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Aggression
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler
Zum Verständnis der Aggressionsbereitschaft
Wann geht eine normale Handlung in eine aggressive über?
Was liegt aggressiven Handlungen zugrunde?
Was einer Handlung Sinn verleiht
Wer handelt, bedarf einerseits eines Motivs und andererseits der Kraft, die nötig ist, um die Handlung auszuführen. Je sorgfältiger das Motiv der Handlung abgewogen und mit den Erfordernissen der Umgebung in Einklang gebracht wird, umso heilsamer und förderlicher stellt sich die dann folgende Tat in das Leben des Alltags hinein. Mangel an Besinnung oder spontanes Handeln aus Emotion führen nicht selten zu Handlungen, die wir als aggressiv bezeichnen. Sie stehen nicht im Einklang mit den Erfordernissen der Umgebung, sondern bedeuten einen Angriff. Das Motiv lässt eine Handlung – auch eine aggressive – als verständlich und nachvollziehbar erscheinen oder als unverständlich krankhaft. Beispielsweise wird ein Triebtäter von seiner Natur überwältigt und ist nicht in der Lage, seiner Vernunft zu folgen, die ihm sagt: Eigentlich möchte ich das nicht tun. Das Motiv als Anteil des Bewusstseins an der Handlung und die Kraft, die für die Ausführung der Handlung benötigt wird, müssen vom Menschen bewusst zusammengefügt werden, wenn die Handlung eine sinnvolle sein soll.
Formen von Aggression
Beim gesunden Erwachsenen findet dieser Übergang statt, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt: Jeder kann in höchster Not zur Selbstverteidigung ungeahnte Kräfte mobilisieren. Auch besonnene und beherrschte Menschen können unter solchen Umständen zu aggressiven Handlungen in der Lage sein. Zwischen dem krankhaft Aggressiven und dem normal Aggressiven, das sich nur im Zustand der Not zeigt, gibt es ein breites Zwischenfeld. Bei jedem Menschen sitzt die Schwelle, die auf dem Wege zur aggressiven Handlung überschritten werden muss, an einer anderen Stelle. Der eine reagiert auf dieses, der andere auf jenes aggressiv; und umgekehrt lässt sich jemand durch dieses oder jenes nicht aus der Ruhe bringen. Wir können also verschiedene Formen aggressiver Handlungen unterscheiden:
- der bewusst und besonnen ausgeführte Angriff, dem ein bestimmtes Motiv zugrunde liegt,
- die spontane und situationsgebundene aggressive Handlung, bei der die Selbstkontrolle mehr oder weniger stark beibehalten wird,
- die instinkt- bzw. triebgeführte Handlung, bei der die Selbstkontrolle verlorengeht.
Eigene Aggression in den Griff bekommen
Ein Blick in die Tageszeitung oder in die Nachrichten macht uns darauf aufmerksam, dass unausgesetzt Grenzüberschreitungen zwischen den gedanklich kontrollierten und den nicht mehr kontrollierten Handlungen geschehen. Mangel an Selbstkontrolle tritt bei Stress und Überforderung am ehesten zutage. Besonnenheit und Konzentration bedürfen einer gewissen Ruhe und Beschränkung auf das Wesentliche. So gesehen gehört das Problem der Aggressivität, das Hand in Hand geht mit dem Verlust an Besonnenheit und Selbstkontrolle, zu den Kernproblemen unserer heutigen Gesellschaft. Sehr viele Menschen haben gegenwärtig aus den verschiedensten Gründen darunter zu leiden. Dabei geht es nicht nur um die vielen versteckten Aggressionen, sondern auch um die ganz offen ausgelebten.
Die Frage, warum es zu „kriegerischen“ Handlungen kommt im Sinne offen ausgelebter Aggressionen, betrifft jeden Menschen. Denn letztlich ist jeder dafür verantwortlich, sich selbst und seine Aggressionsbereitschaft in den Griff zu bekommen. Die Möglichkeit zu aggressivem Verhalten steckt in allen von uns und bedarf der Kultivierung (gl. Aggression: Aggressionen abbauen).
Vgl. Kapitel „Aggression und Aggressivität im Kindesalter“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
Aktivität statt Aggression
Warum nimmt die Aggressivität im Kindesalter gegenwärtig so zu?
Wie kann Aggression begegnet werden?
Ursachen für Aggressivität im Kindesalter
Die Antwort ist einfach: Bekommt der Wille des Kindes nicht genügend Anleitung für sinnvolles Tätigsein, so liegt er brach und muss sich in willkürlichen und aggressiven Handlungen ausleben (vgl. Wille(nsschulung): Aggression und Wille). Wird den Kindern hingegen ein Vorbild für Tätigsein gegeben, dürfen sie mit den Erwachsenen mitgehen, und sind sie einbezogen in den Ablauf des Alltags, so ermüdet das Kind im Laufe des Tages in gesunder Weise und sein Wille übt sich in geschickten Handlungen.
Hieraus werden die Hauptursachen für die Zunahme von Aggressivität im Kindesalter verständlich:
- Fernsehkonsum
Die Kinder werden in eine reglos-faszinierte Zuschauerhaltung hineingezwungen, die es ihnen unmöglich macht, mit ihrer Handlungsbereitschaft sinnvoll tätig zu werden, ganz abgesehen davon, dass sie am Bildschirm einer Scheinwirklichkeit begegnen, durch die sie nicht in eine direkte, unmittelbare Beziehung zu den Dingen und Wesen in ihrer Umgebung kommen. Die Wahrnehmungen bleiben unverbindlich und stimulieren die Handlungsbereitschaft auf ungenügende Weise (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des physischen Leibes).
- Mangel an sinnvoller Anregung zum Tätigsein
Nur wenig geschieht im Haushalt, das dem Kind Anregung für sein Spiel bietet. Kann hier nicht der Kindergarten einspringen und das Kind in die Fülle der Alltagstätigkeiten mit einbeziehen, so führt dies ebenfalls zu einem Aktivitätsstau, der sich irgendwann und irgendwie entladen muss (.
- Bewegungsmangel
Die Straßen sind zum freien Spiel nicht mehr geeignet, die Wohnungen sind meist zu eng, um dort Bewegungsspiele zu machen, die Erwachsenen gehen selber nicht gern spazieren und benützen auch am Wochenende lieber das Auto, um an ein Ausflugsziel zu gelangen. Werden Besuche bei Bekannten gemacht, so dürfen die Kinder vielleicht im Vorgärtchen spielen oder in der Wohnung sitzen und fernsehen, damit die Erwachsenen sich in Ruhe unterhalten können.
Vorbeugung gegen Aggression
Sinnvolle Tätigkeiten, ausreichend körperliche Bewegung, längere Spaziergänge, Spielen auf dem Spielplatz und im Wald oder Garten sind die beste Vorbeugung gegen Aggressivität
- sinnvolle Tätigkeiten
- ausreichend körperliche Bewegung
- längere Spaziergänge in der Natur
- Spielen auf dem Spielplatz
- Zeit im Wald oder Garten
Jede Mutter kennt das Problem, wenn es regnet und die Kinder nicht hinauskönnen und zu Hause wenig Interessantes geschieht, wie sie dann übellaunig und aggressiv werden. Sind sie dagegen genügend beschäftigt, tritt dieses Problem gar nicht auf, weil der Wille sinnvoll angespannt ist (vgl. Erziehung: Erwerb von Konzentration und Besonnenheit). .
Vgl. Kapitel „Aggression und Aggressivität im Kindesalter“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
Aggression und Sprache
Welche Rolle spielt Sprache beim Umgang mit Aggressionen?
Aggression als Rückfall in kindliche Verhaltensweisen
In der Sprachlosigkeit liegt eine der wesentlichsten Ursachen für das Nicht-Beherrschen-Können von Aggressionen im Gefühls- und Willensbereich1.
Man kann diese Tatsache auch bei klassischen Ehekrisen in nahezu jedem diesbezüglichen Filmdrama beobachten, z.B.: Ein Paar kommt von einer Abendveranstaltung, es unterhält sich, setzt sich, trinkt etwas und dann fällt plötzlich ein Wort – oder der Tonfall der Stimme ändert sich, und der andere ist irritiert. Es folgt eine gereizte Erwiderung, und so kommt es auf der seelisch-verbalen Ebene zu einer heftigen Auseinandersetzung. Beide ringen zunehmend nach Worten, um den anderen gezielt zu treffen. Erst wenn die Worte ausbleiben, wird die Schwelle zur körperlichen Aggression überschritten. Sie kann sich in Form von Aufspringen und Türenknallen, im Ergreifen einer Blumenvase, die man nach dem anderen werfen möchte, oder in unmittelbarer körperlicher Gewalt äußern.
Die Beteiligten fallen schrittweise zurück in eine frühere Entwicklungsstufe – sie regredieren: Zunächst gibt es die gedankliche Auseinandersetzung, wie dies für Erwachsene üblich und in der Regel auch ausreichend ist. Dann folgt der Rückschritt auf die emotional-sprachliche Ebene und schließlich die Regression in das kindliche Verhalten des direkten Aufeinander-Losgehens.
Aggressives Verhalten ist im Grunde genommen nur eine kindliche Form, miteinander Beziehung aufzunehmen. Es handelt sich dabei um gute Willenskräfte, die sich begegnen, die verstehen wollen, die die Auseinandersetzung, die Klärung suchen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem anderen selbst erleben und ihrer selbst bewusst werden wollen. Es sind eigentlich gute Beweggründe, die jedoch „auf der falschen Ebene“ zur Handlung führen und daher destruktiv wirken. Durch den Kontrollverlust auf der Ebene gedanklich geführter sprachlicher Kommunikation werden diese Willenskräfte, die auf Klärung aus sind, auf der jeweils niedereren seelisch-emotionalen oder körperlich-handgreiflichen Ebene wirksam.
1) Vgl. B. Sanders, Der Verlust der Sprachkultur. Frankfurt/M. '1998; den Zusammenhang von Sprachverlust und Aggression beschreibt auch sehr pointiert der folgende Satz aus dieser empfehlenswerten Publikation: „Die Pistole ist das Schreibgerät des Analphabeten“.
Zunehmende Sprachlosigkeit
Die Pflege der Sprache und des Gefühlslebens sind von entscheidender Bedeutung im seelischen Umgang mit aggressiven Kräften, zu denen auch die sexuellen Triebimpulse gehören. Amerikanische Untersuchungen haben ergeben, dass viele kriminelle Jugendliche und jüngere Erwachsene etwa auf dem Sprachniveau von Viertklässlern stehen. Ihr Wortschatz ist relativ gering, die Sätze werden nicht zu Ende gesprochen, Stereotypen und eingefahrene Klassifizierungen und Beurteilungen werden häufig verwendet. Sie haben nicht das Potential, seelische Erlebnisse und Sinnzusammenhänge zu verbalisieren und auszusprechen.
Diese Art Sprachlosigkeit ist auch bei Erwachsenen ein verbreitetes Problem. Man findet keine Worte für vieles, was heute in der Welt geschieht und den Menschen schwere Sorgen bereitet: für die Umweltzerstörung, für kriegerische Auseinandersetzungen, für das Agieren von Verbrecherbanden und Syndikaten, für die Drogenkriminalität, den Kindesmissbrauch, die Gewalt, das Verbrechen – man wird immer sprachloser und unfähiger, die Fülle negativer Informationen zu verstehen und folglich zu verarbeiten. Im direkten Zusammenhang mit dieser Sprachlosigkeit sinkt ganz allgemein die Reizschwelle gegenüber Aggressionen, sodass jeder sich grundsätzlich leichter zu aggressiven Handlungen hinreißen lässt.
Die Behandlung von straffälligen Jugendlichen nimmt zunehmend auf diesen Tatbestand Rücksicht. Man übt den Dialog, man setzt Theater und Psychodrama therapeutisch ein, um die Bewegungs- und sprachliche Ausdrucksfähigkeit ins Bewusstsein zu heben und zu üben, auf diesem Weg Aggressionspotential abzubauen. Oft zeigen Jugendliche erst dann Zeichen von Mitgefühl, wenn sie das Verbrechen, das sie begingen, szenisch wiederholt haben, indem sie es selber spielen mussten.
Sprachpflege als Grundlage für klares Denken
Der Pflege der Sprache und des Sprechens (vgl. Die ersten drei Jahre: Gehen – Sprechen – Denken: Sprechen – Zuhören – Liebefähigkeit) sollte deshalb ein breiter Raum in der Schule eingeräumt werden. Sprachstörungen und Defizite im Wortschatz nehmen in erschreckender Weise zu, sodass die ersten Schuljahre im Wesentlichen dafür eingesetzt werden müssen, den Kindern erst einmal mit Hilfe von täglichen Sprach-, Sprech- und Gesprächsübungen artikuliertes Sprechen und die Befähigung zum Dialog beizubringen. Im freien Gespräch kann der Wortschatz der Schüler erweitert und das Zuhören gelernt werden. Vieles, von dem man denkt, es würde von zu Hause schon mitgebracht, muss in der Schule erst mühsam veranlagt und ausgebildet werden.
Sprachfähigkeit und ein großer Wortschatz sind die Voraussetzung für die Entwicklung eines differenzierten Denkvermögens. So wie ein gewisses Maß an Bewegungsentwicklung, insbesondere im Bereich der Feinmotorik, notwendig ist, um den anspruchsvollen Vorgang des artikulierten Sprechens vorzubereiten, ist differenzierte sprachliche Ausdrucksfähigkeit die Voraussetzung für klares Denken. Konnte sich die Bewegungsentwicklung gut vollziehen, fällt auch die Sprachentwicklung leicht. Durch die Pflege des Gespräches wiederum erfährt das Gedankenleben die notwendigen Anregungen (vgl. Elternsein heute: Die Aufgabe der Eltern nach der Pubertät ).
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 3. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
Aggression, Wut und Wille
Worin unterscheiden sich Wut und Aggression?
Wie man Wut und Aggression unterscheidet
- Aggressiv nennen wir Handlungen und Willensäußerungen, die angriffslustig und überwiegend destruktiv sind.
- Wut ist Ausdruck der emotionalen, gefühlsmäßigen Seite der Sache.
Es gibt Menschen, die sehr wütend sein können und sich dennoch nicht zu einer aggressiven Handlung hinreißen lassen. Es gibt auch aggressive Handlungen, die nicht von Wut begleitet werden: Sie können aus Langeweile heraus geschehen oder aus Emotionen wie Angst, Misstrauen, Eifersucht und Hass.
Das Wort „Aggression“ bedeutet von seinem lateinischen Ursprung her „Annäherung“. Tatsächlich ist eine aggressive Auseinandersetzung immer eine Begegnung. Man wird dabei nicht nur mit anderen konfrontiert, sondern früher oder später auch mit sich selbst. Der griechische Philosoph Heraklit nannte den Krieg den „Vater aller Dinge“. Das trifft ganz sicher nicht auf alle Dinge zu, mit Sicherheit aber auf das menschliche Selbstbewusstsein (vgl. Selbstbewusstsein: Widrigkeiten selbstbewusst begegnen). Durch nichts werden wir uns unserer selbst stärker bewusst als durch Auseinandersetzungen. Jede Begegnung, insbesondere aber die aggressive Auseinandersetzung, führt immer zu einer Verstärkung des Selbsterlebens und damit zu mehr Selbstbewusstsein.
Wut ist dagegen eher eine unbewusste Emotion oder ein bewusst erlebtes Gefühl. Im Volksmund wird gesagt, die Wut sitzt „im Bauch“. Das ist menschenkundlich richtig, ist sachgemäß ausgedrückt, denn die Basis für jedwede Kraftentfaltung beruht auf einem gut geregelten Stoffwechsel (vgl. Mut: Der physische Leib als Quelle von Mut): Arme und Beine dienen dann dazu, das aus dem Stoffwechsel kommende Kraftpotential in Handlung umzusetzen, und so kann sich z.B. Wut in aggressivem Handeln entladen.
Wille und Gefühl sind zwar deutlich voneinander zu unterscheiden – ein Gefühl als innere Bewegung kann jedoch unmittelbar in eine Willenshandlung, in äußere Bewegung, übergehen.
Aggressivem Verhalten vorbeugen
Das kindliche Gefühlsleben unterscheidet sich von dem des Erwachsenen dadurch, dass Gefühl und Wille noch wenig differenziert sind. Schon die Nachahmungsfähigkeit des Kindes macht deutlich, dass alles, was das Kind interessiert, was es sieht und damit auch empfindet, am liebsten auch getan, mitvollzogen, nachgemacht wird.
Die erste wesentliche Möglichkeit der Vorbeugung besteht darin, dass Kinder den kultivierten Umgang der Erwachsenen miteinander erleben und nachahmen können. Fühlen Kinder sich nicht wohl oder sehen sie destruktive Handlungen, äußert sich das damit verbundene Unwohlsein oft in lustlosen äußeren Bewegungen oder kleinen aggressiven Handlungen. Erst mit dem Einsetzen der Vorpubertät im neunten, zehnten Lebensjahr beginnt deutlich zu werden, dass Kinder jetzt in der Lage sind, Gefühle in sich zu bewegen, ohne sie sogleich nach außen durch Wort oder Tat sichtbar machen zu müssen. Dann löst sich das Gefühlsleben mehr und mehr von seiner unmittelbaren Willens- und Körperverhaftung los und wird der autonome seelische Bereich, in dem zwischen Denken und Handeln vermittelt werden kann (vgl. Gefühle und Fühlen: Gefühl im Spannungsfeld von Sinneserfahrung und Denken). Nun trennen sich äußerer und innerer Bewegungsdrang zunehmend voneinander.
Diese Entwicklung kulminiert in der Pubertät in einer ausgesprochenen Bewegungsunlust, die mit einer dafür umso größeren „Bewegungsfreude im Gefühl“ einhergeht. Die Jugendlichen können stundenlang irgendwo lagern, Musik hören und das auf und ab wogende Gefühlsleben beobachten und genießen. Je intensiver sich jedoch „Gefühlskultur“ entwickeln kann, je enger das Gefühls- und Gedankenleben verknüpft sind, umso weniger besteht die Neigung, in der Jugend oder später in verbale oder körperliche Gewaltausbrüche zu verfallen (vgl. Gefühle und Fühlen: Schulung der Gefühle durch das Denken).
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 3. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
Aggressionsbereitschaft und Lebensgestaltung
Welche Auswirkungen hat die Lebensgestaltung auf die Aggressionsbereitschaft?
Wie kann sie in den Umgang mit Aggressivität mit eingezogen werden?
Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit und Aggression
Jeder Mensch, der sich selbst beobachtet, kennt Momente in seinem Leben oder im Laufe des Tages, in denen er Mühe hat, sich unter Kontrolle zu halten. Diese persönliche Hemmschwelle kann infolge von Belastungen wie Hunger und Schlaflosigkeit oder aber durch Angst, durch das Gefühl, unfrei zu sein und unterdrückt zu werden, also durch seelische Belastungen verschiedenster Art, herabgesetzt sein. Wer hungrig, müde oder seelisch belastet ist, reagiert bedeutend schneller gereizt als derjenige, der satt, ausgeschlafen und relativ zufrieden ist.
Aggression ist so gesehen eine Art von Notwehr, um sich zu schützen. Man weist Anlässe oder Probleme heftig zurück, weil man nicht mehr in der Lage ist, sich ihrer anzunehmen und sie zu verarbeiten. Heute haben wir es generell mit einer zunehmenden Empfindlichkeit zu tun, mit der wir umgehen lernen müssen (vgl. Selbstbewusstsein: Gekränktes Selbstbewusstsein). Unzufriedenheit, Angst, Verzweiflung, Langeweile, Sinnlosigkeitserleben und Öde schaffen sich ein Ventil und motivieren zu aggressiven Handlungen. Wer sich überfordert, ausgegrenzt oder zu wenig beachtet fühlt oder wer verunsichert ist, neigt bedeutend leichter zu Aggressivität. So kann die zunehmende Aggressionsbereitschaft in der Gesellschaft zugleich auch als ein Maß für die wachsende Unzufriedenheit der Menschen mit sich selbst und ihren Lebensumständen angesehen werden.
Unbefriedigende Lebensgestaltung
Damit ist an das Hauptproblem im Zusammenhang mit den Ursachen von Wut und Aggression gerührt: Viele Erwachsene leben ihren Kindern nicht mehr vor, wie man sein Leben befriedigend gestalten kann. Anregende, intensive Gespräche im Familienkreis gibt es oft nicht mehr. Hinzu kommt das Fehlen von Möglichkeiten, selbst tätig zu werden (vgl. Wille(nsschulung): Motivation und Willenserziehung). Kinder können ihren Bewegungsreichtum nur entfalten, wenn sie in den ersten acht Lebensjahren die Chance haben, viel zu Fuß zu gehen und körperliche Geschicklichkeit zu erwerben. Stattdessen werden sie überall hingefahren, sitzen mit Vorliebe vor dem Fernseher, bedienen sich automatischer Spielzeuge: die ferngesteuerten Autos sausen herum und sie sind nur Zuschauer (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des physischen Leibes).
So ist es praktisch unmöglich, dass die Kontrollfunktion des Ich über den Körper und seine Trieb- und Bewegungsimpulse erworben werden kann. Auf diese Weise entsteht ein kaum nachholbares Defizit an Selbsterfahrung auf körperlicher Ebene (vgl. Sinne(spflege): Zwölf Sinnestätigkeiten - Sinnespflege). Kinder können keine Freude mehr am eigenen Tun, an der Bewegung, am Dasein entwickeln. Auch das frühe Sitzen am Computer fördert diesen Trend. Anstelle von Beschäftigungen, die zu Bewegung anregen, tritt das Tippen und die vom Computer geforderte Konzentration und körperliche Ruhe.
Bewegungsmangel und Schule
Kinder mit chronischer Bewegungsunruhe (Hyperkinetisches Syndrom) leiden insbesondere an diesem Bewegungsmangel1 (vgl. Aggression: Aktivität statt Aggression). Vielen konnte schon dadurch geholfen werden, dass sie nicht mehr mit dem Auto zur Schule gefahren wurden, sondern eine halbe Stunde Schulweg verordnet bekamen. Wer morgens gut gegessen hat und eine halbe Stunde kräftig gelaufen ist, möchte erst einmal eine Weile sitzen. Wer sein Kind jedoch täglich mit dem Auto zur Schule fährt, veranlagt das Gegenteil. Dann möchte das Kind erst einmal etwas tun und so gibt es gleich Tumult in der Klasse. Viele Lehrer meinen, die Kinder würden immer schwieriger. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Kinder werden nicht schwieriger, sondern sie haben immer weniger Chancen zu üben, ihr Willens- und Aggressionspotential sinnvoll zu betätigen. Und da die meisten Kinder schon aus ihrer Vorschulzeit einen Bewegungsmangel mitbringen, ist ein verstärkter Drang vorhanden, diese angestaute Sehnsucht nach körperlicher Betätigung und Bewegung in der Schule auszuleben (vgl. Medienpädagogik: Negative Folgen einer zu frühen Gewöhnung an digitale Medien).
Hier ist die Schule gefordert, vieles zu übernehmen und auszugleichen, was Eltern heute oft nicht mehr leisten können: Es ist dringend erforderlich, dass sich Eltern- und Lehrerinitiativen bilden, um Freizeitangebote vorzulegen und Wanderungen zu organisieren, und dass auch der gesamte Schulunterricht genügend Elemente zur Bewegungsförderung enthält. Der Lehrplan der Waldorfschule bietet zu diesem Thema eine Fülle von Möglichkeiten an, die jedoch zu ihrer Umsetzung ein hohes pädagogisches Können verlangen, sodass Lehrer diesbezüglich meist noch Weiterbildungen brauchen.2
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 3. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
- Es ist symptomatisch für diesen Bewegungsmangel, dass viele Kinder im Vor- und Grundschulalter nicht mehr fähig sind, rückwärts zu laufen. Auch aus diesem Grund haben in den letzten Jahren an den Grundschulen Fächer wie „psychomotorisches Spielen“ immer mehr Einzug gehalten.
- Vgl. Glöckler, M. (Hrsg.), Das Schulkind - Gemeinsame Aufgaben von Arzt und Lehrer. Dornach, 3. Aufl. 1998.
Aggressionen abbauen
Wie kann man lernen, bei sich selbst Aggressionen abzubauen?
Wie kann man anderen dabei helfen?
Zwischen Besonnenheit und Aggression wählen
Die Ursachen für eine erhöhte Aggressionsbereitschaft wurden schon genannt: Angst, Sich-unterdrückt-Fühlen, Müdigkeit, Hunger, Stress, seelische Belastung. Hinzu kommen noch individuelle Dispositionen wie z.B. Hass auf einen bestimmten Menschen, ein cholerisches Temperament oder bestimmte Lebensumstände.
Er sitzt gemütlich zu Hause und freut sich, endlich zu einer Beschäftigung zu kommen, die er schon lange geplant hat. Plötzlich stürzt sie herein und ruft: „Komm‘ sofort nach draußen, Marianne hat sich ganz fürchterlich verletzt.“ Er springt sofort auf und ist uneingeschränkt motiviert zu helfen. Ärger darüber, dass er schon wieder von der gewünschten Beschäftigung abgehalten wird, kommt nur für Bruchteile von Sekunden auf und ist sofort überwunden. D.h., in dem Augenblick, in dem ein Einklang hergestellt werden kann zwischen dem eigenen Willen und dem, was zu tun ist, ist man eins mit sich und handelt ruhig und sachlich konzentriert.
Würde derselbe Mensch von einem Hausgenossen an etwas erinnert oder zu etwas aufgefordert werden, das auch ein anderer machen könnte, der vielleicht nur zu faul ist es zu tun, würde er gereizt reagieren und vielleicht sogar in Wut geraten wegen der unnötigen Unterbrechung – er wäre u.U. anhaltend verstimmt. Es ist wichtig, auf die Kluft aufmerksam zu werden, die sich zwischen Denken und Handeln, zwischen dem Motiv und der eigenen Willensbereitschaft, auftun kann. Wird dies bewusst und als Ursache für emotionale oder aggressive Entladungen erkannt, kann auch daran gearbeitet werden.
Augenblicke der Wut nachträglich überdenken
Wer nun bei sich entdeckt, dass er leicht wütend wird und gerne an seinem eigenen Aggressionspotential arbeiten möchte, kann sich folgendes vornehmen: Er merkt sich im Laufe des Tages die Augenblicke, in denen er in Wut geriet. Am Abend, wenn der Zorn oder die Wut abgeklungen sind, gilt es, diese Augenblicke wieder ins Bewusstsein zu rufen und sich zu fragen, warum man seine Wut nicht beherrschen konnte. Es kommt jetzt darauf an, noch einmal genau den Ablauf der wuterzeugenden Situation zu durchzudenken. Gerät man dabei wiederum in Wut, ist es besser, ein paar Tage verstreichen zu lassen und erst später auf diese Situation zu schauen. Gelingt es jedoch, der Situation sachlich gegenüberzutreten, so, als wäre das Ganze einem anderen Menschen passiert, kann man anfangen, sich Fragen zu stellen, wie berechtigt die Wut war und ob dieser Ausbruch unbedingt nötig war bzw. welche Möglichkeiten es gegeben hätte, es anders zu machen.
Wenn man schließlich doch zu dem Schluss kommt, dass die wütende Reaktion das einzig richtige Verhalten war, kann man sich fragen, ob man den Verlauf des Wutausbruches – gerade, weil er berechtigt war – nicht bewusster und konstruktiver hätte gestalten können.
Warum hat man sich zu den hässlichen Worten hinreißen lassen?
War das wirklich nötig?
Wusste man, wie es dem anderen ging und warum er gerade so gehandelt hat, wie er es tat?
Man hätte ja auch sagen können – und nicht schreien müssen: „Merkst du gar nicht, wie unverschämt du bist? Lass mich jetzt in Ruhe.“
Es kann aber auch sein, dass man bei einer solchen abendlichen Betrachtung bemerkt, dass man dem anderen Unrecht getan hat, und man kann sich nun vornehmen, bei nächster Gelegenheit auf den Betreffenden zuzugehen. Die verbale Zurücknahme einer Handlung – auch wenn sie nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann – ist immer heilsam. Sie schafft wieder Freiräume in der Begegnung und ermöglicht neue Schritte in der Beziehungsgestaltung (vgl. Beziehung: Beziehungsfähigkeit entwickeln).
Goldene Regel für ein gemeinsames Leben
So lautet eine der vielfach bewährten goldenen Regeln für ein gemeinsames Leben, dass jeder darauf achtet, den anderen täglich mindestens einmal für irgendetwas zu „loben“ und auch zuzugeben, wenn man etwas Dummes gesagt hat oder etwas hätte besser machen können. Anerkennung durch den anderen wird immer dankbar entgegengenommen. Dabei wird auch die Bereitschaft zu verstehen und zu verzeihen geübt (vgl. Das Böse – Widersachermächte: Das Böse verzeihen).
Um mit den eigenen aggressiven Neigungen umgehen zu lernen, ist es hilfreich, sich jeden Abend wie ein Zuschauer vor die Theaterbühne zu setzen und verschiedene Szenen des durchlebten Tages auf ihr noch einmal ablaufen zu lassen und zu überlegen, wie man diese Szene anders oder besser hätte spielen können. Je intensiver man sich die bessere Bewältigungsmöglichkeit der Situation vor Augen führt und sich darauf freut, das Erkannte bei einer anderen Gelegenheit in die Wirklichkeit umzusetzen, umso leichter wird es gelingen. Vielleicht kann man sich sogar bestimmte Worte und Sätze zurechtlegen und üben, damit man sie auch parat hat, wenn es soweit ist. Gerade in engeren menschlichen Beziehungen wie Ehen oder Lebensgemeinschaften entzünden sich unbeherrschte Wutmomente an immer gleichen oder ähnlichen Situationen, so dass diese Art des Übens und des Sich-Vorbereitens tatsächlich sehr viel bewirken kann.
Niedrigere Hemmschwelle in engen Beziehungen
In engen menschlichen Beziehungen ist die Hemmschwelle grundsätzlich niedriger als gegenüber Fremden. Das kann man schon an Kindern beobachten, die, wenn sie sich wehgetan haben, in Gegenwart von Fremden nicht weinen, sondern erst dann ihre Anspannung loslassen, wenn sie die Mutter von weitem sehen oder nach Hause gebracht werden. Diese abgesenkte Hemmschwelle hat darin ihre Ursache, dass man sich in einer nahen Beziehung verstanden fühlt und auch mit Trost und Hilfe rechnet. So zeigt man der nahestehenden Person die eigene Hilfsbedürftigkeit und verbirgt sie nicht aus Angst, mit den eigenen Bedürfnissen an der falschen Adresse zu sein. Daher können gerade in nahen Beziehungen schon tiefe Verletzungen entstehen und entsprechende Reaktionen hervorgerufen werden, wenn man einander nur ein wenig infrage stellt.
Ideal ist es natürlich, wenn man einen Lebenspartner hat, mit dem man sich über solche Übungsaufgaben unterhalten kann, mit dem man gemeinsam in Ruhe Situationen dieser Art durchspielen und besprechen kann (vgl. Partnerschaft und Ehe: Vom Sinn der Lebenslänglichkeit). Bei akuten Problemen im zwischenmenschlichen Bereich ist das natürlich schwer, bei länger zurückliegenden ist es leichter. Es ist aber immer hilfreich, wenn es die eigenen Kinder und den Umgang mit ihnen betrifft: Wenn Kinder spüren, dass die Eltern sich in wesentlichen Fragen einig sind bzw. sich bemühen, einig zu werden und nicht ihre eigenen ungeklärten Fragen und Probleme auf ihrem Rücken austragen, wirkt sich das wohltuend auf die Erziehung aus.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 3. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
Fragen zum Thema Aggressivität
FRAGE: Wie ist das Verhältnis zwischen Angst und Aggression?
ANTWORT: Es gibt in jedem Menschen eine klare Grenze, ab der er auf ein Geschehen entweder mit Zurückhaltung reagiert, bis hin zum totalen Rückzug, der in der Angst kulminiert. Oder man reagiert mit ‚Nachvornegehen‘, mit der ‚Flucht nach vorne‘, was sich bis zur Aggression, zum Angriff steigern kann. Gesteigerte Angst ihrerseits kann auch in blinde Aggression umschlagen (vgl. Angst: Die Botschaft der Angst).
FRAGE: Wie ist einem vierjährigen fremden Kind zu begegnen, das dem eigenen Zweijährigen aggressiv gegenübertritt und es schlägt?
ANTWORT: Bei dem vierjährigen Kind, welches das zweijährige kratzt, würde ich mit der Mutter sprechen. Wenn das nichts nützt, würde ich die Begegnungen nur im Beisein der Erwachsenen stattfinden lassen.
FRAGE: Bei zwei Geschwistern wiederum ist das Zweijährige dem Vierjährigen gegenüber aggressiv. Wie soll man hier reagieren?
ANTWORT: Die eigenen Zwei- und Vierjährigen, die sich streiten, sollten erleben, dass der Erwachsene nur eingreift, wenn es wirklich gefährlich wird. Denn wenn Kinder sich daran gewöhnen, dass immer jemand kommt, wenn sie sich streiten, bildet sich die problematische Gewohnheit heraus, dass die Kleinen die Großen jederzeit herbeizitieren können. Toleriert man jedoch ein gewisses Ausmaß an Streit und lässt die Kinder gewisse Dinge unter sich abmachen, taucht andererseits gerade dann auf bei ihnen, wenn sie schön spielen, werden andere Akzente gesetzt.
FRAGE: In einer Spielgruppe, bei der auch die Mütter anwesend sind, wird das eigene Kind wiederholt von einem aggressiven Kind geschlagen, dessen Mutter reagiert aber nicht – was tun?
ANTWORT: Wenn Sie den Eindruck haben, dass die Aggression, die auf Ihr eigenes Kind ausgeübt wird, die Toleranz-Grenzen überschreitet und über ein normales Ausmaß an Puffen oder Schlägen hinausgeht, wenn Ihr Kind also wirklich malträtiert wird, darf das nicht geduldet werden.
Es kommt jedoch noch etwas anderes in Betracht für diese Aggressivität, die ja eine Äußerung des Kindes ist. Wir haben jetzt manches besprochen, was zu aggressiven Handlungen führen kann. Eines aber habe ich noch nicht erwähnt: Die aggressive Handlung eines Kindes ist oft die einzige Möglichkeit, dem Erwachsenen – gerade in dem Alter zwischen zwei und vier Jahren – etwas zu sagen, auf das dieser von sich aus nicht käme: Manche Kinder sind in einer Spielgruppe überfordert. Ein Zweijähriger zum Beispiel wäre lieber bei seinen Eltern zu Hause und würde gerne in aller Ruhe mit der Mutter irgendetwas im Haushalt erleben. Dieses Bedürfnis kann er nicht anders zum Ausdruck bringen, als in der Spielgruppe andere Kinder zu kratzen und zu beißen. Unter Umständen wäre die Antwort auf diese Aggression, das Kind aus der Gruppe herauszunehmen oder die Führung zu übernehmen und etwas Sinnvolles mit den Kindern zu machen.
FRAGE: Das ältere, stärkere Kind nimmt dem jüngeren Geschwisterkind das Spielzeug weg und bringt es auch in Gefahr, indem es zum Beispiel die Tür zuschlägt, wenn das kleinere aus dem Zimmer gehen will. Was liegt hier vor?
ANTWORT: In dem Fall kann Eifersucht dahinterstecken, weil die Tochter zwei Jahre lang Einzelkind war, bis das Geschwisterchen kam. Plötzlich hatte sie ihre besondere Rolle verloren. Jetzt könnte es hilfreich sein zu fragen:
Woran hat meine Vierjährige besondere Freude?
Wie schaffe ich es, ihr wenigstens einmal am Tag für kurze Zeit meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen?
Vgl. Fragen zu dem Kapitel „Aggression und Aggressivität im Kindesalter“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart