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Begabung und Behinderung
Begabung und Behinderung – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
ZUM VERSTÄNDNIS VON KRANKHEIT UND BEHINDERUNG
Wie lassen sich Krankheit und Behinderung im Schicksalskontext verstehen?
Welche Bedeutung kann das für die Betroffenen haben?
Das Doppelleben des Menschen
Schicksalsfragen, wie die nach dem Wesen körperlicher, seelischer und/oder geistiger Behinderungen, können uns bewusst machen, dass wir Menschen eine Art Doppelleben führen. Wir haben eine leibliche Existenz und stehen in einem sozialen Umkreis, während wir auf der anderen Seite ein bewusstes Innenleben führen, das sich vom sozialen Umfeld und bis zu einem gewissen Grade auch von der eigenen körperlichen Befindlichkeit abgrenzen kann. Dass dies wirklich ein Doppelleben ist, kommt uns meist erst durch Krankheit oder einen Unterstützungsbedarf zu Bewusstsein.
Es gibt zwei extreme Ausprägungen und alle Abstufungen dazwischen:
- Es gibt zum einen seelisch-geistig außerordentlich aktive und schöpferische Menschen, die in einem siechen, kranken Leib ständiger Pflege bedürfen, vielleicht sogar bettlägerig sind.
- Das andere Extrem ist die Situation, dass jemand körperlich recht gut beisammen, aber seelisch und geistig von schweren Behinderungen betroffen ist.
Das sind Rätsel unseres Daseins. Eine Betrachtung darüber, wie Seele und Geist mit dem Leib in Gesundheit und Krankheit verbunden sind, kann gerade heute hilfreich sein, da die Tendenz zunimmt, Leid und Schmerz abzulehnen und zu vermeiden, sie als unmenschlich zu empfinden.
Notwendige Frage nach dem Sinn
In einer Zeit, in der wir kranke und leidende Menschen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld lösen und in Krankenhäusern und Altersheimen isolieren, in der wir außerdem durch vorgeburtliche Diagnostik und Schwangerschaftsabbruch im Krankheitsfall versuchen, das Auftreten schwerer körperlicher oder geistiger Behinderungen von vornherein auszuschließen, muss auch die grundsätzliche Frage erlaubt sein, ob Leiden sinnlose Zumutungen eines grausamen Zufalls sind bzw. welche Möglichkeiten es gibt, Leid und das Zustandekommen von Krankheit und Behinderung besser zu verstehen und – wo möglich – auch sinnstiftend in die menschliche Biographie zu integrieren.
Ein Mensch, der von Geburt an einer geistigen Behinderung leidet, macht ganz andere Erfahrungen in seinem Leben als ein Mensch mit einer physischen Behinderung, dem beispielsweise ein Arm oder ein Bein fehlt. Einem Menschen mit hochgradiger seelisch-geistiger Behinderung ist es viele Jahre, oder vielleicht sogar sein ganzes Leben lang, nicht möglich, das eigene Seelenleben selbstbewusst zu lenken und zu äußern. Er lebt sein Erdenleben ganz im Zeichen der sozialen Integration, eingebettet in eine ihn umsorgende Menschengruppe. Zunächst wächst er in seiner Familie heran, dann kommt er vielleicht in eine Schul- und später in eine entsprechende Lebensgemeinschaft, eine beschützende Werkstatt oder eine sozialtherapeutische Einrichtung.
Er führt im Grunde ein Leben in Hingabe an die Umgebung, ohne in der Lage zu sein, persönliche Intentionen zu verfolgen. Es ist in gewissem Sinne ein Leben in Selbstlosigkeit. Denn die Möglichkeit, ein Doppelleben zu führen, indem man auf der einen Seite, die eignen Interessen verfolgt und andererseits auch dem sozialen Umfeld gerecht zu werden sucht, ist in einem solchen Fall nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich.
Aufschlussreicher Blick auf die Gesamtentwicklung
In Verbindung mit dem Wiederverkörperungsgedanken zeigt sich jedoch ein solches Schicksal in einem anderen Licht – als Ausschnitt einer Gesamtentwicklung, die mehrere Erdenleben umfasst.
- Auf der einen Seite lässt sich denken, dass ein Leben in Selbstlosigkeit eine große Kraftquelle für ein künftiges Leben ist, in dem vielleicht Aufgaben warten, die eine hohe soziale Kompetenz erfordern.
- Auf der anderen Seite lässt sich dieses Schicksal aber auch denken als Folge eines möglicherweise verzweifelten früheren Lebens, bei dem der Betreffende wissend oder unbewusst große Schuld auf sich geladen hat und jetzt in einem neuen Erdenleben gleichsam vor den Folgen der eigenen Taten zurückschreckt, weil er sich nicht in der Lage fühlt, die Verantwortung dafür zu tragen zu. In diesem Falle wird ihm durch ein Leben in Vertrauen und Hingabe an die Umgebung die Möglichkeit gegeben, sich selbst als wertvoll zu erleben durch die Liebe und Förderung seitens der Menschen im Umkreis. So können Mut und Selbstvertrauen wieder wachsen.
Alle Ereignisse vergangener Erdenleben, alle furchtbaren Tragödien, die sich beispielsweise im Rahmen totalitärer Regimes abgespielt haben, sind mit dem Tode der betroffenen Menschen ja nicht ausgelöscht. Sie wirken weiter und drängen zu gegebener Zeit für den weiteren Verlauf des Schicksals wieder ins bewusste Leben zurück. Man stelle sich nur einmal vor, seinem Peiniger aus einem früheren Erdenleben Aug’ in Auge gegenüber zu treten. Auch durch derart furchtbare Geschehnisse entstehen ja menschliche Beziehungen, die eine Fortsetzung haben.
Viele abgrundtiefe Antipathien und Hassausbrüche unter Menschen werden so verständlich, die aus einer Beurteilung der Tagesverhältnisse und Lebensumstände völlig unerklärlich sind. Infolge von Irrtums- und Verirrungsmöglichkeiten können so furchtbare und grausame Taten unter Menschen geschehen, dass eine dadurch in die Sackgasse geratene Entwicklung zunächst den Anschein hat, nicht fortgesetzt werden zu können. Der Maßstab des Menschlichen ist verlorengegangen.
Weisheitsvolle Fügung des Schicksals erkennen
In einer solchen Lage ist eine Inkarnation, die ganz dem Schaffen neuer Lebensvoraussetzungen gewidmet ist, eine weisheitsvolle Fügung des Schicksals. Die Motivation zur Menschwerdung kann neu geweckt werden.
Dies gilt auch für Menschen, die am Sinn der menschlichen Existenz verzweifelt sind und sich das Leben genommen haben.
Wie sollen sie wieder neuen Lebensmut finden?
Die Nahtod-Erfahrung vieler Menschen zeigt, dass nach dem Tod ein anderes, körperloses und dennoch bewusstes Leben weitergeht. Es ist fast immer ein schmerzliches Erleben, nach einer Selbsttötung festgestellt zu haben, dass man sich bestimmter Entwicklungsmöglichkeiten beraubt hat.
Wer Gedanken dieser Art zu bewegen beginnt, wird sicher auch die Gefahr bemerken, die damit verbunden ist, wenn eine derartige Betrachtung, anstatt Hilfestellung zu geben für die Bewältigung tragischer Schicksalskonflikte, anregt zu sensationellen Spekulationen bezüglich früherer Erdenleben und ihrer Folgen. Leider gibt es weder Gedanken noch Tatsachen in der Welt, die nicht auch missverstanden oder missbraucht werden können. Die Möglichkeit von Missbrauch sollte uns jedoch nicht davon abhalten, hilfreiche Gesichtspunkte dieser Art zu bewegen und mit anderen Menschen zu teilen.
Veranlagung zukünftiger Qualitäten und Fähigkeiten
Als Rudolf Steiner nach dem Sinn schwerer Behinderungen gefragt wurde, bemerkte er unter anderem, dass es keinen wirklich großen genialen Menschen gäbe und gegeben hätte, keinen der ganz großen Wohltäter der Menschheit, der nicht wenigstens einmal ein solches Schicksal durchgemacht hätte. Mir ist diese Aussage erstmals verständlich geworden, als ich in einer Bauernfamilie auf dem Dorf erlebte, wie ein Dorfbewohner mit geistiger Behinderung dort zu Besuch war – ein gutmütiger Mensch, der überall gern gesehen und sozial integriert war. Er war in jene Familie zum Holzhacken gekommen und saß anschließend mit beim Abendbrot. Von morgens bis abends verrichtete er in verschiedenen Familien des Dorfes aus freien Stücken einfache Tätigkeiten. Er war überall gerne gesehen und wurde von allen mitversorgt.
Welche Eigenschaften werden während eines Erdenlebens mit einer geistig-seelischen Behinderung veranlagt und geschult?
In erster Linie ganz sicherlich der Wille, denn dieser wird nur an der Tätigkeit erzogen. Ein regelmäßig und freudig tätiger Mensch, dem jedes Nörgeln und Miesmachen fremd ist, veranlagt in sich eine Willensstärke, die einem sogenannten Gesunden in einem Erdenleben zu erlangen gar nicht möglich ist. Unzufriedenheit sowie lähmende Gefühle und Gedanken behindern heutzutage sehr oft die Willensentfaltung.
Was auf den ersten Blick als schwere Lebenstragödie erscheint, kann von einem anderen Gesichtspunkt aus als eine sinnvolle Schicksalsfügung erkannt werden. Diese oder jene Perspektive einzunehmen, steht jedem frei, der mit dem Leben eines Menschen mit Behinderung in Berührung kommt.
Vgl. Kapitel „Wie sind Leib, Seele und Geist in Gesundheit und Krankheit verbunden?“, Elternsprechstunde, Stuttgart 1993
ENTWICKLUNG DURCH KRANKHEIT UND BEHINDERUNG
Wie sehr ist man selbst und das unmittelbare soziale Umfeld wie Familie und Freunde an einer herausfordernden Situation gewachsen?
Welche Qualitäten und Fähigkeiten haben die Betroffenen dadurch erworben?
Welche positiven Erfahrungen und Entwicklungen trotz aller Schwierigkeiten ermöglichte diese außerordentliche Situation?
Trost durch Bezug zum eigenen Schicksal
Wer persönlich oder als Familie von einer Krankheit oder Behinderung betroffen ist oder sie im nächsten Umkreis erlebt, wird früher oder später die Frage nach dem Sinn dieser biografischen Herausforderung stellen. Da kann es hilfreich sein, Fragen wie die obigen nach dem Lerngewinn durch diese Schicksalsgegebenheit hinzuzunehmen. Wer sich diese und ähnliche Fragen offen und ehrlich stellt, wird Antworten finden, welche die tiefe Berechtigung von leidvollen Erfahrungen im eigenen Schicksal und auch im Leben anderer erkennen lassen.
Diese Antworten können sich in Form von „Einfällen“ zeigen, aus der Beobachtung heraus entstehen oder sie kleiden sich sogar in Worte, die man schon oft gelesen oder gehört hat. Was auch immer sich einem dabei offenbart, wird zur Heilung und zum Seelenfrieden beitragen. Das habe ich wiederholt im Umgang mit Patienten erlebt, als sie – oft nach intensivem Ringen – erkennen konnten, dass ihre Krankheit oder Behinderung eng verflochten ist mit ihrer Entwicklungsaufgabe und möglichweise auch mit ihrem früheren Schicksal zu tun hat. Das davor unbewusste „Wissen“ in den Urgründen der Seele wird durch Fragen dieser Art und die sich dann einstellenden Antworten zu einer bewussten Erkenntnis, die dem Betroffenen, aber auch den Menschen in seinem Umfeld, tiefen Trost spenden kann.
Geht man davon aus, dass der Mensch sich durch mehrere Leben hindurch weiterentwickelt und dass diese Entwicklung nicht gradlinig verläuft, sondern auch „Fehler“ und Versäumnisse“, ja sogar schwere Vergehen an Leib und Leben, beinhaltet, so könnte man Krankheit und Behinderung auch als Möglichkeit auffassen, Verfehlungen und Versäumnisse aus früheren Leben wettzumachen – nicht im Sinne einer Strafe, sondern um die Entwicklung abzurunden bzw. um Einseitigkeiten auszugleichen.
Heutige Schwächen werden zu zukünftigen Stärken
Letztlich kann die Frage – Warum ich? – nur von jedem Menschen selbst beantwortet werden. Denn im Ich, in unserem innersten Wesen, liegen Ursache und Folge des Schicksals begründet. Hier schließen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Denn wie oben bereits erwähnt können Krankheit und Behinderung ihren Sinn einzig und allein auch im Hinblick auf eine nähere oder fernere Zukunft haben.
Woher weiß ich, ob nicht gerade das, was ich heute völlig unerwartet und scheinbar grundlos erleiden muss, notwendig ist, damit ich in einem späteren Leben in einer Situation, wo alles darauf ankommt, bestehen kann?
Wer weiß, ob nicht gerade das, was ich heute völlig unerwartet und scheinbar grundlos erleiden muss, notwendig ist, damit ich morgen oder gar in einem späteren Leben in einer Situation, wo alles genau darauf ankommt, bestehen kann?
Nichts von dem, was wir in unserem Leben erringen, geht verloren, nichts ist umsonst oder dem bloßen Zufall geschuldet. Vertrauen wir in diesem Sinne auf unser Schicksal, findet jede noch so leidvolle Erfahrung ihren rechtmäßigen Platz in unserem Leben.
Zu den bewegendsten Forschungsergebnissen Rudolf Steiners auf diesem Feld gehört die Aussage, dass es kaum ein Genie und großen Wohltäter der Menschheit gibt, der nicht in einem seiner früheren Erdenleben eine Inkarnation als Mensch mit körperlicher und/oder seelischer Behinderung durchgemacht hat.
Zukunftsorientiert denken
Lernt man in diesem Sinne zukunftsorientiert zu denken und zu empfinden, kann man lernen den eigenen Schwächen ganz anders zu begegnen – aus dem Wissen heraus, dass jede Schwäche, wenn sie einmal überwunden ist, zu einer Stärke wird. Jedes heute noch ungelöste Problem wird einmal, wenn es gelöst ist, zu einer Kraftquelle geworden sein, die uns helfende Worte sprechen und erlösende Taten tun lässt.
Versucht man sich unter diesem Blickwinkel vorzustellen, wie Menschen in Zukunft sein werden, kann im Vertrauen darauf jetzt schon positive Kräfte freisetzen, um mit Gegenwartsproblemen konstruktiv umzugehen. Anstatt Dinge persönlich zu nehmen, anzuprangern und darüber zu entrüsten, kann man die Ereignisse und Entwicklungen unter dieser ermutigenden Zukunftsperspektive anschauen und gelassener mit bestehenden Hindernissen und Schwierigkeiten zurechtkommen.
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 10. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
GANZHEITLICHE FÖRDERUNG BEI BEGABUNG UND BEHINDERUNG
Wie kann man Menschen mit besonderer Begabung bzw. Behinderung unter pädagogisch-physiologischen Gesichtspunkten fördern?
Welche Gesichtspunkte spielen dabei eine wesentliche Rolle?
Sinn ganzheitlicher Förderung
Die Waldorfpädagogik legt hinsichtlich Lehrplan, Methodik und Didaktik Wert auf eine allseitige Ausbildung der menschlichen Fähigkeiten beim Kind und Jugendlichen.[1] Dieses pädagogische Konzept könnte ebenso in anderen Schulsystemen, aber auch im Rahmen des Lernfeldes „Familie“, angepasst an die jeweiligen Möglichkeiten, umgesetzt werden. Der waldorfpädagogische Ansatz sieht im Zusammenhang mit Begabung und Behinderung vor, dass bei allen Fördermaßnahmen insbesondere auch die körperliche Entwicklung ins Auge gefasst und gefördert wird – ganz gleich, um welches Unterrichtsfach bzw. um welchen Kompetenzbereich es sich handelt.
Wird die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in einer solch umfassenden Weise unterstützt, also auch ihre körperlichen und seelischen Kompetenzen gefördert und nicht nur ihre intellektuellen, werden sie sich im eigenen Leib „zu Hause“ fühlen. Das bildet die Voraussetzung dafür, dass sich die Kinder mit ihren seelisch-geistigen Kräfte überhaupt dem sozialen Umfeld und ihren Lernaufgaben, später dann ihren Lebensaufgaben, zuwenden können. Fühlen sie sich dagegen im eigenen Körper fremd und unsicher, brauchen sie die seelisch-geistigen Kräfte zur Gänze zum Bewältigen und Bearbeiten ihrer persönlichen Probleme. Sie sind dann wie in sich selbst gefangen.
Pädagogisch-physiologische Grundlagen
Pädagogisch-physiologische Überlegungen dieser Art bilden eine Grundorientierung im Hinblick auf den Unterricht und die Arbeitsmittel, aber auch wenn es um die altersentsprechende Förderung von den unterschiedlichen Kompetenzen geht. Hier ein weiterer aufschlussreicher Zusammenhang: Es ist erstaunlich, dass körperliche Bewegung das scheinbar geistigste Organ in uns, sprich unser Gehirn und Nervensystem, stimuliert, während das scheinbar Geistigste in uns, unser Denken (als Idealismus und Begeisterungsfähigkeit, einerseits, als depressive Verstimmung andererseits), das Dichteste, Physischste in uns, sprich: unseren Stoffwechsel- und unser Bewegungssystem und damit unsere Haltung und unseren Kräftehaushalt, entscheidend beeinflusst.
· Förderung bei Bewegungsdefiziten
Bewegungsdefizite können je nach Art, Umfang und Alter durch gezielte gymnastische und eurythmische Bewegungsübungen sowie durch spielerische Geschicklichkeitsübungen bearbeitet werden. Dadurch erfährt auch das Nervensystem eine adäquate Anregung. Bewegung hält nicht nur körperlich fit und geschickt, sondern ruft in gesundem Ausmaß auch Wohlbefinden hervor, beugt Depressionen vor und hält den Geist rege bis ins hohe Alter.
· Förderung bei Gefühlsdefiziten
Bei Gefühlsdefiziten werden ab dem Schulalter künstlerische und auch kunsttherapeutische Übungen angeboten. Großer Wert wird auf die Ausbildung des Sprachvermögens gelegt, nicht nur beim Spracherwerb als logopädische Maßnahme, sondern auch hinsichtlich des Ausdrucks von Sprache. Nur wer Sprache gut handhaben kann, fühlt sich sicher genug, andere anzusprechen oder sich selbst mitzuteilen. Sprache ist per se ein soziales Instrument, das uns als Menschen verbindet oder trennt – weit über den Informationsgehalt hinaus, den sie transportiert. Wer ein Gedicht gestalten und vortragen lernt, wer die feinen Abstufungen von laut und leise handhaben lernt, kann dadurch differenzierte Empfindungen wahrnehmen und ausdrücken und wird sensibel für Feinheiten, auch in der Wahrnehmung anderer Menschen und ihrer Intentionen.
· Förderung bei fehlender Motivation
Probleme eines zu trägen Stoffwechsels, eines lustlosen Ganges, einer unmotivierten „hängenden“ Körperhaltung können durch motivierende Einzelgespräche, gute Fragen im Unterricht und inhaltsreiche Theaterstücke angegangen werden.
Jeder kennt das Erlebnis, dass eine gute Idee fast wie ein elektrischer Schlag wirken und den Betreffenden sogar zum Aufspringen bringen kann mit den Worten: „Ich hab's, jetzt weiß ich, was ich tun muss!“. In der Schule kann man beobachten: Wenn einem Kind etwas klar wird sitzt es mit einem Mal strahlend aufrecht da und möchte zeigen, was es begriffen hat. Es ist in seinem ganzen Gebaren verändert.
Anregungen zum Selbstlernen geben
Goethe formulierte diesen Zusammenhang treffend, indem er sagte: „Das Tier wird durch seine Organe belehrt, der Mensch belehrt die seinigen und beherrscht sie.“[2] Die Ausreifung der Organe vollzieht sich beim Menschen nicht „von selbst“, sondern bedarf des Einflusses von Lernanregungen, durch die das Ich seinen Leib und die darin zusammenwirkenden Wesensglieder handhaben lernt.
Werden in dieser Weise Bewegung, Gefühlsleben und Sprachfähigkeit sowie das Denken über Jahre hinweg in ihrer Entwicklung unterstützt, ist bereits viel geschehen, um die seelischen Grundfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens möglichst gleichgewichtig auszubilden. Damit wird vermieden, dass sich die Intelligenz auf Kosten der emotionalen Reifung und vor allem auf Kosten des Willens einseitig entwickelt. Denn je intelligenter ein Kind ist, desto mehr läuft es Gefahr, arrogant, überheblich, kalt, distanziert und berechnend zu werden, wenn nicht auch die seelischen und körperlichen Kompetenzen gleichermaßen entwickelt werden. Intelligenz allein ist kein Garant für Menschlichkeit, dazu braucht es auch emotionale Intelligenz und ein gesundes Körpergefühl.
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 15. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
[1] Wolfgang Schad, Erziehung ist Kunst. Stuttgart 1994.
Stefan Leber, Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik. Stuttgart 1994.
Helmut Neuffer (Hrsg.), Zum Unterricht des Klassenlehrers an der Waldorfschule. Ein Kompendium. Stuttgart 1997.
[2] J-W. Goethe, Sprüche in Prosa. In: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Rudolf Steiner. 5. Band. Fotomechanischer Nachdruck der Erstauflage in: Deutsche National-Literatur 1883 - 1897. GA 1e. Dornach 1975. - S. 350.
WER SPIELT DAS KLAVIER DER GENE?
Welche Auswirkungen haben Erbgut, Umweltfaktoren und Beziehungen auf die Entwicklung des Kindes?
Wer entscheidet, welche Faktoren die prägendsten sind?
Drängende Fragen zu Erbgut und Vererbung
Wohl noch nie stand man den weit gefächerten Begabungen und Behinderungen von Menschen mit so vielen drängenden Fragen gegenüber wie heute.
- Im religiösen Kontext gilt nach wie vor, dass Begabungen und Behinderungen unmittelbare Ausdrucksformen der Beziehung zwischen Gott und seinem Geschöpf Mensch sind.
- Seit dem Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Menschen von der darwinistischen Vererbungstheorie beeinflusst, der zufolge Familienähnlichkeit, Charakter, Temperament, Begabungen und Behinderungen dem genetischen Material der Vorfahren entstammen.
- Am Ende des 20. Jahrhunderts sehen wir uns dank der Forschungsergebnisse der Epienetik, der Epigenetik, der Verhaltensbiologie und der Verhaltenspsychologie wieder neuen Anschauungen gegenüber, die zeigen, dass das Erbgut ein entwicklungsfähiges, offenes System ist, viel wandelbarer und beeinflussbarer als man früher annahm.
Auf einem internationalen Gentechnik-Symposium am Goetheanum formulierte ein Wissenschaftler die entscheidende Frage so:
„Who plays the piano?“ – Wer spielt das Klavier der Gene?
Ähnlich komplex und kompliziert wie die Vorgänge der Vererbung stellen sich die Einflüsse der im Einzelnen oft schwer zu definierenden Umweltfaktoren dar. Auch diese können sich gegenseitig verstärken, abschwächen oder ausgleichen. Da man inzwischen längst erforscht hat, dass Umwelteinflüsse ihrerseits das genetische Material von Pflanze, Tier und Mensch verändern können, ergibt sich auch hier ein weites, im Einzelnen nicht vorhersagbares, unüberschaubares Feld von Additionen, Interaktionen und möglichen Steigerungen, Abschwächungen und Ausgleichungen der Umweltfaktoren in ihrer Wechselwirkung mit dem Erbgut.
Prägende Beziehung
Die entscheidende These im Buch von Judy Dunn und Robert Plomin „Warum Geschwister so verschieden sind“ ist: Wenn nur Vererbung und Milieu den Charakter formen, müssten Geschwister einander viel ähnlicher sein. Die Autoren diskutieren daher noch einen dritten Begriff – den Begriff der individuellen Beziehung. Die Analyse und systematische Untersuchung vieler Studien, aber auch die Erforschung und der Vergleich vieler Schriftsteller-Biographien und Kindheitsschilderungen führten zu der überraschenden Einsicht: Ein Kind wird nicht nur durch Vererbung und Umwelt in seinem Verhalten geprägt, sondern es setzt sich mit Hilfe seiner bestimmten Erbkonstitution aktiv und vor allem selektiv mit den Einflüssen aus seiner Umwelt auseinander. Über die Wirkung dieser Umwelteinflüsse auf die Entwicklung der Einzelindividualität, ob sie stark oder belanglos ist – insbesondere im sozialen Umfeld – entscheidet immer, ob das Kind individuelle Beziehungen hat und wie stark es diese empfindet. Der Einfluss realer menschlicher Beziehungen und die damit verbundenen Lernprozesse erweisen sich als die stärksten charakterbildenden Faktoren.
Die Wirklichkeit zeigt, dass Geschwister auch zu denselben Eltern höchst unterschiedliche Beziehungen eingehen und dadurch individuell geprägt werden. Dieselbe Mutter kann von einem Kind als warmherzig und schützend erlebt werden und vom anderen als ungeduldig und angsteinflößend.[1] Kinderärzte und Grundschullehrer mit mehrjähriger Berufserfahrung sowie Mütter mit mehreren Kindern wissen, wie unterschiedlich die Entwicklungsdynamik von Kindern, trotz äußerlich-körperlicher Ähnlichkeit, von Anfang an ist.
Das schlägt sich auch in der Vielzahl literarischer Beispiele nieder, die Dunn und Plomin für ihre Untersuchung ausgewertet haben. Fazit dieses lesenswerten Buches ist: Geschwister sind trotz ähnlicher genetischer Voraussetzungen und ähnlicher Umwelteinflüsse sehr verschieden, weil sie letztlich durch ihr eigenes Interesse, ihre Wahrnehmungsfähigkeit, ihr spezifisches Gerechtigkeitsempfinden und ihre Möglichkeit, Verhaltensweisen zu gewichten und auf sich zu beziehen oder abzuwehren, selbst für Verschiedenheit sorgen.
Wählt das Kind sein Erbgut selbst?
Kinder bestimmen selbst, in welchem Ausmaß Menschen und Umwelt sie prägen oder nicht. Auch wenn Dunn und Plomin den Begriff der Individualität bzw. der Persönlichkeit des Kindes weder im Einzelnen diskutieren noch als eine seelisch-geistige Realität beschreiben, so wird er doch als der entscheidende, die selektive Wirkung der Umwelteinflüsse modifizierende Faktor eingeführt.
Sollte es da nicht auch erlaubt sein zu fragen, ob es nicht die Persönlichkeit des Kindes selbst ist, die für Auswahl (Selektion) und Veränderung (Mutation) des Erbgutes verantwortlich ist?
Um diese Frage bearbeiten zu können, ist ein Menschenverständnis nötig, das den Zusammenhang von Geist, Seele und Körper so beschreibt, dass Seele und Geist nicht nur Folgeerscheinungen molekularer Vorgänge im Gehirn sind, sondern eine autonome Existenz haben und so auch körperunabhängig, leibfrei, erlebt werden können.[2] Die Anthroposophie Rudolf Steiners ergänzt die naturwissenschaftliche Anschauung vom Menschen auf konstruktive Art durch geisteswissenschaftliche Beschreibungen. Daraus geht hervor, wie sich das Menschenwesen schon vor der Konzeption, wenn es noch in der geistigen Welt beheimatet ist, für ein bestimmtes Elternpaar interessiert und dann auch entscheidend mitwirkt bei der „Auswahl“ des passenden Erbgutes.[3] Damit stammt das Kind nicht nur von seinen Eltern ab, sondern auch – so merkwürdig das klingt – von sich selbst. Es ist der Künstler, der auf der Klaviatur der Gene spielt. Es lebt sich in seine Umwelt so ein, wie es dem Gang seines Schicksals und dem, was es sich für dieses Erdenleben zu lernen vorgenommen hat, gemäß ist.
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 1. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
[1] Vgl. in dem Buch von Judy Dunn und Robert Plomin, Warum Geschwister so verschieden sind, Stuttgart 1996, die Interviews mit Kindern S. 85 ff.
[2] Vgl. Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss. GA 13, Kapitel: Wesen der Menschheit, Dornach 1989.
[3] Vgl. auch die Zusammenstellung der wesentlichen Forschungsergebnisse Rudolf Steiners in: Max Hoffmeister, Die übersinnliche Vorbereitung der Inkarnation. Dornach 1991.
ICH-AUSDRUCK IM KONTEXT VON BEGABUNG UND BEHINDERUNG
Wie kommt das Ich bei einer Begabung oder Behinderung zum Ausdruck?
Das Wahre Ich als Wesenheit im Umfeld
Für unseren Alltagsblick erscheint ein Mensch umso begabter, je vollkommener er sich durch seinen Körper bzw. seine vier Wesensglieder ausdrücken kann, und als umso unbegabter, je weniger ihm dies gelingt. Das Menschen-Ich ist weder von Behinderung betroffen, noch ist es begabt, es ist weder krank noch gesund. Es leuchtet vielmehr deutlicher oder schwächer durch eine physische und/oder seelische Behinderung bzw. Begabung der Wesensgliederkonfiguration hindurch.
Bei starken Behinderungen und beim Sterben kann das Wesensgliedergefüge eines Menschen seinem Ich nicht mehr als Instrumentarium des Selbstausdrucks dienen, d.h. es kann sich durch die Hülle der Wesensglieder nur mit größter Mühe und oft auch nur sehr begrenzt zeigen und aussprechen. Umso deutlicher ist das „wahre“ Wesen des Ich jedoch als eigene „Instanz“ oder Wesenheit im Umfeld des betroffenen Menschen wahrnehmbar.
Wer Sterbende begleitet oder Menschen mit einer schweren Mehrfachbehinderung pflegt, entwickelt mit der Zeit eine feine Sensibilität für diese An-Wesenheit, die in der Herzregion oft als Kraft, als Wärme, als Geistesgegenwart erlebt wird. Durch diese „intuitiv“-herzliche Verbundenheit stehen Patient und Betreuer in einem direkten nonverbalen Kontakt, sind von Wesen zu Wesen miteinander verbunden.
Das Drama des begabten Kindes
Auch Kinder sind anfangs noch nicht in der Lage, ihren Ich-Impulsen „gesellschaftskonform“ Ausdruck zu verleihen. Alice Miller schilderte in ihrem Buch „Das Drama des begabten Kindes – und die Suche nach dem wahren Selbst“[1] die Persönlichkeit des Kindes als ein ursprüngliches, spontanes Sich-Äußern und Agieren. Ihr Buch macht darauf aufmerksam, in wie starkem Maß Selbstachtung und Selbstfindung im späteren Leben davon abhängen,
- ob ein Kind sich in der frühen Kindheit unmittelbar und spontan hat äußern dürfen
- ob es ihm gestattet war, seine Gefühle und Emotionen offen auszuleben
- ob der reiche Schatz seiner Begabungen, seines So-Seins von den Eltern und Erziehern freudig begrüßt oder aber als wild, ungezügelt, frech, störend, rücksichtslos zurückgewiesen worden ist
- ob die Angst, die Eltern könnten sich abwenden und ihre Liebe entziehen, wenn das Kind bestimmte Verhaltensweisen nicht ablegt, dieser Spontaneität ein Ende bereitet hat
- ob dieser Reichtum in gutgemeinten Ermahnungen, Repressionen und Konventionen erstickt oder durch Vernachlässigung, Härte, Demütigung und Missbrauch gelähmt worden ist.
Alice Miller zeigt auf, dass im späteren Leben Depressionen, aber auch das ständige Bemühen, sich erfolgreich, stark und fähig zu erweisen, Versuche sind, die Zurückweisungen und Verletzungen in der frühen Kindheit zu kompensieren. Ihre Ausführungen zeigen, wie wichtig es ist, dass Erzieher ein starkes Vertrauen in das Ich eines Kindes entwickeln sollten, gerade wenn sich dieses auf überraschende, ungewohnte, vielleicht auch aggressive und noch ganz und gar unbeholfene Art durch die verschiedenen Wesensglieder hindurch äußert.
Gelingt es dem Erzieher nicht, einen zuverlässigen liebevollen Kontakt zum Wesen des Kindes aufzubauen, können tatsächlich viele Anlagen und Möglichkeiten verschüttet werden. Dadurch kann insbesondere die Selbstachtung des Kindes Schaden leiden und die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins behindert werden. Folge ist, dass der betreffende Mensch sich nur im Spiegel der Anerkennung anderer und nur als Folge erbrachter Leistung, selber achten kann und sich sofort die Existenzberechtigung abspricht, wenn seine Leistungsfähigkeit nachlässt oder die ersehnte Anerkennung ausbleibt.
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 12. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
[1] Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt a. M. 1995.
BEITRAG ZUR HUMANISIERUNG DER MENSCHHEIT
Inwiefern leisten Menschen mit Behinderungen einen Beitrag zur Humanisierung der Menschheit?
UN-Charta über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Im Jahr 2006 wurde die UN-Charta über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet und es war die große Hoffnung damit verknüpft, dass diese Charta nach dem totalen Untergang der Humanität im 20. Jahrhundert das 21. Jahrhundert zum Millenium der Humanität machen würde. Die beste Formulierung aus dieser Charta lautet:
„In Anerkennung des wertvollen Beitrags, den Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten und leisten können, und in der Erkenntnis, dass die Förderung des vollen Genusses der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderungen sowie ihrer uneingeschränkten Teilhabe ihr Zugehörigkeitsgefühl verstärken und zu erheblichen Fortschritten in der menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft und bei der Beseitigung der Armut führen wird. Die sogenannten Menschen mit Förderbedarf oder Behinderung leisten einen bedeutenden Beitrag zur Humanisierung der Menschheit.“[1]
Erfahrungsbericht eines Terroristen
In einem Artikel, der im Frühjahr 2014 in der Basler Zeitung erschienen ist, berichtet ein Deutscher, wie er sich zum Terroristen in Pakistan und Afghanistan ausbilden ließ und nach fünf Jahren permanentem Beteiligt-Sein an Tod und Terror ausgestiegen ist und sich jetzt, hoch sicherheitsbewacht, in einem Schutzprogramm befinde.
Als Grund für seinen Einstieg in die Szene nannte er die Tatsache, dass seine Jugendjahre geprägt waren von Öde, Langeweile, Desinteresse, Überdruss, innerer Leere. Als 14jähriger sah er im Fernsehen am 11. September 2001 die Türme des World Trade Center fallen und hatte das Gefühl: „Endlich ist mal etwas los! Wie die das hingekriegt haben, das müssen mutige Super-Typen sein!“ Er fühlte zum ersten Mal ein bisschen Energie in seinem öden Seelenleben aufsteigen und entschloss sich, sobald er alt genug wäre, sich einer terroristischen Bewegung anzuschließen. Der Grund, warum er nach fünf Jahren wieder ausstieg, war, dass er „die Bestie entdeckt“ hatte, die aus dem Menschen herausbrechen und den Menschen zu einem hemmungslosen Tier („Hunde des Krieges, sich wahllos auswütend, verrohend“) werden lassen konnte.
Wahre Moral ist Interesse am anderen
Warum berichte ich das?
Die Menschenrechts-Konvention fordert uns auf, jeden Menschen ernst zu nehmen. Kein Mensch, egal wie intelligent, wie gesund, wie krank, ob von Behinderung betroffen oder nicht, würde von Öde, Langeweile, Desinteresse, von innerer Leere und Tod sprechen, wenn er das echte Interesse eines anderen Menschen tief erleben könnte. Das heißt, der in einer Gesellschaft anwesende Grad an Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit ist direkt proportional zur real erlebbaren Liebe. Geistige Liebe äußert sich nach Rudolf Steiner im Interesse füreinander.
Laut Steiners Moralbegriff äußert sich auch Moral als echtes Interesse am anderen. Wenn dieses Interesse zwischen Menschen fehlt, kann sich keiner dem anderen so zeigen, wie er seinem Wesen nach ist, und kann so auch zu keinem tiefen Selbsterleben kommen. Unsere Seele ist ein Resonanzboden und so wie man diesen Resonanzboden in Schwingung bringt, entsteht Selbsterlebnis, Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis, Einsicht darüber, wer man ist und was man möchte. Nur in echtem Kontakt mit sich selbst fühlt man sich innerlich erfüllt und belebt. Dann ist man interessiert an der Welt und anderen, dann hat man Lust sich für etwas Gutes zu engagieren.
Bedeutung von Heilpädagogik und Sozialtherapie
Heilpädagogik und Sozialtherapie sind laut Rudolf Steiner die wichtigsten Zweige der Anthroposophischen Medizin. Anthroposophische Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sind aufgrund der Erfahrungen, die dort gemacht werden können, Kompetenzzentren in Entwicklungsfragen. Sie sind Experten in Bezug auf die Themen „Vorbeugung“ und „Heilung“, sie sammeln Erfahrungen für eine Zukunft, in der dieses erfahrungsbasierte Wissen dringend nötig sein wird.
Zu Anfang zitierte ich aus der UNO-Deklaration der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen. Im Zuge der Humanisierung unserer Gesellschaft werden für Menschen mit Behinderungen dieselben Rechte gefordert wie für alle anderen. Heilpädagogische Einrichtungen sind demnach Humanisierungszentren – unter einer Voraussetzung: dass alle Betreuer ihre Bewusstseinskompetenz schulen, indem sie
- unermüdlich ihre eigene Wahrnehmungsfähigkeit schulen
- und das Wahrgenommene reflektieren (= Denkschulung).
Zwei Wege der Annäherung an den anderen
Durch unsere Wahrnehmung sehen wir die Welt von außen, im Denken erfassen wir die Welt von innen – beide Ansätze lassen uns Grenzerfahrungen machen, durch beide entsteht Bewusstsein:
- Im Verstehen fügen wir Gedachtes zusammen – es ist zur Erkenntnis geworden.
- Die vertiefte Wahrnehmung führt zu einem Erlebnis (was noch keine Erkenntnis nach sich ziehen muss).
Die Philosophen sagen: „Die Anschauung ohne Begriff ist leer“. Deshalb ist es unerlässlich, sich der Welt und den Menschen – auch sich selbst – über beide Wege anzunähern. Wir sollten die geistige Welt genauso erkennen und erleben lernen wie die sinnliche Welt. Wenn wir uns nur mit einem Extrem befassen, wird unser Leben einseitig. Die meditative Vertiefung des Erkannten, bis wir es in unserer Seele fühlen können, ist genauso wichtig wie die Entwicklung der Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit der Sinneswelt. Diese Fähigkeiten sollten ineinandergreifen. Informationen aufzunehmen, wie es heute üblich ist, ist nicht gleichzusetzen mit Selber-Denken. Erst der gefühlte Gedanke gehört mir.
Die Integration von neuen Erlebnissen gelingt erst, wenn ich das fremde Elemente in mir selbst finde und es als mein eigenes empfinde. Steiner sagt, wir sollten Toleranz in der Form leben, dass wir uns so offen und umfassend mit einer anderen Religion befassen, bis wir uns am Ende fragen, warum sie nicht die unsere ist. Das kann auf alles Andersartige und „Fremde“ angewandt werden. In jedem Menschen, der die Vielfalt dieser Welt – und dazu gehört auch der so ganz andere Mensch – in sich erkennt, kommen Punkt und Umkreis zusammen, werden Innen und Außen eins. Das ist der Weg der Humanisierung, so werden wir immer mehr zum Menschen, wird die Welt immer menschlicher.
Vgl. Vortrag „Das anthroposophische Menschenbild“, 2014
[1] Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (Hrsg.): Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006. Präambel, Absatz m).
SINN VON KRANKHEIT UND BEHINDERUNG
Was ist der Sinn des spezifischen biografischen Lebens im Zusammenhang mit einer Behinderung?
Wie gestaltet sich die Selbsterfahrung, wenn ein Mensch nur hören kann und nicht sehen?
Wie, wenn er nur schauen kann und nicht hören? (Wer nicht hören kann, lässt alles seelisch außen vor, lässt es nicht in die Tiefe. Karmisch gesehen könnte das bedeuten, dass er so die Möglichkeit bekommt, tiefe seelische Wunden heilen zu lassen.)
Wie sieht die Selbsterfahrung aus, wenn man sich die Welt durch Tasten erschließen muss?
Fragen nach dem Sinn dieser Inkarnation
Diese Fragen muss man sich stellen, wenn man mit behinderten Menschen lebt und arbeitet. Denn wer ein Mensch in Wahrheit ist, geht über alles spezifische Erleben hinaus. In einem Leben arbeiten wir als Menschen jedoch an etwas ganz Bestimmtem. Durch mein Leben, durch die Art, wie ich geschaffen bin, lerne ich einen bestimmten Teil meines lebensübergreifenden umfassenden Wesens kennen und nehme diese Erfahrungen nach dem Tod in mein allgemein-geistiges Wesen auf. Durch eine spezifische Inkarnation wird uns ein spezifischer Wesensanteil aus der Fülle aller Anteile bewusst. So gesehen ist jeder Mensch eine zu erforschende Landschaft für sich. Die geistige Welt ist sehr real, wenn man sie nur ernst nehmen will.
Im Hinblick auf das aktuelle Inkarnations- und Selbsterfahrungsdrama muss man sich also fragen:
Was leistet diese Biografie?
Inwiefern schenkt sie diesem Menschen Erfahrungen, die er nur auf diese Weise machen kann?
Daran schließt sich erst die Frage nach dem Sinn von Krankheit und Behinderung an. Jede Krankheit, jede Behinderung wirkt sich auf drei Ebenen aus. Der Sinn muss durch Fragen zu allen drei Ebenen gefunden werden.
- Fragen auf der persönlichen Ebene
Wer lernt durch die spezielle Situation am meisten?
Geht es um eine Lektion für das Individuum, den Sinn und den Wert seines Lebens betreffend?
- Fragen auf der sozialen Ebene
Haben andere durch den Umgang mit dieser Behinderung dazugelernt?
Menschen mit Behinderung verschaffen durch ihr Schicksal vielen Menschen gute Arbeitsplätze. Das hat eine große soziale Wirksamkeit.
- Fragen auf der menschheitlichen Ebene
Der Sinn kann aber auch darin gefunden werden, dass die Vereinten Nationen sich über die behinderten Mitmenschen bewusstwerden, was unsere heutige Zeit zu ihrer Humanisierung braucht – das hätte mit der menschheitlichen Ebene zu tun.
Was gibt unserer Zeit, was gibt einer Einrichtung wie dieser, was gibt einem einzelnen Menschen Identität und Antlitz?
Unsere Mitmenschen mit Behinderungen! Sie prägten den heutigen Begriff von Humanität.[1] Jede Gründung einer besonderen Schule, eines besonderen Zentrums geht auf sie zurück. Sie geben anderen die Möglichkeit, authentische humane Erfahrungen zu machen. Wir anderen haben diese Erfahrungen nötiger als sie selbst.
Die sogenannten Gesunden dagegen benehmen sich völlig daneben, sie schädigen die Umwelt, beuten die Erde aus und angesichts von Krisen haben sie nichts Besseres zu tun, als das schädigende System weiter aufrecht zu erhalten, indem sie Milliarden hineinpumpen. Das zeigt, wie sehr die normale Welt sich selbst behindert, wie chronisch lernresistent – es ist eine verkehrte Welt!
Karmische Aspekte in Betracht ziehen
Was die genauen Hintergründe und möglichen karmischen Ursachen einer Krankheit oder Behinderung sind, lässt sich nur ganz individuell herausfinden – vom Betroffenen selbst. Er muss und möchte dieses Lebensrätsel selbst lösen – indem er es lebt. Ich als Betreuer darf ihm das nicht sagen, darf keine Erklärungen bieten, selbst wenn ich meine, das eine oder andere zu wissen. Wenn Sie sich im Umgang mit den von Ihnen betreuten Menschen in dem einen oder anderen Fall konkret fragen, was der Sinn seiner Krankheit sein könnte, um ihm besser gerecht zu werden, müssen Sie lernen zu fragen, wer hier was lernt. Es müssen immer alle drei Ebenen in Betracht gezogen werden.
Manche Menschen mit einer Behinderung behalten immer ein „Umweltbewusstsein“, sie werden sich nicht ihrer selbst bewusst. In diesen Fällen lernen vor allem die anderen und bilden ihre Identität am Schicksal der Betroffenen. Gerade in Einrichtungen wie diesen gibt es erstaunliche Biografien, manche Menschen werden bis zu 70 Jahren alt.
In einer solchen Lebenszeit prägen sich unzählige Erfahrungen über die Sinne ein wie z.B. Begegnungen mit den Mitarbeitern, mit ganzen Generationen von Mitarbeitern, Azubis und Praktikanten. Diese Menschen erleben Beziehungen ohne Schuld. Es sind Inkarnationen im Dienst der Menschlichkeit, der ungestörten, schuldlosen Beziehungspflege. Stirbt so jemand, geht er mit einer unglaublichen Schicksalsbereicherung in die geistige Welt ein.
Man kann sich nun gut seine nächste Inkarnation vorstellen, in der diese riesigen unverbrauchten sozialen Kompetenzen in einem dazu passenden Leib ausgelebt werden können und die Mitmenschen sich fragen, wie ein Mensch solche Fähigkeiten in sich vereinen kann. Besondere Leistungen sind immer auf besondere Erfahrungen im Vorfeld, in einem früheren Leben, zurückzuführen.
Vgl. Vortrag „Die Bedeutung der Biografie für die Identitäts-Entwicklung“, Christopherus-Heim Laufenmühle, 19.11.2008
[1] „In Anerkennung des wertvollen Beitrags, den Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten und leisten können, und in der Erkenntnis, dass die Förderung des vollen Genusses der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderungen sowie ihrer uneingeschränkten Teilhabe ihr Zugehörigkeitsgefühl verstärken und zu erheblichen Fortschritten in der menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft und bei der Beseitigung der Armut führen wird. Die sogenannten Menschen mit Förderbedarf oder Behinderung leisten einen bedeutenden Beitrag zur Humanisierung der Menschheit.“ (Aus: Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006. Präambel, Absatz m).
FRAGEN UND ANTWORTEN ZUR BETREUUNG VON MENSCHEN MIT BEHINDERUNG
FRAGE: Wenn ich mich mit einer einzelnen Biografie befasse, gibt es da Werkzeuge, sie zu verstehen oder kann das immer nur eine Ahnung bleiben?
ANTWORT: Es gibt eine Systematik, die Rudolf Steiner im Heilpädagogischen Kurs[1] umrissen hat, über die wir lernen können zu lesen, was sich durch die jeweilige menschliche Konstitution ausdrückt. Um einen anderen Menschen besser erfassen zu können, muss man ihn genau wahrnehmen:
Wie atmet er?
Atmet er mehr ein oder mehr aus? (Je nachdem ergibt sich ein anderer Typ)
Wie spricht er?
Wie interagiert er?
Was tut er gern?
Was lehnt er ab?
Doch nur, wenn ich das Wahrgenommene in mir finde, begreife ich es. Wir können nur wahrnehmen, was wir kennen.
Wenn man eine fragende Haltung einnimmt im Sinne von – „Sage mir, wer du bist, ich zeige dir, wer ich bin“ – dann zeigt sich der Betreute. Man erfährt dann manchmal mehr, als wonach man gefragt hat. Doch oft wird das Interesse Opfer der Routine. Man könnte sich deshalb bewusst vornehmen, pro Monat für einen speziellen Menschen besonderes Interesse aufzubringen. Oder man praktiziert das bewusste interessierte Wahrnehmen tageweise wechselnd.
Von einem anderen verstanden zu werden wirkt heilend. Je besser ich ihn verstehe, desto besser fühlt der andere sich. Ein interessierter Blick und eine Haltung, die zeigen, dass man es ernst meint, wirken heilend und öffnen neue Bereiche im Miteinander. Man lernt unglaublich viel, wenn man sich wirklich auf einen anderen Menschen einlässt. Dazu gehört auch, wie man einander die Angst nehmen kann. Das ist eine wichtige Aufgabe.
FRAGE: Was gibt der physische Leib dem Ich? Wie verändert sich meine Beziehung zu meinem Gegenüber, wenn ich darüber Bescheid weiß?
ANTWORT: Man kommt der Antwort näher, wenn man um die Wechselbeziehung der Wesensglieder weiß, über die in dem Buch „Gesundheit durch Erziehung“,[2] Verlag am Goetheanum, Näheres nachzulesen ist. Auch der Diagnosebogen aus Herdecke bietet zahlreiche Anregungen dazu. Schauen Sie sich die Systematik an, ob sie Ihnen weiterhilft.
Das Ich gibt im Physischen die Form, der Astralleib ermöglicht im Physischen die Bewegung. Betrachten wir nun die Form genauer: Haben wir eine geschulte physiognomische Wahrnehmung, können wir erkennen, was die Art, wie ein Mensch geformt ist oder wie er mit Formen umgeht, über ihn aussagt.
Die Eurythmie ist ein sehr gutes Medium dafür. Deshalb machen die Ärzte bei unserer Ärzteausbildung in der ersten Stunde Eurythmie und befassen sich mit allen geometrischen Formen, die im menschlichen Körper wiederzufinden sind. Danach haben sie einen veränderten Blick für die Dinge im Außen und entdecken auch in der Natur dieselben Formen wie im Innen. Sie merken, dass der gleiche Geist überall wirkt und sich ausdrückt.
Darüber näher Bescheid zu wissen, hilft jedem Betreuer genauer wahrzunehmen. Das ist der Schlüssel zu jeder Erfahrung von Empathie: das Wiederfinden im anderen von etwas, dass man von sich selbst kennt. Wenn uns ein anderer etwas offenbart, was wir nicht von uns selbst kennen, können wir es nicht wahrnehmen und auch nicht begreifen. Wir sehen nur, was wir zu sehen erwarten. Deshalb ist es so wichtig, keine Vorurteile zu pflegen, sich immer wieder davon zu befreien. Sie begrenzen die Wahrnehmungsbereitschaft. Die Wahrnehmung ist wie ein Brautwerber, der das Gegenüber fragt:
Wie bist du geformt?
Was magst du?
Was ist das Besondere an dir?
FRAGE: Sie sagten, Selbstbewusstsein entsteht an Grenzen, durch Grenz-Erfahrungen. Behinderte machen ständig begrenzende Erfahrungen – soll ich als Betreuer diese Menschen nun zusätzlich verstärkt an ihre Grenzen bringen oder eher davor bewahren?
ANTWORT: Auch Menschen mit Behinderung sind individuell verschieden. Die Grundbedürfnisse nach Nahrung und Liebe sind gleich, alles andere ist bei jedem anders. Der Christus fragte einen Kranken:
Was willst DU, dass ich dir tun soll?
Er respektierte die Freiheit seines Gegenübers so sehr, dass er diese Frage stellte. Sie zeigt die Haltung, mit der wir an einen Mitmenschen mit einer Behinderung herangehen sollten. Sie ist die Frage, die unsere Wahrnehmungen begleiten sollte: Wenn jemand z.B. sehr oft stolpert, kann das ein Hinweis darauf sein, dass er seine Fähigkeiten erweitern, dass er geschickter werden will – dann macht es Sinn, ihm dabei zu helfen.
Wenn eine anderer ständig wie „außerhäusig“ herumläuft, aber plötzlich aufblüht (= inkarniert), wenn er Menschen trifft, sollten solche belebenden Begegnungen gefördert werden.
Jedes Erlebnis, das zu mehr Zufriedenheit bei den Betroffenen führt, sollte wiederholt, jede Eigenschaft, die diese Zufriedenheit vertiefen hilft, sollte maximal gefördert werden. Als Betreuer muss ich mich immer fragen:
Wann ist dieser Mensch am meisten er selbst?
Und dann muss ich mir Gedanken machen, wie ich die geeigneten Bedingungen dafür schaffen kann. Das kann sehr unterschiedlich sein – nicht für alle ist alles gut! Die einen möchten mehr Sinneserfahrungen machen, andere lieben das Eintauchen in die Menschenweihehandlung oder die Beteiligung an einer Aufführung, lieben Kunst: Immer geht es darum ernst zu nehmen, was man wahrnimmt. Es sollten alle Möglichkeiten, die man hat, in Erwägung gezogen werden – auch die Pflege des physischen Leibes.
ABER: Ein Mensch kann auch abwesend wirken, weil er woanders anwesend ist – so jemand sollte nicht in den Inkarnationsprozess gezwungen werden.
Vgl. Vortrag „Die Bedeutung der Biografie für die Identitäts-Entwicklung“, Christopherus-Heim Laufenmühle, 19.11.2008
[1] Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs, GA 317.
[2] Leider vergriffen.