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Anthroposophische Medizin

Aus Geistesforschung
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Anthroposophische Medizin – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

ITA WEGMAN UND DIE ENTWICKLUNG DER ANTHROPOSOPHISCHEN MEDIZIN

Wie kam es zur Begründung der Anthroposophischen Medizin?

Wie entwickelte sich die Zusammenarbeit von Ita Wegmann und Rudolf Steiner?

Schicksalhafte Zusammenarbeit

Die Anthroposophische Medizin verdanken wir der Zusammenarbeit von Rudolf Steiner und Ita Wegman. Wegman bekam von Rudolf Steiner den Anstoß, nach ihrer Ausbildung in Schwedischer Massage auch noch Medizin zu studieren. Dafür musste sie jedoch das Abitur nachholen, was für die bereits Siebenundzwanzigjährige eine große Herausforderung war. In der Zeit der Prüfungsvorbereitung schrieb sie Rudolf Steiner einen bewegenden Brief, ob er nicht etwas wüsste, das ihr helfen würde, sich besser zu konzentrieren. Leider ist uns die Antwort nicht bekannt. Jedenfalls ging alles gut, und sie begann auf Anraten Marie Steiners ihr Studium in Zürich. Deren Begründung für die Ortswahl war: „Unsere ganze Bewegung kommt ja doch einmal in die Schweiz.“

Zu diesem Zeitpunkt war jedoch noch keine Rede davon – die Zentren der anthroposophischen Arbeit waren München und Berlin. So vollzog sich die Verbindung von anthroposophischer Geisteswissenschaft und materialistischer Schulmedizin, die bis heute für die Weiterbildung zum Anthroposophischen Arzt unerlässlich ist.

1907, bei der Spaltung der theosophischen Gesellschaft, stellte sich Ita Wegman klar auf die Seite Rudolf Steiners und der Anthroposophie. Das war nicht selbstverständlich. Denn seit ihrem 18. Lebensjahr hatte sie sich dem Gedankengut der Theosophie gewidmet als Mitglied der Theosophischen Gesellschaft. Doch nach dem schicksalhaften Zusammentreffen mit Rudolf Steiner in Berlin war sie seine persönliche Schülerin geworden.[1] Ita Wegman engagierte sich dann mit anderen dafür, dass Rudolf Steiner oft in die Schweiz kam, um Vorträge zu halten. Wenn sie zu viel reiste, um auch in anderen Städten und in Deutschland seine Vorträge hören zu können – sie war auch 1911 in Prag bei dem Vortragszyklus über die okkulte Physiologie – ermahnte Rudolf Steiner sie, dass sie auch studieren müsste, um ihr Medizinstudium abzuschließen.

Fruchtbare Konsequenzen

Wegman war quasi der Prototyp eines anthroposophischen Arztes: nicht primär der Homöopathie oder einer spirituell-komplementärmedizinischen Richtung verbunden, sondern akademisch ausgebildet an einer renommierten Universität. Ihre fachärztliche Weiterbildung zur Gynäkologin absolvierte sie am Spital Liestal ganz in der Nähe von Dornach. Anschließend ließ sie sich in Basel als Allgemeinärztin nieder. 1921 entschloss sie sich, ein klinisch-therapeutisches Institut in Arlesheim zu eröffnen. Zu ihrer großen Freude sagte Rudolf Steiner zu, dort mit ihr zusammenzuarbeiten.

So ist Ita Wegman eng mit der Geschichte der anthroposophisch-medizinischen Bewegung verbunden: Die Zusammenarbeit mit Rudolf Steiner reichte von der Beratung beim Abitur und beim Studium über die parallelen Studien der Mainstream-Medizin und der Anthroposophie bis hin zur Begründung der ersten Klinik und der gemeinsamen Behandlung vieler Patienten, wovon hunderte dokumentierter Krankengeschichten zeugen. Zuletzt, in seiner Krankheitszeit vor seinem Tode, begleitete sie Rudolf Steiner zusammen mit Ludwig Noll als seine Ärztin.

Die Krönung dieser Zusammenarbeit war jedoch die im Herbst 1923 begonnene Arbeit an dem ‚Medizinischen Buch’, das nach dem Tode Rudolf Steiners unter dem Titel „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“[2] herauskam und dessen 18. Kapitel der Heileurythmie gewidmet ist.

Die Parzifal-Frage als entscheidender Impuls

Ita Wegman war es auch, die Rudolf Steiner im Sommer 1923 die für die gesamte anthroposophische Bewegung entscheidende Frage nach der Erneuerung der Mysterien gestellt hatte. Als dieser nach dem Brand des ersten Goetheanum und dem Versagen der Anthroposophischen Gesellschaft mit der Frage lebte, ob er einen Orden gründen und sich aus der Anthroposophischen Gesellschaft zurückziehen sollte, sagte sie zu ihm: „Aber Herr Doktor, Sie können doch die Gesellschaft nicht alleine lassen!“ Im Sommer 1923 dann, in England, wurde ihr das zentrale Anliegen ihres Lebens bewusst, welches sie Rudolf Steiner gegenüber etwa so formulierte: „Ich möchte gerne eine Medizin haben, wie es sie zu den Zeiten der alten Mysterien gab – nur in christlicher Form.“

Bernard Lievegoed hat wiederholt erzählt, wie Rudolf Steiner zu Zeylmans van Emmichhofen gesagt hätte, dass diese Frage Ita Wegmans für ihn „die Parzival-Frage“ gewesen wäre, die ihn veranlasst hätte, die Weihnachtstagung von 1923/24 zur Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft abzuhalten. Ohne diese Frage wären die Neubegründung der Gesellschaft und die öffentliche Begründung der Hochschule für Geisteswissenschaft durch Rudolf Steiner gar nicht möglich gewesen.

Vgl. „Vom Wesen der Heileurythmie als Herzorgan der Anthroposophischen Medizin“,  1. Weltkonferenz für Heileurythmie am Goetheanum, 30. Mai 2008



[1] Peter Selg hat in seinem Buch zum Münchner Kongress 1907 dieses Schicksalsmoment neu dokumentiert und zugänglich gemacht.

[2] Rudolf Steiner, Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.

ENTWICKLUNG UND DERZEITIGER STAND DER ANTHROPOSOPHISCHEN MEDIZIN

Wie hat sich die anthroposophische Medizin seit ihrer Entstehung entwickelt?

In welchen philosophischen und ethischen Prinzipien hat sie ihre Wurzeln?

Historische Entwicklung

Die Anthroposophische Medizin wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von dem österreichischen Philosophen Dr. Rudolf Steiner (1861-1925) und der Ärztin Dr. med. Ita Wegman (1876-1943) in Zusammenarbeit mit weiteren Ärzten entwickelt. Die Grundlagen dieser Medizin wurden 1920-1924 im Rahmen von Kursen vermittelt, die Steiner auf Einladung von Ärzten und Medizinstudenten hielt, die nach einem Menschenbild suchten, das sich sowohl auf die Naturwissenschaft als auch auf die anthroposophische Geisteswissenschaft beruft. Ihr Anliegen war von vornherein nicht alternativ-medizinisch, sondern integrativ, d.h. es orientierte sich an der Wirklichkeit des Menschen selbst.

Inzwischen gibt es die Anthroposophische Medizin in über 80 Ländern.

In Europa sind einige größere Akutkliniken entstanden. Hinzu kommen Sanatorien, Reha-Einrichtungen und zahlreiche Arztpraxen aus nahezu allen Fachrichtungen sowie weltweit über 400 Institutionen für Menschen mit Behinderungen. In den letzten dreißig Jahren kamen neu Einrichtungen für die Altenpflege und die Suchtbehandlung dazu.

Anthroposophische Ärzte arbeiten auch in Kooperation mit Pädagogen als Schulärzte sowie in der medizinischen Forschung und in der Arzneimittelherstellung.

Im ambulanten Bereich haben sich aus der interdisziplinären Zusammenarbeit von Ärzten, Krankenschwestern, Kunsttherapeuten, Physiotherapeuten u.a. vielerorts so genannte „Therapeutika" entwickelt, d.h. ein neuer Typ von Gemeinschaftspraxen.

Erkenntnistheoretische Wurzeln

Erkenntnistheoretisch und ethisch wurzelt die Anthroposophie in der Philosophie und Kunstauffassung des deutschen Idealismus, wie sie insbesondere von Goethe (1749-1832), Schiller (1759-1805), J. G. Fichte (1762-1814), Novalis (1772-1801) und Schelling (1775-1854) vertreten wurden. So trägt Steiners erkenntnistheoretisches Frühwerk (1884) den Titel: „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“.[1]

Die Suche nach einer im Geist gegründeten Anschauung vom Menschen, die sich selber stützen kann im Erarbeiten einer inneren und äußeren Evidenz, sowie der Wille zu Entwicklung von Autonomie und Verantwortung prägen die ethische Grundhaltung anthroposophischer Ärzte und Therapeuten.

Die Weiterbildung zum anthroposophischen Arzt ist durch eine international vereinbarte Zertifizierung geregelt. Der anthroposophische Arzt hat die Verpflichtung, die Ergebnisse aus Steiners Geistesforschung selbständig nachzuvollziehen und anhand der eigenen Lebens- und Berufserfahrung zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Werden Mitteilungen Steiners unreflektiert übernommen, besteht die Gefahr der Ideologisierung und Dogmatisierung, was der Anthroposophischen Medizin schadet bzw. ihrer Entwicklung im Wege steht.

Haltung der Mitverantwortung fördern

Heinrich Schipperges führt in seinem Buch „Moderne Medizin im Spiegel der Geschichte“[2] aus, dass die gegenwärtige Medizin nach einer Phase des unaufhörlichen Fortschritts und trotz aller großartigen Leistungen zunehmend in eine bedrohliche Krise geraten ist. Genau genommen ist diese Krise jedoch die medizinische Spielart der Menschheitskrisen von heute: ökologische Katastrophen, Armut, Hunger, Genozid, Bildungsnotstand, Energiekrise u.a. Diesen Krisen ist gemeinsam, dass ihre Ursache in einem Menschen- und Naturverständnis liegt, das keinen inneren geistigen Zusammenhang zu den Naturerscheinungen und dem Menschen herstellt. Wird dieser Zusammenhang bewusst erlebt, führt er zu einem starken Gefühl der Solidarität mit dem gesamten Evolutionszusammenhang von Erde, Natur und Mensch. Diese mitfühlende Verantwortlichkeit für alles Lebendige möchte die Anthroposophische Medizin fördern.

Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012


[1] Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, GA 2.

[2] Heinrich Schipperges, Moderne Medizin im Spiegel der Geschichte, Stuttgart 1970.

WARUM ANTHROPOSOPHIE IN DER MEDIZIN

Wozu braucht es Anthroposophie?

Inwiefern handelt es sich bei der Anthroposophischen Medizin um eine „Weltanschauungsmedizin“?

Was sind die grundlegenden Aspekte der Anthroposophischen Medizin?

Medizin als Ausdruck einer bestimmten Sicht auf Mensch, Natur und Umwelt

Die Anthroposophie (Anthropos = Mensch, Sophia = Weisheit, Wissenschaft) gilt bis heute als nicht leicht zugänglich. Auch wenn viele anthroposophische Initiativen auf den Gebieten der Heilpädagogik und Pädagogik, der Landwirtschaft und Medizin bekannt sind, bleibt das, was als integratives Welt- und Menschenbild der Anthroposophie dahintersteht, meist vage. Man weiß nicht so recht, ob es sich dabei um eine Philosophie handelt, eine Art Religion oder um eine diffizile oder auch „eklektische“ Weltanschauung. Man fragt angesichts der Vielfalt anthroposophischer Einrichtungen und Initiativen auch, ob der anthroposophische „Überbau“ dafür überhaupt nötig sei, ob man ähnlich Gutes nicht auch ohne diesen leisten könne.

Jedes medizinische System ist Ausdruck einer bestimmten Sicht auf Mensch, Natur und Umwelt und insofern eine „Weltanschauung“. Das gilt auch für den naturwissenschaftlichen Materialismus, für Idealismus, Realismus und andere philosophische oder geistige Orientierungen. Wer glaubt, keine Weltanschauung zu haben, hat seinen eigenen Standpunkt und, was diesen stützt, noch nicht reflektiert was eines der Haupthindernisse ist, die „Normalität“ der Anthroposophischen Medizin anzuerkennen. Eine individuell erarbeitete Weltanschauung wie die Anthroposophie ist jedoch klar abzugrenzen von der familiären oder traditionellen Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft.

Anthroposophie als Verständnishilfe

Jedem ganzheitlichen medizinischen System – ob nun traditionell chinesische, ayurvedische oder homöopathische Medizin – liegt ein spirituelles Menschen- und Weltbild zugrunde, das die gemeinsame Evolution von Mensch, Erde und Weltall beschreibt. Neu ist bei der anthroposophischen Medizin nur, dass Steiner sich auf keine dieser alten Traditionen beruft, sondern einen Erkenntnisweg beschreibt, auf dem jeder selber die Möglichkeit entwickeln kann, sich mit seinem Wahrnehmungs- und Denkvermögen an die spirituellen Quellen anzuschließen.[1] Durch eigene Beobachtung, Empathie und situationsgerechtes Denken zu den nötigen Einsichten für Diagnose und Therapie zu kommen ist das Arbeitsideal – nicht nur eine traditionelle Heilweise oder Technik zu lernen.

Ich war viele Jahre in verschiedenen asiatischen Ländern und auch weltweit mit einem Ausbildungsprogramm für Anthroposophische Medizin unterwegs. Es hat mich anfangs gewundert, dass Chinesen, Japaner, Taiwanesen, Inder, Indonesier, Philippiner sich für Anthroposophische Medizin interessieren. Als Motive nannten sie das Menschenbild der Anthroposophie, das ihnen hilft, die Brücke zu bilden zwischen dem heutigen Denken und den alten überlieferten Bildern und Werten ihrer Heilverfahren, die zwar gute Ergebnisse liefern, aber für den modernen Menschen oft nicht genau aufschlüsseln können, wie sie wirken. Die Anthroposophie half ihnen, ihre eigenen Medizinsysteme und ihre Wirkungsweisen besser zu verstehen. In Indien gab es ayurvedische Ärzte, die keine Zertifikate für Anthroposophische Medizin wollten, sondern zu uns kamen, um bessere Ayurveda-Ärzte zu werden.

Grundlegende Aspekte Anthroposophischer Medizin

Wer der Anthroposophie begegnet, trifft auf vier Aspekte, die je nachdem alle vier oder auch nur der eine oder andere das Interesse wecken und zum weiteren Studium anregen können.

1.     Philosophischer Aspekt

Das philosophische Fundament der Anthroposophie schließt an die Erkenntnisweise Goethes an sowie an den deutschen Idealismus mit dessen Idealen von Freiheit und Würde, Wahrheit und Liebe.[2] Rudolf Steiner benannte sogar seine Anthroposophische Hochschule in Dornach nach Goethe: Goetheanum.[3] Das zeugt von der großen Wertschätzung, die er diesem Genie mitteleuropäischer Geistes- und Kulturgeschichte zeitlebens entgegenbrachte.

Für manche Menschen ist Philosophie nicht wichtig, man möchte gute Ideen für seine Arbeit und sein Leben haben und keine Zeit mit intellektuellen Grübeleien verlieren. Es gibt aber auch Menschen, die nur deshalb Anthroposophen werden, weil sie hier eine Erkenntnistheorie und deren philosophische Begründung finden, durch die sie sich selbst und ihren Zusammenhang mit der Welt besser verstehen.

Philosophie ist die Kunst des eigenständigen Denkens. Steiner formuliert diese „erkenntnis-künstlerische“ Herausforderung in seinem philosophischen Hauptwerk, „Die Philosophie der Freiheit“, so: „Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“[4] Das heißt, wer Gedanken und Ideen anderer übernimmt und nicht eigenständig bedenkt und bewertet, gerät in Abhängigkeit der Autoritäten, von denen diese Gedanken stammen. Mit Hilfe dieses Ansatzes, selbst hinzuschauen, zu fragen, zu bedenken, zu verstehen, ist jeder Student der Anthroposophie angeregt, seine eigene Philosophie zu reflektieren.

2.     Aspekt der Selbstschulung

Anthroposophie beinhaltet einen Weg der Selbstschulung, welcher zu seelischer Weiterentwicklung, Selbsterkenntnis und Willensstärkung führt.[5] Es gibt heute viele Menschen, die auf der Suche nach einem interreligiösen Weg spiritueller Selbsterfahrung sind. Sie wollen sich nicht einer bestimmten Glaubensgemeinschaft oder einer bestimmten spirituellen Gruppierung anschließen. Sie suchen einen allgemein-menschlichen Weg für ihre innere Entwicklung. Einige davon finden diese Möglichkeit in der Anthroposophie und ihren Organisationen.

Da die Anthroposophische Gesellschaft international organisiert und offen für alle wissenschaftlichen, religiösen und künstlerischen Überzeugungen ist, findet man Vertreter der verschiedensten spirituellen Orientierungen. Angehörige der christlichen Konfessionen, des Buddhismus, Daoismus, Shintoismus, der Hindi-Religion, der Zarathustra-Spiritua­lität, des Judentums sowie einzelne Vertreter des Islam und viele ohne eine bestimmte spirituelle Ausrichtung können hier mehr über ihre eigene spirituelle Identität lernen, indem sie zusätzlich den Weg der Selbstschulung der Anthroposophie gehen. Was sie in dieser Gesellschaft verbindet, ist der Entwicklungsgedanke in der Anthroposophie sowie das Bestreben, das gesellschaftliche Leben menschlicher und zukunftsfähiger zu machen.

Der Biologe Bernd Rosslenbroich wies in einer naturwissenschaftlichen Studie das Autonomieprinzip als Grundlage der gesamten Evolution nach, deren Gipfel die menschliche Entwicklung sei.[6] Dieses Autonomieprinzip liegt auch der anthroposophischen Selbstschulung zugrunde. Autonomie konstruktiv leben zu lernen ist nicht leicht. Scheitern und immer wieder neu Ansetzen gehören ebenso dazu wie die stille innere Ausrichtung des eigenen Lebens und Arbeitens an den Idealen von Freiheit und Würde, Ehrlichkeit und Liebe.

3.     Aspekt der Geisteswissenschaft

Wo aber ist der „Geist“ als Fundament dieser anthroposophisch-geisteswissenschaftlichen Weltsicht zu finden?

Selbständiges Denken als Ausdruck von Geist

Die Antwort ist schlicht: das menschliche Denken. Normalerweise kennt jeder den Zustand des Gedanken-Habens, Wissens, Sich-Informierens oder sich in anerkannten bzw. vorgegebenen Denkmustern zu bewegen und diese wiedergeben zu können. Wer jedoch von der eigenen Denktätigkeit ausgeht, entdeckt auch denjenigen, der denkt, in seinem Denken.

Der idealistische Philosoph Johann Gottlieb Fichte[7] wies seine Studenten auf die zentral wichtige spirituelle Selbsterfahrung im Denken hin. Er führte mit ihnen die folgende Übung durch: Er fragte sie, ob sie die Wand des Hörsaals sähen. Dann sagte er: „Schließen Sie die Augen und denken Sie die Wand.“ Und dann kam die alles entscheidende Aufforderung: „Und jetzt denken Sie den, der die Wand gedacht hat...“[8]

Wer das durchführt, kann in seinem Denken das eigene Selbst als reinen Tätigkeitsquell, als innere Aktivitätsbereitschaft, als Ich, als eigenständiges Wollen bemerken als rein energetische spirituelle Selbsterfahrung im Denken. Damit hat er einen sicheren Ausgangspunkt gewonnen, sich seine eigene Weltsicht zu erarbeiten. Er steht jetzt geistig auf eigenen Füßen und ist in der Lage, sein Denken immer perspektivenreicher auszubilden. Je mehr er versteht, desto mehr sieht er von der Welt. Und je mehr ihn die Welt interessiert und zum Nachdenken anregt, desto differenzierter und klarer wird sein Denken. Sich selbst und die Welt zu verstehen und dadurch zu einer authentischen Selbst- und Weltsicht zu kommen, ist die Weltanschauung der Anthroposophie. Seinen Zeitgenossen zu zeigen, dass sie „durch das Denken zur Wirklichkeit des Geistes kommen“ können, war ein zentrales Anliegen Rudolf Steiners. Das eigene Ich als geistig reales Wesen im Denken erleben zu können, erschließt zugleich die spirituelle Dimension des Begriffs der menschlichen Würde als autonome und geistbewusste Kompetenz.

Rudolf Steiner formulierte diesen Tatbestand gegen Ende seines Lebens noch einmal so: „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte“.[9] Grundlage dafür ist die Gedankenarbeit eines jeden einzelnen Menschen. Hannah Arendt nannte diese Selbsterfahrung im Titel ihres gleichnamigen Buches „Denken ohne Geländer“.

4.     Aspekt der Zusammenarbeit

Da Anthroposophie auf das sich zur Autonomie entwickelnde Individuum baut, findet man gerade unter Anthroposophen einen ausgeprägten Meinungs- und Standpunktepluralismus bis hin zur gern zitierten „Streitkultur“. Auch ist die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft von eindrücklichen Krisen und Konflikten geprägt, die von dem Ringen um individuelle und soziale Kompetenz zeugen, einem Bemühen, das alles andere als einfach ist. Umso erfreulicher ist es, dass sich diese Gesellschaft bis heute nicht in verschiedene Gruppierungen gespalten hat, sondern der Wille zum gegenseitigen Verstehen und zur Entwicklung von Toleranz gegenüber anders Denkenden stets überwogen hat.

Von dem Dichter und Anthroposophen Christian Morgenstern (1871 - 1914) stammt ein Gedicht, das dieses Spannungsverhältnis zwischen der notwendigen Individualisierung einerseits und der Befähigung zur Gemeinschaftsbildung andererseits meisterlich zum Ausdruck bringt:

Die zur Wahrheit wandern, wandern allein,

keiner kann dem andern Wegbruder sein.

Eine Spanne gehn wir, scheint es, im Chor ...

bis zuletzt sich, sehn wir, jeder verlor.

Selbst der Liebste ringet irgendwo fern;

doch wer's ganz vollbringet, siegt sich zum Stern,

schafft, sein selbst Durchchrister, Neugottesgrund –

und ihn grüßt Geschwister Ewiger Bund.[10]

Hier wird in künstlerischer Form zum Ausdruck gebracht, dass größtmöglicher Individualismus und „Gemeinschaft im Geist“ sich nicht widersprechen müssen. Vielmehr erscheinen die Ideale der Französischen Revolution – der Freiheit des Individuums, der Gleichheit und der brüderlichen Solidarität – so erst in ihrem wahren Licht: Denn wenn man weiß, dass jeder „auf dem Weg ist“, wächst der Respekt vor der Einmaligkeit und Würde des anderen. Und gleichzeitig erlebt man, wie uns dieser Tatbestand des Werdens „gleich“ macht. Da wir aber sowohl „gleich“ als auch „individuell sehr verschieden“ sind, sind wir Menschen immer wieder auf gegenseitige brüderliche Hilfe angewiesen. Wir gewähren sie, wenn wir die Bedürfnisse des anderen sehen, respektieren und, wo möglich, erfüllen.

Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012



[1] Mathias Girke , PF Matthiessen (Hrsg.), Medizin und Menschenbild, Bad Homburg 2015.

[2] Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller. GA 2. Dornach 2003.

[3] www.goetheanum.org

[4] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995.

[5] Dargelegt in Steiners Selbstschulungsbuch Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.

[6] Bernd Rosslenbroich, On the Origin of Autonomy. A New Look at the Major Transitions in Evolution, Hei-delberg, New York, Springer 2014.

[7] Johann Gottlieb Fichte, Philosoph (1762 - 1814).

[8] Überliefert von Steffens, einem Naturforscher und Zeitgenossen Fichtes.

[9] Rudolf Steiner, Anthroposophischer Leitsatz 1, 17. Februar 1924. In: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, S. 6 (1989).

[10] Christian Morgenstern, Wir fanden einen Pfad, Basel, Zbinden Verlag. 5. Aufl. 2004.