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Angst
Angst - von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
Die Botschaft der Angst
Was ist die Botschaft der Angst?
Was will unsere Angst uns sagen?
Sinn und Gefahr von Angst
Angst und Sorge sind jedem Menschen bekannt. Nehmen sie überhand, so wirken sie sich schädigend auf das seelische und körperliche Leben aus.
Angst hat jedoch eine wichtige Funktion im Menschenleben. Sie lässt den Menschen aufmerksam werden, macht ihn angespannt und wach. Wenn man beispielsweise von einer neu aufgetretenen Krankheit hört, beginnt man sogleich darüber nachzulesen und sich sachkundig zu machen. Weiß man dann, wie sie einzuordnen ist und wie man sich schützen kann, ist die Angst vor der Krankheit durch Einsicht in die Zusammenhänge weitgehend abgebaut. Die Angst hatte die Funktion, diesen Erkenntnisprozess auf den Weg zu bringen. Das heißt also: Angst weckt auf, Wachheit führt zur Erkenntnis und die Erkenntnis beruhigt wiederum die Angst. Wie viele Menschen würden stumpf dahinleben, wenn sie keine Angst hätten und sich nicht um irgendetwas sorgten! Führt Angst jedoch nicht zur Erkenntnis, besteht die Gefahr, in der Angst gleichsam steckenzubleiben, ihr ausgeliefert zu sein. Das führt zur seelischen Zerrüttung und zur Krankheit.
Wer sich zum Beispiel verzehrt in der Angst vor Umweltgiften oder der künstlichen Radioaktivität, wird weder für sich noch für die Umwelt etwas Hilfreiches bewirken können. Wer jedoch diese Gegenwartsprobleme zum Anlass nimmt, grundsätzlich über das eigene Leben und die Weltverhältnisse nachzudenken, wird dadurch motiviert, an einer Veränderung der Kulturverhältnisse und einer Überwindung dieser Krise unserer Zivilisation mitzuarbeiten (vgl. Bewusstseins(seelenzeitalter: Bewusster Umgang mit Not und Zerstörung). Angst kann immer Anlass für einen Lernschritt sein. Jede Angst, jede Ängstlichkeit, ist im Grunde Vorbote einer zukünftigen Erkenntnis. Wer mit großen Ängsten zu kämpfen hat, kann daran ermessen, zu welch umfassenden Erkenntnissen er kommen könnte. Für ihn gilt herauszufinden, was er sich an Erkenntnissen erwerben muss, um diese Ängste auflösen und überwinden zu können.
Hilfe vom Engel
Hierbei können Engel helfen (vgl. Engel: Bedeutung der Engel für uns Menschen). Denn wenn die Erkenntnis nicht ausreicht und die Angst bestehen bleibt, können die bereits geschilderten Verzweiflungsmomente auftreten. Wer sich in diesen Augenblicken ins Bewusstsein rufen kann, dass es nichts gibt, was den Menschen geistig vernichten kann, dass selbst Tod und Geburt tiefmenschliche Vorgänge sind, die zu unserem Leben dazugehören, der kann die Nähe des Engels empfinden. Daran können Vertrauen in das eigene Schicksal und Liebe zur Entwicklung erwachen. Es gehört nun einmal zum Menschenleben dazu, durch Extremsituationen zu gehen. Ohne Sterben und Vergehen könnte nichts Neues entstehen. Verwandlung ist nur möglich, wenn das zuvor Bestehende sich hingibt und opfert. Wenn das Vertrauen in die eigene Existenz erwacht, in die Wandlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, in die Fähigkeit, zu sterben und wieder geboren zu werden, kann sich eine nie gekannte Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal regen, die bewirkt, dass die Angst schwindet (vgl. Schicksal und Karma: Ich-Erleben und Schicksalsgestaltung). Dann spürt man die schützenden Schwingen seines Engels um sich herum. Man ist wie abgeschirmt von dem, was einen vorher bedrängte. Wenn die Existenzangst schwindet, wird die positive Wirkung der Angst erlebbar – dass sie zur Erkenntnis führen will.
Wenn man mit seinen Ängsten nicht fertig wird, ist es daher hilfreich, sich regelmäßig über einen längeren Zeitraum hinweg ganz bewusst am Abend eine Viertelstunde Zeit zu nehmen und sich mit der Engelwelt zu beschäftigen. Man kann damit beginnen verschiedene Engeldarstellungen miteinander zu vergleichen und der Frage nachzugehen:
Was hat dieser Maler wohl von den Engeln gewusst?
Was hat ihm daran gefallen?
Welche moralischen Qualitäten liegen darin verborgen?
Wer das tut, merkt sehr bald, wie ihm sein Engel näherkommt und neue Ruhe und innere Sicherheit vermittelt (vgl. Engel: Wege zum Engel).
Vgl. Kapitel „Engel“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
Die Aufgabe der Angst
Hat Angst eine Aufgabe hinsichtlich der Entwicklung des Menschen?
Körperliche, seelische und geistige Angstreaktionen
Das ist eine sehr schöne Frage, denn Angst hat eine Aufgabe. Ich möchte Wege aufzeigen, wie wir mit unserer Angst konstruktiv umgehen können, wie wir lernen können, immer besser damit zurechtzukommen.
Die körperlichen Angstreaktionen sollen uns vor Gefahren schützen. Ein kleines Beispiel: Wenn mir etwas ins Auge fliegt, kneife ich reflektorisch die Augenlider zusammen, sodass nichts eindringen kann. Ich bin dann dankbar dafür, dass der Lidschlag mich vor einem gefährlichen Objekt geschützt hat, bevor es die Netzhaut irritieren oder sogar verletzen konnte. Die Angst löst eine physiologische Schutzreaktion aus.
In unserer Seele erleben wir Angst als äußerst unangenehm, so sinnvoll sie auch sein mag. Es gibt eine große Vielfalt an Angstreaktionen – ich kenne einige davon aus eigenem Erleben. Was vom wissenschaftlichen Standpunkt aus für mich als Ärztin so faszinierend ist, sind die Symptome, die der Mensch zeigt, wenn er Angst hat. Es gibt kaum ein Krankheitssymptom, das nicht von der Angst ausgelöst werden könnte.
Geistig weckt uns Angst auf für Probleme und Defizite, die wir haben. Wenn wir keine Angst hätten, würden wir uns für bestimmte Fragen gar nicht interessieren. Angst erregt unsere Aufmerksamkeit, wirft Fragen auf, und wenn wir ihnen nachgehen, damit arbeiten und Antworten finden, führt das dazu, dass sich unser Bewusstsein erhöht und erweitert. Sie ist eine Begleiterscheinung von Entwicklung.
Sinn und Aufgabe von Angst
Die Aufgaben der Angst im Zusammenhang mit der Entwicklung des Menschen lassen sich so zusammenfassen:
- Die erste Aufgabe besteht darin, dem Menschen zu helfen, immer wacher zu werden. Angst möchte uns auf Neues, noch nicht Gedachtes und Gelebtes aufmerksam machen.
- Die zweite Aufgabe besteht darin, den Menschen herauszufordern, die eigene Identität wirklich zu befestigen, sie denken und erfahren zu lernen, sodass er begreift: Ich bin in dieser Welt, wurde hier geboren und sterbe hier, aber ich komme aus einer anderen Welt, in der ich den Zerfallsprozessen aus Raum und Zeit nicht unterworfen bin (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit).
Es geht darum, sich im Zuge der Identitätsbildung klar zu machen, mit welcher Dimension man als Mensch umgeht durch die Tatsache, dass man denken kann. Man muss die Macht der unsichtbaren, rein spirituell fassbaren Gedanken ganz neu entdecken, die Macht der Gedanken, die überräumlich und überzeitlich in sich selbst bestehend vorhanden sind. Ich kann den Gedanken meines eigenen Wesens denken, kann im Denken mich selbst erleben als ein übersinnliches, rein spirituelles, energetisches Wesen (vgl. Denken: Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen).
Wenn diese Identitätsbildung gelingt, ist die zweite Aufgabe der Angst erfüllt: Uns Menschen, die in einer Welt des Vergänglichen leben, in Beziehung zu bringen mit der Welt des Unvergänglichen, und uns aufzufordern, darin unser wahres Wesen zu entdecken.
Erlösung von Todesangst
Der bereits verstorbene Psychiater Bernard Lievegoed erzählte uns jüngeren Ärzten gerne, wie er die Angst vor dem Sterben verlor. Er saß im 2. Weltkrieg mit seinen Kameraden im Schützengraben, als eine Granate kam und seinen Freund innerhalb von Sekunden vernichtete. Er selbst wurde nur ganz leicht verwundet, stand aber unter Schock. Er befand sich in einem gelockerten Zustand, war ganz sensibel und weit offen und sah plötzlich am Horizont eine Lichtgestalt, die sich näherte. Für ihn sah es so aus, als wäre sie bis zu den Knien in der Erde versunken, als würde sie durch die Erde schreiten. Sie näherte sich seinem Freund, nahm ihn in die Arme. Bernard Lievegoed sah seinen Freund ganz klar, lebendig und unversehrt mit dieser Lichtgestalt langsam auf den Horizont zugehen.
Er sagte, dass dieses Erlebnis ihn lebenslang davor beschützt hätte, sich vor dem Tod zu fürchten – ein klassisches Beispiel eines persönlichen Schicksalserlebnisses, das den Betroffenen in sich selbst bestärkte.
Vgl. Vortrag „Angst in Krankheit und Gesundheit“, 14. Februar 2007
Positive und negative Auswirkungen von Angst
Welche Auswirkungen hat Angst auf den Menschen?
Unterschiedliche Auswirkungen von Angst
Die positiven Auswirkungen von Angst sind in aller Kürze:
- das Aufweckende
- das Bewusstsein Erzeugende
- die Betonung des Einzelseins, wodurch die Verletzlichkeit des Individuums bewusst wird
Die negativen Auswirkungen von Angst sind:
- Lähmung
- Isolation
- Verhinderung von Entwicklung dadurch, dass man den Mut verliert, etwas Neues zu wagen und zu lernen. So manifestiert Angst sich als größter Feind individueller Entwicklung.
Diesen Auswirkungen gilt es mit pädagogischen und therapeutischen Mitteln bei Kindern und Jugendlichen zu begegnen, damit sie als Schattenseite der Angst in ihrem Leben nicht zum Tragen kommen (vgl. Jugend heute: Angstkrise bei Jugendlichen).
Konstruktiver Umgang mit Angst
Das betrifft auch uns Erwachsene: Täglich hören wir von neuen Gefahren und Gefährdungen in irgendeinem Bereich des kulturellen Lebens! Jüngst brach durch den Lauschangriff bis ins Kanzleramt ein weiteres Stück Sicherheit weg... Jeder Tag konfrontiert uns mit neuen Gründen, Angst zu haben. Deswegen brauchen wir Erwachsene eine Art Selbstmanagement, um mit unserer Angst auf der körperlichen und der geistig-seelischen Ebene so umgehen zu lernen, dass wir uns das Positive daran zunutze machen und wacher, sorgsamer, genauer und überlegter werden. Dabei helfen die folgenden Fragen:
Was will mich das lehren?
Was kann ich besser machen?
Wofür soll ich aufwachen?
Das wird uns helfen, das Negative, die Entwicklung Hemmende, zu erkennen und uns dadurch nicht irritieren zu lassen, bzw. wird es uns motivieren, an Strategien zu arbeiten, wie wir das Negative in den Griff bekommen und überwinden können.
„Womit ich nie gerechnet habe“
Ich möchte Ihnen im Zusammenhang damit die Autobiografie von Götz Werner, dem dm-Gründer, empfehlen: „Womit ich nie gerechnet habe“(1). Das Interessante ist, dass man nicht nur einen sympathischen alten Mann auf dem Cover abgebildet sieht, sondern dass jede Zeile in diesem Buch für einen ängstlichen Menschen eine Wohltat zu lesen ist.
Götz Werner wurde in seinem Leben nichts von außen geschenkt. Er musste immer, wenn ihm etwas missfiel oder wenn er eine gute Idee hatte, die im Gegensatz zu seiner Umgebung stand, sich gegen Fachleute stellen, die versuchten, ihm seinen Einfall auszureden. Dann hatte er aber den Mut, ihn doch umzusetzen – der Erfolg gab ihm Recht. Wenn man dieses Buch liest, lernt man einen mutigen Menschen kennen, der vor allem beschreibt, wie er in einem Moment seiner Biografie etwas erkannte, was seine gesamte weitere Entwicklung bestimmte. Er fragte sich als Drogist, der Kosmetik und Zahnpasta und anderes verkaufen wollte, ob es wichtiger ist, an seinen Kunden möglichst viel Geld zu verdienen oder ihnen bestmöglich zu dienen. Die diesen Überlegungen zugrunde liegende Fragestellung lautet:
Ist der Mensch für das Geld da oder das Geld für den Menschen?
Er entscheidet sich dafür, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, ganz nach dem aktuellen dm-Motto: „Hier bin ich Mensch, hier kaufe ich ein.“ Das Geld sollte diesen Prozess nur ermöglichen (vgl. Geld und Besitz: Geld, Besitz und Spiritualität). Im Zuge der langsamen wirtschaftlichen Weiterentwicklung gingen die Leute nicht nur zu dm, weil sie billig einkaufen konnten, sondern weil es bei dm menschlich zugeht. Das finde ich begeisternd.
Gerade in der heutigen Zeit, in der die Wirtschaft von niederen Motiven – Neid, Ehrgeiz, Konkurrenz und Misstrauen – beherrscht wird anstatt von Brüderlichkeit und Füreinander-Leisten und -Dasein, wie es dem Ideal entspräche (vgl. Soziales Leben und soziale Dreigliederung: Sozialimpuls aus dem Ich), ist dieses Buch ein Manifest, dass es auch anders geht. Man schafft sogar, es quer zu lesen, wenn man wenig Zeit hat wie ich. Man kann es auch gut jungen Leuten in die Hand geben.
Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013
(1) Götz Werner, Womit ich nie gerechnet habe. Econ, Berlin 2013.
Ursache und Herausforderung der Trennungsangst
Was ist die Ursache für Trennungsangst?
Warum kann sich kein Mensch ihr entziehen?
Vor welche Herausforderungen stellt sie uns?
Geburt als Ur-Trauma
Die Trennungsangst wurzelt in unserer Geburt: Wir werden ausgestoßen aus dem mütterlichen Schoß, in dem wir ganz und gar behütet, genährt, beschützt, gewärmt herangewachsen sind – bis plötzlich die Nabelschnur durchschnitten wird und wir von der Mutter getrennt sind. Das ist der Ursprung aller Trennungsangst auf Erden. Man hat fortan Angst, getrennt zu werden von allem, zu dem man sich zugehörig fühlt, mit dem man sich verbunden weiß, bei dem man sich geliebt und sicher fühlt. Denn man wurde schon einmal, bei der Geburt, abgeschnitten, und hat jetzt Angst davor, dass das jederzeit wieder geschehen kann. Es ist im Grunde die Angst vor einer Re-Traumatisierung – auch wenn das Ur-Trauma den Säuglingen vollkommen unbewusst bleibt. Es ist eine Erfahrung, die jeder Mensch macht: mit der Abnabelung bin ich zu einem Einzelwesen geworden.
Diese Ur-Tatsache veranlagt uns Menschen aber auch dazu, früher oder später auf eigenen Füssen zu stehen, den eigenen Weg zu gehen, den eigenen Kopf zu benützen. Man kann nicht in allen Angelegenheiten andere fragen, was man machen soll. Irgendwann muss man lernen, das selber zu entscheiden. Mit dieser Individualisierung sind jedoch tausend Ängste verbunden (vgl. Identität und Ich: Die Ich-Natur des Menschen-ein zweischneidiges Schwert).
Gemeinschaftsgefühl versus Individualismus
Der berühmte deutsche Dichter Christian Morgenstern, der mit Anfang 40 schon früh verstorben ist, schrieb: „Die zur Wahrheit wandern, wandern allein“.(1) Das ist enorm schmerzhaft. Es wäre viel einfacher, die Wahrheit von anderen „serviert zu bekommen“, sich irgendwo anzuschließen, eine Clique oder Gruppe zu bilden, die die Wahrheit „hat“. Faschistische, nationalistische Gruppierungen sind heute wieder so attraktiv, weil dort ein extrem starkes Gemeinschaftsgefühl herrscht und Individualismus so gut wie nicht gefragt ist. So eine Gruppierung würde sofort zerfallen, wenn die dort verbundenen Menschen anfangen würden, selber zu denken. Selbst Parolen wie „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, die wirklich sozial klingen, zielen darauf ab, dass der einzelne gar nichts zählt, dass er sich nur dem Staat unterzuordnen hat, dass die Belange der Gemeinschaft vorgehen.
Dem gegenüber sagte Rudolf Steiner schon vor dem 1. Weltkrieg, das moderne Sozialwesen bzw. moderne Staatswesen dürfe nicht vom Selbstbestimmungsrecht der Völker sprechen. Er sah die ganzen Migrationsbewegungen und ihre Folgen bereits voraus. In Stuttgart haben 51 % der heute dort lebenden Kinder einen Migrationshintergrund. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist vor diesem Hintergrund doch ein schlechter Witz: Denn es gibt kein Land, in dem nicht Minderheiten leben. Schon als der Amerikaner Woodrow Wilson 1917 das Selbstbestimmungsrecht der Völker proklamierte,(2) sagte Steiner, es werde der Menschheit enorme Schmerzen bereiten, weil es einen Rückfall in die alte Gruppenseelenhaftigkeit darstelle: einen Rückfall in die vorchristliche Zeit, als man noch in Stämmen und Ethnien verbunden war und sich am Ahnherrn, am Vater, am Chef, an der Königsfigur, am Pharao innerlich angeschlossen erlebte (vgl. Mysterien und Initiation: Über die alten Mysterien). Man war familienzugehörig, sippen- und regionszugehörig, aber doch nicht individuell!
Individualismus als Voraussetzung für Gemeinschaften freier Geister
Die Individualität, das Individuelle, ist ein Kind der Neuzeit, ist noch ganz jung und hat seine Vordenker in den griechischen Philosophen, die nur wenige Jahrhunderte vor Christus die Menschen erstmals auf den Individualismus, auf das Selberdenken vorbereiteten. Das gab es davor gar nicht. Und dann kam es zu dem Rückfall in Form des Selbstbestimmungsrechts der Völker…
Heute geht es vielmehr um das Selbstbestimmungsrecht des Individuums (vgl. Menschheitsentwicklung: Der göttliche Weltenplan). Das macht natürlich Angst. Denn man schneidet auch die „soziale Nabelschnur“ durch, wenn man alle geltenden Werte und Glaubenssätze, alle geltenden Gewohnheiten und Regeln, mit dem individuellen Bewusstsein beleuchten muss und selbst entscheiden, was man daran gut findet.
Dann hält man sich nicht mehr daran, weil es die anderen auch so machen, sondern weil man es selbst gut findet. Dann entstehen „Gemeinschaften freier Geister“, tragfähige Gemeinschaften aus Individuen, die individuelle Wärmezentren bilden und das Leben wieder neu zu einer Ganzheit zusammenschließen, die das Getrennte wieder aneinanderfügen (vgl. Gemeinschaft(sbildung): Gemeinschaftsfähigkeit stärken).
Vgl. Vortrag „Seelische Wärme statt Angst vor der Zukunft“, in Altenschlirf 2014
(1) Christian Morgenstern, Wir fanden einen Pfad. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2004.
(2) siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/14-Punkte-Programm
Wurzeln und Aufgabe der Existenzangst
Worin wurzelt die Existenzangst?
Wie können wir ihr begegnen?
Was ist ihre Botschaft?
Angst zu sterben
Existenzangst ist die Angst krank zu werden und zu sterben, aber auch die Angst vor Umweltgiften. Es ist eine sehr quälende, unangenehme Angst, weil man so wenig durchschaut, wovor man eigentlich Angst hat. Man kann das schleichende Verderben ja nicht spüren und auch nicht messen. Dazu gehört auch die Angst vor der tickenden Zeitbombe des Elektrosmog. Immer mehr Studien sagen, wie gefährlich der Elektrosmog ist, aber trotzdem werden immer mehr Antennen gebaut, nimmt die Zahl der elektrosensitiven Menschen zu.
Wie wird das in zehn, zwanzig Jahren sein?
Wie wird es den Kindern dieser elektrosensitiven Menschen gehen?
Aus der Epigenetik wissen wir, dass Körper und Erbgut sich an der Umwelt verändern. Unter diesem Blickwinkel sorgt man sich um die nächste Generation, aber auch ums eigene Alter. Dazu gehört natürlich auch der materielle Aspekt:
Wie werde ich in zwanzig Jahren als alter Mensch sein?
Wie kann ich mit ein paar hundert Euro überleben, wenn ich alt bin und es schon jetzt kaum schaffe?
Angst junger Menschen vor dem Bösen in sich
Ich möchte noch ein Beispiel für die Ängste vor allem junger Menschen nennen. Ich wurde einmal eingeladen nach Norwegen, weil dort ein 6jähriger Junge ein 5jähriges Mädchen umgebracht hatte. Es geschah im Winter beim Schlittenfahren. Das Mädchen hatte einen schönen roten Plastikschlitten, den der Junge haben wollte. Das Mädchen wollte ihn nicht hergeben. Dann hat der Junge dem Mädchen diesen Plastikschlitten einfach aus der Hand weggerissen. Und weil das Mädchen so schrie, hat er, wie er später sagte, damit dem Mädchen so lange auf den Kopf geschlagen, bis es nicht mehr schrie und in den Schnee gesunken ist. Dort hat er es erfrieren lassen. Das erschütterte Norwegen damals, Mitte der 90er Jahre, ähnlich wie der Amoklauf von Breivik. Die Zeitungen im ganzen Land waren voll davon, im Radio wurde berichtet, im Fernsehen, überall gab es Panelgespräche darüber, wie so etwas passieren konnte.
Ich bekam damals einen Brief von einer Waldorfschule, ob ich nicht kommen und mit den Schülern darüber sprechen könnte. Das habe ich gemacht. Ab der 5. Klasse bis zur Abiturklasse hatte man alle Schüler zusammengerufen. Ich habe sie dann gefragt: Warum habt ihr mich eingeladen? Im folgenden Gespräch kamen unglaublich tiefe Ängste vor dem Bösen im eigenen Innern, in der menschlichen Natur zutage:
Woher weiß ich, dass nicht auch ich einmal so werde, wenn das doch in der menschlichen Natur sitzt?
Das hat mich sehr berührt. Ehrlicherweise musste ich ihnen sagen, dass diese Ängste total berechtigt sind. Wer sich nicht selbst überwindet, lässt das Böse, das in ihm steckt, heraus. Deshalb muss der Mensch sich selbst erziehen. Das sagte auch Goethe: Er habe alle bösen Neigungen, zu denen ein Mensch fähig ist, in sich selbst entdeckt, mit Ausnahme von Neid. (Als ich das zum ersten Mal las, habe ich mich gefragt, wen Goethe, der berühmteste Europäer seiner Zeit, denn hätte beneiden sollen…)
Der Eigenwille des anderen weckt das Böse
Man kann das Böse jedoch nur durch die Begegnung mit der Welt in sich entdecken, nur so wird es geweckt: Ohne den roten Schlitten, ohne die Gier danach wäre das überhaupt nicht passiert. Da hätte der Junge gemütlich beim Abendessen gesessen. Es braucht doch immer eine Begegnung, durch die das Böse mobilisiert wird. Ich kenne keinen Menschen, der, wenn er lieb und brav bei sich zuhause sitzt, das Böse herauslässt. Es gibt sogar viele, die meinen, dass sie, wenn sie, weil sie so lieb und brav zuhause sitzen, eigentlich ganz nett sind und sich fragen, warum denn die anderen so schwierig sind. Das ist ein ganz natürliches Grundempfinden. Wir müssen uns klarmachen, dass uns das Böse nur zu Bewusstsein kommt, wenn sich andere so benehmen, wie sie es wollen und nicht, wie wir uns das vorstellen: wenn wir einen Grund haben, frustriert zu sein, weil die Welt nicht so ist, wie wir sie uns wünschen.
Deswegen bedeutet Kultur ja gerade, sich am anderen, an der Begegnung, zu entwickeln und nicht Macht auszuüben, dass alle so ticken, wie man selbst es möchte (vgl. Soziales Leben und soziale Dreigliederung: Sozialimpuls aus dem Astralischen). Vielmehr muss ich mich verändern für diese Welt – was bedeutet: mein eigenes Wissen zu behalten, aber auch offen dafür zu sein, was anderen wichtig ist. Dadurch wird das Leben reich.
Erlösung des Bösen durch Entwicklung
Rudolf Steiner sagt, das Böse sei ein Gutes am falschen Platz. Wird ihm der richtige Platz zugewiesen, ist es erlöst. Das bedeutet: Das Böse kann nur durch Entwicklungsprozesse individueller und sozialer Art erlöst werden (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Unvermeidliche Auseinandersetzung mit dem Bösen). Dass wir dafür wach werden müssen, ist die Botschaft unserer Zeit. Es passiert so viel Schreckliches, weil die Menschen so verschlafen sind und es schlicht nicht wahrhaben wollen, dass das Leben kein Spaziergang ist, so hart das auch klingt.
Angst vor der Zukunft kann also persönliche Ursachen haben, kann aber auch die ganze Menschheitsentwicklung betreffen. Ich treffe immer mehr Menschen, die sich ernsthaft darüber Sorgen machen, wo es mit der Menschheit hingeht. Wir alle haben diese Ängste, mehr oder weniger stark.
Je mehr wir uns der Entwicklungskompetenz unseres eigenen Ich bewusstwerden (vgl. Entwicklung: Entwicklungsgedanke und Wiederverkörperung), umso mehr können wir zum Ausgleich, zur Überwindung dieser Ängste beitragen.
Vgl. Vortrag „Seelische Wärme statt Angst vor der Zukunft“, in Altenschlirf 2014
Wurzeln und Überwindung der Angst vor Verletzung
Was sind die Ursachen für Angst vor Verletzung?
Warum ist es so schwer ihr zu entkommen?
Wie lässt sie sich überwinden?
Bewusstsein der Verwundbarkeit
Die Angst vor Verletzung beruht auf dem Wissen um unsere körperliche Verwundbarkeit: Wir haben eine zarte Haut, die leicht zu verletzen ist. Unfälle, Gifte, grobe oder spitze Gegenstände – wie oft verletzt man sich oder „baut“ einen Unfall. Davor haben vor allem auch ältere Menschen Angst.
Dazu kommt die seelische Verletzungsangst: Auch unsere Seele ist verwundbar, auch sie hat eine „Haut“. Wir spüren ganz genau, wenn diese verletzt wird. Das ist der Grund, warum man viele Dinge aus Angst, verletzt zu werden, unterlässt, damit man
- nicht schief angeschaut wird;
- das Vertrauen eines anderen nicht verliert;
- nicht missachtet wird;
- Anerkennung und Wertschätzung erhält
- und vieles mehr…
Die Angst, seelisch verletzt zu werden, macht, dass wir uns anpassen. Diese Angst ist eine der schlimmsten „Mittel zur Anpassung“ in einer Gesellschaft: Wenn man bestimmte Regeln zur Norm erklärt und die kollektive Angst nur genügend schürt, dass der einzelne sich nur ja nicht aus der Spur begibt und zu individuell wird, hat man dadurch eine ganze Gesellschaft unter Kontrolle. Die wichtigsten Regeln haben mit Geld und Anerkennung zu tun. Damit kann man fast jeden korrumpieren: Nur aus Angst nicht dazuzugehören, verbiegen sich viele und spielen mit, obwohl sie dieses Verhalten und die Regeln, denen dieses „Spiel“ folgt, nicht richtig finden.
Den Menschen bestimmende Faktoren
- Der Mensch als Naturwesen
Rudolf Steiner sagt in seiner Philosophie der Freiheit (1): „Die Natur, unsere Konstitution, macht aus uns ein Naturwesen“. Wir sind ja alle aus Fleisch und Blut, bestehen aus Kalzium und Phosphor, aus Natrium und Kalium – stellen geradezu einen kleinen biochemischen Kosmos dar – und dabei ist jeder ganz individuell „gebaut“. Einerseits sind wir also reine Natur und mit der ganzen Schöpfung verbunden.
Die Schöpfung bringt auch Pflanzen und Tiere hervor, die wir zu uns nehmen und verdauen können. Wir sind für sie und sie für uns gemacht. Es passt alles zusammen. Die Sonne ist gerade so weit weg, dass wir nicht verbrennen, sondern ausreichend Vitamin D bilden können über die Haut, sodass unsere Knochen stark werden. Unsere innere biologische Uhr ist synchron mit der Sonne. Wir sind ein Teil dieser natürlichen Schöpfung und sind mit ihren Gesetzen tief verbunden.
- Der Mensch als von der Gesellschaft bestimmtes Wesen
Die Gesellschaft macht aus uns dagegen ein angepasstes Wesen. Rudolf Steiner sagt „ein gesetzmäßig handelndes Wesen“. Sie konditioniert uns, sie macht aus uns einen braven Bürger. Und die Wirtschaft legt noch einen "oben drauf" und erzieht uns von klein auf zu guten Konsumenten. Auch das hat mit Anpassung zu tun: Schon Kinder üben einen gewaltigen Druck aufeinander aus, wie man sich zu kleiden hat und was man alles haben muss – allem voran ein cooles Smartphone...
Wenn es da nicht starke Erwachsene gibt, die den Kindern vorleben, dass man angesichts all dieser Werbekampagnen auch angstfrei und individuell leben kann, lernen Kinder das auch nicht und passen sich einfach an.
- Der Mensch als freies Wesen
Zuletzt sagt Steiner die schwer umzusetzenden Worte: „Ein freies Wesen kann der Mensch nur selbst aus sich machen.“ In dieser Hinsicht sind wir allein. Diese Fähigkeit erhalten wir weder von der Natur, noch wird sie von der Gesellschaft vermittelt. Unsere Freiheit müssen wir selber erringen. Die Gesellschaft kann das natürlich mit allen Mitteln zu verhindern versuchen: dadurch, dass sie uns so konditioniert, dass wir gar nicht mehr auf den Gedanken kommen, dass wir freie Wesen sein könnten.
Angst vor der eigenen Freiheit
Deswegen sagt Novalis sinngemäß: Es gibt überhaupt nur eine Angst – die Angst vor der Freiheit (vgl. Konfliktfähigkeit: Die Gewissensstimme). Die Angst vor uns selbst, vor unserem eigenen freien Wesen. Wir haben eine Riesenangst, uns auf diesen individuellen Weg zu begeben und beschäftigen uns lieber mit tausend anderen Sachen, als uns zu unserer Freiheit, zu unserer ganz eigenen Identität zu bekennen.
Ich kann nur empfehlen, in stillen Wintertagen den 2. Teil von „Heinrich von Ofterdingen“ zu lesen. Novalis hat ja ein Romanfragment hinterlassen, das man im Internet herunterladen kann. Dort gibt es ein Gespräch, das Heinrich von Ofterdingen mit dem Arzt Sylvester führt. Heinrich fragt ihn: „Wann wird die Zeit kommen, wo es kein Elend, keine Not, keine Schmerzen mehr auf der Erde gibt?“ Wir könnten hinzusetzen: …und keine Angst mehr. Der Arzt antwortet: „Wenn es nur eine Kraft und Macht gibt, die Macht des Gewissens.“ Denn, so sagt er, die Wurzel aller Ängste, aller Schwächen, alles Bösen, allen Übels wäre „der Mangel an Reiz der Freiheit“.
Damit formuliert Novalis, was Rudolf Steiner in ähnlicher Weise in der Philosophie der Freiheit formuliert: Ein Mensch, der an seiner inneren Befreiung arbeitet, hat auch ein Interesse daran, andere frei zu lassen. Er begibt sich auf den Weg des Friedens und der Toleranz.
Vgl. Vortrag „Seelische Wärme statt Angst vor der Zukunft“, in Altenschlirf 2014
(1) Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. GA 4. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995
Leibesangst und ihre Ursachen
Was ist der Grund für Leibesangst?
Ahrimanische und luziferische Komponenten der Leibesangst
Warum der Prozess der Inkarnation von Natur aus mit Angst und Furcht verbunden ist, können wir uns gut vorstellen, wenn wir uns Folgendes vergegenwärtigen:
- Kinder und Erwachsene fühlen sich bedroht, wenn ihre körperlichen und seelischen Grenzen nicht respektiert bzw. sogar zerstört werden, wenn diese einfach ignoriert und überrannt werden – wenn also schwere Verletzung und Vernichtung drohen. Das ist Ausdruck des Wirkens von Ahriman auf Erden. (vgl. Das Böse – Widersachermächte: Wirksamkeit von Luzifer und Ahriman).
- Angst tritt außerdem auf, wenn man sich klein, begrenzt, limitiert und schwach fühlt in einer unendlich großen, weiten Welt. Was bedeutet schon ein einzelner Mensch als winziges Etwas in dem unendlich großen Weltall und unter den 7,5 Milliarden Menschen! Was zählt da ein Mensch! Das ist Ausdruck des Wirkens von Luzifer auf Erden..
Solche elementaren Empfindungen ob unserer Kleinheit im physischen Leib, ob unserer „Dinglichkeit“, ob unseres Zusammengezogen-Seins, werden in der Medizin unter „Leibesangst“ zusammengefasst: Wir haben Angst um unseren Leib, weil er so eng, so limitiert, so leicht zu bedrohen, so verletzlich ist. Ahriman ist die gewaltige kosmische Macht, die die Mineralisation der Materie und damit den Tod herbeigeführt hat. Denn wenn etwas mineralisiert ist, hat es kein Leben mehr. Alles Mineralisierte kann zerfallen. Damit ist auch die wichtigste Voraussetzung für Entwicklung gegeben, denn nur wenn das Alte stirbt, kann sich etwas Neues entwickeln. Angst gehört also zur Enge und Dichte des physischen Leibes.
Was wir Ahriman und Luzifer verdanken
Rudolf Steiner sagt, der Großteil der Leibesangst säße im Knochen, weil er am stärksten mineralisiert sei.(1) Er sagt sogar, Knochen bestünden aus kristallisierter Angst. Und die Kräfte, die unsere Organe bilden, treten später auch im Seelischen als Bildekräfte auf: Die organ- und auch knochenbildenden Kräfte strahlen quasi in das Seelische hinein. Das seelische Erleben von Angst ist also etwas ganz Natürliches.
- Ahriman verdanken wir die mineralische Konstitution unseres Leibes und damit auch die Furcht.
- Luzifer verdanken wir die Fähigkeit uns aufzulösen, uns hinzugeben, uns zu entgrenzen: das Symbiotische; aber auch unsere Tendenz, uns über alles auszubreiten und zu erheben: das Überhebliche.
Die Leibesangst hat also zwei Komponenten:
- Die Angst, an der Grenze bedroht zu werden, weshalb man sich in den Grenzen zusammenzieht und verengt (ahrimanische Komponente).
- Die Angst, sich zu verlieren, die Grenzen und damit das Selbstbewusstsein zu verlieren, mit der gefühlten Erweiterung nicht mitzukommen (luziferische Komponente).
Umgewandelte vorgeburtliche Furcht
Im Vortragswerk Rudolf Steiners gibt es wirklich erstaunliche Passagen. Dazu gehört die Aussage, dass das Selbstgefühl – die Fähigkeit, sich als ein Selbst zu fühlen, das sich in sich selbst halten kann – umgewandelte Furcht aus dem vorirdischen Leben ist.
Außerdem verwandelt sich die Furcht in Willenskraft: Alle Willensimpulse, die unserer Betätigung in der Welt zugrunde liegen, sind vor dem Heruntersteigen ins Irdische als Furcht vorhanden.
Ich kann mir gut vorstellen, dass jemand, der aus einem jammervollen Leben in die geistige Welt kommt und dort alles aufgearbeitet und den Sinn der ganzen „Veranstaltung“ erfahren hat, wenn er schließlich in die Weltenmitternacht eingeht (vgl. Nachtodliches und vorgeburtliches Leben: Zwischen Tod und neuer Geburt), versucht ist, dort zu bleiben, weil er kaum Lust verspürt, das Ganze nochmal mitzumachen. Man möchte dortbleiben, will nicht wiedergeboren werden.
Dann kommt es zu einem eigentümlichen Vorgang: Der Makrokosmos, der Weltenplan, der göttliche Wille, der uns trägt, hilft uns, uns zur Wiedergeburt zu entschließen und neue Entwicklungsziele ins Auge zu fassen (vgl. Menschheitsentwicklung: Der göttliche Weltenplan).
Zwei Inkarnationsgesten
Denn wenn wir uns wieder auf den Weg der Inkarnation begeben, geschehen zwei Dinge:
- 1. Geste - Zusammenziehung
Wir ziehen unsere Wesensglieder (vgl. Wesensglieder: Grundlegendes zum Thema Wesensglieder) gemäß unserem Schicksal aus den Weltenkräften erneut zusammen:
- die Ich-Organisation als Wärmeorganismus,
- den Astralleib als Luft- und Lichtorganismus,
- den ätherischen Leib, der später im Wasserorganismus wirkt,
- aber vor allem den physischen Leib, der die Gesetzmäßigkeiten unserer physischen Konstitution beinhaltet und uns ermöglicht, Grenzen zu erleben.
Das Zusammenziehen gemäß den wunderbaren Gesetzmäßigkeiten von fester, flüssiger und gasförmiger Materie sowie von Wärmezuständen ist also die eine Geste.
- 2. Geste – Entfremdung vom Makrokosmos
Die andere Geste ist, dass uns der Makrokosmos wie in einer grandiosen Antipathie-Geste, wie in einem makrokosmischen Geburtsvorgang aussondert und „hinauswirft“ aus der Weltenmitternacht und den Sphären der geistigen Welt, hin zur Erde. Der Makrokosmos wird uns fremd, wir entfremden uns ihm: So weist er uns aus sich heraus in Richtung Erde. Diese Entfremdung erleben wir als Furcht, die den Impuls verstärkt, uns zu inkarnieren und so diese Furcht zu überwinden.
Jetzt leuchtet ein, wieso das Selbstgefühl bzw. das Selbstbewusstsein aus der makrokosmischen vorgeburtlichen Furcht erwächst. Denn der eigentliche Grund, warum wir uns aus der geistigen Welt wieder herauslösen und uns auf der Erde inkarnieren wollen, ist unser Wunsch, Selbstbewusstsein zu entwickeln (vgl. Selbstbewusstsein: Zur Entstehung von Selbstbewusstsein). Das können wir in der geistigen Welt nicht erreichen. Dort entwickeln wir Welt- und Gottesbewusstsein, Bewusstsein für große Zusammenhänge, Bewusstsein über den Sinn der Menschheitsentwicklung (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierung als Entwicklungsmotiv). Wir leben eingebettet in diese Entwicklung, aber wir haben nicht die Möglichkeit, auf diese Weise Selbstbewusstsein zu entwickeln. Unser Selbstbewusstsein bringen wir als große Erdenerrungenschaft mit.
Wir haben in früheren Jahren oft das Wort von Meister Eckhart zitiert: „Wär ich ein König und wüsste es nicht, ich wäre kein König.“ Wäre ich ein wunderbares, ewiges, gottgeschaffenes Ich und könnte mein Einzelsein nicht wirklich erleben und empfinden, wäre ich wie ein Fisch im Wasser und wüsste nicht, dass ich da bin.
Individualisierung des Bewusstseins
Wir ziehen uns also mit unseren Wesensgliedern aus dem Makrokosmos heraus – mit Ich-Organisation, Astrallaib, Ätherleib, physischer Leib – und entwickeln uns dann so weit, dass diese Kräfte sukzessive wieder leibfrei werden als unsere spirituelle Aura (vgl. Wesensglieder: Die Metamorphose der Wesensglieder in leibfreies Denken, Fühlen Und Wollen):
- Der Ätherleib, der sich nach und nach aus dem Körper befreit, wird zu unserem Denkvermögen, das Selbstbewusstsein ermöglicht.
- Der Astralleib wird im Zuge des Wachstums frei und lässt uns über unser Fühlen Selbstgefühl entwickeln.
- Die Ich-Organisation wird, nachdem sie den Körper durchgearbeitet hat, frei und ermöglicht uns das eigene Wollen.
- Der physische Leib wird zu unserer individuellen irdischen Behausung.
Wir entwickeln also die Fähigkeit, uns selbst zu denken, uns selbst zu fühlen, uns selbst zu wollen und uns selbst zu entwickeln. Jetzt können die uns bildenden Kräfte, die wir uns vom Vorgeburtlichen mitgebracht haben, individuelles Geistbewusstsein entwickeln und denkend, fühlend und wollend sagen: Ich denke. Ich empfinde. Ich will/ich handle.
Selbstbewusstsein als edelste Frucht der Angst
Man kann sich aus alledem gut vorstellen, dass das Ergebnis der Bildetätigkeit das Selbstbewusstsein ist. Selbstbewusstsein ist die edelste Frucht der Angst. Jede Form von Angst steigert das Selbstbewusstsein unendlich – insofern als man im Vollbild der Angst nur noch sich selbst im Bewusstsein hat und in Bezug auf alles andere in Panik ist. Man weiß weder ein noch aus, man weiß nur noch, dass man DA ist und furchtbare Angst hat.
Selbstbewusstsein entsteht am physischen Leib. Unser wahres Ich ist ein rein geistiges Wesen und verbleibt in der geistigen Welt. Wir sind körperlich Abbilder oder Ebenbilder Gottes, nicht das Urbild: Die Ich-Organisation bildet das Urbild ab und baut den physischen Leib mithilfe der anderen Wesensglieder so auf, dass ein Bewusstsein dieser „Abbildlichkeit“ entstehen kann. Selbstbewusstsein zu haben bedeutet also, sich bewusst zu sein, dass man das Abbild von einem wahren Selbst ist (vgl. Gottebenbildlichkeit des Menschen: Der Mensch als Offenbarung des Göttlichen).
Wenn dieses Selbstbewusstsein in gesunder Weise erwacht, resultiert daraus eine Sehnsucht nach dem wahren Ich, nach dem wahren Menschentum, nach „des Lebens vollendetem Menschsein“ , nach Höher- und Weiterentwicklung, nach Verwandlung, nach Veränderung. Man hat über das Selbstbewusstsein quasi einen festen Punkt erreicht, von dem aus man sich weiterentwickeln möchte.
Vgl. „Vorgeburtliche Disposition zu Angststörungen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013
(1) Rudolf Steiner, Die Wissenschaft vom Werden des Menschen, GA 183. Neun Vorträge, gehalten in Dornach.
Angst im 1. Jahrsiebt – Leibesangst
Inwiefern ist die Überzeugung, dass die Welt gut ist, ein Ausweg aus der Angst, insbesondere auch der Leibesangst?
„Die Welt ist gut“ als Angstprophylaxe
Das Motiv – „Die Welt ist gut“ – ist die Angstprophylaxe im 1. Jahrsiebt (vgl. Entwicklung: Entwicklung und Lernen). In diesem Entwicklungsabschnitt, in dem der Körper gebildet wird und seine Grenzen als etwas Souveränes erlebt werden sollen, darf das Böse noch nicht vorkommen (vgl. Liebe: Liebe zu allen Wesen – Die Welt ist gut). Denn Grenzverletzungen erzeugen Ohnmacht und prägen auf traumatische Weise. Das lässt sich nicht wieder rückgängig machen. Diese vulnerable Phase umfasst den Lebensabschnitt, in dem das Nervensystem sich noch im Aufbau befindet (vgl. Entwicklung: Stadien der menschlichen Entwicklung). Wenn der Großteil der zentralnervösen Funktionen ausgebildet ist, bzw., wie Rudolf Steiner sagt, wenn die Formbildung des Leibes mit dem Zahnwechsel nach dem 1. Jahrsiebt zu einem gewissen Abschluss gekommen ist, bleibt das Kind zwar seelisch verwundbar, ist aber körperlich nicht mehr so vulnerabel.
Wenn jedoch Verletzungen geschehen (sind), muss dieser Umstand im Bewusstsein der Erwachsenen als etwas Sinnvolles für die Entwicklung aufleuchten, sodass das Kind emotional nachahmend annehmen kann, dass diese Erfahrung zu seinem Leben dazugehört und auch etwas Gutes bewirken kann. Erfolgt diese Wendung zum Guten nicht, ist die Trennungsangst berechtigt und führt zu nachhaltigen Störungen, die sich auch als körperliche Veranlagung zu Angst niederschlagen kann.
Spielarten der Angst
Der Archetyp der Leibesangst ist die körperliche Abnabelung: Die körperliche Symbiose zwischen Mutter und Kind wird durchtrennt. Ab da muss das Kind im 1. Jahrsiebt ganz behutsam lernen mit Trennung und Verletzungen an der „heiligen Grenze“ umzugehen, an der es ganz und gar sinnesoffen ist. Entweder das Kind spürt, dass die Welt es trägt, oder es empfindet die Welt als verletzend.
Zu den typischen entwicklungsbedingten Trennungsängsten gehört auch die Angst vor der Dunkelheit, dem Getrennt-Sein vom Licht, die Angst macht, weil das Licht fehlt, das die eigene Grenze sichtbar machen könnte. Bei Licht sieht das Kind, dass es hier ist und sich dort die Welt befindet, dass alles geordnet ist und sich in einer normalen Distanz zu ihm befindet, sodass es nicht fremdeln muss – dann fühlt es sich sicher und geborgen. Licht schafft einen überschaubaren Zusammenhang, in dem sich das Kind in seinem Getrennt-Sein positionieren kann.
Angst tritt auf, wenn das Kind etwas Unbekanntem, das es nicht einschätzen kann, gegenübertritt. Wenn Kinder etwas älter sind, haben sie Angst vor den Folgen, wenn sie etwas tun, von dem sie genau wissen, dass sie es eigentlich nicht tun dürfen.
Dann gibt es noch die Angst vor Schreck und Schock, vor Misshandlung, Verlassen-Werden und vor Einsamkeit. Es gibt aber auch mitgebrachte, schicksalhafte konstitutionelle aus den äußeren Ereignissen nicht ableitbare Ängste.
Starkes Erleben der elementarischen Welt bei Kindern
Kinder haben auch aufgrund von bestimmten Erfahrungen Angst. Kleine Kinder erleben die elementarische Welt noch sehr stark. Ich bin sehr dankbar, dass meine Mutter spirituell sensibel und offen war und mir glaubte, wenn ich sagte, ich sehe da und dort Gespenster. Sie reagierte dann herrlich sachlich. Ich erinnere mich an einmal, als es besonders schlimm war: Ich wollte gerade einschlafen und plötzlich kamen aus einer dunklen Ecke aus der Wand gräulich-schwarze dämonische Gestalten mit lautem Gebrüll auf mich zu. Ich habe laut geschrien und meine Mutter kam herein und fragte, was denn los wäre. Ich erzählte ihr von den schrecklichen Gestalten. Sie sagte nur: „Michaela, warum schläfst du auch mit dem Gesicht zu dieser dunklen Ecke ein?“ Daraufhin drehte ich mich im Bett um und sah den Türspalt, durch den noch ein bisschen Licht durchkam, und konnte so gut einschlafen.
Kinder sind Realisten. Wenn sie es mit einem Erwachsenen zu tun haben, der ihre Welt wieder ordnet, kann ihr Angstgefühl sofort verschwinden. Denn Angst entsteht durch seelische Schutzlosigkeit. Das Gefühl geschützt zu sein, kann durch die Sicherheit und Präsenz der Mutter wiederhergestellt werden.
Es gibt auch Witterungsverhältnisse, bei denen man die elementarische Welt ganz real erlebt: Kinder bekommen bei Gewitter viel mehr mit als Erwachsene. Sie erleben nicht nur Blitz und Donner im Äußeren, sondern auch die entfesselten, destruktiven dämonischen Gewalten, die damit verbunden sind. Es kann sehr hilfreich sein, ein Gewitter mit dem Kind auf dem Arm durchzumachen, sodass das Kind erlebt, dass man das aushalten und seelisch Widerstand leisten kann.
Abgesehen von alledem muss man Kinder heute sehr früh darüber aufklären, dass sie Angst vor fremden Menschen haben müssen und dass sie mit niemandem mitgehen dürfen.
Vgl. „Vorgeburtliche Disposition zu Angststörungen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013