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Das Böse – Widersachermächte

Aus Geistesforschung
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Das Böse – Widersachermächte – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

WIRKLICHKEIT UND NOTWENDIGKEIT DES BÖSEN

Ist das Böse eine Wirklichkeit?

Ist es der Welt Gottes zugehörig?

Schwierigkeit, das Böse zu akzeptieren

Wir müssen uns fast täglich mit der Frage nach dem Bösen auseinandersetzen. Sie wird noch drängender, wenn man sie auch im Zusammenhang mit den Vernichtungswaffen oder der atomaren Verseuchung sieht. Denn wenn man sich dazu durchgerungen hat, die Existenz des Bösen als von Gott zugelassen zu akzeptieren, gilt diese Akzep­tanz zunächst doch nur bis zu einer gewissen Grenze. Wenn wir der schieren Vernichtung gegenüberstehen, der Tatsache, dass Tausende von Menschen dem Tod anheimfallen, dass die Natur unwiederbringlich zerstört wird, so stellt sich die Frage nach der Wirklichkeit des Bösen jedem noch einmal neu und man gerät in Zweifel.

Aus den bisherigen Darstellungen geht hervor, dass der Mensch zur Freiheit beru­fen ist. Das äußert sich u.a. darin, dass jeder Mensch selber urteilsfähig werden, sich selbst verwirklichen, sich von einem anderen nichts sagen lassen möchte. Biswei­len wissen schon kleinere Kinder ganz genau, was sie wollen, und machen ihren Willen lautstark gegenüber demjenigen der Eltern geltend. Deutlich regt sich ein Autonomiebedürfnis in jedem Men­schen, und diese Autonomiefähigkeit setzt natürlich ein individu­elles Urteilsvermögen voraus – d.h. die Möglichkeit, zwi­schen richtig und falsch, sinnvoll und sinnlos, passend oder unpas­send zu entscheiden. Letztlich geht es bei alledem um eine Entscheidung zwischen gut und böse, zwischen dem, was für eine Si­tuation förderlich oder schädlich ist.

Soweit wird es in der Regel von den meisten Menschen auch eingesehen. Dann aber kommt ein Punkt, an dem man plötzlich Einhalt gebieten möchte. Man merkt, wie sich alles in einem dage­gen aufbäumt, das Böse und Unsinnige, das mit der Entwicklung zur Selbstän­digkeit notwendig verbunden ist, in seiner Notwendigkeit für diese Entwicklung auch anzuerkennen.

Gesichter des Bösen

Das Böse hat viele Gesichter. Wer einen buddhistischen Tempel betritt, z.B. den Tempel des tausendarmigen Buddha in Kyoto in Japan, sieht dort viele goldene Statuen, die alle in der­selben Weise gestaltet sind: ein stilles, liebevoll-mildes Angesicht, die Hände betend zusammengelegt und seitlich noch zahlreiche Arme, die alle möglichen Werkzeuge in der Hand haben, zum Zei­chen dafür, dass ein guter Mensch in den verschiedensten Bereichen Gutes tun kann. In demselben Tempel findet man aber auch in den Umgängen Gestalten, von denen man den Eindruck hat, dass sie nicht gerade sehr sanft sind. Dieselben Menschen, die die goldenen Buddhas verehren, blicken auch auf diese anderen, in verschie­denster Weise widerwärtig-böse aussehenden Skulpturen hin. Fragt man, wer hier dargestellt ist, bekommt man die er­staunliche Antwort: Das sind die Götter.

In romanischen christlichen Kirchen findet man ein ähnliches Phänomen: Neben den anbetungswürdigen Statuen der Heiligen finden sich oft tierhafte Figuren oder Gestalten mit grausamem Ge­sichtsausdruck, die außen an der Kirche angebracht sind.

Auch in den Faschingsbräuchen herrscht in manchen Gegenden noch die Sitte, die bösen Geister zu vertreiben, indem man in ihre Haut schlüpft und damit zeigt, dass man sie durchschaut.

Die Kraft der Vergebung und das Böse

Für Erwach­sene zeigt sich an dieser Stelle ein Erkenntnisproblem, das es auf differenzierte Art und Weise individuell zu lö­sen gilt. Das Böse stellt sich uns täglich in den drei Schichten unseres Erlebens, im Denken, Fühlen und im Wollen:

  • im Bereich des Denkens als Irrtum und Lüge
  • im Bereich des Fühlens als Hass und Antipathie
  • im Bereich des Wollens als Fähigkeit Böses zu tun

Täglich ringen wir Menschen in unserem Denken um das Rich­tige, das Wahre, im Gefühlsleben um ein ehrliches Verhältnis zur Welt und im Wollen mit der Möglichkeit guter und böser Handlungen.

Im Kampf mit dem Bösen auf diesen drei Ebenen steht dem Men­schen eine Kraft gegenüber, die alles wenden kann und immer wieder eine neue Ausgangssituation zu schaffen vermag: das Ver­zeihen. Rudolf Steiner hat einmal auf die Frage, welchen Fehler er am ehesten entschuldigen würde, geantwortet: „Alle, wenn ich sie begriffen habe.“ Im Verstehen- und Verzeihen-Können öffnet sich ein zentraler Erfahrungsraum für das Erlebnis der Freiheit. Wer jemandem verzeiht, von dem er schlecht behandelt wurde, kann dies nur aus innerer Freiheit heraus tun, wenn alles, was geschehen ist, dafür sprechen würde, dem anderen Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Vgl. Kapitel „Ist das Böse für Kinder eine Wirklichkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart

WIRKSAMKEIT VON LUZIFER UND AHRIMAN

Warum ist gerade heute ein starkes Bewusstsein für die Wirksamkeit des Bösen notwendig?

Das Wesen des Bösen erkennen

Heute ist es genauso notwendig, das Wesen des Bösen klar zu erkennen, wie es notwendig ist, einen Weg zu Christus zu finden. Und so wie das kleine Kind in den ersten drei Lebensjahren beim Gehen-, Sprechen- und Denkenlernen zeigt, wie an ihm und durch es die Christuskräfte wirksam sind, so haben auch die Mächte des Bösen – im Neuen Testament Satan und Diabolos genannt, in der Anthroposophie Ahriman und Luzifer – an der menschlichen Natur Anteil:

·       Das Wesen von Luzifer

offenbart sich im Hang des Menschen, sich in Abstraktionen zu verlieren, abzuheben von der Wirklichkeit, sich in schöne Illusionen einzuspinnen und den Rest der Welt zu vergessen. Luzifer wirkt aber auch in jeder illusionären Selbstüberschätzung und – so erschreckend das klingen mag – in dem elementaren Bedürfnis, alles richtig zu machen und sich keine Fehler zuschulden kommen zu lassen und, wo sie doch geschehen, sie nach Möglichkeit zu vertuschen.

Eine christliche Haltung wäre im Gegensatz dazu die Bereitschaft Fehler zuzugeben, sich und anderen zu verzeihen, Toleranz zu entwickeln und dennoch nicht bequem zu werden und alles laufen zu lassen, sondern sich ehrlich anzustrengen, immer wieder neu das Beste zu versuchen.

·       Das Wesen von Ahriman

inspiriert uns, unsere tierische Natur hemmungslos auszuleben, die Bequemlichkeit zu suchen und die technische Entwicklung so zu lenken, dass der Mensch immer mehr zum genüsslichen Zuschauer wird und selbst gar nicht mehr aktiv in die Geschehnisse eingreifen möchte. So zeigt sich Ahrimans Macht in vielen Dingen, die uns heute beherrschen und zwingen und dennoch so stark dem Bewusstsein entzogen sind, dass man es kaum bemerkt. Er wirkt in den Geldflüssen, den Sachzwängen, den technischen Gegebenheiten, zu denen auch alle Medien gehören, mit denen wir alltäglich mehr oder weniger bewusst umgehen.[1]

Wir sehen:

  • Luzifer wirkt primär über unser bewusstes Gedanken- und Gefühlsleben,
  • Ahriman beeinflusst mehr das unbewusste Willens- und Emotionsleben.

Wenn man beginnt, sich mit der Realität des Bösen zu befassen, ist es wichtig, sich von Anfang an klarzumachen, dass man dem Bösen nicht entfliehen kann, da es tief mit unserer eigenen Natur verbunden ist, sondern dass die Kräfte des Bösen in den Dienst des Guten gestellt werden müssen. Das ist in dem Maße möglich, in dem man das Böse erkennt und die Art seiner Wirksamkeit durchschaut.

Vgl. „Wie ist Entwicklung zur Selbständigkeit und Gemeinschaftsbildung vereinbar?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997


[1] Vgl. Rudolf Steiner, Der innere Aspekt des sozialen Rätsels. Luziferische VergangenheitAhrimanische Zukunft, GA 193; R. Bind, F. Carlgren, F. Dörmann, Ahriman. Profil einer Weltmacht, Stuttgart 1996.

LUZIFER, AHRIMAN UND ENTWICKLUNG

Inwiefern und warum sind Luzifer und Ahriman Entwicklungsverhinderer?

Luzifer und Ahriman und die Befreiung des Ich

Das sich befreiende Ich hat zwei Instrumente bzw. Aspekte:

  • den Leib als Träger des Ich-Bewusstseins
  • und das Schicksal als Träger der Entwicklungsmöglichkeiten.

Den beiden Widersachermächten, Luzifer und Ahriman, sind diese beiden Ich-Kom­ponen­ten ein Gräuel. Warum das so ist, möchte ich im Folgenden kurz umreißen.

·       Luzifer und die Lust am Kleinen

Luzifer ist das freie, instrumentelle, der Welt zugewandte Ich-Bewusstsein zutiefst zuwider. Ihm entspricht ein Ich-Bewusstsein, bei dem man sich selbst genießt, ein breites Ego hat, sich toll findet, sich spiegelt – das sind alles Abirrungen eines gesunden Selbstbewusstseins in Richtung Egomanie. Männer und Frauen haben ihre jeweilig eigene Spielart davon. Hier setzt die luziferische Versuchung an. Luzifer, sagt Rudolf Steiner, ist eine mikrokosmische Wesenheit. Sie interessiert sich für das Kleine, das Individuelle. Sie spielt mit Lust und Eitelkeit: Es muss Spaß machen, Lust bereiten, Selbstbespiegelung ermöglichen – dann ist Luzifer zufrieden.

Rudolf Steiner kam einmal in Stuttgart auf den Schulhof und sagte zu einem Lehrer, den er traf: „Da unten sitzen zwei Damen, die dürfen nicht in die Schule herein.“ Daraufhin schaute der Lehrer draußen nach, fand niemanden. Woraufhin Rudolf Steiner erläuterte, dass die beiden Damen „Eitelkeit“ und „Geltungssucht“ heißen...

·       Ahriman und der Hang zur Macht

Ahriman dagegen hat eine tiefe Abneigung und totales Unverständnis gegenüber dem menschlichen Schicksal, weil es Entwicklung ermöglicht. Für ihn sind Menschen nur Zahlen, wie Schiller es in seinem „Don Carlos“ den Großinquisitor sagen lässt: „Was sind Menschen? Menschen sind für mich nur Zahlen, weiter nichts.“[1] Das ist durch und durch ahrimanisch. Die ahrimanische Macht ist grandios: Wir verdanken ihr die Erde, das Feste, die Substanz, die klare Orientierung, das Mathematische, das Rationale, die Macht. Ahriman gibt uns vieles, ohne das wir gar nicht leben könnten – auch der physische Leib, die Knochendichte, ist sein Werk. Damit sollten wir laut Ahriman zufrieden sein und gleich ihm Macht ausüben – sprich: das Leben dazu benützen, anderen Menschen Angst zu machen und sie zu beherrschen.

Wir sehen also, dass Luzifer und Ahriman gemeinsam ist, dass sie beide das Wesen und den Sinn von Entwicklung nicht verstehen und tolerieren können.

  • Ahriman arbeitet mit Hass und Neid,
  • Luzifer mit Lust und Eitelkeit.

Alle anderen schlechten Eigenschaften sind Kinder davon. Man muss sich nur diese vier merken, dann hat man das Wesentliche begriffen.

Entwicklung durch Fehler, ein christliches Motiv

Entwicklung ist ein spezifisch christliches, allgemein-menschliches, heiliges Motiv. Deshalb befindet sich der dritte Aspekt des Selbst, die Persona, ständig in einer Auseinandersetzung mit den beiden Widersachermächten. Das Menschliche, das christliche Prinzip, arbeitet mit Wahrheit, mit Würde und Freiheit. Wir Menschen brauchen die beiden Widersacher, um den Umgang mit der Freiheit üben zu können. Ohne die Möglichkeit etwas falsch zu machen, können wir nicht herausfinden, was richtig ist. Wenn wir aus Fehlern lernen, erringen wir immer auch einen Sieg über Luzifer und Ahriman.

Es gibt nichts Christlicheres als Fehler zu machen, weil man dann schmerzlich empfindet, wie „dumm“ man war und sich fragt: Warum habe ich das gemacht? Luzifer hat hier keinen Zugriff auf uns, weil wir in unserer Eitelkeit ein wenig gekränkt sind – was nicht weiter schlimm ist. Denn unser Selbstbewusstsein gesundet, sobald wir uns eingestehen, dass es ein Fehler war, und uns vornehmen, es das nächste Mal besser zu machen – und solange üben, bis es klappt. Indem wir das tun, überwinden und erlösen wir Ahriman ein Stück weit, weil wir unser Machtpotenzial zum Lernen und Üben verwenden und gar keine Zeit und Lust mehr haben, über andere zu herrschen. Im Gegenteil: Wir versuchen andere zu motivieren, selbst auch zu üben und sich zu entwickeln. Dadurch entsteht eine Atmosphäre, die Kinder erleben lässt: Die Welt ist gut.

Entwicklung durch das Böse – Beispiel Verdauung

Viele Menschen wollen diese Tatsache nicht wahrhaben. Ohne das Böse wäre die Welt nicht denkbar als Raum für menschliche Entwicklung: nichts könnte zugrunde gehen; nichts könnte zerstört werden; alles würde ewig existieren; im Frühling könnten keine neuen Pflanzen wachsen – keine Entwicklung wäre so möglich: Die Erde wäre längst überfüllt und am Ende.

Wie will man etwas Neues bauen, wenn man nicht ir­gendwo Material findet, das man aus seinem Zusammenhang reißt und so etwas Vorhandenes zerstört?

Bauen wir aus Stein, so wird ein Berg abgetragen oder ein Steinbruch geplündert. Bauen wir aus Holz, so werden lebendige Organismen vernichtet. Die Le­benswirklichkeit zeigt, dass wir ohne Zerstörungsvorgänge nicht leben können. Auch unser eigener Organismus ist in diesen Prozess eingebunden:

1. Gute Verdauung durch Zerstörung

Wir sprechen von guter Verdauung, wenn wir in der Lage sind zu verdauen, was als Mahlzeit auf dem Tisch steht. Das heißt jedoch, dass wir in der Lage sind, den Lebenszu­sammenhang eines Radieschens genauso zu zerstören wie den stofflichen­ Zusammenhang von Fleisch, Ei oder Krabben. Und gerade dieses Bei­spiel zeigt, wie relativ die Begriffe von gut und böse sind. Man mag auf der einen Seite bedauern, dass die herrlichsten Früchte, zu einem Obstsalat zubereitet, vom menschlichen Organismus zerstört wer­den.

2. Bildung körpereigener Substanz

In einem nächsten Schritt dient dieser Vorgang dem Aufbau und der Erhaltung des Menschenwesens, indem aus den Zerstörungsprodukten etwas Neues gebildet wird: die körpereigene Substanz.

Natürlich sind wir nicht gewöhnt, die Verdauungsvorgänge mit moralisch belegten Begriffen wie Gut und Böse in Beziehung zu bringen. Wir finden es selbstverständlich, dass Wesen anderer Naturreiche sterben und sich an uns Menschen hingeben, um uns zu ernähren. Alles, was wir sind, verdanken wir dieser Hingabe in Form von Nahrungsstoffen. Das setzt aber voraus, dass in der ganzen Schöpfung letztlich Liebe waltet, gegenseitige Hingabe, Opfer, Geschenk. Wir können sogar so weit gehen zu sagen, dass dasjenige „gut“ genannt wird und gut ist, was sich sinnvoll in den Gesamtzusammenhang hineinstellt, auch wenn bei seiner Entstehung Kräfte der Zerstörung mitgewirkt haben.

Vgl. Vortrag auf der Welterziehertagung, Dornach 2012


[1] Friedrich Schiller, Don Carlos. Ein dramatisches Gedicht, Reclam 1997.

DAS ERLEBEN VON GUT UND BÖSE IM KINDESALTER

Welche Aufgabe hat der Erwachsene im Umgang mit Gut und Böse?

In welcher Art erleben Kinder das Böse als Wirklichkeit?

Das Böse als Gegebenheit der Schöpfung von Anfang an

Im Alten Testament in der Schöpfungsgeschichte vom Weltall und vom Mensch wird nach jedem Schöpfungsakt betont, dass „Gott sah, dass es gut war“. Augenscheinlich haben bereits hier die Mächte des Bösen eine Rolle gespielt. Als dann der Mensch erschaffen wurde, war das Böse ebenfalls im Paradies an­wesend.

Dass der Mensch es eines Tages erkannte, wird als ein be­sonderes Ereignis in seiner Entwicklung dargestellt: Gott hatte verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, das Böse in Gestalt der Schlange verführte den Menschen jedoch, indem es ihm ver­spricht, dass er durch den Genuss der Früchte eines bestimmten Baumes Gut und Böse erkennen würde. Damit wird angedeutet, dass die Möglichkeit frei zu wählen von Anfang an im Menschen veranlagt war und dass das Böse zur Zeit der menschlichen Schöp­fung bereits eine Wirklichkeit war. Hierfür werden Adam und Eva nun die „Augen aufgetan“. Damit verbunden werden ihnen Mühe, Arbeit, Schmerzen und Leiden vorhergesagt, aber auch die Vergebung verheißen.

Kindern Orientierungshilfe geben

Wie Gott im Alten Testament vor dem Menschen steht, so steht der Erwachsene vor dem Kind, wenn er sagt: „Das ist gut, böse, lieb, hässlich, ja oder nein.“ Wir erzeugen von uns das Bild als von jemandem, der weiß, was gut und böse ist. Das trifft auch auf diejenigen zu, die mit dem Alten Testament nichts anfangen können, wenn sie mit Kindern leben und ihnen ratend und helfend zur Seite stehen wollen. Es gibt gegenwärtig viele Erzieher, denen das unange­nehm ist. Sie fragen sich:

Ist es nicht eine Anmaßung, quasi als Richter vor dem Kind zu stehen?

Aus einer solchen Haltung heraus ist der antiautoritäre Erziehungsstil entstanden. Hier dürfen die Kinder machen, was sie wollen. Aus diesem Erziehungsstil sind nicht, wie erhofft, besonders selbstsichere und seelisch starke Menschen hervorgegangen. Das war auch nicht anders zu erwarten, da ein solches Vorgehen nicht der menschlichen Entwicklung entspricht.

Kinder durchlaufen eine unmündige Phase, in der sie Entscheidungshilfen seitens der Er­wachsenen brauchen. Sie sind umgeben von vielem, was ihnen schadet und was die Erwachsenen von ihnen fernhalten müssen, da sie es von sich aus noch nicht durchschauen können. Außer­dem können Kinder bei Erwachsenen, die nicht wagen, klare Entscheidungen zu fällen, auch keine Orientierungsfähigkeit und kein Entscheidungsvermögen lernen. Sie können im nachah­mungsfähigsten Alter diese wesentliche menschliche Eigenschaft nicht miterleben.

Individuelle Wahrnehmung des Bösen

Die Frage, ob und inwiefern Gut und Böse für Kinder eine Wirklichkeit ist, wird im späteren Leben ganz unterschied­lich beantwortet. Die einen haben das Böse in der Kindheit mehr als äu­ßere Macht wahrgenommen und erlebt, andere mehr als von innen kommend im Sinne böser Gedanken, Gefühle oder auch Neigun­gen. Das trifft auch auf das Gute zu.

Darüber hinaus haben viele Menschen die Erfahrung gemacht, dass es ihnen äußerlich ganz gut ging, während sie im Innern gequält waren von bösen Ahnungen, Neigungen oder Problemen. Umgekehrt wurde z.B. während des Krieges oft erlebt, dass man kein Dach über dem Kopf hatte und doch im Inne­ren tiefe Ruhe verspürte, dass man Dankbarkeit und auch Frieden empfinden konnte. Äußeres und inneres Erleben stimmen nicht von vorneherein über­ein, sie müssen vom Menschen erst in Übereinstimmung gebracht werden.

Außenerlebnisse des Bösen können vielfältig auftreten: Kinder können in der Natur, besonders in der Abenddämmerung, vor allen möglichen Gegenständen und Vorgängen Angst bekommen. Sie er­leben ein dunkles Zimmer, ein Kellergewölbe, einen Baumstumpf in einer nebligen Abendwiese noch wie beseelt und erschauern vor dem Feindlichen oder Drohenden, das sie wahrnehmen. Es gibt aber auch Wahrnehmungen, die sich auf nicht sinnlich Sichtbares beziehen. Ein Kind kann beim Einschlafen erleben, wie ein schwar­zes Tier mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll aus der Wand herausspringt. Gepeinigt schreit das Kind auf, die Mutter läuft herbei und sieht – nichts. Die Mutter, die mir dieses Erlebnis ihrer Tochter erzählte, sagte auf meine Frage hin, wie sie denn darauf reagiert habe: Ich habe meiner Tochter einfach gesagt, du darfst halt nicht mit dem Gesicht zur Wand einschlafen – dreh dich doch anders herum, dann kommt das Tier nicht. Das wirkte.

Sicherheit vermitteln gegenüber Wesenhaftem

Es ist für die Kinder eine wichtige Erfahrung, die Sicherheit zu erleben, mit der der Erwachsene solchen Erzählungen entgegen­tritt, wie er durch einen klaren Gedanken oder ein ruhiges Wort die Situation beherrschen kann.

Woher kommen aber derartige Gesichter bzw. Erscheinungen?

Welche Realität haben sie?

Wieso ist es möglich, dass Kinder Wahrnehmungen haben, die der Erwachsene normalerweise nicht hat?

Diese Erscheinungen hängen mit demjenigen zusammen, was in Märchen und Sagen als Hexen, Teu­fel und Gespenster beschrieben wird – mit den Elementarwesen und Gnomen.

Sind diese für das Kind sichtbar?

Warum wurde in früheren Zeiten auch von Erwachsenen über sie berichtet und ge­schrieben?

Der Erwachsene kann sich Gedanken über gute und böse Einflüsse machen, sie aber normalerweise nicht wesenhaft schauen. Kinder scheinen diese Fähigkeit noch zu besitzen und Ge­danken wie etwas konkret Wesenhaftes wahrzunehmen. Ihr Den­ken hat noch nicht den abstrakten Charakter, von dem es später geprägt sein wird.

Wie Kinder Böses erleben

Die Frage – Ist das Böse für Kinder eine Wirklichkeit? – kann man in zweifacher Hinsicht bejahen. Zum einen erleben sie es in Form der unheimlichen und erschreckenden Eindrücke. Anderer­seits erfahren sie auch sehr viel Hässliches, Freches und Böses in ihrer unmittelbaren Umgebung, im Umgang miteinander, wenn sie sich kratzen und beißen oder von anderen gejagt und geschlagen werden. Für die Bewältigung beider Erlebnisbereiche ist die Hilfe des Erwachsenen notwendig, der diese Erlebnisse zu verstehen und zu verarbeiten hilft, indem er beispielsweise sagt: „Es ist nicht gut, einen anderen zu schlagen oder zu treten – auch wenn er dir etwas getan hat. Das bringen wir auf andere Weise in Ordnung.“ Oder wenn der Erwachsene Märchen erzählt, in denen die Wirklichkeit der Elementarwesen, Kobolde, Nixen und Hexen dargestellt wird.

Dies gibt den Kindern die Sicherheit, dass das, was sie an erschreckenden und angenehmen Erscheinungen wahrnehmen, genauso zum Bestand der Welt gehört wie die Teller und Tassen auf dem Tisch.

Vgl. Kapitel „Ist das Böse für Kinder eine Wirklichkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart

VOM UMGANG MIT DEM BÖSEN

Wie kann der Erwachsene lernen, sein Verhältnis zur Realität des Bösen zu klären und dadurch auch fähig zu werden, den Kindern im Umgang damit zu helfen?

Im Zusammenhang mit dieser Frage ist Goethes „Faust“ sehr ak­tuell. Faust suchte in der er­sten Le­benshälfte noch nicht die bewusste existentielle Auseinandersetzung mit dem Bösen. Er studierte Medizin, Jura, Theologie, Philosophie, wurde Professor – ge­riet dann aber plötzlich in eine Krise: Er saß in seinem Studierzimmer und hatte den Eindruck, dass alles, was er bisher gelernt hatte, ihn der Wahrheit nicht wirklich nähergebracht hatte. Das war ein vernichtendes Erlebnis für ihn. Wie sollte seine Entwicklung weiter­gehen?

Notwendige Auseinandersetzung mit dem Bösen (in sich)

In die­sem schmerzlichen Moment der Selbsterkenntnis wurde ihm deut­lich, dass er nur zur Wahrheit des Lebens durchdringen könne, wenn er bereit wäre, das Böse als Bestandteil seiner Entwicklung, ja seiner ei­genen Existenz anzuerkennen. Der Dichter stellt es so dar, dass er sich mit seinem eigenen Blut dem Teufel ver­schreibt. Er erkennt damit an, dass die Kraft und Macht des Bö­sen auch an seinem Blut Anteil hat und in seinem Willen vorhanden ist.

Um auf dem Weg zur Wahrheit und zur Menschlichkeit weiterzukommen, muss er das Böse in seinem Erkenntnisleben, seinem Gefühls­leben und in seinen Handlungen erkennen,  muss bewusst damit um­gehen und es zu integrieren lernen. Natürlich ist Faust auf diesem Wege nicht vor Irrtum und Fehlern geschützt. Er erlebt Verzweiflung und Schmerzen – wird jedoch durch sie auf seinem Weg weiterge­führt, so dass er am Ende erkennen kann, dass in dem strebenden Bemühen, in dem unausgesetzten Ringen um das Gute, die Wirklichkeit seines Menschentums verborgen liegt.

Goethe hat hier dichterisch herausgearbeitet, dass man die soziale Lebenswirklichkeit und die Wahrheit ohne die Auseinandersetzung mit dem Bösen erkenntnismäßig nicht durchdringen kann.

Was Vergebung des Bösen ermöglicht

An dieser Stelle muss eines deutlich betont und als Hin­tergrundgedanke festgehalten werden in Bezug auf das Freiheitserleben des Menschen: Als Tätige im Spannungsfeld von Zerstörungs- und Aufbaukräften, von guten und bösen Neigungen, finden wir darin zugleich die Quelle des Gewissens und unserer Moral. Unser Freiheitserleben gibt uns die Möglichkeit, aus Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens förder­lich oder zerstö­rerisch einzugreifen, es eröffnet uns aber auch die Mög­lichkeit zu verzeihen.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass das „Vaterunser“ im Neuen Testa­ment ein reines Bittgebet darstellt durch das wiederholte „Gib uns“.

An welcher Stelle wird in diesem Gebet auf die Men­schenwürde im Sinne der Freiheit hin­ge­wiesen?

Be­zeichnenderweise geschieht das in Verbindung mit dem Bösen: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.“ Zu vergeben ist das Einzige, was wir in diesem Gebet zu tun versprechen. Wir müssen uns unsere Freiheit selbst erringen, denn sie ist die Voraussetzung für die Fähigkeit zu vergeben. Vergeben-Können ist nichts Selbstverständ-liches. Es kann nie von außen erzwungen, son­dern nur vom Herzen geleistet werden. Oft spricht viel mehr dafür nicht zu verzeihen. Es bedarf dann einer großen inneren Anstrengung, sich durch Verständnis und Mitleid zur Verge­bung durchzuringen. Dadurch wird das Böse in allen drei Bereichen der menschlichen Seele überwunden:

  • Durch die errungene Einsicht wird das Böse in Form von Irrtum überwunden.
  • Durch das empfundene Mitleid wird das Böse in Form von Antipathie überwunden.
  • Durch das Verzeihen wird das Böse in Form einer bösen Neigung oder eines Racheaktes überwunden.

Vergebung entringt sich der menschlichen Seele ebenso schwer wie ein Freiheits­bewusst­sein, das bereit ist, der Wirklichkeit des Bösen wach gegenüberzutreten.

Ein Mensch, der solches übt, wird durch die damit verbundenen Er­fahrungen anderen Men­schen gegenüber tolerant. Er erkennt an, dass andere ebenfalls dem Bösen ausge­setzt sind und daher in gleicher Weise ringen und kämpfen müssen wie er selbst. Aus dieser Einsicht heraus lernt er zu verzeihen. Wer nicht verzeihen kann, hat die menschliche Freiheit noch nicht erlebt und ver­standen.

Kinder fühlen sich bei Menschen wohl, die um diese Dinge wissen. Wenn Mutter, Vater oder Lehrer ein strenges Wort spre­chen müssen oder eine Strafe verhängen, empfinden Kinder, dass die Strafe das Verzeihen mit einschließt, wenn die Erwachsenen verstehen, warum das Kind in dieser Situa­tion eben so und nicht anders gehandelt hat.

Vgl. Kapitel „Ist das Böse für Kinder eine Wirklichkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart.

DAS GEHEIMNIS DES BÖSEN IM SPIEGEL DER APOKALYPSE

Welches Licht wirft die Apokalypse auf die Rolle des Bösen?

Existenz des Bösen als Rätsel des Menschseins

Beim Lesen der Apokalypse erschüttern uns die ungeheuren Visionen des Bösen, die Schrecknisse bestialischer Ausbrüche der Menschennatur, die zunächst so unversöhnlich neben den Offenbarungen des Christus-Prinzips zu stehen scheinen. Hier stoßen wir auf das zentrale Geheimnis der neuen Mysterien, die eben Mysterien des Willens, der Handlung, der Tat sind: auf das Geheimnis des Bösen.

Es ist eines der tiefsten Rätsel des Christentums, dass zum Mysterium von Golgatha der Passionsweg, also Folter, Martyrium und gewaltsamer Tod, begleitet von Hass, Hohn und Spott als Offenbarung der Möglichkeiten zum Bösen der menschlichen Natur dazugehören.

Dieses Rätsel lässt sich nur lösen, wenn wir in der Ich-Natur des Menschen das zweischneidige Schwert erkennen, von dem in der Apokalypse die Rede ist. Diese Zweischneidigkeit ist mit der Freiheitsfähigkeit des Ich verbunden, der Fähigkeit zwischen zwei Möglichkeiten so zu entscheiden, dass ein mittlerer Weg zwischen Willkür und Zwang, Hochmut und Selbstaufgabe, Verschwendung und Geiz, Tollkühnheit und Feigheit usw. aufscheint. Es geht nicht um die Wahl zwischen Gut und Böse an sich, sondern immerfort um das Ringen, ein Gleichgewicht zwischen zwei Extremen, dem luziferisch Bösen und dem ahrimanisch Bösen, herzustellen.[1]

Abirrung als Entwicklungsstadium

Und so darf es uns nicht wundern, dass alle Abirrungsmöglichkeiten und Schrecknisse, die infolge der Ich-Begabung im Laufe der Menschheitsentwicklung auftreten und noch auftreten werden, bildhaft in diesen apokalyptischen Schilderungen vorweggenommen sind. Sie sollen gerade nicht dazu führen, uns verzagt zu machen, sondern wollen vielmehr unseren Willen befeuern, eine Entscheidung in Richtung Handlungsbereitschaft zu treffen, die dem Fortschritt der Menschheitsentwicklung dient.

Auch wenn oft nur eine kleine Gruppe von Menschen am Übergang eines großen Kulturzeitraumes in einen nächsten den Sinn der Menschheitsentwicklung wirklich erkennt und bewahrt, so heißt das nicht, dass nicht im Laufe der darauffolgenden neuen Kultur und Erdenzivilisation nach und nach auch die anderen Seelen, die dieses vorige Kulturziel infolge ihrer Abirrungen nicht erreicht haben, wieder neue Möglichkeiten für ihre Weiterentwicklung erhalten.

Gemeinschaft freier Ich als Ideal bewahren

In seinem Vortrag vom 25. Juni 1908 im Zyklus „Die Apokalypse des Johannes“ sagt Rudolf Steiner:

„Die wahre anthroposophische Weltanschauung kann nur als Endziel die Gemeinschaft der selbständig und frei gewordenen Iche, der individuell gewordenen Iche hinstellen. Das ist ja gerade die Erdenmission, die sich durch die Liebe ausdrückt, dass das Ich dem Ich frei gegenüberstehen lernt. Keine Liebe ist vollkommen, die hervorgeht aus Zwang, aus dem Zusammengekettet-Sein. Einzig und allein dann, wenn jedes Ich so frei und selbständig ist, dass es auch nicht lieben kann, ist seine Liebe eine völlig freie Gabe. Das ist sozusagen der göttliche Weltenplan, dieses Ich so selbständig zu machen, dass es aus Freiheit selbst dem Gott die Liebe als ein individuelles Wesen entgegenbringen kann. Es würde heißen, die Menschen an Fäden der Abhängigkeit zu führen, wenn sie irgendwie zur Liebe, wenn auch nur im Entferntesten, gezwungen werden könnten. So wird das Ich das Unterpfand sein des höchsten Zieles der Menschen. So ist es aber zu gleicher Zeit, wenn es nicht die Liebe findet, wenn es sich in sich verhärtet, der Verführer, der ihn in den Abgrund stürzt. Dann ist es dasjenige, was die Menschen voneinander trennt, was sie aufruft zum großen Krieg aller gegen alle, nicht nur zum Krieg der Völker gegen die Völker...“ [2]

Was uns schützt vor dem Sturz in den Abgrund, ist das Ringen um Gleichgewicht, um den Mittelpunkt unseres Menschseins, den wir in der Christus-Wesenheit ahnen können. Dieses Mittelpunkt-Erlebnis ist dann zugleich die bewusste Schwellen-erfahrung, die Brücke zwischen der Sinnes- und der Geisteswelt.

Vgl. 6. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum 1993


[1] Rudolf Steiner, Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis, GA 191, 1989; Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik, GA 11, 1986. In der Bibel wird von Diabolos (Luzifer) und Satanas (Ahriman) gesprochen.

[2] Rudolf Steiner, Die Apokalypse des Johannes, GA 104, 1985, Vortrag vom 25. Juni 1908 in Nürnberg.

UNVERMEIDLICHE AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM BÖSEN

Wie ist das Phänomen des Bösen im 20. Jahrhundert zu verstehen?

Welche Aufgabe haben wir als Zeitgenossen angesichts der Zeitverhältnisse?

Das Phänomen des Bösen beurteilen lernen

Ich möchte in aller Kürze einige Phänomene nennen, die im 20. Jahrhundert verstärkt auftraten und an denen wir lernen können, wie die Entwicklung konstruktiv weitergehen kann: Die Auseinandersetzung mit dem Bösen kann nicht mehr vermieden werden. Wer die Augen zumacht und ein Phänomen wie „Hitler” nicht studiert, macht sich mitschuldig. Die Zeiten sind vorbei, in denen man voraussetzen konnte, Staat und Kirche meinten es gut mit den Menschen und wissenschaftliche Autoritäten wüssten alles doch immer am besten.

Auch die besten Autoritäten können uns nicht von der Verpflichtung entbinden, selber urteilen zu lernen, auch wenn dieses selbständige Urteilen für den Einzelnen unbequem ist. Es gibt keine Entschuldigung dafür, sich nicht mit den wesentlichen Fragen des öffentlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Lebens zu beschäftigen und um ein eigenes Urteil darüber zu ringen. Natürlich kann nur der Fachmann bestimmte Dinge herausfinden und tun. Die Wirkung auf das menschlich-soziale Leben zu beurteilen, ist jedoch Sache jedes Einzelnen – so wie es auch selbstverständlich ist, dass Laien lernen, Kunstwerke zu beurteilen und ihrem Wert nach einzuschätzen.

Am Bösen für die Eigenverantwortung aufwachen

Die Auseinandersetzung mit dem Bösen ist nicht nur entsetzlich und furchtbar als Blick in den Abgrund. Sie ist auch eine Chance, für das Gute und die Eigenverantwortung aufzuwachen und sich auf den Weg zur Freiheit zu machen. Ohne die Konfrontation mit dem Bösen wäre das 20. Jahrhundert nicht in diesem Ausmaß das Jahrhundert der Emanzipation geworden.

Was wir gegenwärtig in Deutschland und weltweit an politischem Chaos erleben, ist einerseits schrecklich, weil wichtige Arbeit nicht geleistet wird, andererseits ist es ein Segen. Denn wir Menschen sind unglaublich bequem. Wir können uns nur beglückwünschen, wenn wir Regierungen haben, an denen wir aufwachen. Vielleicht werden die Menschen jetzt politisch engagierter, d.h. bereiter mitzudenken und Verantwortung zu übernehmen, statt sich einfach auf die zuständigen Instanzen zu verlassen. Wer Wahl-Slogans liest und sich noch einen Rest von Verstand bewahrt hat, der schämt sich, wie von Wahl zu Wahl immer stärker an Emotionen appelliert wird, während kaum noch gedankliche Auseinandersetzung vorausgesetzt wird.

Die Deutschen, ehemals das Volk der Dichter und Denker, waren bisher in hohem Maße unpolitisch; diesbezüglich besteht ein dringender Nachholbedarf. Sie waren die ersten, die das Führer- und Obrigkeitsprinzip pervertiert haben im Dritten Reich. Dass ein so hochkultiviertes Volk so tief fallen konnte, ist auf diese Verschlafenheit in politischen Dingen zurückzuführen. Und jetzt bestünde die Chance, diese Schwäche zu kurieren. Die Mission des Bösen besteht also darin, für das Gute aufzuwecken.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Persephone, Kongressband Nr. 2

LUZIFERISCH-AHRIMANISCHE HILFE IN DER GEISTIGEN WELT

Inwiefern sind die beiden Widersachermächte uns eine Hilfe in der geistigen Welt?

Was ermöglichen sie uns?

Makrokosmische Aufgaben von Luzifer und Ahriman

Es gibt in der geistigen Welt nicht nur die guten göttlichen Wesen, sondern auch solche, die uns verführen wollen: dämonische Kräfte und Wesen. Ich möchte hier das „doppelte Teuflische“ erwähnen, in der Apokalypse Satanas und Diabolos genannt, in der Anthropo­sophie mit Ahriman und Luzifer bezeichnet. Rudolf Steiner betont immer wieder, dass wir sie zu Lebzeiten gut kennenlernen müssten, um durch sie nicht nachtodlich Schaden zu nehmen.

Ohne die Gefahr, die dem Menschen von ihnen droht, schmälern zu wollen, kann man aber sagen, dass beide auch eine tiefe makrokosmische Rechtfertigung haben: nach dem Tod Luzifer und vor der Geburt Ahriman:

·       Nachtodliches Wirken Luzifers

Luzifer will uns im Grunde in der Vereinigung mit der geistigen Welt halten, will uns das stolze Gefühl vermitteln, ein geistiges Wesen zu sein, das in Schönheit und Glorie auf­geht. Und so ist er nach dem Tod ein legitimer Führer in die geistige Welt.

·       Vorgeburtliches Wirken Ahrimans

Ahriman ist entsprechend ein legitimer Führer aus dem Vorgeburtlichen in die Erdenwelt. Denn die Fähigkeit, sich abzuschnüren von der geistigen Welt, sich in einem physischen Leib zu isolieren, dicht und fest zu werden, Grenzen zu haben und darüber hinaus die Macht zu entwickeln, über andere und ihre Begrenzungen zu herrschen, ist eine ahrimanische Qualität. Sie kann sich in etwas Böses verwandeln, wenn wir ihr verfallen und nicht konstruktiv mit ihr umgehen, sondern davon abhängig werden. Es ist jedoch diese ahrimanische Qualität, die uns vorgeburtlich auf die Inkarnation vorbereitet, die sie erst möglich macht.

Erlösung von Luzifer und Ahriman

Ahriman, der Krankheit und Tod ermöglicht, und Luzifer, der uns in Irrtum, Schuld, Stolz, Zorn und Hass verstrickt, sind gewaltige Mächte, die den Menschen beirren können. Wenn wir sie aber vom Ich aus ergreifen und so erlösen, können sie uns zur Entwicklung edler Kräfte verhelfen:

  • Luzifer wird durch Selbstlosigkeit erlöst: Stolz und Hass verwandeln sich so in kraftvolle Integrität und ein liebevolles Verhältnis zur Welt.
  • Ahriman wird durch Gelassenheit und Geduld, durch Entwicklungswillen und die Unterstützung von Entwicklung erlöst: Machtgelüste werden so in Macht und Herrschaft über uns selbst verwandelt.

Vgl. „Vorgeburtliche Disposition zu Angststörungen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013

DAS BÖSE VERZEIHEN

Wie können destruktive Erfahrungen am besten verarbeitet werden?

Was ist der Sinn des Verzeihens?

Sinnstiftender Umgang mit dem Bösen

Mit dem Bösen und Destruktiven in der eigenen Biographie umgehen zu lernen, gehört zum Schwersten und Schmerzhaftesten überhaupt.

Die Fragen – Warum? bzw. Warum ich? – sind nur zu bearbeiten, wenn eine spirituelle Dimension einbezogen werden kann – die Dimension des Lernens, der Weiterentwicklung, der Sinnhaftigkeit in einem größeren Kontext. Insbesondere die christlichen Werte des Verstehen- und Verzeihen-Lernens haben hier viel zu geben. Am tiefsten trifft jedoch das Wort Jesu am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“[1]

Das Böse bewirkt, dass der Mensch lernt, aus Einsicht – und vor allem freiwillig – das Gute zu suchen und zu tun.

Dennoch bleiben die Folgen des Bösen zunächst bestehen, d.h. der Mensch, der uns geschadet hat, muss mit seiner Schuld weiterleben, auch wenn wir selbst das hässliche Ereignis gut verarbeitet haben.

Was Verzeihen ermöglicht

Was geschieht jedoch, wenn wir jemandem verzeihen?

Wie ist verzeihen überhaupt möglich?

Verzeihen ist möglich,

  • wenn ich verstehe, warum der andere sich in dieser Weise schädigend verhalten hat     
  • wenn ich Mitleid mit ihm entwickeln kann     
  • wenn ich seine schädigende Handlung so positiv für mich verarbeiten konnte, dass ich auch dieser Schicksalstatsache gegenüber dankbar sein kann.

Als in Norwegen vor einigen Jahren die furchtbare Geschichte durch die Presse ging, dass ein sechsjähriger Junge ein fünfjähriges Mädchen beim Schlittenfahren mit dem Plastikschlitten ohnmächtig schlug und dann im Schnee liegen ließ, so dass es starb, gab es im ganzen Land intensive Debatten zu den Fragen, woher ein solcher Empathie- bzw. Mitleidsverlust kommen kann und wie ein solches Ereignis überhaupt zu verarbeiten ist. Als die Mutter des getöteten Mädchens gefragt wurde, ob sie Hass gegenüber dem Jungen empfände, der ihre Tochter umgebracht hatte, sagte sie zu dem Journalisten:

„Nein, Hass kann ich nicht empfinden – nur ein ganz großes Mitleid mit dem Jungen, der nun sein ganzes weiteres Leben mit dieser Schuld leben muss.“

Eine Antwort wie diese ist tief christlich. Sie ist geprägt von Vertrauen in den Sinn auch dieses schweren Schicksals und weiß um die Kraft der Vergebung.

Wie viel Erlösendes, Befreiendes kann in schwierige Lebenssituationen hineinstrahlen oder völlig verfahrene menschliche Beziehungen wieder auf einen gangbaren Weg bringen, wenn das Bewusstsein dafür erwacht, dass das Böse der Erlösung bedarf, an der wir Menschen mitwirken können.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin


[1] Neues Testament, Lukas 23, 34.