luziferische und ahrimanische Gewalten unterscheiden lernt. Das gelingt erst vollends, wenn man auch die guten menschlichen Kräfte aufzufinden vermag.
Ich möchte an dieser Stelle eine schlichte Herzmeditation vorlesen. In Rudolf Steiners Notizbuch stehen undatiert folgende Worte:
Ich denke an mein Herz.
Es belebet mich.
Es erwärmet mich.
Ich vertraue fest auf das ewige Selbst,
das in mir wirket,
das mich trägt.
Diese Tragekraft an der Schwelle zu erkennen, ist für die eigene Identitätsfindung unerlässlich: dass man in sich die Instanz aufspürt, die angesichts der Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit des Leibes, unvergänglich und unzerbrechlich ist und einen über alle Abgründe des Lebens hinwegträgt.
Der Initiationsweg ist für die anthroposophische Psychotherapie etwas Selbstverständliches. Wir können gar nicht über Entwicklung sprechen, wenn wir uns nicht auch mit all den Mühen auseinandersetzen, die der Entwicklung entgegenstehen. Deswegen fordert Rudolf Steiner in seinem Buch „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“ im 1. Kapitel,[3] dass wir zwei Bücher studieren: Wenn wir das ernst nehmen, dürften wir gar nicht weiterlesen, ohne diese beiden Bücher studiert zu haben. Das eine ist „Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?“,[4] das andere die „Geheimwissenschaft im Umriss“[5] – die Weltentwicklung und der Mensch. Ohne ein Wissen über die dort geschilderten Zusammenhänge und Entwicklungszyklen ist Anthroposophische Medizin nicht vollständig.
Wenn man also bei uns in die Werkstatt blickt, sieht es sehr tätig und sehr optimistisch aus.
Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012
[1] Im „Freiburger Institut für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Methodologie“ wird derzeit an den praktischen Konsequenzen für ein neues Studiendesign gearbeitet, das sich auf hohem akademischem Niveau auf die individuelle Einzelfallanalyse stützt. Diese Methode wird in dem Werk von Helmut Keine beschrieben, Komplementäre Methodenlehre der klinischen Forschung: Cognition-based Medicine, Heidelberg – Berlin 2001.
[2] https://www.drhauschka.de/kosmos/werte/im-rhythmus/
[3] Rudolf Steiner, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst. GA 27.
[4] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10.
[5] Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss. GA 13.
HEILSAMES ZUSAMMENSPIEL VON THERAPEUT UND PATIENT
Wie geht man mit leidenden Patienten angemessen um?
Wie muss die eigene Seelenstimmung sein, dass sie den anderen da abholt, wo er ist?
Welche Rolle spielt der Patient bei seiner Heilung?
Professioneller Umgang mit dem Leiden anderer
Dem Leiden eines anderen Menschen in der richtigen Haltung zu begegnen, erfordert Fingerspitzengefühl und Professionalität. Wenn jemand z.B. deprimiert ist, helfen Sie ihm nicht, wenn Sie sagen: „Mir ging es auch schon einmal schlecht oder jetzt tun wir Ihnen hiermit etwas Gutes – Sie werden schon sehen, dass Sie sich dann wieder besser fühlen.“ Ihm aus der eigenen Gesundheit heraus gut zuzureden ist laienhaft und wäre die falsche Herangehensweise. Das machen bereits die Nachbarn und Freunde – es wird endlos auf ihn eingeredet und am Ende geht es ihm nur noch schlechter.
Jemand, der deprimiert ist, muss dort abgeholt werden, wo er steht – das muss auch ein guter Psychotherapeut lernen. D.h. man muss den Betreffenden zunächst in seinem Leid bestätigen und Mitgefühl zeigen. Dann fühlt er sich ernst genommen und kann sich entspannen. Wenn jemand nicht reden will, wenn er nur ernst schaut, sollte man ruhig und sachlich mit ihm umgehen. Man darf schon ein feines Lächeln zeigen, aber kein provozierend aufmunterndes Verhalten an den Tag legen. Das wäre schon viel zu viel. Vor allem sollte man wach und präsent sein, sodass der andere spürt, man ist für ihn oder sie da. Das tut jedem gut.
Seele als Wahrnehmungsorgan für den anderen
Rudolf Steiner forderte in Bezug auf die Pflege – und eine therapeutische Anwendung ist auch eine pflegerische Maßnahme – dass die pflegenden Fachleute die Launen des Patienten studieren. Das bedeutet nun nicht, dass man sich über ihn erhebt und ihn nicht ernst nimmt, dass man sich als der große Analyst aufspielt und sein „schlechtes Benehmen“ verurteilt. Das ist alles nicht gemeint. Es geht vielmehr um ein hoch differenziertes, professionelles, seelisches Wahrnehmungsvermögen und um die Fähigkeit, sich so anzupassen an die Zustände eines anderen, dass man in der Lage ist, Seelenstimmung des Anderen in wahrzunehmen. Um das zu können, muss ich meine eigene Seele zum Wahrnehmungsorgan machen für den anderen – was ich nur kann, wenn ich die menschlichen Seelenzustände gut kenne.
In der Theosophie[1], einem sehr empfehlenswerten Buch für Anfänger in der Anthroposophie, sagt Rudolf Steiner, man könne lernen, seine Sympathien und Antipathien zu einem Wahrnehmungsorgan umzubilden für die Seelenstimmungen eines anderen Menschen. Wenn mir also ein Verhalten unsympathisch ist und ich Antipathie empfinde, erfahre ich dadurch ganz objektiv etwas über mich und den anderen. Antipathie ist nicht zum Ärgern da – sie soll der Wahrnehmung und dem Erkennen dienen. Das Gleiche gilt für die Sympathie.
Entwicklungsgedanke macht Mut
Als ich noch Medizinstudentin war, kurz vor meiner Promotion, machte ich ein Praktikum auf einer Rheumastation. Ich hatte dort mit einer älteren Frau zu tun, Mitte 60, um die ich mich als junge, unerfahrene Medizinerin enorm bemüht hatte, so wie man das als junger Mensch macht. Ich habe die Frau noch heute vor mir – denn die ersten Patienten vergisst man sein Leben lang nicht. Sie sagte plötzlich: „Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie sich mit mir solche Mühe geben. Das lohnt sich doch alles gar nicht mehr.“ Ich erschrak und wusste in dem Moment nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Diesen Schreck hat sie natürlich auch wahrgenommen. Ich konnte nur sagen: „Sie machen mich sprachlos. Ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll.“ Nach einer Weile fielen mir ein paar wichtige anthroposophische Argumente ein: dass jeder Tag in der Entwicklung zählt und dass doch auch ein gesunder Mensch nicht weiß, ob er am nächsten Tag noch lebt oder einen Autounfall erleidet usw.
Lebensmüdigkeit ist ein Zeichen dafür, dass jemand den Entwicklungsgedanken noch nicht kennenlernen durfte, dass ihm dieses kostbarste Geheimnis noch verschlossen ist. Dann sollte man sich Zeit nehmen, egal welches Alter der Betreffende hat, und ihm oder ihr den Entwicklungsgedanken nahebringen. Die schönsten Gelegenheiten dazu ergeben sich noch kurz vor dem Tod. Ein tiefes Verständnis für Entwicklung kann dazu beitragen, dass jemand mit dem festen Willen über die Schwelle geht, es im nächsten Leben von vornherein anders anzugehen, die Zeit für Entwicklung zu nützen, aus dem Wissen heraus, wozu sie dient und wohin die Reise geht.
Ganzheitlicher Blick auf den Menschen
Therapeutische Anwendungen wirken völlig anders, wenn ein Patient aktiv mitarbeitet, wenn er das Gefühl hat, dass jeder Tag zählt und sich die Qualität seines restlichen Lebens dadurch verbessern kann und er in der Zeit, die ihm bleibt, vielleicht doch noch das eine oder andere tun, denken oder erleben kann.
Denn auch bei der sogenannten Physiotherapie, bei der es primär um den physischen Leib zu gehen scheint, darf man die anderen Ebenen und Aspekte nicht vergessen bzw. außer Acht lassen. Auch sie beeinflussen das Körpergeschehen:
- die Lebenskräfte
- die seelische Integrität
- die geistige Identität
- das Entwicklungspotential
Das Wichtigste ist der letzte Aspekt: den Menschen als in Entwicklung begriffenes Wesen zu sehen, das an die Vergangenheit angeschlossen und auf die Zukunft hin ausgerichtet ist.
Ohne das Wissen des Therapeuten um diese Ganzheit können Anwendungen nicht wirklich gut wirken. Andererseits können sie eine enorme Verstärkung erfahren, wenn der Therapeut die anthroposophische Seelenkunde kennt und auch die Bereitschaft aufbringt, sich selbst auf professionelle Weise seelisch und geistig weiterzuentwickeln. Dann wird sich der ganzheitliche Blick auf den Menschen dem Patienten atmosphärisch mitteilen und die Heilung begünstigen.
Vgl. Vortrag anlässlich des Jubiläums des 100. Geburtstags von Werner Junge, Okt. 2012
[1] Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.
DIE FÜNF EBENEN DES MENSCHSEINS IM MEDIZINISCHEN SYSTEM
Welche Ebenen des Menschseins gibt es?
Welches medizinische System setzt auf welcher Ebene an?
Verschiedene medizinische Systeme
Wir Menschen sind komplexe Wesen, die auf unterschiedlichen Ebenen angesprochen werden können. Jedes medizinische System setzt auf einer oder mehreren dieser Ebenen an. Im Folgenden möchte ich die einzelnen Systeme kurz umreißen:
Die Homöopathie ist eine alternativmedizinische Behandlungsmethode, die auf den ab 1796 veröffentlichten Vorstellungen des deutschen Arztes Samuel Hahnemann beruht. Die wichtigste Grundannahme ist das Ähnlichkeitsprinzip: „Ähnliches möge durch Ähnliches geheilt werden“ (similia similibus curentur). Danach solle ein homöopathisches Arzneimittel so ausgewählt werden, dass die Inhaltsstoffe der Grundsubstanz unverdünnt an Gesunden ähnliche Krankheitserscheinungen (Symptome) hervorrufen könnten wie die, an denen der Kranke leidet, wobei auch der „gemüthliche und geistige Charakter“ des Patienten berücksichtigt werden solle (vgl. wikipedia).
Unter Spagyrik (aus dem Griechischen spao „(heraus)ziehen, trennen“ und ageiro „vereinigen, zusammenführen“) werden verschiedene Heilsysteme zusammengefasst. Das therapeutische Ziel ist die positive Beeinflussung der „Lebenskraft“ und damit die Aktivierung der Selbstheilungskräfte. Grundlage bilden die antike Naturphilosophie (z.B. die „Elementenlehre“), die Signaturenlehre und die Humoralpathologie.
Mit Psychosomatik wird in der Medizin die Betrachtungsweise und Lehre bezeichnet, in der die psychischen Fähigkeiten und Reaktionsweisen von Menschen in Gesundheit und Krankheit in ihrer Eigenart und Verflechtung mit körperlichen Vorgängen und sozialen Lebensbedingungen in Betracht gezogen werden. Ihre Erforschung und Umsetzung in der Krankenbehandlung erfolgt in der Psychosomatischen Medizin (vgl. wikipedia).
Psychotherapie wurde früher die Lehre von der Heilung der erkrankten Seele genannt, um sie von einer Psychologie als Lehre von der gesunden Seele und einer Psychiatrie als Lehre von der erkrankten Seele abzugrenzen. Heute wird die psychotherapeutische Behandlung bzw. Heilung im Zusammenhang mit Körper und Seele eines ganzheitlich gesehenen Menschen verstanden und erklärt. Davon zu unterscheiden ist die beratende Psychologie, die sich mit allgemeinen Problemen der Lebensführung befasst (vgl. wikipedia).
Mit Körpertherapie werden Behandlungsmethoden zur Verbesserung von Körperhaltung, Bewegungsabläufen sowie zur direkten oder indirekten Unterstützung von Körperfunktionen bezeichnet. Je nach Methode werden spezielle manuelle Techniken, Massagearten, Bäder bzw. Anleitungen zur Schulung von Haltungen und Bewegungen angewendet. Fast alle Körpertherapiemethoden betonen die Bedeutung psychosomatischer Wechselwirkungen und gehen davon aus, dass die Körpertherapie positive psychische Veränderungen bewirkt (vgl. wikipedia).
Integrativer Ansatz der Anthroposophischen Medizin
Die Anthroposophische Medizin versucht alle gemeinsam in den Blick zu nehmen:
- Physische Eben
- Ätherische Ebene
- Astrale Ebene
- Identitäts-, Ich-Organisations-Ebene
- Geistige Orientierung, Weltanschauung
1. Physische Ebene und Medizin
Die Schulmedizin baut ganz auf der Erkenntnis des Physischen auf. Kliniken werden entsprechend zunehmend zu Technik-Zentren. Dass der Mensch sich dabei oft nicht menschlich behandelt fühlt, zeigt deutlich, dass das nicht genügt.
2. Ätherische Ebene und Medizin
In Homöopathie und Spagyrik z.B. weiß man, dass alles Leben prozessual verläuft, dass alle Substanzen aus Prozessen hervorgehen und dass alle Wirksamkeit zeitabhängig ist, im Guten wie im Schlechten. Daraus ergeben sich viele weitere Therapieverfahren, die prozessorientiert sind, sich auch mit den Lebensgewohnheiten und -rhythmen befassen und mit dem Geheimnis von Entwicklung im therapeutischen Prozess arbeiten. Wenn man lernt sein Leben den Ätherkräften oder Lebenskräften gemäß zu gestalten, wird sich das gesundend auswirken.
3. Astrale Ebene und Medizin
Auf der Gefühlsebene geht es um unsere ungemein verwundbare Seele mit ihrer Gefühlswelt, deren Wirkung auf den Körper nicht unterschätzt werden darf. Hier setzen die Psychosomatik, alle Psychotherapieverfahren sowie auch diverse Körpertherapien an. Die Anthroposophische Medizin stellt sich die zentrale Frage:
Wie können wir einen Kranken, der leidet, so begleiten, dass er sich trotzdem als Teil einer wohlwollenden Schöpfung und damit als ein wichtiger Teil des Ganzen fühlt?
Manchmal ist das Gefühlsleben so erstarrt und verkapselt, dass man es nicht mehr über Worte oder über ein Medikament erreichen kann. Wenn man so jemandem dann ein warmes Bad bereitet – wobei es auf genau die richtige Temperatur ankommt – und dieses Bad Düfte verströmt, die der Betreffende noch nie so richtig wahrgenommen hat, können der starke Wärmereiz, der Duft, die menschliche Nähe dazu führen, dass sich dieser Mensch im eigenen Körper wieder wohl und angenommen fühlt. Das ist nicht zu unterschätzen. Auch die Umgebung, in der das Bad stattfindet, ist entscheidend: Ob es dort nur öde, kalte Fliesen gibt oder ob die Wände angenehme Farben haben, ob dort ein Bild hängt usw. Man kann auch in der Sterbebegleitung Bäder miteinbeziehen.
4. Identität und Medizin
Das gilt auch für das Identitätserleben: Es hängt von der Art der Ansprache und Ausrichtung der Therapie auf die Bedürfnisse eines Patienten ab, ob er sich als Mensch, als Individualität, wahrgenommen fühlt.
5. Weltanschauung und Medizin
Essentiell für die Gesundung ist aber auch eine geistige Ausrichtung bzw. Lebensanschauung, die die Möglichkeit der Entwicklung impliziert. Viele Weltanschauungen heute sind so, dass sie von einem perfekten Selbstbild ausgehen, also von einem fertigen Ergebnis: Man will rasch mit der Ausbildung fertig sein, damit man mit möglichst wenig Aufwand viel Geld verdienen und daneben noch Spaß am Leben haben kann.
Eine menschengemäße Weltanschauung dagegen impliziert, dass man sich auf allen Ebenen, egal ob beruflich oder privat, nach demselben Entwicklungsziel ausrichtet. Die Arbeitszeit wird genauso als Entwicklungszeit gesehen wie die private Zeit: Alles ist Lebenszeit, ist Entwicklungszeit, bildet zusammen die eigene Biographie. Um das so sehen und wertschätzen zu können, braucht man eine entwicklungsorientierte Weltanschauung, die einem hilft, die unterschiedlichen Bereiche und Aspekte so zu verbinden, dass man jeden Augenblick zur Entwicklung nützt.
Vgl. Vortrag anlässlich des Jubiläums des 100. Geburtstags von Werner Junge, Okt. 2012
FÜNF QUELLEN FÜR KRÄNKUNG UND HEILUNG
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen kränkenden und heilenden Einflüssen?
Wie Kränkung und Heilung zusammenhängen
Ich möchte als Ärztin den Zusammenhang zwischen heilenden, therapeutischen Impulsen und Krankheitsimpulsen erläutern – sie stammen beide aus denselben fünf Quellen, die uns unser Leben lang beeinflussen.
1. Quelle auf dem physischen Plan – Karma-Impuls
Dazu gehört alles, was uns Menschen auf dem physischen Plan begegnet und zustößt: Unendlich viel Kränkendes wirkt von Kind an von außen aus der Umwelt auf uns ein, nicht nur in ökologischer, sondern auch in beruflicher und privater Hinsicht, was oft besonders quälend ist. Das heißt, aus der uns umgebenden Umwelt treffen uns unser Leben lang zahlreiche negative Attacken.
Man kann jedoch durch eine bewusste Gestaltung der schicksalhaften äußeren Umstände, z.B. indem man gut überlegt, wie, wann und wo man sich auf Begegnungen einlässt, Kränkungen minimieren. Und man kann Kräfte im Inneren aufrufen, um mit solchen Kränkungen von außen besser zurechtzukommen.
2. Quelle auf dem ätherischen Plan – Gralsimpuls
Auf dieser Ebene können Gewohnheiten kränkend wirken sowie alles Hässliche, das uns über die Sinne und über unser Denken begegnet, alles, was mit Rhythmen zu tun hat, denen wir folgen oder nicht folgen. Dazu gehören auch unsere Charaktereigenschaften, denen wir mehr oder weniger ausgeliefert sind, mit denen wir mehr oder weniger ringen. Dazu gehört aber auch alles, was die Zeitgestalt unserer Biografie ausmacht: der Tagesablauf, die zeitliche Gestaltung der Woche, des Monats und des Jahres.
Wenn wir unser Leben den Ätherkräften oder Lebenskräften gemäß gestalten lernen, wird sich das gesundend auf uns auswirken, dann kann aus dieser Quelle Gesundheit geschöpft werden.
3. Quelle auf dem astralen Plan – Sophia-Impuls
Hier sind seelische Beziehungen oft die Ursache für Kränkungen, besonders wenn sie sich auf der Gefühlsebene abspielen. Gefühle sind laut Rudolf Steiner Vorboten von Gesundungs- bzw. Kränkungstendenzen. Zu den Jungmedizinern[1] sagte er, der Arzt der Zukunft wäre in der Lage, den Gesundheitszustand seiner Patienten durch eine feine Beobachtung ihres Gefühlslebens zu diagnostizieren. Er würde ihre Gefühle anschauen und Gesundheits- und Krankheitsdispositionen benennen können.
Jeder Mensch weiß aus der Beobachtung seiner selbst und anderer, dass er krankheitsgefährdet ist, wenn er Mühe hat, seine Gefühle so auszubalancieren, wie er es normalerweise vermag. Wenn Kinder schlecht gelaunt sind, ist das für die Mutter meist ein deutliches Zeichen, dass sie etwas „ausbrüten“.
Schwierige Gefühlskontrolle
Wenn man anfängt sich zu schulen, z.B. indem man mit „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“[2] zu arbeiten beginnt, merkt man, wie ungehobelt und unerzogen das eigene Gefühlsleben noch ist. Mit dem Denken und dem Wollen zu arbeiten, ist relativ leicht. Das Gefühlsleben ist am schwersten zugänglich, weswegen bei den Nebenübungen die Gefühle erst an dritter Stelle genannt werden: Zuerst wird die Gedankenkontrolle geübt, dann die Willens- und Handlungskontrolle und erst als Drittes, Letztes, Schwierigstes im Seelenleben die Gefühlskontrolle. Man muss im Denken und Wollen quasi bereits Tritt gefasst haben, bevor man sich an diese sensible Mitte wagt.
4. Quelle auf der Ich-Ebene – Michael-Impuls
Mit der Ebene des Wortes sind wir beim Kern, beim Ich-Impuls, dem Michael-Impuls, angelangt. Man hat den Eindruck, diese Inspirationsquelle für Gesundheit und Krankheit war Rudolf Steiner besonders nahe. Sie betrifft ja die Ich-Ebene, auf der wir uns alle selbst am nächsten sind.
Wie wirkt das Ich nun kränkend?
Wie kann es heilend wirken?
Paracelsus[3] nennt das Ich den „Indwendig-Arzt“. Für Albert Steffen[4] war offensichtlich: Das niedere Selbst kränkt, das Höhere Selbst heilt. So versuchte er auch in seinen Dramen das Niederste, aus dem heraus seine Figuren handelten und Verbrechen begingen, immer wieder in Zwiesprache zu bringen mit dem Hohen, dessen verzerrtes Abbild das Niedere ist, sodass die tiefe Selbstkränkung, wenn die niedere Natur siegt, durch das heilsame Einwirken des höheren Menschen ausgeglichen werden konnte.
5. Quelle auf dem menschheitlichen Plan – Christusimpuls
Die fünfte Quelle der Kränkung, die menschheitliche Situation im Sozialen, in der wir uns heute alle befinden, hat mit den rasanten Veränderungen der heutigen Zeit zu tun. Wenn man Menschen fragt, was sie am meisten kränkt oder womit sie am wenigsten zurechtkommen, sagen die meisten der durchschnittlichen und normal gesunden Menschen, dass sie an den immer schwerer zu durchschauenden menschheitlichen Krisen, Konflikten und Problemen der heutigen Zeit leiden. Das zu kompensieren, in alledem froh und lebensbejahend zu bleiben, sich angesichts dieser schwierigen Zeitverhältnisse aufrecht zu halten, macht dem Menschen heute viel mehr Mühe, als persönliche Probleme zu kompensieren.
Diese fünfte Krankheitsquelle kann nur durch eine menschheitlich weitblickende Perspektive zur Gesundheitsquelle verwandelt werden. Denn man läuft Gefahr am Augenblick zu verzweifeln, wenn man Krisen und Konflikte nicht in einem viel größeren Zusammenhang sehen kann.
Vgl. Vortrag „Das Therapeutische in der Dichtung von Albert Steffen“ anlässlich der Steffen-Ausstellung am Goetheanum, Neujahr 2010
[1] Rudolf Steiner, Jungmedizinerkurs, GA 316.
[2] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.
[3] Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim, getauft als Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, (* vermutlich 1493 in Egg, Kanton Schwyz; † 24. September 1541 in Salzburg) war ein Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker, Laientheologe und Philosoph. Paracelsus hinterließ zahlreiche deutschsprachige Aufzeichnungen und Bücher medizinischen, astrologischen, philosophischen und theologischen Inhalts, die größtenteils erst nach seinem Tod gedruckt wurden. (wikipedia)
[4] Albert Steffen (* 10. Dezember 1884 in Wynau; † 13. Juli 1963 in Dornach) war ein Schweizer Schriftsteller und Anthroposoph. Nach dem Tode Rudolf Steiners war Steffen ab 1925 dessen Nachfolger als Vorsitzender der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. (wikipedia)
FÖRDERUNG VON PATIENTENKOMPETENZ
Was ist unter Patientenkompetenz zu verstehen?
Welche Rolle spielt der Patient im Gesundheitssystem?
Was sind seine Möglichkeiten, ja Aufgaben in Bezug auf die nötigen Reformen des Gesundheitswesens?
Notwendige Demokratisierung des Gesundheitswesens
Bereits 1920 hat Rudolf Steiner in einem seiner öffentlichen Vorträge die „Demokratisierung des Gesundheitswesens“ gefordert.[1] Ärzte, Apotheker, Hersteller und Verbraucher seien herausgefordert, gemeinsam und in Partnerschaft mit den Patienten bzw. Bürgern Mitverantwortung für die Gestaltung des Gesundheitswesens zu übernehmen.
Dieser Zielsetzung fühlt sich die Anthroposophische Medizin bis heute verpflichtet. So werden der Gesundheitsaufklärung und Prävention, aber auch der Hilfestellung für eine vertretbare Selbstmedikation viel Aufmerksamkeit geschenkt.[2]
Hinzu kommt ein großes Engagement für eine gesundheitsfördernde Erziehung und Umgebungsgestaltung einschließlich gesunder Ernährung und nachhaltiger biologischer und biologisch-dynamischer Landwirtschaft.
Mündiger Patient als Regulator
Die inzwischen chronisch gewordene Diskussion um die Reform des Gesundheitswesens zeigt zudem deutlich, dass selbst die besten Ideen für eine Neustrukturierung des Gesundheitswesens zu keiner befriedigenden Kostenregulierung führen können, wenn sich nicht der mündige Patient mit als Regulator empfindet.
Es gehört heute zur Patientenkompetenz, sich selbst auch Gedanken zur Gesundheitsvorsorge sowie zu bestimmten diagnostischen und therapeutischen Verfahren zu machen und letztlich zu bestimmen, was geschehen soll. Auch ist schon lange evident, in welch hohem Maß der Patient de facto für seine Gesundheit Verantwortung trägt. Spätestens anlässlich einer Operation wird ihm bewusst, dass der Arzt zwar über die damit verbundenen Risiken aufklärt und sein Bestes tut, er selbst jedoch mit den Risiken und Folgen zu leben hat und folglich Entscheidungsträger sein muss. Es ist keine Frage, dass medizinische Grundkenntnisse heute zur notwendigen Allgemeinbildung gehören und das menschliche Selbstverständnis in Gesundheit und Krankheit mitprägen. Apotheker und Ärzte werden daher zunehmend in ihrer Lehr- und Berufskompetenz gefordert, um die erforderliche Hilfe zur Selbsthilfe leisten zu können.
Vgl. Artikel in der Deutschen Apothekerzeitung DAZ Nr. 39, 2015
[1] Rudolf Steiner, Die Hygiene als soziale Frage, in: Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft, GA 314. Dornach 1989, S. 221-261.
[2] M. Glöckler, B. Emde, Anthroposophische Medizin, in: Komplementärmedizin für die Kitteltasche. Beratungsempfehlungen für die Selbstmedikation, Stuttgart 2009 und ders.: Anthroposophische Medizin, In: Komplementärmedizin für Kinder. Beratungsempfehlungen für die Selbstmedikation, Stuttgart 2012.
ANTHROPOSOPHISCHE PSYCHOTHERAPIE
Was ist das Besondere an der anthroposophisch inspirierten Psychotherapie?
Welches Licht wirft der Karma-Gedanke auf seelisch-geistige Probleme?
Lektüre zur anthroposophischen Psychotherapie
Im Hinblick auf diese Schicksalsdramatik des Menschseins sind die Mysteriendramen[1] von Rudolf Steiner ein ganz zentrales Werk. Wenn mich Biografiearbeiter, Psychologen und Ärzte, die sich für Seelenkunde interessieren, fragen: „Wie kann man sich in das Gebiet des Seelischen aus Sicht der Anthroposophie einarbeiten?“, empfehle ich gerne die pädagogischen Vorträge von Rudolf Steiner über die drei Jahrsiebte,[2] aber auch das Studium von „Grundlegendes…“[3], begleitet von der Lektüre der Karmavorträge.[4] Diese Werke sind das Fundament einer vom Schicksalsgedanken inspirierten anthroposophischen Psychotherapie.
Ich möchte im Folgenden in aller Kürze ein paar Gesetze nennen, wie sie uns Rudolf Steiner aus seiner Forschung mitgeteilt hat – zum Überprüfen, zum Umgang damit, zum Überlegen, ob sie hilfreich sind für Ihre Arbeit. Wir können diese Forschungsergebnisse z.B. auch als Arbeitshypothese nehmen bei unserem täglichen Tun. Wenn sie sich als fruchtbar erweisen, können Sie diesen Weg weiterverfolgen, wenn nicht, greifen Sie zu anderen Werkzeugen.
Karmische Ursache für seelische Erkrankungen
Auf die Frage, worin die Ursache für seelische Erkrankungen läge, antwortete Rudolf Steiner in den „Offenbarungen des Karma“[5] und in der „Akasha-Chronik“[6]: „Die Ursache für seelische Erkrankungen liegt in einem mangelnden Interesse am anderen Menschen in einem früheren Erdenleben“.
Hier geht es nicht darum, durch welche Faktoren es zu diesem mangelnden Interesse kam, es ist rein phänomenal betrachtet, hat mit Schuld und Unschuld nichts zu tun. Fakt ist demnach: Ein Mensch, der in seinem Erdendasein kein warmes Interesse für andere Menschen entwickeln konnte – und sei es nur für einen Menschen – dem fehlt im nachtodlichen Leben, wenn das Menscheninnere, das Seelische, Außenwelt wird, die Orientierung. Er ist dann nicht in der Lage, sich an diesem neuen Äußeren so zu orientieren, dass er sich einen neuen Körper aufbauen kann, der beim Heranwachsen ein gesundes Seelenleben ermöglicht, wenn die Wesensgliederkräfte frei werden. Das möchte ich im Folgenden kurz näher erläutern.
Die Wesensglieder und ihre leibgebundenen und leibfreien Kompetenzen
- Zum Physischen Leib gehört unser physischer Körper, die Sinnesorgane und die daraus resultierende Gnade der Wahrnehmung.
- Zum Ätherleib gehören die unbewussten leibgebundenen Lebens- Wachstums- und Regenerationsprozesse und das leibfreie Denkvermögen.
- Zum Astralleib gehören die leiblichen Differenzierungsprozesse, die Bewegungskompetenz und das Fühlen als leibfreie seelisch regsame Kompetenz.
- Zur Ich-Organisation gehören die leiblichen Integrationsprozesse, die Erlangung der richtigen Proportionen beim körperlichen Wachstum und die leibfreie Fähigkeit in Ganzheiten zu denken.
Das Kind gewinnt im 1. Jahrsiebt mithilfe der ätherischen Wachstumskräfte bis zum Zahnwechsel an Größe. Die Kräfte, die ihre Arbeit getan haben, werden sukzessive leibfrei und stehen zunehmend dem DENKEN zur Verfügung. Das Freiwerden der ätherischen Kräfte aus dem Körper kulminiert in der Schulreife. Dieser Höhepunkt wird auch Geburt des Ätherleibes genannt.
Im 2. Jahrsiebt reifen zusätzlich die seelischen Kompetenzen heran, indem die astralen Kräfte zuerst den Leib durchdifferenzieren und, wenn sie ihre Arbeit getan haben, sukzessive leibfrei werden und das FÜHLEN ermöglichen. Die Kulmination des Freiwerdens der astralen Kräfte aus dem Körper zur Geschlechtsreife wird auch Geburt des Astralleibes genannt.
Im 3. Jahrsiebt reifen die geistigen Kompetenzen heran, indem die Integrations-Kräfte der Ich-Organisation den heranwachsenden Körper in eine stimmige Ganzheit verwandeln und anschließend als WOLLEN zur Verfügung stehen. Wenn der Jugendliche ausgewachsen ist, kulminiert dieser Prozess in der Mündigkeit bzw. selbstverantwortlicher Handlungsfähigkeit und wird auch Geburt des Ich genannt.
Entsprechung von Lebensprozess und seelisch-geistiger Kompetenz
Alle leibfreien Kompetenzen sind verwandelte Lebenstätigkeit des Organismus: So wie wir dank der unbewussten Lebenskräfte die Nahrung zerkleinern und aufspalten (= analytisch) und anschließend zu menschlicher Substanz zusammensetzen (= synthetisch) – dieser Prozess wird Stoffwechsel genannt – so denken wir entsprechend mit den leibfrei gewordenen bewussten Ätherkräften auch analytisch und synthetisch. Das ist nur ein Beispiel für die Entsprechung von leibgebundener Lebenskraft und leibfreier Kompetenz im Denken, Fühlen und Wollen. Man kann sagen:
- Denken ist metamorphosierte leibfreie Wachstumskraft (Ätherleib).
- Fühlen ist metamorphosierte leibfreie Astralität (Astralleib).
- Wollen ist leibfreie zur Verfügung stehende Ich-Tätigkeit.
Mit dem bisher Gesagten, wollte ich den innigen Zusammenhang zwischen leiblicher Konstitution und seelisch-geistiger Disposition deutlich machen.
Das heißt, es hängt von der Qualität der Organe und dem Ablauf der leiblichen Prozesse ab, ob die daraus hervorgegangenen seelischen Kräfte sich frei handhaben lassen oder ob sie den Menschen überfluten, attackieren und bezwingen – was sich dann als psychisches Störungsbild zeigen kann. Ist Letzteres der Fall, bedeutet das, dass die Ich-Kompetenz, die in das Erdeninstrument des Leibes hereinleuchten und sich ihm über die Ich-Organisation mitteilen möchte, sich an den Organen nicht richtig zu spiegeln vermag und sich auch nicht im Seelischen beheimaten kann, weil die aus dem Leib hervorgegangene Seelenkonfiguration es nicht oder nur eingeschränkt zulässt. Die Qualität des seelischen Erlebens hängt also immer auch von Art und Qualität der Leibbildung ab.
Ringen mit Schwäche bringt zukünftige Stärke
Dazu ein Beispiel: Möglicherweise leidet man darunter, dass man seelisch nicht richtig in Beziehung kommen kann zu anderen Menschen. Man erlebt sich als in sich selbst gefangen – was laut Rudolf Steiner als karmische Ursache das fehlende Interesse an anderen hat.
Diesem großen Schmerz folgt jedoch im Nachtodlichen die große Befreiung, weil man so sehr mit den Beziehungen und mit sich selbst gerungen hat, dass man für die kommende Inkarnation ein besonders geeignetes Erdeninstrument bilden kann.
Mit anderen Worten: Wenn wir interessiert und ehrlich miteinander umgehen, bauen wir damit gesunde Seelenkräfte für das nächste Leben auf. Unser Bemühen ist nicht nur für dieses Leben wichtig und gut und erleichtert uns das Leben und die Arbeit. Das Interesse an anderen Menschen und am sozialen Miteinander ist zugleich die Vorbereitung für eine besonders gesunde und starke Seele im nächsten Leben.
Vgl. Vortrag an der Jahreskonferenz der Med. Sekt. am Goetheanum zum Thema Anthroposophische Psychiatrie, Dornach 2012
[1] Rudolf Steiner, Vier Mysteriendramen, 1910-13, GA 14.
[2] Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft, in: Luzifer-Gnosis. GA 34. Dornach 1987.
[3] Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
[4] Rudolf Steiner, Die Offenbarungen des Karma, GA 120.
[5] Ebenda.
[6] Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik, GA 11.
FRAGEN ZUM THEMA ANTHROPOSOPHISCHE MEDIZIN
FRAGE: Wie ist es, wenn man in Asien über Anthroposophische Medizin spricht?
ANTWORT: In Asien ist Spiritualität in der Medizin viel selbstverständlicher als in Europa.
Dazu ein konkretes Beispiel: In Indien praktiziert man Ayurveda. Wenn man dort das Anthroposophische Menschenbild erklärt, erkennt man, dass es 1:1 dasselbe ist wie das Ayurvedische. Der einzige Unterschied besteht darin, dass das ayurvedische Menschenbild und Gesundheitsverständnis in Worten und Begriffen dargestellt sind, die es nicht erlauben, eine direkte Verständnisbrücke zur naturwissenschaftlichen Medizin zu bauen. Das aber kann die Terminologie der Anthroposophischen Medizin leisten. Daher interessieren sich die Kursteilnehmer für die Anthroposophische Medizin, weil sie dadurch ihr eigenes System besser verstehen.
So ging es auch einer Freundin von mir – sie ist Inderin –, die durch die Anthroposophische Medizin ihre Hindu-Spiritualität neu entdeckte.
Wir begleiten z.B. Kollegen, die Ayurveda-Ärzte bleiben wollen, indem wir sagen: Ihr könnt anthroposophischer Ayurveda-Arzt werden. Und so haben wir dort schon anthroposophische Homöopathen zertifiziert, anthroposophische Ayurveda-Ärzte sind in Ausbildung und Schulmediziner können „normale“ anthroposophische Ärzte werden.
FRAGE: Mich interessiert, wie man die Anthroposophie, die ja stark mit dem Christentum zusammenhängt, mit anderen Religionen verbinden kann.
ANTWORT: Das Wesentliche am Christentum ist das rein Menschliche, von dem man in jeder Kultur sprechen kann. Für den Buddhistischen Kulturkreis wird es von Buddha verkörpert, der im Herzen und in der Aura lebt, in der Gerechtigkeit, in der Wahrheit, in der Liebe, in all den Werten, deren Pflege Menschlichkeit fördern. Nur ein Wert findet sich bevorzugt und eigentlich nur im Christentum und wird dort konsequent berücksichtigt: Wert und Würde der menschlichen Freiheit, so wie sie bei Johannes im 8. Kap. veranlagt ist: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“.[1] Da der Christus aber von sich selber sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“, ist klar, dass er nicht die Freiheit verkörpert, aber uns zu freien Wesen machen möchte, zu seinen Freunden – „denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut“.[2] Da die Anthroposophie auf dem Weg der „Philosophie der Freiheit“[3] von Steiner beruht, geht es bei allem um diesen zentralen christlichen Wert, auch wenn man den Namen des Christus nur nennt, wenn es passt oder gefragt ist.
FRAGE: Sie hatten von dem Paradigmenwechsel vom pathogenetischen Krankheitsbild zum integrativ-salutogenetischen gesprochen und gemeint, dass das gut machbar wäre. Ich wollte Sie bitten, noch näher darauf einzugehen, weil wir uns auch im Rahmen des Studiums sehr viele Gedanken dazu machen und uns fragen, wie es gerade in der konkreten Umsetzung in einem normalen Krankenhaus möglich wäre, so einen Paradigmenwechsel vorzuleben.
ANTWORT: Das ist in der Praxis zugegebenermaßen sehr schwer. Deswegen braucht es Netzwerke von vielen Medizinern, die sich gegenseitig immer wieder motivieren, Mut zusprechen, Tricks verraten, was man tatsächlich machen kann.
Meiner Erfahrung nach gibt es zwei Felder, bei denen man unmittelbar ansetzen kann, auch im kommunalen Krankenhaus: Man kann präventiv-medizinisch beraten, bei der Erziehung und Selbsterziehung ansetzen. - Wir Ärzte müssen uns schon deshalb intensiv mit Pädagogik auseinandersetzen, weil fast alle Eltern Fragen zu diesem Thema haben. Da kann man viel tun. Dazu gehören auch Selbsterziehung und Meditation und alle Themen, die innere Entwicklungsarbeit betreffen. Auch hier kann man sofort ansetzen. Beides wirkt bereits in hohem Maße salutogenetisch und hilft, ein anderes Verständnis von Krankheit und Gesundheit zu bekommen.
Außerdem kann man schulmedizinische Präparate viel sorgfältiger indizieren als üblich – das Einverständnis des Patienten vorausgesetzt. Nicht aus Sicherheitsgründen bei jeder Krankheit „Gürtel und Hosenträger“ zum Einsatz bringen, bildlich gesprochen. Auch erlebe ich, dass in der Onkologie gerade Krebspatienten fragen: Gibt es nicht noch etwas anderes? Dann kann man von den Mistelpräparaten erzählen, auch im öffentlichen Krankenhaus. Wenn Patienten fragen, sollte man ehrlich antworten.
Rudolf Steiner sprach von der Demokratisierung des Gesundheitswesens.[4] Patienten, Leistungserbringer, Krankenversicherungen, Kommunalpolitiker – sie gehören an einen Tisch und sollten auf Augenhöhe beraten, wie ein gerechtes Gesundheitswesen aussehen kann.
In der Schweiz, in der es eine Basis-Demokratie gibt, haben wir es nur durch Volksabstimmung geschafft, die Komplementärmedizin in die Bundesverfassung aufzunehmen. TCM (trad. Chinesische Med.), Homöopathie, Phytomedizin und Anthroposophische Medizin müssen von den Kassen über die Grundversicherung erstattet werden, weil diese Verfahren jetzt Bestandteil der Bundesverfassung sind, also praktisch Grundgesetz. Auch in Deutschland könnte es eine solche Volksbewegung geben.
Wenn wir das schaffen würden, auf einem ähnlichen Wege eine demokratische Gesundheitsbewegung auf die Beine zu stellen, die verlangt, dass das Grundgesetz uns die freie Therapiewahl garantiert, dass man Ärzte und medizinische Verfahren selbst wählen darf und die Krankenkassen das bis zu einem gewissen Grad erstatten müssen, wären wir einen Riesenschritt weiter. Ohne den gegenseitigen Ansporn einer guten Vernetzung wird es aber nicht gehen.
Ich habe kürzlich bei einer Tagung zur Organtransplantation Pim van Lommel getroffen. Er hielt einen schönen Vortrag über außerkörperliche Erfahrungen seiner kardiologischen Patienten, über das „ewige Bewusstsein“. Am Ende forderte er auch den Paradigmenwechsel, Spiritualität als Realität anzuerkennen, weil die außerkörperliche Erfahrung wahr ist und in die Medizin integriert werden muss. Ich fragte ihn, wie er sich das vorstellt. Er sagte, er erwarte nichts mehr von der Wissenschaft, sondern alles von der Zivilgesellschaft. Dort wäre noch gesunder Menschenverstand vorhanden. Die Wissenschaft sei „eingekauft“ und viel zu fremdbestimmt durch Gelder aus der Wirtschaft, von denen sie abhängig ist. Von der Seite könne man den Paradigmenwechsel nicht erwarten. Solange man viel Geld verdient mit der Krankheit, wird man nicht freiwillig einen Paradigmenwechsel anstreben.
FRAGE: Ich fand sehr interessant, dass das Menschenbild in der Anthroposophischen Medizin sich auch vergleichen lässt mit dem Menschenbild anderer Ausrichtungen. Sie sprachen von einer transzendenten Ebene im Körper, die nach dem Tode den Körper verlässt. Gibt es dazu ein Konzept in der AM, das besagt, was mit dieser Ebene nach dem Tode passiert?
ANTWORT: Ich schreibe einige Werke von Rudolf Steiner dazu auf: GA ist die Abkürzung für das Wort Gesamtausgabe, die 358 Bände umfasst.
GA 27 ist das Grundlagenwerk für die Medizin,[5] in dem das neue Gesundheits-Paradigma beschrieben wird. Dort wird auch charakterisiert, wie es zu dem „ewigen Bewusstsein“ kommt und wie es funktioniert: Wir denken mit der Lebenstätigkeit – den ätherischen Kräften, die unser Körper nicht (mehr) für Wachstum und Regeneration braucht. Warum ist Beten, Spiritualität gesund? Weil es die Lebenskräfte sind, die wir dabei betätigen – was natürlich gesundend zurückwirkt auf den Körper. Körperleben und Gedankenleben (Geistesleben) sind nicht getrennt. Beim Altern nimmt das Geistesleben zu und das Körperleben ab, das unterscheidet sie, aber sie bleiben bis zum Tod immer verbunden.
Zum Studium des Nachtodlichen würde ich euch raten, folgende Werke zu studieren:
· „Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt“, GA 153.
· Dann gibt es noch einen sehr schönen Zyklus: „Der Tod als Lebenswandlung“, GA 182,
· und auch „Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen“, GA 141.
· Mein Lieblingsbuch ist GA 10, „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“, das Schulungsbuch für die Selbstentwicklung.
Denn das habe ich bemerkt: Wenn man keine echte Freude an der Selbstentwicklung hat, ist man auch nicht wirklich motiviert, andere in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Man muss Experte werden in Sachen Entwicklung. Dazu gehört auch das Thema Unvollkommenheit, Spaß am Lernen – und nicht zu meinen, man dürfe keine Fehler machen. Durch meine kinder- und schulärztliche Tätigkeit bin ich zum Fehler-Apostel geworden. Jeder muss seine Fehler machen dürfen, weil man nur so authentisch wird. Angesichts von Fehlern sollten wir uns gegenseitig auf die Lektion hinweisen, die dadurch gelernt werden kann. Nur so können wir ein ungestörtes Verhältnis zu Fehlern entwickeln. Dieses Buch ist dabei eine große Hilfe. Es beschreibt die Entwicklung von Alpha zu Omega. Auch wenn Patienten weiterentwickelt sind als wir und Fragen bezüglich des inneren Weges haben, hilft es den Weg als Ganzes zu kennen.
Vgl. Arbeitsgruppe zum Arztberuf und zur Anthroposophischen Medizin, Sommerakademie Witten 2010
[1] Neues Testament, Johannes 8, 32.
[2] Ebenda, 15, 15.
[3] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995.
[4] Rudolf Steiner, Die Hygiene als soziale Frage. In: Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft. GA 314. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989, S. 221 - 261.
[5] Rudolf Steiner/Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27 (1991).