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Biographie und Biographiearbeit

Aus Geistesforschung
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Biographie und Biographiearbeit – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

DIE DREI GRÖSSTEN BIOGRAPHISCHEN WENDEPUNKTE

Welche Wendepunkte haben menschliche Biografien gemeinsam?

Wichtige Wendepunkte in der Biographie

Unser Leben hat drei große Wendepunkte:

- Die Geburt in Liebe

Wenn der Mensch geboren wird, reißen die Fäden zum vorgeburtlichen Leben in der geistigen Welt ab – nicht tatsächlich, aber für sein Bewusstsein: Er vergisst, was vorher war. Sein Bewusstsein verdunkelt sich. Das geistige Sein erlischt und er erwacht als Kind im Sinnlichen. Es bedeutet dann eine riesige Umstellung, sich an das äußere sinnliche Leben anzupassen. Je mehr Liebe ein Kind von Geburt an erfährt, desto gesünder wächst es auf.

- Eigenverantwortung übernehmen in Wahrheit

Dieser zentrale Wendepunkt kann zu jedem Zeitpunkt an unterschiedlichen Stellen in der Biografie zwischen der Pubertät und den letzten Lebenstagen auftreten. Man kann ihn noch am vorletzten Lebenstag erreichen.

Normalerweise kommt man zwischen 20 und 40 an diesen Punkt: Man entschließt sich eines Tages, durch welchen Anlass auch immer, Verantwortung für die eigene Entwicklung zu übernehmen und nicht mehr andere dafür verantwortlich zu machen. Mit anderen Worten: Man beginnt den eigenen inneren Weg bewusst ernst zu nehmen. Unbewusst geht jeder einen inneren Weg. Aber es ist ein Riesenschritt, wenn man beginnt, sich damit zu identifizieren, wenn man „ja“ sagen kann dazu, dass man es tut. Weil das ein so besonderer Moment ist, nennt man ihn den Anfang des Initiationsweges, den Anfang der Anfänge.

Diesen Moment vergisst man nie. Und es ist auch sehr wichtig, denn Initiation hat mit Wahrhaftigkeit zu tun. Jeder Augenblick, in dem man das Gefühl hat, man erlebt etwas Wahrhaftiges, hat initiatorischen Charakter. Der Sinn des inneren Weges besteht darin, immer mehr von der Wahrheit zu erkennen – über sich selbst, über die Welt, über Gott, über Christus, über das Leben, über alles.

- Der Tod in Freiheit

Am Lebensende lässt der Mensch seinen physischen Körper wie eine Nachgeburt zurück und gebärt seinen Ätherleib, seinen Astralleib und sein Ich aus diesem Körper heraus und vollzieht dabei die Geistgeburt. Je autonomer und freier ein Mensch am Lebensende ist, desto leichter stirbt er.

Die beste Vorbereitung aufs Sterben besteht deshalb darin, an der eigenen Autonomie zu arbeiten. Warum? Weil Sterben ein Vorgang ist, bei dem alle Fäden zu unserem Sinnesleben abreißen. Wir werden vollkommen frei vom Physischen, vom Sinnlichen und müssen uns „eine Oktave höher“ plötzlich im Geistigen ganz neu finden.

Liebe Freiheit und Wahrheit als Lebensideale

Freiheit ist die Fähigkeit, ganz allein auf den eigenen Füßen stehen zu können, unabhängig von äußeren Autoritäten, von Zwängen, von allem, was mich binden könnte. Freiheit zu üben ist immer schmerzlich, es ist ein Sterbeprozess.

Deswegen kommt jedes Freiheitsmoment einem kleinen Tod gleich und geht einher mit Einsamkeit und Loslassen-Müssen. Dafür bekommt man etwas Neues an die Hand: geistige Verbindlichkeit. Wenn ich etwas loslasse, habe ich die Hände frei, selbst zu bestimmen, womit ich mich neu verbinde.

  • Durch die Liebe verbinden wir uns mit etwas, so auch durch die Geburt mit dem Leben auf Erden.
  • Indem wir unsere Freiheit in Anspruch nehmen, trennen wir uns von allem, was uns binden könnte, so auch vom Körper beim Sterben.
  • Dazwischen liegt unsere Biografie, in deren Verlauf wir lernen, Freiheit und Liebe in Balance zu bringen. Denn wir brauchen beides, um die Wahrheit über uns selbst und die Welt finden zu können.

Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010

WAS ANTHROPOSOPHISCHE BIOGRAFIEARBEIT VERMAG

Für wen ist Biografiearbeit primär gedacht?

Wodurch unterscheidet sich Biografiearbeit von Psycho- oder Traumatherapie?

Möglichkeiten und Grenzen von Biografiearbeit

Die anthroposophische Biografiearbeit ist vor allem für den gesunden Menschen gedacht, der sich selbst und seine Biografie besser ver­stehen lernen will. Anlass dafür kann eine Lebenskrise oder eine Rekonvaleszenzzeit nach einer schweren Krankheit sein. Oder man wurde pensioniert und hat jetzt das Bedürfnis, Bilanz zu ziehen und aus dieser neuen Perspektive nach dem Sinn des eigenen Lebens zu fragen. Nicht selten sind auch konfliktreiche Beziehungen und sich wiederholende Erfahrungen und Muster der Grund, weshalb man sich ein besseres Selbstmanagement wünscht. Grundvoraussetzung für Biografiearbeit ist in jedem Fall die Fähigkeit der Selbststeuerung seitens der Klient:innen.

Ist die Selbststeuerung krankheitsbedingt durch das Vorliegen einer Depression, einer Borderline-Problematik oder einer anderen sogenannten Persön­lich­keitsstörung eingeschränkt, sollte Biografiearbeit nur in enger Zusammenarbeit mit dem behan­delnden Arzt/Ärztin bzw. Psychotherapeut:in stattfinden bzw. abgebrochen werden, sobald man Anzeichen mangelnder Selbststeuerungsfähigkeit wahrnimmt. Denn durch Biografie­arbeit werden nicht nur die einzelnen Phasen der Biografie und der verschiedenen menschlichen Beziehungen und schicksalhaften Begebenheiten bearbeitet. Es können auch traumatische Ereignisse erstmals bewusstwerden und eine akute psychische oder auch psychotische Krise auslösen.

Grundsätzlich gilt, dass Biografie­arbeit eine professionelle Traumatherapie bzw. Psychotherapie nicht ersetzen kann, wohl aber – in Absprache mit den für die Behandlung verantwortlichen Fachleuten – sinnvoll zu ergänzen vermag. Um diesbezüglich ein gutes Unterscheidungsvermögen zu entwickeln, wäre es hilfreich an entsprechenden Weiterbil­dungen teilzunehmen oder zusätzlich eine Heilpraktiker-Ausbildung zu machen.

Biografiearbeit als Ergänzung vonTherapien

Aufgabe der Biografiearbeit ist es, herauszuarbeiten, welche Botschaft eine Krankheit für den Betroffenen hat und wie sie sich sinnstiftend in das Ganze der biografischen Entwicklung integrieren lässt. Hier liegt auch der grundlegende Unterschied zur Psychotherapie bzw. zur Pastoralmedizin. Beide erfordern eine gediegene diagnostische und therapeutische Ausbildung, in der tiefere bio­grafische Fragen eine Rolle spielen können, aber nicht müssen. Daher wird gerade Ärzt:in­nen, Psychotherapeut:innen, Pastoralmediziner:innen, Kunsttherapeut:innen und auch allen anderen in Heilberufen Tätigen sehr empfohlen, berufsbegleitend eine Weiter­bil­dung in Biografie­arbeit vorzunehmen. Denn Biografiearbeit ist ein wertvolles Instru­ment im Fachbereich der Medizin, so wie sie auch die Berufstätigkeit von Lehrer:innen, Sozialarbei­ter:nnen, in der Pflege Tätigen – insbesondere auch in Senioreneinrichtungen – bereichern und ergänzen kann.

Wer Biografiearbeit ohne eine soziale, pädagogische oder thera­peu­tische Grund­ausbildung ausübt, wendet sich primär an gesunde Menschen oder arbeitet mit Fachleuten zusammen, welche die Klient:innen überweisen, oder von den Biografie­arbeiter:in­nen bei Bedarf konsultiert werden können. Indem die Biografiearbeit in den Gesamttherapieplan integriert wird, können Biogra­fiearbeiter:innen Ärzt:Innen und psychotherapeutisch Tätige zeitlich entlasten.

Sinnvolle Zusammenarbeit mit therapeutischen Berufsgruppen

Wie kann die Zusammenarbeit zwischen Biografieberater:innen und Ärzt:innen sinnvoll gestaltet werden?

Grundsätzlich gilt für Ärzt:innen, Therapeut:innen, Heilpraktiker:innen, Biografiearbeiter:in­nen, die sich an einem bestimmten Ort niederlassen und eine Praxis eröffnen, dass sie sich einen Überblick verschaffen über die medizinische, therapeutische sowie pflegerische Versorgung im eigenen Einzugsgebiet:

  • Welche Fachleute empfohlen werden können
  • Wer für welches Gebiet empfehlenswert ist
  • Welche Fachbereiche und Kompetenzen zur Verfügung stehen oder auch nicht

In diesem Kontext haben Biografiearbeiter:innen eventuell auch die Möglichkeit, einen Flyer zu versenden und darin ihren Beitrag zur Therapie zu beschreiben. In einer Begleitmail oder Brief kann auch die Bitte um ein kurzes Vorstellungsgespräch geäußert werden. Dieses Vorgehen ist unter Ärzt:innen und Therapeut:innen, die sich niederlassen, durchaus üblich.

Es ist aber auch für die ortsansässigen Patient:innen und Klient:innen angenehm, wenn die sie behandelnden Fachkräfte einander kennen und ggf. auch positiv übereinander sprechen. Weitere Kontakte entstehen dadurch, dass im Rahmen der biographischen Arbeit auch der behandelnde Arzt/Ärztin oder Therapeut:in genannt wird. Bei Bedarf kann man auch direkt bitten, mit dem behandelnden Arzt sprechen zu dürfen. In der Regel wird das gern gesehen, weil die Klient:innen sich davon eine weitere Klärung oder Unterstützung für ihre Situation versprechen.

Da Biografiearbeiter:Innen in der Regel über keine medizinisch-therapeutische Fachausbildung verfügen, ist es wichtig, auf diese Weise die Kompetenzbereiche und Arbeitsweisen dieser Fachbereiche kennen zu lernen. Zum einen kann man dann in der eigenen Beratung auch zu der einen oder anderen Therapie oder einem Arztbesuch raten. Zum anderen lernt man die Grenzen des eigenen Kompetenz­bereichs besser einschätzen und wahren. Daraus können hilfreiche Formen der Zusammenarbeit entstehen.

Welcher Arzt ist nicht froh, eine zeitaufwendige biographische Beratung delegieren zu können?

Welche Biografie­arbeiter:innen sind nicht dankbar, wenn sie ihren Klienten wegen einer bestimmten Frage zu einer Fachkonsultation schicken können?

Sich aktiv mit anderen vernetzen

Da Biografiearbeit ein neues Berufsbild ist und nicht auf einer primär medizinischen Ausbildung beruht, sondern auf der Anthroposophischen Menschenkunde und Schicksals­erkenntnis, wird es möglicherweise anfangs nicht leicht sein, Ärzt:innen, Psycholog:innen, Therapeut:innen ,Pädagog:innen und Sozialarbeiter:innen oder Seelsorger:innen von der eigenen Kompetenz bzw. vom Wert der Arbeit an der Biografie zu überzeugen. Man muss aktiv auf sie zugehen, Veranstaltungen besuchen, selber welche organisieren. Man muss Gelegenheiten zur Begegnung wahrnehmen, aber auch selber Veranstaltungen anbieten, bei denen die Anliegen und Möglichkeiten der Anthroposophischen Biografiearbeit angesprochen werden. Sie birgt ein großes Zukunftspotenzial, weil sie den Menschen hilft, im besten Sinne des Wortes „zu sich“ zu kommen.

Die moderne Salutogenese- und Resilienzforschung hat vielfach gezeigt, dass in sich ruhende, lebenbejahende Menschen gesünder und widerstandsfähiger sind als andere. Diese Tatsache wird auch im Laufe der Biografie­arbeit bestätigt. Auch wenn sie keine thera­peutische Intervention ist, so hat sie doch eine gesunde stabilisierende Wirkung auf die Menschen, weil sie ihnen hilft, die eigene Biografie als Entwicklungsweg zu erkennen.

Pflichtlektüre für Biografiearbeiter:innen

Rudolf Steiner spricht von diesem Weg in seinem grundlegenden Buch zur Selbstschulung „Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?“[1] und nennt ihn den Weg der Einweihung durch das Leben. Dieses Buch wie auch die Theosophie und die vier Mysteriendramen von Rudolf Steiner sind Pflichtlektüre in jeder Ausbildung zur Biografiearbeiter:in. In den Mysteriendramen werden die biografischen Entwicklungen der Protagonisten in drei verschiedenen Inkarna­tio­nen dargestellt. Das Studium dieser Dramen ist daher zugleich auch eine Schulung in konkreter Schicksalserkenntnis, wie sie für die Biografiearbeit nötig ist. Die Kenntnis dieser drei Werke bietet auch eine gute Gesprächsbasis bei der Zusammenarbeit mit anthropo­sophisch tätigen Ärzt:innen und Therapeut:innen, sowie Priester:innen der Christengemeinschaft.

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021


[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.

ZUFALL UND SCHICKSAL

Wer oder was formt den menschlichen Charakter?

Warum sind trotz aller vererbten Familienähnlichkeit und identischem Milieu gerade Geschwister im Charakter so verschie­den?

Gleiche Familie – anderes Schicksal

Wenn man nur Vererbung und Milieu in Betracht zieht, bleibt ungeklärt, wodurch Geschwister und sogar Zwillinge so unterschiedliche Biographien haben. Nicht zuletzt haben dies der bekannte amerikanische Verhaltensgenetiker Robert Plomin und die britische Verhaltenspsychologin Judy Dunn in ihrem gemeinsam geschriebe­nen Buch „Warum Geschwister so verschieden sind“ eindrucksvoll zeigen können.[1] Geschwister haben ja als Verwandte ersten Grades überwiegend gemeinsames Erbgut und sie wachsen in der Regel auch im selben Milieu auf. Es muss noch weitere entscheidende Faktoren geben, die diese Unterschiede bewirken.

Welche aber sind das?

Woher kommen diese Einflussfaktoren, die das indi­viduelle Schicksal entscheidend prägen?

Geschehen sie zufällig?

Und wenn ja: Was verbirgt sich in dem Wort „Zufall?

Anhand ihrer Forschungen schlussfolgern Plomin und Dunn: „In der Forschung zu den Auswirkungen kritischer Lebensereignisse ist es ein wohl bekanntes Problem, dass die Auswirkungen eines solchen Ereignisses nicht unabhängig von der Persönlichkeitder „Verletzlichkeit“der betroffenen Person sind. (…) Der wesent­liche Punkt ist hier, dass zwei Kinder innerhalb derselben Familie normalerweise ein unter­schiedliches Maß an Stress erleben werden. Stressverursachende Ereignisse können einen kumulativen, sich selbst ver­stärkenden Effekt haben, und das Erleben einer Reihe solcher Ereignisse kann eine Person sehr wohl zunehmend verletzlich machen, und anfälliger dafür, dass zukünftige Ereignisse sich noch stärker negativ auswirken. Ausgehend von anfänglichen Persönlichkeitsunterschie­den können sich also ganz unterschiedliche „Leidenswege“ der Belastung durch „zufällige“ Ereignisse entwickeln. (…) Der Begriff des unkontrollierbaren Ereignisses entspricht weitgehend dem, was wir Zufall nennen (S. 168ff).“

Zufall ist nichts Zufälliges

Bei diesen Ausführungen taucht neben dem Begriff „Zufall“ auch der der „Person“ auf, die zum Beispiel durch den Grad ihrer Verletzlichkeit anfällig für negative Entwicklungen ist.

Was macht die Person aus?

Ist sie selbst auch ein Zufallsprodukt, von mehr oder weniger kontrollierbaren Schicksalsereignissen geprägt und bestimmt?

Aus Sicht der Naturwissenschaft mag das so scheinen. Zufall aus anthroposophisch-geisteswissenschaftlicher Sicht bedeutet, dass einem etwas zufällt. Diese Wortbedeutung eröffnet eine andere Perspektive auf das Schicksal als die naturwissenschaftliche, verdeutlicht durch folgende Fragen:

Von woher fällt einem etwas zu und zu welchem Ziel?

Warum trifft es ausgerechnet mich im Hier und Jetzt?

Rudolf Steiner bietet hierzu eine interessante Arbeitshypothese als Antwort: Der Mensch selbst ist es, der sich diesen Zufall in einem früheren Erdenleben wie zubereitet hat. Er selbst entschied, dass ihn dieses oder jenes Ereignis treffen soll: Jemandem fällt dasjenige zu, was zu ihm gehört. Es will ihn etwas lehren, was er aus sich heraus ohne diesen „Zufall“ nicht in Angriff genommen hätte.

Fragen und Überlegungen dieser Art helfen, den nicht kontrollierbaren und kausal nicht erklärbaren Zufall als zum individuellen Schicksal gehörig zu erkennen, der alles andere als zufällig ist, sondern den Gesetzmäßigkeiten der Wieder­verkörperung folgt. Daraus ergibt sich ein völlig neuer Schicksalsbegriff.

Rudolf Steiners Schicksalsbegriff

In seinem Buch „Theosophie“[2] knüpft Rudolf Steiner an den indischen Karma-Begriff an, der besagt, dass man in einem nächsten Leben den Folgen seiner Taten eines früheren Lebens begegnet. Aus dieser Perspektive steht der Mensch dem, was ihm „zufällt“ bzw. „geschickt wird“, weder hilflos noch schuldlos gegenüber. Steiner sagt dazu: „Der Leib unterliegt dem Gesetz der Vererbung; die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal. Und der Geist steht unter dem Gesetze der Wiederverkörperung.“[3]

Schaut man so auf sein Leben, kann man erkennen, dass kein Ereignis zufällig geschieht. Es ist vielmehr eine gerechte Konsequenz der Lebensführung und Taten in einem vergangenen Erdenleben, im Positiven wie im Negativen. Wer das als Wahrheit erkennt und die Schicksalsbegegnungen seines Lebens mit allen Höhen und Tiefen in diesem Licht sieht, wird sich weder hilflos, noch bestraft oder schuldig fühlen. Man erkennt sich als Verursacher dieser wie zufällig erscheinenden Ereignisse und wird sich fragen:

Was kann ich daraus lernen?

Wie kann ich daran wachsen und mich weiterentwickeln?

Was kann ich jetzt tun, damit daraus etwas Positives für die Zukunft erwachsen kann?

Aus diesem Blickwinkel erkennt man den Sinn darin, dass ein bestimmtes Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt eintritt und nicht später oder früher; so wie der nächste Tag beeinflusst wird durch das, was am Vortag geschah, so gestaltet sich das aktuelle Erdenleben als Folge ein früheren. Ein solches Schicksalsverständnis ermöglicht die Identifikation mit dem eigenen Schicksal als einem Teil von sich selbst. Schicksal wird als „Schule des Lebens“ begriffen. Jetzt fragt man folgerichtig:

Welche Fähigkeit muss ich entwickeln, um z. B. angesichts eines schweren Schicksalsschlags standzuhalten und nicht aufzugeben?

Vielleicht brauche ich gerade diese Fähigkeit für ein künftiges Erdenleben, um zu realisieren, was ich mir vorgenommen habe?

Victor Frankl hat nach den menschenverachtenden Erlebnissen im Konzentrationslager ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“. Das konnte er nur, weil er die Nähe einer höheren Gerechtigkeit spürte, die ihm Geborgenheit schenkte. Wer diese Schicksalsgerechtigkeit auch in schweren Momenten ahnen kann und für die vielen Glücksmomente zu danken vermag, die das Leben als Ganzes bereithält, wird die eigene Biografie als lebenswert und von guten Mächten geleitet und begleitet empfinden. Sie ist für ihn nichts Zufälliges mehr, sondern ein weisheitsvoll gestalteter Entwicklungsraum.

Karma als Weg zur Ich-Erkenntnis

Wer in seinem 40. Lebensjahr sein Leben betrachtet mit der Frage nach dem dort wirkenden Seelenwesen wird erkennen, dass das, was ihm oder ihr schicksalsmäßig „zugestoßen“ ist, sie oder ihn zu dem gemacht hat, was er oder sie heute ist. Wäre zum Beispiel mit 20 Jahren eine bestimmte Reihe von Ereignissen nicht eingetreten, wäre das Leben anders verlaufen. Daran kann man erkennen, dass das „Ich“ nicht nur von „innen“ heraus Entwicklungsimpulse gibt, sondern dass es auch wie „von außen“ gestaltend in das Leben eingreift. Durch das, was geschieht, kann man das eigene Ich in seinem Wirken erkennen.

In einem weiteren Schritt eingehender Beobachtung des eigenen Lebens kann man üben, in dem, was einem durch die Schicksalserlebnisse zufließt, eine vom Ich bewirkte, von außen kommende „Erinnerung“ zu erkennen, durch die ein vergangenes Erlebnis aufleuchten kann. Auf diesem Wege kann man lernen, in dem Schicksalserlebnis die Auswirkung einer früheren Tat der Seele zu sehen, die jetzt den Weg zum Ich nimmt, so wie die Erinnerung an ein früheres Erlebnis den Weg zur Vorstellung nimmt, wenn eine äußere Veranlassung dazu da ist.[4]

Steiners Schicksalsbegriff betrifft jedoch nicht nur das persönliche Karma, sondern auch das Gruppenschicksal einer Familie, eines Volkes oder einer Religionsgemeinschaft, zu der man gehört. Viele junge Menschen identifizieren sich zunehmend mit Schicksal und Entwicklung der Menschheit durch die Jahrtausende. Die Identifikation mit der Menschheitsentwicklung eröffnet dem Bewusstsein Lernprozesse und Aufwachmomente, welche die Grenzen des Persönlichen weit übersteigen. Sie führen in Erlebnisdimensionen, wie sie in Werken wie Viktor Frankl’s „Trotzdem Ja zu Leben sagen“ oder Novalis` „Heinrich von Ofterdingen“ und Goethes „Faust“ zum Ausdruck kommen. Diese zeitenübergreifenden Dimensionen spielen in der Biographiearbeit zunehmend eine zentrale Rolle, weil immer mehr Menschen mit der Zeit, in der sie leben, nicht zurechtkommen.

Vergängliche Persönlichkeit und ewiges Ich

Unter diesem viele Leben und Zeiträume umspannenden Schicksalsaspekt lässt sich die Frage nach der Person ganz neu stellen. Wenn der menschliche Wesenskern, sein Ich, durch wiederholte Erdenleben geht und damit auch verschiedene Hautfarben annimmt, sich in unterschiedlichen Erdgegenden beheimatet, Sprach- und Religionszusammenhänge wechselt, folgt daraus, dass sich die Persönlichkeit aus den jeweiligen Schicksalsgegebenheiten heraus jedes Mal neu formt. Die Person ist somit die jeweilige Persönlichkeit, durch die dasselbe Ich im Sinne des Wortes „Per-sonare“ „hindurch-tönt“. In jeder Verkörperung lernt sich dieses Ich durch die Erfahrungen der jeweiligen Person anders und immer intimer kennen­. Von Erdenleben zu Erdenleben reifen Selbsterkenntnis und Umweltverständnis.[5]

Durch die Möglichkeit, vergangenes Schicksal aktiv und erkenntnisreich zu verarbeiten und dadurch Positives für die Zukunft zu veranlagen, verliert der Schicksalsbegriff seinen fatalistisch-deter­ministischen Charakter. Der Schluss liegt nahe, dass das bereits vorgeburtlich existierende Menschenwesen selbst bei der Auswahl der für seine neue Verkörperung wichtigen genetischen Grundaus­stattung mitwirkt wie auch bei der Wahl seiner Eltern und der Umwelt­fakto­ren, die sein Schicksal bestimmen. Das durch alle Leben hindurchwirkende ewige Selbst von den persön­lichen Manifesta­tionen in den jeweiligen Biografien unterscheiden zu lernen, kann zu einer tiefen inneren Ruhe führen und zur Kraftquelle werden im Auf und Ab des tägli­chen Lebens.

Wie kommt man vom Wissen um solche Zusammen­hänge zur konkreten Erfahrung?

Und wie lassen sich katastrophale Ereignisse wie der Holocaust verstehen, die in ihrer destruktiven Gewalt die Dimension eines einzelnen Menschenlebens und Schicksals bei weitem übersteigen, die unfassbar grausam und doch menschen­gemacht sind? 

In den menschlichen Taten lebt sich aus, was in ihnen, aber auch in Menschengemeinschaften an Liebe und Hass, an Verständnis und Unverständnis an Engagement oder Gleichgültigkeit lebt. Und wenn die Menschen sterben, leben doch die Wirkungen ihrer Taten fort. Sich davon komplett zu distanzieren, ist ebenso verantwortungslos, wie solche Wirkungen dem Zufall zuzuschreiben.

Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. Und 14. März 2020


[1] Judy Dunn und Robert Plomin, Warum Geschwister so verschieden sind, Verlag Klett-Cotta, 1996.

[2] Rudolf Steiner, Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung, Dornach 1990, GA 9.

[3] Ebenda, Seite 89.

[4] Siehe FN 1, S. 83 in der Taschenbuchausgabe.

[5] Michaela Glöckler, Begabung und Behinderung. Praktische Hinweise für Erziehungs- und Schicksalsfragen, Verlag Freies Geistesleben, 2004.


VERGÄNGLICHES UND UNVERGÄNGLICHES ICH-BEWUSSTSEIN

Wer bin ich als Mensch?

Was ist mein Weg?

Wie kann ich mir ein ewiges stabiles Ich- und Selbstbewusstsein erringen, das ich sogar durch die Todespforte tragen kann?

Der Mensch als Individuum, soziales Wesen und Menschheitsrepräsentant

Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir uns bewusst machen, dass wir im Grunde drei Leben in drei Sphären des Menschseins leben:

  • unser ganz persönliches Leben: die Art, wie wir uns selbst erleben und wie wir mit uns selbst umgehen.
  • ein soziales Leben: die Art, wie wir uns in der Interaktion mit anderen erleben, wie wir mit uns und anderen in diesem Zusammenspiel umgehen.
  • ein Leben als Zeitgenosse:in: die Art, wie wir am Schicksal der ganzen Menschheit Anteil haben.

In allen drei Sphären sind wir ständigem Wandel unterworfen, was uns immer wieder aufs Neue die Frage nach der eigenen Identität stellen lässt:

Wer bin ich?

Was habe ich mit den Menschen in meinem Umkreis zu tun?

Was ist der Mensch an sich und was heißt es für mich, Mensch zu sein oder besser: Mensch zu werden?

Ständig sich wandelndes Selbstbild

Wenn wir im Laufe unserer Entwicklung zurückblicken, hat sich unser Selbstverständnis, die Identität, die wir uns im Laufe des Lebens zusprechen, ständig geändert, umdefiniert, gewandelt. Wir erleben uns als Kind völlig anders als in der Pubertät. Wir stellen uns deshalb immer wieder neu infrage. Das bedeutet, unsere Identität ist nicht sicher, sie ist abhängig von der Lebensphase, in der wir gerade stehen und wie wir uns dort sehen und erleben.

Unser Selbstbild wechselt auch, je nachdem wie das soziale Umfeld auf uns reagiert. Wenn wir viel Bejahung bekommen, entwickeln wir ein kräftiges Selbstgefühl und es geht uns gut. Wir erleben uns gut, wenn wir verliebt sind und geliebt werden, und völlig anders, wenn wir gerade von jemandem verlassen werden.

Werden wir abhängig von der Anerkennung durch das Umfeld, haben wir Angst davor, dass man uns diese entzieht. Man macht dann vielleicht Dinge, um anderen zu gefallen und dazuzugehören, auch wenn man sie vor dem eigenen Gewissen gar nicht wirklich verantworten kann. Dann ist es nur ein weiterer Schritt, Entscheidungen die eigene Gesundheit betreffend oder darüber, was man zu tun und zu denken hat, Autoritäten zu überlassen. Das kommt einer Selbstaufgabe gleich.

Unser „provisorisches Ich“

Diese persönliche und soziale Unsicherheit, die zunächst unsere Biografie prägt, würde ich als ein „altes Identitätserleben“ verstehen. Denn solange wir unser Selbstbewusstsein auf unseren vergänglichen Körper und das Auf- und Ab des irdischen Lebens stützen, können wir nicht von einem neuen, ewigen Selbst sprechen, und schon gar nicht von einem Selbst, dem wir zur Geburt verholfen haben. Das alte Selbst ist unsicher, störanfällig, ständigen Veränderungsprozessen unterworfen. Rudolf Steiner verwendete dafür zwei Ausdrücke: „Vorläufiges Ich“ und „provisorisches Ich“. Letzteren Begriff finde ich zutreffender, da das Wort provisorisch deutlich macht, dass es um etwas Vorläufiges geht wie beispielsweise den eigenen Namen, die Familie, den Beruf etc.

Vielleicht lehnen wir dieses alte Selbst sogar ab und weisen die Verantwortung für unser Geworden-Sein von uns und machen lieber die Eltern, die Natur oder den „lieben Gott“ dafür verantwortlich. Wenn man durch solch eine Identitätskrise geht, ist es folgerichtig und wichtig sich zu fragen:

Will ich dieses Geschöpf, von dem die anderen sagen, dass ich es sei und zu dem ich auch „ich“ sage, überhaupt akzeptieren?

Lebe ich wirklich das Leben, das ich will oder tue ich alles nur, weil ich es muss?

Vielleicht komme ich zu dem Schluss: „Ich bin unterwegs, ständig in Entwicklung, bei mir ist gerade Baustelle, ich funktioniere äußerlich möglicherwiese gut, aber weiß innerlich nicht ein noch aus.“

Geburt unseres ewigen Ich

Um an eine andere Schicht des eigenen Seins Anschluss zu finden, müssen wir nach dem fragen, wer wir jenseits alles Veränderlichen sind. Denn wir Menschen haben auch einen ewigen, unveränderlichen Wesensanteil, den wir durch die sogenannte zweite Geburt selbst hervorbringen müssen. Dieser Tatbestand wird im Johannesevangelium präzise und knapp formuliert in der Lehre von den zwei Geburten.[1]

  • Unser vergänglicher, physischer Leib kommt uns mit der ersten Geburt von der Mutter zu als ein Naturgeschenk.
  • Unser neues, unvergängliches Selbstverständnis gebären wir selbst – und zwar in unserem Denken, in der außer­körperlichen rein geistigen Tätigkeit, wodurch uns eine ewige Identität zuteilwird.

Der Mensch kann mit seinen Wesensanteilen als Fünfstern, als Pentagramm-Prinzip, gedacht werden: Denken, Fühlen und Wollen bilden den seelischen Innenraum, in dem Eindrücke der Außenwelt verarbeitet werden, in dem aber auch der Anschluss an die geistige Welt und ihre übersinnlichen Realitäten gesucht und gefunden werden kann. Denn im Denken haben wir Zugang zu den unwandelbaren Gesetzen – mehr noch: unser Denken unterliegt diesen Gesetzen: Dort ist die Ewigkeit zuhause.

Zu denken an sich ist bereits eine außer­körperliche Erfahrung, da wir hier rein geistig tätig sind, auch wenn wir dies im Alltag in der Regel nicht bemerken. Wird einem dies jedoch bewusst, kann man deutlich empfinden, in wie hohem Maß man als denkender Mensch autonom und eigenständig zu verantworten hat, was man mit sich selber tut, wie man sich ins Leben stellt, wofür man sein Leben verwendet und welche Identität man für sich anstrebt.

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021


[1] Neues Testament, Johannes, Kap. 3.

WEG UND ZIEL DER BIOGRAFIEARBEIT – DIE ZWEITE GEBURT IN DER BIOGRAFIE[1]

Was ist das Arbeitsfeld der Biografiearbeit?

Wobei ist sie hilfreich?

Was ist mit „zweiter Geburt“ gemeint?

Die zweite Geburt

In den spirituellen Traditionen und auch im Christentum gibt es die wunderbare Lehre von den zwei Geburten: dass man zweimal geboren werden kann. In der Biografiearbeit arbeiten wir in dem Spannungsfeld zwischen dem alten, naturgegebenen Selbstverständnis, das uns mit der ersten Geburt geschenkt wird, und einem neuen durch den Prozess der „zweiten Geburt“ selbst errungenen Selbstverständnis. So gesehen kann die Biografiearbeit wie eine Geburtsvorbereitung verstanden werden für die zweite Geburt, die dann jeder selbst vollziehen muss.

Die zweite Geburt wird im dritten Kapitel des Johannes­evangeliums sehr klar und präzise geschildert: Unter den Pharisäern war ein Mann mit Namen Nikodemus, vom Rang eines Archon unter den Juden. Dieser kam nachts zu ihm und fragte: „Wie kann ein Mensch geboren werden, der schon im Greisenalter ist, kann er in den Leib seiner Mutter zum zweiten Mal hineingehen und geboren werden? Antwortete Jesus: Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Wenn nicht jemand geboren wird aus Wasser und Geist, der kann nicht eingehen in das Reich Gottes.“[2]

Was aber bedeutet es wiedergeboren zu werden aus Wasser und Geist?

Hier bietet die anthroposophische Menschenkunde einen hilfreichen Ansatz zum Verständnis, der im Folgenden dargestellt wird.

Die zwei Anteile der ätherischen Organisation

· Flüssigkeitsorganismus – leibgebundener Anteil

Wasser ist der Träger des Lebendigen, ist Grundlage alles Zirkulierenden und Prozessualen und auch Grundlage der Lebenszeit. In der anthroposophischen Menschenkunde wird der wässrige Anteil des Menschen Flüssigkeitsorganismus genannt. Wir bestehen aus ca. 70% Flüssigkeit, die ständig in Zirkulation begriffen ist. Sie ist Träger all der Gesetze, die in ihrer Summe den sogenannten Lebensleib, das Leben in uns, ausmachen.

Leben ist eine sehr komplexe Erscheinung, die aus unzähligen Gesetzmäßigkeiten besteht, alleine wenn wir die Biochemie betrachten und alles, was an Stoffumwandlung im menschlichen Organismus stattfindet: Wachstum, Entwicklung, Regeneration, die Überwindung von Krankheitsprozessen in Heilprozesse etc. Diese komplexe Lebenstätigkeit nennt Rudolf Steiner „ätherische Organisation“. Wir brauchen ein Verständnis der ätherischen Organisation, um diese Stelle der zweiten Geburt im Johannes-Evangelium zu verstehen.

· Gedankenorganismus – leibfreier Anteil

Aber was bedeutet „aus dem Geist geboren“? Was ist Geist?

Das lässt sich anhand eines Forschungsergebnisses von Rudolf Steiner darstellen. Er fragte sich, was mit den Kräften geschieht, die Wachstum und Regeneration ermöglichen, im Körper nicht mehr gebraucht werden, z.B. weil die Regeneration nachlässt oder weil das Wachstum beendet ist, und kam zu folgendem Ergebnis: Diese nicht mehr gebrauchten Kräfte, gehen aus dem Körper wieder heraus, werden leibfrei, und bilden die gedankliche Aura, in die jeder Mensch sozusagen eingebettet ist. Diese Gedankenaura umgibt unseren Kopf und unsere Gestalt als Gedankenleben, das sich am Gehirn reflektiert. Steiner begriff das gesunde Gehirn als einen „Gedankenreflexionsapparat“; wenn es erkrankt, kann es die Gedanken nicht mehr reflektieren. Aber auf keinen Fall sah er das Gehirn als Organ, das Gedanken produziert. Denn die Gesetze des Lebens gehen ja nicht aus der Substanz hervor, sondern sie bilden die Substanz erst.

Leben bringt Stoff hervor und nicht umgekehrt

Das kann man wunderbar sehen am Übergang vom Mineralreich zum Pflanzenreich:

  • Die Elemente, die das Mineralreich konstituieren, sind chemische, in ihrer Menge überschaubare Elemente.
  • Wenn man damit die sekundären Pflanzenstoffe vergleicht, von denen der größte Teil heutzutage biochemisch erforscht ist, ergibt sich ein völlig anderes Bild: Täglich werden neue sekundäre Pflanzenstoffe entdeckt.

Diese ganze Stoffes- und Substanzfülle bildet sich aus den ätherischen Lebensprozessen heraus. Sie entstammt nicht den Molekülen des periodischen Systems mit seinen Elementen, sondern sie sind ein Ergebnis der Lebenstätigkeit, von der sie gebildet werden. Ebenso bilden Tiere ihre ganz arteigenen Substanzen. Und noch spezieller ist das bei dem Menschen: Jeder Mensch ist eine „Art“ für sich, weil er sein ganz individuelles, spezifisches Eiweiß hervorbringt.

Die Weisheit unseres Denkens

Diese leibgebundene, unermüdlich Neues erschaffende ätherische Lebensgesetzlichkeit können wir in der Weisheit unseres Denkens wiederfinden, das wir – wie oben beschrieben – den leibfrei gewordenen ätherischen Kräften verdanken. Deshalb hat unser Denken auch Zugang zur Weisheit unserer Schöpfung, sodass wir in der Lage sind, die Naturgesetze wie auch die kosmischen Gesetze mit unserem Denken zu erfassen. Die Gedanken sind der leibfreie Teil dieser Schöpfungsweisheit, die in unserem Körper wie in einem Mikrokosmos in Form der Naturgesetze wirkt. Die Weisheit, die uns bildet, ist ebendie reflexive Weisheit, mit der wir die Welt verstehen können.

Das ist im Johannes-Evangelium gemeint mit „aus dem Geist geboren“. Das Gedankenleben verdankt sich im Grunde einem aus dem Körper „herausgestorbenen“ Kräftewirken. Somit ist das Denken bereits eine außerkörperliche Erfahrung. Diese zweite Geburt, aus Wasser und Geist, findet im Ätherischen und im lebendigen Denken statt.

Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. und 14. März 2020


[1] Vorliegender Text ist eine Zusammenfassung von Christine Pflug eines online-Vortrages von Michaela Glöckler, gehalten auf einem webinar am 13./14. März, veranstaltet von der BVBA (Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie www. biographiearbeit.de), an dem über 100 Teilnehmer*innen zuhörten. Der Titel hieß „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“.

[2] Neues Testament, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 3.

WEGWEISENDE KULTURIDEALE FÜR DIE BIOGRAFIE

Welche Bedeutung haben Ideale für das Leben?

Leitbild aus der Welt der Ideale

Wer sich entscheidet, die zweite Geburt ernst zu nehmen, wird sich ein Leitbild für die eigene Entwicklung geben, quasi „von oben her“ aus der Welt menschlicher Ideale, wie sie zum Beispiel im Evangelium gelehrt werden. Dort wird gesagt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“[1] und „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“[2]

Man entdeckt unschwer in diesen Worten die drei Kulturideale des mensch­lichen Seelenlebens:

  • Wahrheit: Unser Denken und Beobachten werden umso lebenstauglicher, je wahr­heitsorien­tierter wir mit ihnen umgehen.
  • Liebe: Das Gefühlsleben wird umso reicher und empathischer, je mehr wir es am Erlernen der bedingungslosen Liebe ausrichten, d. h. einer Liebe um des Geliebten willen und nicht einer Liebe, in der man das Geliebte zum Genussobjekt macht.
  • Freiheit: Und schließlich das Rätsel der Freiheit – Inbegriff menschlicher Würde und zugleich abscheulicher Abgrund aller Missbrauchsmöglichkeiten von Wissen und Macht.

Fundament der Anthroposophischen Biografiearbeit

Den Weg zur Wahrheit müssen wir alleine gehen, wenn er zu Freiheit und Autonomie führen soll. In dieser Hinsicht ist das Christentum antiautoritär und revolutionär, auch wenn sich die christlichen Kirchen an diesem Punkt schwertun und auch die Gläubigen sich lieber an klaren Regeln „zum Guten“ orientieren. Das Christentum lehrt aber nur ein Gebot, die Liebe, und einen Weg, den Weg zur Freiheit durch Erkenntnis der Wahrheit. Dieser Weg und dieses Gebot sind das Fundament der Anthroposophischen Biografiearbeit.

Auch wenn man die oben ge­nannten drei Kernideale des Christentums nicht kennen würde, käme früher oder später jeder aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrungen dazu zu erkennen, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen belastet werden durch Unehrlich­keit und Misstrauen sowie durch respektlose Grenzverletzung der Autonomie des anderen. Wohingegen jedes Bemühen um Ehrlichkeit, um echtes Interesse am anderen und um Respekt vor der Autonomie des anderen das Zusammenleben erleichtert und menschlicher macht.

Damit bieten sich diese drei Ideale geradezu an, die eigene Identität daran auszu­rich­ten. Denn Identität ist doch das, womit man sich identifiziert: Man wird zu dem, wofür man sich begeistert und was man zu realisieren versucht. D.h., wer Wahr­haftigkeit übt, wird einen ehrlichen Charakter entwickeln.  Das gilt auch für die beiden anderen Lebens­ideale. Wer sich mit einem Ideal verbindet und sich damit identifiziert, strahlt das, wofür er sich engagiert, auch aus.

Begleitung durch Ideale

Diese Ideale können dazu inspirieren, worauf es in einer bestimmten Situation ankommt und was man dadurch vielleicht lernen oder tun kann. Man erlebt, dass sie wie gute geistige Begleiter sind, die einen innerlich tragen und beschützen können. Auch erweisen sie sich als eine unerschöpfli­che Kraftquelle im Alltag. In jedem Augenblick kann man sich fragen – je nachdem was gerade ansteht:

Wie kann ich mich dieser Herausforderung stellen oder in dieser Situation reagieren, dass die menschlichen Kulturwerte Wahrheit, Liebe und Freiheit nicht beschädigt werden, sondern gedeihen?

Jeden Abend kann man den Tag Revue passieren lassen und sich fragen:

Wie war das heute?

Habe ich ein Stück Menschlichkeit realisieren können?

Oder bin ich doch wieder mal eingeknickt und habe eine Verlegenheitslüge gebraucht oder geschwie­gen, wo ich etwas hätte sagen sollen?

So werden diese Ideale immer mehr zu einem innerlichen Bezugspunkt mit dem man sich identifiziert. So verwandelt man sich nach und nach zu seinem „wahren Ich“. Jeder Tag, den man in diesem Bewusstsein leben darf, ist wichtig und ein Schritt auf dem Weg, ein möglichst star­kes leibunabhängiges Ich-Bewusstsein zu entwickeln, das man mit über die Todes­schwelle nehmen kann.

Wie und warum man findet

Picasso sagte in einem Gedicht: „Ich suche nicht, ich finde.“ Wenn man ständig auf der Suche ist, findet man nicht. Wenn man finden will, sucht man anders. Picasso fragte:

Wer bestimmt meine Suche und meine Sehnsucht?

Ist das, wonach ich mich sehne, nicht bereits das Ziel?

Entsteht diese Sehnsucht nur dadurch, dass ich im Grunde weiß, wonach ich suche?

Wir suchen unser wahres Ich, sehnen uns nach mehr Menschlichkeit und einer besseren Welt. Alle unsere Sehnsüchte, unsere Hoffnungen und Ideale sind reines „Zukunftsmaterial“. Wir suchen danach, weil wir genau wissen, was wir finden wollen. So wie es Christian Morgenstern ausdrückt in einem Gedicht: „Wer vom Ziel nichts weiß, kann den Weg nicht haben, wird im selben Kreis all sein Leben traben. Kommt am Ende hin, wo er hergerückt, hat der Menge Sinne nur noch mehr zerstückt.“[3] Oder wie man es im Zen-Buddhismus sagt: „Der Weg ist das Ziel“. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass wir im Grunde wissen, worauf wir hinauswollen.

Jede menschliche Biografie ist ein Weg, DER Weg für das Individuum, und das Ziel ist klar darin veranlagt. Das ist der Grund, weshalb wir Sehnsucht nach einem guten, schönen, menschenwürdigen, wahrhaftigen Leben haben und warum wir uns traurig und verzweifelt fühlen, wenn wir uns von diesem Ideal entfernen. Wir haben in uns den Maßstab, worauf es in unserem Leben ankommt. Dieser Maßstab soll durch Biografiearbeit bewusstgemacht und freigelegt werden.

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021


[1] Neues Testament, Johannes 8, 32.

[2] Ebenda, Lukas 10, 27.

[3] Christian Morgenstern (1871-1914), Wer vom Ziel nichts weiß, Gedicht entstanden 1914 in München.

SELBSTBEWUSST ÜBER DIE TODESSCHWELLE

Wie kann man ein ewiges stabiles Ich- und Selbstbewusstsein erringen, das einen sogar durch die Todespforte tragen kann?

Seelentod durch Materialismus

In der Apokalypse des Johannes heißt es sinngemäß „Fürchtet nicht den Tod des Leibes, sondern den Seelentod“,[1] das heißt den Bewusstseinstod. Mit Bewusstseinstod ist gemeint, sich nach dem Tod des Leibes nicht bewusst in der nachtodli­chen Welt halten zu können. Man ist zwar „da“, aber weiß nichts von sich. Das ist eine der Schattenseiten des Materialismus, die bewirkt, dass sich das Bewusstsein nicht vom sinnlich Gegebenen lösen kann und dadurch auch mit dem Tode erlischt. Dieser Umstand wird im Evangelium und in der esoterischen Literatur als „zweiter Tod“ bezeichnet.

  • Den ersten Tod stirbt jeder Mensch, indem er seinen Körper ablegt.
  • Den zweiten Tod des Bewusstseinsverlustes nach Ablegen des Körpers erlei­den diejenigen, die sich nicht für ihr leibunabhängiges, rein geistiges Leben interessiert haben.

Umso größer ist dann die Sehnsucht, sich möglichst rasch wieder zu verkörpern, um das Versäumte nachzuholen und zu Lebzeiten ein Bewusstsein des eigenen geistigen Wesens zu entwickeln, ja es aus sich selbst zu gebären. Das ist einer der Gründe für das starke Bevölkerungswachstum.

Notwendigkeit von Wiederverkörperung

Wenn man einmal wirklich begriffen hat, wie unvollendet der Mensch tatsächlich ist, wie weit entfernt vom Ziel der Menschheitsentwicklung, und wie wenig wir in einem Erdenleben Mensch werden können, erkennt man, dass die Wiederverkörperung eine Notwendigkeit ist. Und dann braucht jeder seine eigene Zeitspanne, bis er sich selbst zum vollendeten Menschsein entwickelt hat. Von konfessionell-christlicher Seite wird öfters eingewendet, dass in den Evangelien doch keine Rede von Reinkarnation sei. Doch macht die Zukunftsorientiertheit des Idealismus nur Sinn, wenn dem Menschen auch die Zeit gegeben wird, seine Ideale zu erreichen.

Wie sollen ein Kind, das früh verstirbt, oder ein Erwachsener, der delinquent geworden ist, den Weg zur Wahrheit gehen, die frei macht, wenn ihnen ihr aktuelles Leben gar nicht die Chance dazu geboten hat?

Auch lesen wir im neunten Kapitel des „Markusevangeliums“, dass die Jünger Jesus nach der Verklärung auf dem Berg fragten, warum die Schriftgelehrten sagen, dass Elias wiederkommen müsse, bevor der Messias erscheinen könne. Er antwortete: „Aber ich sage euch: Elias ist bereits gekommen, und die Menschen haben ihre Willkür an ihm ausgelassen, wie es die Schrift von ihm sagt“.[2] Im Matthäus Evangelium wird noch ergänzt „da verstanden die Jünger, dass er von Johannes dem Täufer zu ihnen sprach“.[3]

Die Bedeutsamkeit von Entwicklung

So dezent die Lehre von Wiederverkörperung und Schicksal in den Evangelien auch aufscheint, so deutlich wird in den Evangelien der Wert des einzelnen Erdenlebens betont. Es gilt die Zeit für die individuelle Entwicklung zu nutzen. Ist es doch gerade der individuelle Schicksalsweg, ­durch den sich die Menschen unterscheiden. Nicht Erbgut und Milieu verdanken wir unsere ureigene Individualität, sondern dem ureigenen Schicksalsgang durch die wiederholten Erdenleben hindurch, der uns zu diesem unverwechselbaren Menschen werden lässt.

Im Unterschied zu den Tieren und Pflanzen, die von Anfang an wissen, wie sie sich zu entwickeln haben, sind wir Menschen von der Schöpferseite her unvollendet gelassen worden. Wir haben nur die Veranlagung dazu, eigenständige, reife Menschen zu werden, wir werden nicht so geboren. Wir müssen die veranlagte Menschlichkeit eigenständig weiterentwickeln im Laufe unseres Lebens. Das muss jeder Mensch auf seine Art und Weise selbst vornehmen. Auch wenn wir uns gegenseitig dabei helfen können, muss und darf jeder Mensch lernen, auf eigenen Füßen zu stehen und den eigenen Weg zu gehen.

Hilfe zur Selbsthilfe geben

Daher ist es auch so wichtig, dass unsere Klient:innen nicht von uns abhängig werden in der biografi­schen Arbeit und Beratung. Es muss bei der Entwicklung des Selbstbewusstseins als geistiges Wesen immer um Hilfe zur Selbsthilfe gehen. Wir können auf den Weg der Entwicklung hinweisen, gehen muss ihn jeder selbst.

In seiner „Philosophie der Freiheit“ findet Rudolf Steiner wunderbare Worte, um die biografische Aufgabe des Menschen von Erdenleben zu Erdenleben zu beschreiben: „Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Natur­wesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen. Die Natur lässt den Menschen in einem gewissen Stadium seiner Ent­wicklung aus ihren Fesseln los; die Gesellschaft führt diese Entwicklung bis zu einem weiteren Punkte; den letzten Schliff kann nur der Mensch selbst sich geben.“[4]

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021


[1] Neues Testament, Apokalypse 2, 11, 14, 13, 20, 6.

[2] Neues Testament, Markus 9, 13.

[3] Ebenda, Math. 17, 13.

[4] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, S. 170.

BIOGRAFISCHE GESETZMÄSSIGKEITEN[1]

Welchen biografischen Gesetzmäßigkeiten folgt das Erwachen von Selbstbewusstsein?

Erwachen von Selbstbewusstsein im Denken, Fühlen und Wollen

• Im 3. Lebensjahr – Erwachen auf Gedankenebene: Ich bin ich

Ein erster Funke von Selbstbewusstsein, das ich „provisorisches Selbstbewusstsein“ nennen möchte, erwacht rein auf Gedankenebene im dritten Lebensjahr. Da denkt das Kind zum ersten Mal: Ich bin ich. Diesen Gedanken, diese Logik machen wir uns alle selbst klar, die Umwelt kann helfen, kann fragen, aber wirklich zu verstehen bedeutet immer, es selber zu machen. Das macht das Kind im dritten Lebensjahr ganz aus sich selbst heraus. Alles, was das Kind vorher erlebt hat, hat es vergessen, das ist die Amnesie vor dem ersten Ich-sagen. Unser bewusstes Gedankenleben reicht nur bis zu unserer ersten Erinnerung. Aber ab da halten wir den Identitätsfaden im Denken, der „Ich-bin-Ich-Gedanke“ ist ab dann immer dabei. Das ist die Steuerungszentrale.

• Im 9. Lebensjahr – Erwachen auf Gefühlsebene: Ich fühle mich

Das gleiche Bedeutungsvolle passiert im 9. Lebensjahr mit dem Fühlen. Jetzt erwacht das Weltgefühl, die Kinder erfühlen den Gedanken ihres Ich. Dieses „Ich bin Ich“ zu fühlen, bedeutet Einsamkeit, Einmaligkeit. Fast jedes Kind stellt die Frage:

Bin ich wirklich das Kind meiner Eltern oder bin ich vielleicht adoptiert?

Denn sie fühlen sich missverstanden, alleine gelassen, ausgegrenzt. Deshalb ragen Drogensucht, Internetsucht, aggressives Verhalten, Depression in dieses 9. Lebensjahr herunter.

• Im 16. Lebensjahr – Erwachen im Willen: Ich will mich

Im 16. Lebensjahr gibt es im Selbstbewusstsein noch mal eine Revolution, weil jetzt der Wille dazu kommt. Manche Jugendliche erleben es wie einen Schock: „Ich bin für mich selbst verantwortlich.“ Bis jetzt konnte man die Verantwortung noch delegieren, auf das Umfeld, die „blöde Familie“. In der Pubertät lehnt man die Verantwortung meist ab, aber jetzt ist man ein junger Erwachsener. Man erlebt den eigenen Willen als Teil der eigenen Identität. „Ich denke mich nicht nur, ich fühle mich nicht nur, sondern ich bin für mich selbst verantwortlich.“ Dann erwacht der Idealismus:

Wofür will ich verantwortlich sein, für welche Werte will ich mich einsetzen?

Man sucht Vorbilder, überlegt, welchen Beruf man ergreifen möchte etc. Diese drei Ich-Erfahrungen sind dennoch alle vorläufig.

• Vom 22. bis 24. Lebensjahr – Suchen eines festen Bezugspunktes

Normalerweise beginnt es erst vom 22. bis 24. Lebensjahr, dass der junge Mensch auf neue Art fragt: Wer bin ich?

Jetzt ist es die Frage nach dem ewigen Ich, die man so klar stellt, dass man sie bewusst fassen und verfolgen kann. Später ist es so, dass man angeregt durch Lebenskrisen, Begegnungen, auch durch spirituelle Krisen diese Frage immer wieder stellt. Bei der zweiten Geburt bestimme ich selbst im Denken, welchem Wertekontext ich mich mit meinem Ich widmen möchte. Um ein Beispiel zu nennen:

Welche Art Mensch möchte ich werden?

Was ist eigentlich menschlich?

Es gibt dabei drei grundsätzliche Ideale:

  1. Wichtig unter Menschen ist, dass es ehrlich zugeht, dass man sich darauf verlassen kann, dass der andere einen nicht anlügt. Das ist das Ideal der Wahrheit.
  2. Das zweite Ideal ist die Liebe, dass man auch die Schönheit dieser Beziehung fühlt.
  3. Und das dritte ist die Freiheit, dass jeder sich frei entscheiden kann, wie er/sie leben will; dazu gehört auch, den anderen frei zu lassen.

Geisteswachheit durch Ideale

Diese drei Kernideale kann man anstreben, und dann ist die weitere Biografie der Ort, wo sich diese Ideale realisieren. Jeder Tag ist eine neue Aufforderung, ehrlich, liebevoll, freilassend und selbstbestimmt zu sein. Jeden Abend kann man eine kleine Revue machen:

Wie war das heute?

Habe ich doch wieder eine kleine Verlegenheitslüge gebraucht oder geschwiegen, wo ich hätte was sagen sollen?

Man hat somit einen festen Bezugspunkt gefunden, nämlich selbstgewählte Ideale, welche man dann in allen Lebenslagen evaluiert. Die Konzeption dieser zweiten Geburt ist das Fassen der Idee und die Realisierung ist quasi die Embryonalentwicklung. Bis zum Tod kann man das dann täglich üben, um dieses „Kind“ der Geisteswachheit beim Sterben mit über die Schwelle zu nehmen und diese auch „drüben“ bewahren zu können. Das bedeutet, dass man sich in der nachtodlichen Welt bewusst und wach halten kann.

Physische und ätherische Biografie

Insofern kann man unter diesem Aspekt der ersten und zweiten Geburt die menschliche Biografie als Ganzes wie zweifach betrachten:

  • Einmal die physische Biografie – der Körper baut sich auf, hat seine beste Zeit, gefolgt von einer Phase der Involution und zuletzt stirbt er.
  • Der ätherische Aspekt der Biografie ist, dass man heranwächst, sich entwickelt, und ab einem bestimmten Zeitpunkt geistig die weitere Entwicklung in die eigenen Hände nimmt, die eigene Identität bestimmt und diese durch den Tod trägt.

Das bildet die individuelle Voraussetzung für das nachtodliche Leben und die Vorbereitung der nächsten Inkarnation auf der Erde. Denn wenn man einmal wirklich begriffen hat, wie defizitär der Mensch wirklich ist und wie wenig wir in einem Erdenleben Mensch werden können, kann man nicht daran zweifeln, dass die Wiederverkörperung eine Notwendigkeit ist. Es braucht individuell unterschiedlich Zeit, bis sich der Mensch selbst zum Menschen macht. Das ist auf große Zeiträume angelegt.

Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. Und 14. März 2020


[1] Vorliegender Text ist der 2. Teil einer Zusammenfassung von Christine Pflug eines online-Vortrages von Michaela Glöckler, gehalten auf einem webinar am 13./14. März 2020, veranstaltet von der BVBA (Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie www. biographiearbeit.de), an dem über 100 Teilnehmer*innen zuhörten. Der Titel hieß "Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis".

BIOGRAFISCHE ENTWICKLUNG IN JAHRSIEBTEN[1]

Wie sieht die Entwicklung des Menschen in Jahrsiebten aus?

Wie können wir in der Biografie mit ihren Gesetzen in jedem Lebensalter neue Aspekte unserer Identität erüben und erfahren?

Körperlich-seelische Reifungsschritte

Die menschliche Entwicklung hat Gesetze, die die körperliche, seelische und geistige Reifung bestimmen. Dabei kommt der Entwicklung des menschlichen Willensvermögens für die Bewältigung der Biografie eine besondere Bedeutung zu.

• 0 bis 7 Jahre

Wenn wir bei der Geburt beginnen, sind die ersten sieben Lebensjahre stark geprägt durch die Nachahmung. Die Kinder sind von sich aus aktiv. Dieser Wille folgt den Sinnen: Was die Kinder sehen, das ahmen sie nach. Deshalb wird diese Phase „sensomotorische Entwicklung“ genannt.

• 7 bis 14 Jahre

Ganz anders ist es zwischen 7 und 14 Jahren, wenn es auf die Pubertät zugeht. Da folgt der Wille nicht mehr den Sinnen, sondern wird abhängig von dem in Entwicklung begriffenem Gefühlsleben. Man macht, wozu man Lust hat und wofür man sich begeistert. Wohl dem, der aus Freude und Liebe zu einem Erwachsenen, dem Lehrer oder der Lehrerin, lernt und sich anstrengt. Die Liebe ist das einzige Gefühl, das frei lässt, Angst und Pflicht dagegen binden und zwingen.

• 14 bis 21 Jahre

Zwischen 14 und 21 Jahren folgt der Wille der Einsicht und den eigenen Gedanken. Jetzt machen die Jugendlichen die Dinge, die sie selber gut finden, die sie einsehen, und man muss ihnen als Erwachsener alles sehr gut erklären. Wirklich einsichtsfähig ist man erst ab 16 Jahren. Dann ist man selbstgesteuert, vorher ist man sensorisch- und sympathiegesteuert. In diesen Phasen entwickelt sich der Körper, und zwischen 18 und 22 sind wir ausgewachsen.

Seelische Reifungsschritte

Jetzt kommen nicht mehr die Gesetze der körperlichen Reifung, sondern der seelisch-geistigen Reifung.

• 21 bis 28 Jahre – Empfindungsseele

In dem Jahrsiebt zwischen 21 und 28 fühlt sich dieses mündige und vorläufige Ich verant­wortlich und arbeitet daran, sein Denken und Fühlen zu kontrollieren. Das Ich will sich in der eigenen Seele beheimaten und auskennen lernen. Rudolf Steiner nennt diese Epoche Empfindungsseele – man möchte die Welt gerne empfinden und erleben. Deshalb ist diese Phase geprägt von einer Sehnsucht nach möglichst viel Begegnung. Es ist ideal, wenn die jungen Menschen viel Auslandserfahrung, Menschen- und Arbeitserfahrungen sammeln können, bevor sie sich für ein Berufsfeld entscheiden. Das Ich möchte sich in seiner eigenen Selbsterfahrung realisieren und erleben.

• 28 bis 35 Jahre – Verstandes- und Gemütsseele

Das ändert sich ganz natürlich zwischen 28 und 35 Jahren. Dann kommt eine andere Sehnsucht, nämlich nach sozialer Verantwortung, etwas zu tun, weil es nützlich ist und gebraucht wird. Wer Familie hat in diesem Alter, ist in der Lage, sich selbst um der anderen willen zurückzunehmen. Oder man setzt sich voll im Beruf ein. Auf eine Weise genießt man, dass man jetzt die objektiven Gesetze dieser Welt und der Arbeit wichtig nehmen kann und nicht ständig nach sich selber fragen muss. Rudolf Steiner nennt das Verstandes- und Gemütsseele. Der Verstand wird jetzt führend, und wenn man in der Empfindungsseele seinen Lebenshunger stillen konnte, dann leidet man in dieser Phase keinen Verzicht, sondern hat Freude daran, sich den objektiven Weltverhältnissen zuzuwenden und sich in ihren Dienst zu stellen.

• 35 bis 42 Jahre – Bewusstseinsseele

Zwischen 35 und 42 kommt ein dritter Schritt im Seelenleben, nach Empfindung und Verstand kommt jetzt Bewusstsein. Es ist ein höheres Bewusstsein, und gerade jetzt in der Corona-Krise kann man unmittelbar verstehen, dass wir nicht nur unser persönliches Schicksal und unsere Liebhabereien haben, auch nicht nur unsere Arbeit, Familie und unseren Schicksalsumkreis, sondern dass wir ein Teil der ganzen Menschheit sind.

Habe ich eine Bewusstheit von der Menschheitsentwicklung?

Goethe sagte in diesem Alter: „Wer nicht von 3.000 Jahren sich kann Rechenschaft ablegen, bleibt im Dunkel unerfahren, mag von Tag zu Tage leben …“ Goethe wollte 1.500 Jahre zurück und 1.500 nach vorne blicken – da bekommt man eine Ahnung, wo man in der Gegenwart steht, was man heute zu tun hat, damit die Menschheit in 100 Jahren woanders steht. Man bekommt eine Bewusstheit von der eigenen Verantwortung für das große Menschheitsganze.

Deswegen ist diese Lebensphase nicht unkritisch. Auf der einen Seite kann man diese Bewusstseinsseele als kalt erleben, weil man sich auch in diesem großen Ganzen und Weltgetriebe mit allen Verrücktheiten, Korruptionen, Gewalt, immer wieder Kriegen usw. verlieren kann, auf der anderen Seite kann einen eine Liebe und Wärme ergreifen, zu diesem großen Ganzen etwas Sinnvolles beizutragen. Dann ist man mit seinem Ich in der Seele erst wirklich ganz beheimatet, man hat seelischen Anschluss an die Geschichte, an die Kultur, an die Menschheit, an viele große Sinnfragen gefunden. Erst dann ist man seelisch wirklich reif.

Geistige Reifungsschritte

Danach kommen wieder andere Gesetze zum Tragen: diejenigen der geistigen Reifungs-schritte. Diese Phase ist von Lebensmittekrisen und anderen Lebenskrisen gekennzeichnet, weil die geistige Entwicklung die Krise braucht, damit sie überhaupt stattfinden kann. Wenn man seelisch stabil und ausgereift ist, besteht die Gefahr stehen zu bleiben, seine Macht weiter auszubauen, seinen Besitzstand zu wahren, sich zu etablieren, man will es gemütlich haben. Man kann mit seinem Ich im Seelisch-Körperlichen stecken bleiben und in eine Sackgasse geraten. Der Aufbruch in die geistige Entwicklung ist der Aufbruch in die wahre Autonomie.

• 42 bis 49 – Entwicklung des Geistselbst

Zwischen 42 und 49 ist es oft so, dass man vor neue, auch berufliche Entscheidungen, gestellt wird und den Eindruck hat: Dieser Aufgabe stelle ich mich, weil sie gebraucht wird. Wenn man die Bewusstseinsseele entwickelt hat, kann man jetzt von sich selber absehen. Geistig bedeutet „außerkörperlich“, die Seele ist noch mit dem Körper verbunden, wir fühlen unseren Körper, aber unser Denken ist eine außerkörperliche Instanz – das nennen wir „Menschengeist“ (in dieser speziellen Zeit von 42-49 wird diese Phase „Geistselbst“ genannt).

Es ist ein Evidenzerlebnis zwischen 42 und 49, dass man sich Dinge zutraut, die man sich vorher nicht zugetraut hätte. Dazu gehört, Herausforderungen anzunehmen, auch den Mut zu haben, versagen zu können, dank der Haltung: „… dann geht es eben schief, aber die Chance, dass es klappt, ist auch da.“ Solange man in der körperlichen und seelischen Reifung ist, besteht die Angst zu versagen, aber in diesem Alter kann man davon absehen. Man hat eine Emanzipation vom Seelischen und Körperlichen erreicht und kann die eigene Seele und den eigenen Körper mehr als ein Instrument für den selbstbestimmten Geist erleben. Es ist die Selbstlosigkeit, die in diesem Alter entwickelt werden kann.

• 49 bis 56 – Erwachen der Urteilsreife

Zwischen 49 und 56 kann die geistige Reifung sich dahingehend weiterentwickeln, dass man eine neue Empathie für die Menschen im eigenen Umkreis hat. Es ist die Fähigkeit spiritueller Empathie, man kann sich in Menschen hineinversetzen und kann Dinge vom Standpunkt des anderen aus beurteilen. Wie oft passiert es leider, dass gesagt wird: „Ich an deiner Stelle würde das so und so machen, meine Erfahrung war so und so … “. Aber das darf nicht der Maßstab sein, sondern man muss vom anderen ausgehen.

Die wirkliche Reife zum Urteilen erwacht zwischen 49 und 56, man kann im Fühlen und Denken von sich selbst absehen. Man entwickelt eine soziale Urteilskompetenz und Milde, die Dinge beurteilen kann, ohne sie zu verurteilen. Sympathien und Antipathien werden zu Wahrnehmungsorganen umgewandelt für das, was den anderen betrifft. Das Ideal ist, dass der andere durch die Fragen, die man ihm stellt, sich so angesprochen fühlt, dass er durch sich heraus die Antwort findet.

• 56 bis 63 – geistige Überschau

Der dritte Schritt in der geistigen Reifung zwischen 56 und 63 ist eine geistige Überschau. In der deutschen Sprache gibt es dafür das Wort „Güte“, das ist eine geistige Kompetenz, in der man wirklich versteht, was das „Gute“ ist. Goethe schrieb einmal seiner geliebten Charlotte von Stein „Ich fühlte mich in deinen Augen gut“. Diese Ausstrahlung der Güte entwickelt sich in diesem Abschnitt als eine bewusste Kompetenz, wenn man an seiner geistigen Reifung arbeitet. Man kann so von dem eigenen Willen absehen, dass man für den anderen tun kann, was der wirklich braucht – das ist sozusagen brüderlichstes Beistehen. Die Tugenden dieser geistigen Reifezeit, Selbstlosigkeit, Milde und Güte, sind die drei Kerneigenschaften des Alters.

• Ab 63 Jahre – leben mit den Konsequenzen

Nach 63 Jahren lebt man mit den Konsequenzen der biografischen Entwicklung, die bis dahin stattgefunden hat. Es gibt aber viele Möglichkeiten der Nachreifung, die sind individuell und verschieden. Grundsätzlich gilt es, da anzufangen, wo das Ich gerade biografisch steht. Wenn ein Mensch beispielsweise 50 Jahre alt ist und eine Willensschwäche hat, liegt für diese die Ursache im ersten Jahrsiebt. Er kann dann die altersentsprechende Fähigkeit der Milde üben und mit einer Willensübung verbinden. (Bewusste Wiederholung stärkt den Willen, unbewusste Wiederholung das Gefühl.) Grundsätzlich aber ist der Mensch ab 63 Jahren mit seiner physischen, seelischen und geistigen Entwicklung in der Lage, nun sein Leben ganz frei zu gestalten.

Vgl. Vortrag „Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis“, gehalten bei einem Webinar zur Biografiearbeit am 13. Und 14. März 2020


[1] Vorliegender Text ist der 2. Teil einer Zusammenfassung von Christine Pflug eines online-Vortrages von Michaela Glöckler, gehalten auf einem webinar am 13./14. März 2020, veranstaltet von der BVBA (Berufsvereinigung Biografiearbeit auf Grundlage der Anthroposophie www. biographiearbeit.de), an dem über 100 Teilnehmer*innen zuhörten. Der Titel hieß «Wer bin ich? Was ist mein Weg? Biografiearbeit als Schlüssel zu einem neuen Selbstverständnis».

KRANKHEIT ALS SCHICKSALSEREIGNIS

Inwiefern kann man Krankheit als ein Schicksalsereignis auffassen?

Haben Krankheiten einen Sinn?

Welchen Erkenntnisgewinn hat man davon?

Zum Sinn von Krankheit

Zu den schwierigsten Fragen in der Biografiearbeit gehört die Frage nach dem Sinn von Krankheit. Für viele Menschen ist schon die Frage nach dem Sinn etwas, das sie irritiert, ja sogar ärgert. Auch die Schuldfrage lauert im Hintergrund.

Wenn man den Schicksalsgedanken jedoch ernst nimmt, liegt es nahe, die Ursache für Krankheiten zumindest teilweise bei sich selbst zu suchen. Das kann sehr ernüchternd sein, je nach­dem, um welche Krankheit es sich handelt. Die rein naturwissen­schaftlich-reduktionistisch ausgerichtete Medizin sieht Krankheit als reinen Störfall der Natur oder, wie es im Englischen heißt, als „inborn error of metabolism“, als einen Fehler im Stoffwechselsystem, den es zu erkennen und zu korrigieren gilt. Man versucht, das Auftreten von Krankheit möglichst zu kontrollieren bzw. zu verhindern.

Selbstverständlich dient auch eine integrative Medizin, die spirituelle Gesichtspunkte mit einbezieht, dem Ziel, Krankheiten zu lindern und zu heilen. Sie klammert aber nicht per se die Sinn- und „Schuldfrage“ aus. Denn wer einen schweren Autounfall erleidet oder schon von Kind an einen Diabetes Typ eins hat oder im fortgeschrit­tenen Alter von einer schweren Krebserkrankung heim­gesucht wird, erlebt das als existenzielle Krise. So etwas wird Teil seiner Biografie und bedarf einer sinnstiftenden Bearbeitung, damit man nicht mit seinem Schicksal zu hadern beginnt. Denn nichts raubt mehr Kraft, als mit sich selber uneins zu sein, wohingegen es Kraft gibt, wenn es einem gelingt, das eigene Schicksal anzunehmen.

Drei allgemeine Krankheitstypen als Entwicklungshelfer

Wie kann man im Rahmen der Beratung den Betrof­fenen helfen, an sich und die Situation weiterführende Fragen zu stellen?

Es kann sehr hilfreich sein, sich klarzumachen, dass jede menschliche Biografie von drei Krank­heits­formen begleitet wird, die ganz unabhängig vom individuellen Schicksal eines Menschen im Laufe des Lebens auftreten können.

·      Körperliche Lernaufgaben durch akutes Infektionsgeschehen

In der ersten Lebenszeit, in der die körperliche Ent­wicklung im Vordergrund steht, kommt es gehäuft zu akuten Infektionskrankheiten. Mit Ausnah­me seltener Komplikationen sind diese meist auch mit Fieber einhergehenden Infekte im Kindesalter etwas, womit alle Eltern rechnen und was den Alltag der Kinderärzte bestimmt. Im besten Fall wird der Kinderarzt den Eltern erläutern, dass diese Infekte nicht sinnlos sind – auch das Fieber nicht – weil sie dem Kind helfen ein starkes Immunsystem aufzubauen. Man weiß ja seit den siebziger Jahren, dass Fieber unmittelbar immunstimu­lierend wirkt und sollte deswegen auch nur im Ausnahmefall mit chemischen Mitteln gesenkt werden.[1]

· Seelische Lernaufgaben durch psychosomatische Erscheinungen

Zwischen 20 und 40 Jahren sind die meisten Menschen körperlich gesund und belastbar. Fast jeder erlebt aber Zeiten großer seelischer Belastung – sei es im Rahmen des Studiums, der Berufsausbildung oder im privaten Umfeld wie z.B. in Partnerschaft und Familie. Stress, Mobbing und Beziehungs­krisen zehren an den Nerven und sind oft die Ursache von psychosomati­schen Beschwerden. Diese können sich in Form von Magenschmerzen, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Kopfweh, Herzstichen, depressiven Verstimmungen und anderen Unpäss­lichkeiten äußern. Wenn man jedoch zum Arzt geht, um sich behandeln zu lassen, findet er keine rechte körperliche Ursache für die Beschwerden und spricht allenfalls von vegetati­ver Dystonie.

Selbstverständlich kann man symptomatische Mittel wie Beruhigungs-, Schmerz- oder Schlafmittel einsetzen. Die Ursache der Beschwerden wird dadurch jedoch nicht beseitigt. Dies gelingt erst, wenn es dem Betreffenden gelingt sich auch ein „seelisches Immunsystem“ in Form von Resilienz und Stresstoleranz zuzulegen. Ohne die Bereit­schaft an sich zu arbeiten und einen wie auch immer gearteten inneren Entwick­lungsweg einzuschlagen, der der Stabilisierung dient, kann man solche Probleme nicht nachhaltig lösen. In dem Buch „Meditation in der Anthroposophischen Medizin“ finden sich reichhaltige Anregungen zum Selbststudium und für die Beratung.[2]

· Geistige Lernaufgaben durch chronische Krankheiten

Im letzten Lebensdrittel sind es chronische Krankheiten, die viele Menschen im vorgerückten Lebensalter leicht oder mittelgradig belasten. Damit sind jetzt die chronischen Krankheiten gemeint, die als natürliche Begleiterscheinung des alternden Organismus auftreten und mit denen man in der Regel gut zurechtkommt. Man kommt schneller außer Atem, hat vielleicht Probleme mit dem Knie und Ähnliches. Auch diese Krankheitsgruppe fügt sich sinnvoll in die biografische Situation ein. Denn jetzt geht es um die Erarbeitung eines „geistigen Immunsystems“. Wenn der Körper altert und Schwachstellen aufzeigt, merkt man, dass man älter wird, dass die eigene Lebenszeit früher oder später zu Ende geht. Viele fragen sich, was danach kommt.

Märchen vom Gevatter Tod als Wahrbild

Die Brüder Grimm haben ein Märchen mit dem Titel „Der Gevatter Tod“ publiziert. Dort wird diese Situation im Märchenbild auf den Punkt gebracht: Einem armen Mann wird ein 13. Kind geboren und er findet niemanden, der dem Kind als Pate zur Seite stehen will. So geht er hinaus in den Wald und auf die Straßen, um jemanden zu suchen. Da begegnet ihm der liebe Gott und ver­spricht seinem Kind ein gutes Leben. Der Mann lehnt jedoch ab, da Gott die Reichen belohnen und die Armen leer ausgehen lassen würde. Danach begegnet ihm der Tod und ist auch bereit, Pate zu werden. Ihn akzeptiert der Mann, da der Tod die Reichen und Armen ohne Unter­schied holen würde. Dieser verspricht ihm, dass sein Sohn ein guter Arzt werde. Als dieser erwachsen ist, bekommt er von seinem Paten eine Flasche mit Arznei und eine Salbe für die Füße. Zudem gibt ihm der Tod konkrete Anweisungen, wie er damit umgehen solle: Wenn er bei einem Kranken am Kopfende des Bettes stehen würde, solle er ihn an der Arznei riechen lassen und die Füße salben – denn dieser Mensch würde wieder gesund. Stünde er aber am Fußende, so solle er die Behandlung unterlassen und sagen, dass ärztliche Hilfe hier zu spät komme.

Dieses Märchen bringt heute allgemein bekanntes medizinisches Wissen ins Bild: dass viel Bewegung und gesunde Ernährung die wichtigsten Voraussetzungen für ein gesundes Altern sind, ebenso wie geistige Aktivität. Doch auch ein gesundes Verhältnis zum Sterben ist integraler Bestandteil des Lebens.

Diese drei Krankheitsgruppen – akute, psychosomatische und chronische Ereignisse – haben einen tiefen Sinn für die Biografie, da sie den betreffenden Menschen alters- und entwicklungsgerecht in seiner Widerstandskraft und Resilienz stärken. So gesehen stellen sie sinnvolle Ereignisse dar.

Entwicklung durch Krankheit ist typisch menschlich

Interessanterweise gibt es eine solche Entwicklungshilfe in der Natur bei wild leben­den Tieren nicht. Ihre Entwicklung verläuft gesund. Wenn ein Tier krank oder schwach wird, stirbt es bald, entweder weil ihm die Nahrungssuche nicht mehr gelingt oder weil es gefressen wird. Mit Krankheiten zu leben, sprich: in der Auseinandersetzung mit Krankheit etwas zu entwi­ckeln, was ohne sie nicht gelingen könnte, ist spezifisch menschlich.

Wer darüber nachdenkt, versteht schnell, dass Krankheiten im Leben eines Tieres sinnlos wären. Denn Tiere sind von Natur aus vollkommen, im Gegensatz zum Menschen, der wie oben charakterisiert, defizitär zur Welt kommt. Ein Mensch kann durch Leid und Schmerz Erfahrungen machen, die für seine weitere Entwicklung notwendig sind, die ihm die Chance geben, menschlich zu reifen – auch wenn man das oft erst viel später im Rückblick einsieht. Würde sich eine Kuh das Bein brechen, würde sie durch eine solche Erfahrung nicht „kuhiger“ werden. Wir Menschen haben aber die Möglichkeit durch überwundene Krankheiten noch menschlicher werden.

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, auch bei nicht typischen, unerwartet im Schicksal auftretenden Krankheiten, nach deren Sinn zu fragen. Mir wurde diese Frage im Laufe meiner ärztlichen Tätigkeit von Patienten immer wieder gestellt. Dabei war es mir stets ein großes Anliegen, die Frage so zurückzugeben, dass der Betroffene sich aufgerufen fühlt, sich selber die Antwort auf den Sinn seiner Erkrankung zu geben.

Exemplarische Krankheitsgeschichten

Dabei hat mir das Studium der Krankengeschichten im Neuen Testament sehr ge­holfen. Nicht nur weil dort der Verlauf bestimmter schwerer Krankheiten geschildert wird, sondern vor allem, weil dabei drei ganz verschiedene Krankheitsformen charakterisiert werden, die jeweils unterschiedliche Perspektiven deutlich machen.

1. Persönlich begründetes Krankheitsgeschehen

Zum einen gibt es Erkrankungen, die auf ein persönliches Verschulden zurückzuführen sind. Das zeigt sich deutlich durch die Art, wie Jesus dem Kranken begegnet und die Heilung herbeiführt. In diesen Fällen wird der Kranke mit den Worten entlassen: „Sündige hinfort nicht mehr“.[3]

2. Sozial begründetes Krankheitsgeschehen

Ganz anders verhält es sich beim Hauptmann von Kapernaum, dessen geliebter Knabe erkrankt ist. Er schickt die Ältesten der Juden zu Jesus, sozusagen die Honoratioren des Ortes, um für ihn zu bitten. Sie tun das, weil der römische Hauptmann Geld für die Synagoge gegeben hat und als guter Mensch gilt. Als Jesus sich anschickt den Kranken auf­zusuchen, schickt der Hauptmann ihm seine Freunde entgegen, um ihm zu sagen: „Herr ich bin nicht würdig, dass du unter mein Dach kommst, aber sprich nur ein Wort, so wird mein Knabe gesund. Daraufhin sagt Jesus zu den umstehenden: Solch einen Glauben habe ich bisher in Israel nicht gefunden und zur Stunde ist der Kranke gesund.“ [4]

Diese Geschichte macht deutlich, dass die beiden Hauptbetroffenen, nicht der Hauptmann und der Knabe die eigentliche Ursache für das Heilungsgeschehens sind. Sie sind vielmehr „nur“ der Anlass dafür, dass viele Men­schen die Möglichkeit bekommen, Jesus und sein Wirken kennen zu lernen, was ohne diesen Krank­heitsfall nicht in diesem Umfang möglich gewesen wäre. Der Sinn einer Krankheit kann also auch darin liegen, dass Menschen im Umkreis des Betroffenen neue Impulse für ihre Entwicklung bekommen. Damit ist der Sinn dieser Krankheit erfüllt und der Betroffene wird wieder gesund.

3. Im Menschheitsschicksal begründetes Krankheitsgeschehen

Eine dritte Form stellt die erste Krankengeschichte im Lukasevangelium dar. Hier heilt Jesus am Sabbat in der Synagoge von Kapernaum einen Menschen, der von einem Dämon besessen ist. Jesus spricht nur mit diesem Krankheitswesen, nicht jedoch mit dem Erkrank­ten und auch nicht mit den Menschen, die dieser Szene beiwohnen. Diese dritte Form scheint also weder persönliche noch soziale Ursachen zu haben, sondern mit dem Schicksal der Menschheit als solches zusammenzuhängen.[5]

Man fühlt sich bei diesem dritten Krankheits- und Heilungsgeschehen an die Geschichte von Hiob im Alten Testament erinnert, durch die ebenfalls deutlich wird, dass die Ursache für Hiobs Unglückssträhne weder bei ihm persönlich noch in seinem sozialen Umfeld liegt. Denn Hiob führt ein Gott wohl­gefälli­ges Leben, das keinen Anlass für eine Erkrankung gibt. Als Leser weiß man jedoch, dass Gott und Teufel eine Art Wette abgeschlossen haben vor dem Hintergrund der Frage, ob Hiob Gott treu bleiben werde, auch wenn er mit Krankheit, Schmerz und Entzug seiner bisherigen Lebensgrund­lagen gepeinigt wird. Am Ende dieser qualvollen Prüfung erkennt Hiob sich als integralen Teil der Menschheit, er darf Gott schauen und bittet IHN darum, ihn zu lehren. Auch hier sind Krankheit, Entwicklung und Lerngewinn untrennbar miteinander verbunden.[6]

Notwendigkeit individueller Antwortfindung

Menschen, die solche „Heimsuchungen“ erleben, sind aufgerufen, sich die Antwort auf die Frage nach dem Sinn an ihrem persönlichen Schicksal selber zu geben. Denn selbst wenn zwei Menschen an derselben Krankheit leiden, sind die Ursachen möglicherweise grundverschieden. Die Erfahrung zeigt, dass wenn man als Arzt oder sonstiger Begleiter die unterschiedlichen Krankheitsursachen andeutet, die Betroffenen sehr rasch merken, in welche Richtung es bei ihnen geht. Diese Erkenntnis den Sinn des Krankheitsgeschehens betreffend, kann sehr erlösend sein, selbst wenn die Krankheit zum Tode führt.

Es kann aber auch sein, dass man durch das Erleiden einer bestimmten Krankheit, die viele Menschen betrifft, wie es z.B. bei Krebs oft der Fall ist, durch die Art, wie man damit umgeht, etwas zum Mensch­heits­fortschritt beitragen kann. Die Zeitkrankheit Krebs vereint viele Menschen in der gemein­samen Erfahrung, z.B. dass sie den Schock der Krebsdiagnose verar­beiten müssen. Rudolf Steiner sagte diesbezüglich, dass es für den weiteren Schicksalsverlauf und das nachtodliche Leben einen Unterschied mache, mit welchen Menschen und Menschengruppen man gemein­same Erfahrungen auf der Erde gemacht hat. Denn durch diese gemeinsamen Erlebnisse fühlt man sich auch in der geistigen Welt ver­wandt und kann dadurch in einem späteren Leben eine Zusammenarbeit in größeren Zusammen­hängen veranlagen.

Vgl. Vortrag „Biografiearbeit und die Frage nach dem Schicksal“, Fortbildung zur Biografiearbeit, Kassel 2021


[1] Dr. med. Michaela Glöckler, Dr. med. Wolfgang Goebel, Dr. med. Karin Michael: Kindersprechstunde, Kapitel “Fieber und seine Behandlung”.

[2] Michaela Glöckler, Meditation in der Anthroposophischen Medizin: Ein Praxisbuch für Ärzte, Therapeuten, Pflegende und Patienten.

[3] Neues Testament, Joh. 8, 11.

[4] Ebenda, Lukas 7, 7, zit. nach der Übersetzung von Emil Bock.

[5] Ebenda, Lukas 4, 31 - 37, zit. nach der Übersetzung von Emil Bock.

[6] Michaela Glöckler, Raphael und die Mysterien von Krankheit und Heilung, Medizinische Sektion am Goetheanum 2015.

DER MENSCH ALS SICH ENTWICKELNDE WAHRHEIT

Wie lassen sich Wandlung und Wahrheit im biografischen Kontext in Übereinstimmung bringen?

Wahrheitsfindung im Fühlen

Die Wahrheit lässt sich auf der Ebene des Fühlens mithilfe des Denkens und der denkenden Bildgestaltung nicht einfach so erschließen. In einem logischen Kontext kann ich mich frei bewegen und immer zu einem richtigen Ergebnis gelangen. Im sinnlich-empirischen Kontext genauso. Im emotionalen Kontext ist es bedeutend schwieriger zu einem eindeutigen „wahren“ Ergebnis zu kommen.

Wenn ich z.B. vorgestern erlebte, dass mir jemand auf unverschämte Art begegnet ist, bin ich heute vielleicht noch echt betroffen. Die Beleidigung und die Ungerechtigkeit bringen mich dazu, mich innerlich dagegen aufzubäumen. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt, dem Wesentlichen, dieser Erfahrung ergibt: Dass ich diese Erfahrung gemacht habe, ist wahr, dass ich sie als Unverschämtheit auffasse, entspricht der Realität und auch, dass ich den anderen als Täter verurteile und mich selbst als Unschuldslamm sehe. Diese gedankliche Interpretation entspricht meiner heutigen inneren Realität. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich heute nicht abschätzen kann, was diese Sache für meine Entwicklung als Ganzes bedeutet. Vielleicht wird mir in zehn Jahren bewusst, worauf mich diese Attacke hinweisen wollte oder was ich im Verarbeiten dieser Beleidigung gelernt habe. Vielleicht erkenne ich dann, dass ich mich aufgrund dieses unangenehmen Erlebnisses in einer viel kritischeren Situation ganz ruhig verhalten konnte.

Neues Verständnis entwickeln

Die Wahrheitsfindung im biografischen Kontext eröffnet eine völlig neue Dimension des Verstehens, die möglicherweise erst zehn Jahre später greift und mir den Sinn eines Ereignisses deutlich werden lässt. Ein und dasselbe Ereignis hat mich zuerst wütend gemacht und Jahre später dankbar gestimmt. Eine größere Gefühlsspanne gibt es kaum. Die Wahrheit auf dieser Ebene ist ständig in Entwicklung begriffen, ist nie „fertig“. Jeder Mensch ist eine sich entwickelnde Wahrheit. Ich kann meine Biografie jedes Jahr neu deuten, immer wieder neu beleuchten, im Spiegel neuer Gedanken und neuer Erlebnisse betrachten, und dadurch entwickelt sich meine Identität, die Wahrheit meines Wesens, meines Lebens, seine Sinngestalt.

Wenn wir auf diese Weise an unserer Biografie und ihrer Sinngestalt arbeiten, geraten wir mit unserem Denken an unsere Grenzen und suchen Rat. Wir fragen, wie ein anderer die Sache sieht und beurteilt. Das kann eine echte Hilfe sein. Doch auch dazu ist das Denken nötig: Nur wenn ich die Gedanken eines anderen selbst verstehe, haben sie für mich und meine Lebenssituation Bedeutung.

Vgl. Vortrag „Spiritualität und Lebensfreude als Schlüssel zu tiefen Beziehungen“, 06.11.2000

BIOGRAPHIE UND WIEDERVERKÖRPERUNG

Wie erschließt sich die Logik von Wiederverkörperung mit Blick auf die Biographie?

„Der Leib unterliegt dem Gesetz der Vererbung; die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal. [...] Und der Geist steht unter dem Gesetz der Wiederverkörperung, der wiederholten Erdenleben.“[1]

Ewige Ich-Identität und veränderliche Identität als Seele

Vieles im Leben – bis hin zu konkreten Krankheitssituationen – wird von unserer körperlichen Verfassung bestimmt. Mindestens genauso stark wirkt sich die seelische Betroffenheit angesichts von Vorkommnissen, Begegnungen, Möglichkeiten und Grenzen auf die eigene Biographie aus. Beide Einflussfaktoren dienen dem Menschengeist als Grundlage seiner Entwicklung in wiederholten Erdenleben.

·       Dabei geht das Ich des Menschen, sein geistiges Wesen, durch verschiedene Erdenleben ohne seine Identität zu verlieren.

·      Unsere Identität als Seele erstreckt sich jeweils nur über ein Erdenleben.

Die Seele ist für den Menschengeist in jedem Leben ein neuer, einmaliger Arbeits-, Bewusstwerde- und Entwicklungsraum, da sie mit ihrem Erleben an den Körper und damit an das Mann- oder Frausein, an das Lebensalter und an ganz bestimmte biographische Bedingungen gebunden ist.

Nur dem Geist – dem im Denken tätigen Menschen-Ich – ist es möglich, sich von allem Geschehen zu distanzieren, es anzuschauen, zu reflektieren und zu bearbeiten. Er kann sich während des Erdenlebens im Denken leibfrei erleben und betätigen. Er kann seine Identität in ganz verschiedenen Biographien mit ihren jeweiligen besonderen seelischen Konfigurationen wiederfinden, wenn er sich soweit seiner selbst bewusst geworden ist, dass er objektiv und selbstlos auf seine Erdenleben schauen kann.

Unangenehme Einsichten zulassen und verkraften

Würde ein Mensch unvorbereitet volle Einsicht in frühere Erdenleben bekommen, könnte er das seelisch nicht verkraften – das wäre auch dem Geist nicht dienlich. Welche dramatischen Unterschiede an Lebenserfahrung und Lebensqualität sind z.B. dem Erdenleben eines Galeerensklaven in Griechenland, einer Kammerfrau an einem mittelalterlichen Fürstenhof, dem heutigen Schicksal einer alleinerziehenden Mutter oder dem Leben eines leitenden Angestellten in einem größeren Betrieb abzulesen. Wie unterschiedlich sind die seelischen Konfigurationen und Erfahrungen, die von der ewigen Individualität des betreffenden Menschen seelisch durchlebt werden.

Es gehört viel innere Kraft dazu und auch die genannte Objektivität und Selbstlosigkeit, um sich mit einem Lebenslauf zu identifizieren, der einem nicht gefällt und von dem man nie gedacht hätte, dass man selbst ein solches Leben geführt haben könnte. Unter Umständen muss man auch Erlebnisse verarbeiten, die einen sehr betroffen machen, wenn man z.B. entdeckt, dass man in verschiedenen Leben gar kein so guter Mensch war.

Wer sich also auf solch möglicherweise unangenehme Selbsterkenntnisprozesse vorbereiten und mit der Gesetzmäßigkeit der wiederholten Erdenleben näher bekannt werden will, tut gut daran, sich nicht zu fragen, welche bedeutende Persönlichkeit er in einem früheren Leben gewesen sein könnte, sondern sich eher zu fragen:

Würdest du es aushalten zu erkennen, dass du in einem früheren Leben Grausamkeiten begangen hast?

Könntest du es aushalten zu erkennen, dass du ein Übeltäter warst?

Könntest du es ertragen zu erkennen, dass ein Mensch, mit dem du in diesem Leben größte Schwierigkeiten hast, jemand ist, den du in einem früheren Leben geschädigt hast?

Sich als Opfer vorzustellen ist bedeutend leichter, als sich mit der Rolle des Täters zu identifizieren.

Nach der Ursache für heutiges Schicksal fragen

Wer sich mit dieser unangenehmen Sicht auf sich selbst und den möglicherweise dabei auftauchenden Schmerzen ein wenig vertraut gemacht hat, kann versuchen sich zu fragen:

Was in meinem gegenwärtigen Leben könnte der gerechte Ausgleich für die unangenehmen Seiten meiner früheren Biographien sein?

Spontan neigen wir mehr oder weniger alle dazu, das Böse, das uns begegnet, als ungerecht von uns zu weisen, als ob es nichts mit uns zu tun hätte. Und so suchen wir letztlich die Schuld für ein Problem auch bedeutend lieber bei den anderen, die uns missverstehen, uns übelwollen oder ignorieren oder ähnliches. Das Gute, das uns widerfährt, nehmen wir schon eher als zu uns gehörig und gerechtfertigt hin.

Rudolf Steiner hat seine umfangreichen Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Gesetze der Wiederverkörperung in den sogenannten „Karmavorträgen“ niedergelegt.[2] Dort finden sich konkrete Hinweise darüber, wie man in diesem einen Erdenleben schon Biographiearbeit für sein nächstes beginnen kann, wie man sein nachtodliches Leben vorbereiten und wie man damit ganz bewusst die nächste Verkörperung beeinflussen kann. Das gilt nicht nur für die eigene Biographie, sondern wirkt sich auch auf die mit uns verbundenen Menschen aus. Deren Leben hängt in vielem davon ab, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten. In diesem Bereich stellt das Vergeben bzw. Verzeihen eine starke Kraft dar, die das Leben dessen, der einen geschädigt hat und nun mit dieser Schuld leben muss, positiv beeinflussen kann.[3]

Zukünftiges Schicksal durch Einsicht aktiv mitgestalten

Erstreckt sich die Biographiearbeit auch auf diese geistige Ebene, mündet sie unmittelbar ein in die Schulung geistiger Fähigkeiten, so wie sie in Steiners Werk „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“[4] beschrieben sind. Durch diese innere Arbeit und Schulung kann man dazu befähigt werden, sich geistig in anderen Lebensumständen und Verkörperungen wiederzufinden. Tiefe Schicksalseinsichten und neue Möglichkeiten heilsamen Wirkens im Sozialen können die Folge sein.

Eine solche innere Arbeit, wie anfänglich sie auch geübt wird, ist für das Verarbeiten der Konflikte des täglichen Lebens von unschätzbarem Wert. Allein der Gedanke, dass die Ereignisse des Lebens nicht pure Zufälle, sondern Folgen früherer Vorkommnisse sind bzw. Ausgangssituationen darstellen, die erst in späteren Erdenleben ihre Fruchtbarkeit zeigen werden, kann uns helfen, mit viel mehr Ruhe und Gelassenheit auf das eigene Leben zu blicken. Indem wir nicht nur die Vergangenheit mit ihren Ursachen im Auge haben, sondern vor allem an die Folgen für die Zukunft denken, werden wir motiviert alles zu tun, um den Lebensvorkommnissen eine positive Wende zu geben und so zukünftiges Schicksal aktiv mitzugestalten.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 7. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997


[1] Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.

[2] Rudolf Steiner, Die Offenbarungen des Karma, GA 120; vgl. auch ders.: Reinkarnation und Karma - Wie Karma wirkt.

[3] Vgl. Sergej Prokofieff, Die okkulte Bedeutung des Verzeihens, Stuttgart 1991.

[4] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.

BIOGRAPHIEARBEIT ALS WEG ZU CHRISTUS

Was ist Biographiearbeit, was sind die Voraussetzungen dafür?

Für wen ist sie gedacht?

Wer bietet sie an?

Biographiearbeit als Werkzeug der Selbsterkenntnis

Biographiearbeit gibt es diesem Namen nach erst seit Mitte dieses Jahrhunderts. Dabei geht es um das Aufarbeiten der eigenen Biographie, das Interesse für den ganz individuellen Schicksalsverlauf und seine Bedingungen. Das betrifft jeden Menschen in gleicher Weise. Alle Menschen haben eine Biographie, die im Laufe des Lebens auf der Erde „geschrieben“ wird. Sinn von Biographiearbeit ist es, das Leben als Entwicklungsweg zu entdecken und im umfassendsten Sinne Lebensbejahung und Lebensfreude zu erlernen. Durch den Fokus auf die menschlichen Beziehungen eröffnen sich oft neue Möglichkeiten, die es zu gestalten gilt.

  • Wird Biographiearbeit von Ärzten durchgeführt, folgt sie einem primär therapeutischen Ansatz.
  • In der Hand von Priestern handelt es sich um eine bestimmte Form der Seelsorge.
  • Bieten Psychologen, Sozialarbeiter, Kunsttherapeuten, Unternehmens- und Lebensberater Biographiearbeit an, geben sie ihr ebenfalls eine bestimmte professionelle Prägung.
  • Wer möchte, kann Biographiearbeit auch ganz persönlich für sich leisten, indem man als Hilfe beim Durch- und Verarbeiten der eigenen Biographie einige Werke aus der umfangreichen Fachliteratur heranzieht.[1]

Der anthroposophischen Biographiearbeit, sprich der Bearbeitung der individuellen Ereignisse und Schicksalskonstellationen eines Lebens, liegt das Studium der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklung zugrunde.

Das eigene Leben mit den Augen des Christus betrachten

Das zentrale Element der Biographiearbeit ist der Schicksalsbegriff vor dem Hintergrund der wiederholten Erdenleben. Und so kann das Betrachten und Verarbeiten der eigenen Biographie auch zu einem Weg werden, der zum Erleben des Christus führt.

Welche Möglichkeiten gibt es, IHM zu begegnen?

Nimmt man die Christusworte, „Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen“[2], ernst, so kann auch das biografische Gespräch als eine solche „Zusammenkunft“ in SEINEM Namen angesehen werden.

Was aber bedeutet, „in SEINEM Namen zusammen zu sein“?

Hängt das nicht gerade mit diesem überaus milden und verstehenden Blick zusammen, mit dem Christus auf die Menschen, die mit IHM waren, hingeblickt hat?

Dem Christus ging es um Entwicklung, Wandlung und den körperlich-seelisch-geistigen Fortschritt der Menschen. Selbst im Zorn über die Pharisäer lebte sein Verstehen, sein Engagement für ihr weiteres Ergehen, auch wenn es sich um erschreckende Zukunftsbilder handelte. Die Folgen von Irrtümern gilt es genauso nüchtern ins Auge zu fassen wie die Folgen von Einsicht und rechtem Tun. Alles, was in der Biographie geschieht, kann zum Guten gewendet werden. Der Wille zum Guten, zum Heilsamen, zum Verstehen und Verwandeln ist es, der Biographiearbeit zu einem Weg macht, der in SEINE Nähe führt.

Alle Ereignisse als Quelle von Erkenntnis sehen

Es ist schon viel gewonnen, wenn einem Menschen deutlich wird, dass man den schmerzlichen Ereignissen ebenso viel in Bezug auf die eigene Selbst- und Welterkenntnis verdankt wie den glücklichen Momenten. Gerade an den problematischen Begebenheiten kann so vieles gelernt werden, weil Schmerz die Seele anrührt und aufweckt. Wer darüber in Hass und Ärger verfällt, erstickt das Aufwachen im Keim und bringt sich um den Erkenntnis-Segen dieser Erfahrungen.

Auf der anderen Seite geht es darum, die freudigen Erlebnisse, die man gerne annimmt, nicht nur zu genießen, sondern zu lernen, daraus Kraft zu schöpfen. Biographiearbeit kann zur Einsicht verhelfen, dass man in Zeiten der Kraftlosigkeit zu wenig an den positiven Seiten des Lebens gearbeitet hat und dass man sich von den guten Ereignissen zu wenig Kraft hat geben lassen. Wer sehr an seinen Schmerzen leidet, sollte sich fragen:

Wie kann ich Schmerzliches so verarbeiten, dass ich die Erkenntnisse daraus gewinne, die es mich lehren will, so dass die damit verbundenen Ereignisse zur Ruhe kommen können?

Wer in dieser Weise die Ereignisse seines Lebens zu durchleuchten und bearbeiten anfängt, kann erleben, wie er dadurch einsichtiger, lebensbejahender und „menschlicher“ wird.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997


[1] Vgl. z. B. Gudrun Burkhard, Das Leben in die Hand nehmen, Stuttgart 1992; dies.: Schlüsselfragen zur Biographie, Stuttgart 1994; Andreas Hanses, Biographie und Soziale Arbeit. München o.J.; Peter Alheit, Bettina Dausien UND Wolfram Fischer-Rosenthal, Biographie und Leib. (Beiträge von Andreas Hanses, Annelie Keil u.v.a.), Gießen 1999; Bernard Lievegoed, Lebenskrisen – Lebenschancen, München 1991; ders.: Der Mensch an der Schwelle, Stuttgart 1984; neueste Aufl. 2012; Mathias Wais, Biographiearbeit – Lebensberatung. Stuttgart, 3. Aufl. 1996.

[2] Neues Testament, Matthäus 18, 20.

DIE ROLLE DER ELTERN IN DER BIOGRAPHIE

Wer oder was hat mich erzogen?

Welche Rolle spielten die Eltern dabei?

Wer oder was Einfluss auf die Erziehung hat

Wer in seine Vergangenheit zurückschaut und sich fragt, welche Personen oder Einflüsse prägend für seine Erziehung waren, wird das gar nicht so schnell beantworten können. Am leichtesten kann man das noch an bestimmten Einzelheiten und Erlebnissen festmachen, an denen einem etwas klargeworden ist und durch die man sich vielleicht zum Pünktlich-Sein oder zur Hilfsbereitschaft entschlossen hat. Oft ist es jedoch so, dass Menschen das Gefühl haben, recht „normal“ gelebt zu haben, mehr oder weniger leicht „durchgekommen“ und nicht durch spezifische Maßnahmen „erzogen“ worden zu sein. Es gibt auch Eltern, die sagen, sie hätten ihre Kinder nicht erzogen, das hätten die Geschwister untereinander selbst gemacht durch all ihre Interaktionen hindurch wie z.B. Streiten und Versöhnen, Lieben und Hassen.

So kann es auch hilfreich sein, sich diese Frage in Bezug auf die vier Wesensebenen zu stellen:

Wodurch wurde mein Ich-Erleben, mein Selbstbewusstsein gebildet?

Was hat besonders auf meine Gefühlsentwicklung eingewirkt?

Welche Einflüsse haben zu meiner aktuellen Vitalität und Gewohnheitsbildung beigetragen?

Was hat meinen physischen Leib in seiner Entwicklung beeinflusst, hat ihn geschwächt oder gestärkt?[1]

Schauen wir in dieser Weise zurück, werden uns viele Faktoren bewusstwerden, die zu unserer Erziehung beigetragen haben bzw. mit denen wir uns auseinanderzusetzen hatten, um zu denen zu werden, die wir geworden sind.

Der (begrenzte) Einfluss der Eltern

Im Zusammenhang mit der Rolle von Vater und/oder Mutter in der Kindheit und deren Auswirkung auf das spätere Leben kann man alles erleben: Die totale Identifikation mit dem Väterlichen, mit dem Mütterlichen oder mit dem Verhalten eines anderen mit dem Kind zusammenlebenden Menschen. Man kann aber auch ein sehr negatives Bild von den eigenen Eltern entwickeln und als Konsequenz sagen: „Wenn Ehe so ist, heirate ich nie!“ Möglicherweise gibt es eine Schwester oder einen Bruder im selben Elternhaus, der/die ganz anders auf dieses Milieu reagieren, indem er/sie sehr früh heiratet und bestrebt ist, alles ganz anders zu machen, als er/sie es zu Hause erlebt hat.

Man kann sagen: Der Einfluss der Eltern auf das eigene Verhalten im späteren Leben ist so stark, wie wir es letztendlich zulassen, weil er sich bewusst durch Selbsterziehung verändern lässt. Selbst die Vorstellungen der Eltern, wen sich das Kind als Vorbild nehmen bzw. an wem es sich orientieren soll, haben erstaunlich wenig Einfluss, sodass man auch hier feststellen kann: Die Wahl, zu welchem Menschen das Kind aufschaut, trifft es letztlich selbst. Ob es sich mehr mit dem Vater oder der Mutter identifiziert, hängt nicht davon ab, ob er oder sie mehr Sympathie für das Kind empfindet, sondern davon, ob das Kind seinerseits Sympathie für Vater bzw. Mutter entwickelt. Auch wenn es so aussieht, als hätte einen dieser oder jener Mensch im Guten wie im Schlechten geprägt, muss man sich ehrlicherweise eingestehen: Man hat sich prägen lassen.

Resilienz trotz und durch negative Erfahrungen

Es gibt immer wieder erstaunliche Beispiele von Menschen, die unter schwierigsten Verhältnissen aufgewachsen sind und dennoch keinen Schaden fürs Leben davongetragen haben, sondern vielmehr eine große Motivation und Kraft entwickelten, weil sie in ihrem Umkreis oder in der Schule einen Menschen getroffen haben, den sie liebten und verehrten und von dem sie sich so stark positiv motivieren ließen, dass die anderen negativen Einflüsse keine anhaltende Wirkung zeigten. Oder aber sie nahmen diese negativen Erfahrungen zum Anlass, sich schon recht früh für spirituelle Fragen zu interessieren. So kann im späteren Leben eine besondere Charaktereigenschaft und Fähigkeit ihren Ursprung darin haben, dass jemand eine problematische Kindheit oder eine sehr schmerzvolle Menschenbeziehung konstruktiv verarbeiten konnte. Wären dieselben Menschen in harmonischen Verhältnissen, bequem und umsorgt aufgewachsen, hätten sie diese Fähigkeiten nicht in dieser Weise entwickeln können und wären vielleicht bestimmten Lebenssituationen nicht annähernd so gut gewachsen gewesen.

Dennoch zeigen die vielen Biographien, die von Scheitern, Stagnation oder Sucht und Abhängigkeit bestimmt sind, dass die Zeit vorbei ist, in der man Erziehung einfach nur nach Gutdünken vornehmen oder lassen kann. Auch kann man sich nicht mit dem Gedanken beruhigen, dass sich das Kind schon sucht, was es braucht. Es ist notwendig, bewusst umfassende Angebote für Begegnungen und Tätigkeiten zu machen, damit die Kinder auch tatsächlich finden können, was sie brauchen. Wie dieses Angebot dann jedoch von dem einen oder anderen Kind genützt wird, ist offen – keiner kann das letztlich voraussagen.

Je stärker eine Persönlichkeit ist, desto selbstbestimmter wird sie mit Erziehungseinflüssen umgehen. Je schwächer sie ist, umso mehr wird sich der betreffende Mensch – im Guten wie im Schlechten – an die Umgebungsverhältnisse anpassen.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997


[1] Vgl. hierzu z.B. das Kapitel Das Wesen des Menschen in: Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9, oder das Kapitel Wesen der Menschheit in: ders., Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13.

VERZICHT ALS ENTWICKLUNGSMOTIV IN DER BIOGRAFIE

Welche Bedeutung hat Verzicht für unsere Entwicklung?

Inwiefern ist er ein Geschenk an die Zukunft?

Verzichten lernen befreit

Verzicht ist ein sehr wichtiger Bestandteil von Entwicklung, das wurde mir schon als junger Mensch klar. Wenn ich z.B. etwas in der Hand halte, um es zu konsumieren, ist meine Hand belegt. Wenn ich darauf verzichte, ist meine Hand frei für welche Tätigkeit auch immer. Jeder Verzicht bedeutet einen Freiheitsgrad für etwas anderes, für mehr Selbstbestimmung. Das Heilsame, Entwicklungsfördernde hängt von der Fähigkeit, im richtigen Moment verzichten zu können, ab.

Als meine Patentante, die für mich eine wichtige Bezugsperson war, 60 wurde, erzählte sie auf ihrer Feier von ihrem morgendlichen Spaziergang auf dem Filder bei Stuttgart. Sie kam aus Berlin und sprach klares Theater- Hochdeutsch. Sie hatte sich auf eine Bank gesetzt. Nach einer Weile hatte sich eine ältere Bauersfrau neben sie gesetzt und sie gefragt, warum meine Patentante dort sitzen würde. Sie erzählte von ihrem Geburtstag, woraufhin die alte Frau, wie eine Botin des Himmels auf gut Schwäbisch sagte: „Na wünsch i Ihne, dass se des Entsage schaffe.“ Auf Hochdeutsch: „Dann wünsche ich Ihnen, dass Sie lernen zu entsagen.“ Zu verzichten.

Das war für meine Patentante das größte Geburtstagsgeschenk, ein neues biografisches Motiv, eine gratis Biografie-Beratung in wenigen Minuten. Sie lebte im nächsten Jahrzehnt mit der Frage, welche Rolle der Verzicht in ihrer Biografie spielt.

Verzicht als Geschenk an die Zukunft

Eine Form des Verzichts besteht darin, Geschenke an die Zukunft zu machen, indem man in den Begegnungen mit den jüngeren Generationen deren Wohlergehen und Freude im Auge hat und nicht primär das eigene. Da ich selbst keine Kinder habe, denke ich diesbezüglich an meine Mutter und welches Geschenk sie uns Kindern machte.

Wir waren sehr arm. Mein Vater war Journalist, der den Krieg als Kriegsberichterstatter an vorderster Front überlebte. Danach fasste er den Entschluss etwas tief Sinnvolles zu machen und er wurde Waldorfschullehrer. Meine Mutter hatte vor dem Krieg für ein paar Jahre die erste Waldorfschule in Stuttgart besucht. Die Gehälter waren so klein, dass das Geld bereits in der Monatsmitte aufgebraucht war.

Ich sage das deshalb, weil meine Mutter als promovierte Chemikerin, die auch Atomphysik studiert hatte und sehr klug war, selbst sehr gerne arbeiten gegangen wäre. Sie hätte interessante Jobs annehmen können, verzichtete aber lieber darauf zugunsten der Kindererziehung, solange die Kinder klein waren. Sie war lieber arm, dafür als Mensch präsent und hat so für ihre fünf Kinder alles allein gestemmt, ohne Putzfrau und Haushaltsgeräte. Die Wäsche wurde 1x die Woche am Waschtag in der Waschküche gekocht. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Rückblickend erkenne ich, dass das ein immenser Verzicht war – was wir als Kinder damals nicht so wahrgenommen haben.

Lieber anwesend als wohlhabend

Als wir dann alle in der Schule waren und unsere Mutter um des Zuverdienstes willen eine Stelle bei der Post als technische Zeichnerin annahm, merkten wir, wie sich das anfühlte, wenn man mittags beim Heimkommen nicht begrüßt wurde und nichts auf dem Herd köchelte, nichts vorbereitet war. Das war nach dem Schulvormittag eine große Herausforderung für uns. Nach ein paar Wochen hielten wir Schwesternrat und sagten zu unserer Mutter, dass wir auf neue Kleider und tolle Ferien verzichten würden, das Einzige, was wir wollten, wäre, sie wieder zuhause zu haben. Das war für meine Mutter sehr herb, aber sie hat sich diesem Schwesternrat gebeugt.

Ich als traumatisiertes Kind verdanke dem so viel, dass ich ein warmes, von menschlicher Präsenz durchdrungenes Elternhaus hatte. Mein Vater war durch seine Aufgaben total abgezogen, weil er neben der Lehrertätigkeit noch den Verlag Freies Geistesleben mitbegründet hat und sich auch in der Anthroposophischen Gesellschaft engagierte. Aber er versuchte, wenn es irgendwie ging, zum Mittagessen nachhause zu kommen, dass wir da Vaterenergie tanken konnten, und die Ferien mit uns zu verbringen. Ansonsten hat meine Mutter die menschliche Kontinuität gehalten.

Begegnungen bewusst pflegen

Da auch mein eigenes Leben sehr von Arbeit geprägt war, würde ich rückblickend sagen, dass die lohnendsten Verzichte diejenigen waren, wenn ich meine Arbeit liegen ließ und mir die Zeit für Begegnungen mit anderen Menschen nahm. Es hat sich menschlich gelohnt, auch wenn ich dann ein paar Nachtstunden dranhängen musste.

Diese menschliche Präsenz und Begegnungskultur zu pflegen, ist heute bedingt durch die Digitalisierung eine große Herausforderung für junge Familien. Noch beim Essen ist jeder versucht, sich mit seinem Smartphone zu beschäftigen und irgendetwas zu checken. Wir müssen lernen, mit diesem menschenverachtenden Aspekt der Technik bewusst so umzugehen, dass die menschlichen Beziehungen dadurch nicht ge- und zerstört werden.

Vgl. Videobeitrag „Freudvolles Älterwerden – Freiheit durch Verzicht“, vom 13.11.2022

RÜCKSCHAU AUF DAS EIGENE LEBEN

Was bringt die Rückschau auf das eigene Leben?

Der begrenzte Einfluss der Umwelt auf die kindliche Entwicklung

Wer sich zu erinnern versucht, wie er aufgewachsen ist und wodurch die Atmosphäre im Elternhaus geprägt war, trifft auf bestimmte Stimmungen: Geborgenheit, Wärme, Helligkeit, Fröhlichkeit oder aber Gleichgültigkeit, Hetze, Stress, Angst, Missmut, Sorge, Unzufriedenheit. Hinzu kommen die Gefühle und Erlebnisse, die die persönlichen Beziehungen zu den Eltern und Geschwistern bestimmt haben, z.B. Ablehnung, Bevorzugung, liebevolle Annahme, Hass, das Gefühl, übergangen und ungerecht behandelt zu werden, sich unverstanden oder sich-überflüssig zu fühlen.

Die Entwicklungspsychologin Judy Dunn und der Verhaltensgenetiker Robert Plomin schreiben in ihrem Buch „Warum Geschwister so verschieden sind“:

„Geschwister, die in derselben Familie aufwachsen, sind sehr verschieden. Auf einem so komplexen Gebiet wie den Verhaltenswissenschaften kommt es selten vor, dass sich so klare und konsistente Belege für einen Befund finden, der unser Denken über ein so grundlegendes Thema wie den Einfluss der Familie auf die Entwicklung radikal verändert. Wie oft sind wir davon ausgegangen – sei es als Eltern, Therapeuten, Psychologen –, dass die wesentlichen Einflüsse auf die kindliche Entwicklung von den Kindern in ähnlicher Weise erlebt werden: die Persönlichkeiten der Eltern und die Erfahrungen der Kindheit, die Qualität der elterlichen Ehe, die Ausbildung der Kinder, die Nachbarschaft, in der sie aufwachsen, die Einstellung der Eltern zur Schule oder zu erzieherischen Maßnahmen. Das ist eine lange Liste, aber alle aufgezählten Faktoren scheinen auf jedes einzelne Kind innerhalb einer Familie zu wirken. Doch in dem Maße, wie diese Faktoren gemeinsam wirken, können sie für die Unterschiede, die wir im Ergebnis der kindlichen Entwicklung sehen, nicht verantwortlich sein. Und diese Entdeckung zeigt uns nicht nur, was an unseren bisherigen Erklärungsansätzen zur kindlichen Entwicklung falsch ist, sondern weist uns auch in die richtige Richtung: Wir müssen herausfinden, welche Umweltfaktoren zwei in derselben Familie aufwachsende Kinder voneinander verschieden machen. Dies ist der Schlüssel zum Verständnis des Einflusses der Umwelt auf die kindliche Entwicklung allgemein, nicht nur auf die von Geschwistern ...“[1]

Jede/r bestimmt selbst, wer sie/er sein möchte

Die bemerkenswerte Botschaft dieses Buches ist, dass der Mensch nicht nur abhängig ist von Vererbung und Milieu, sondern vor allem von sich selbst, wie er mit den vererbten Eigenschaften und Möglichkeiten und seinen Umweltfaktoren umgeht. Simone de Beauvoir schreibt in ihren Memoiren über ihre kleine Schwester Poupette folgendes:

„Auf den zweiten Platz verwiesen, musste sich die Kleine fast überflüssig fühlen. Ich war für meine Eltern ein neues Erlebnis gewesen; meine Schwester hatte weit größere Mühe, sie in Staunen zu setzen oder sie aus der Fassung zu bringen; mich hatte man noch mit niemandem verglichen, sie aber verglich ein jeder mit mir [...] Was Poupette auch tat, der Abstand der Zeit, die Sublimierung durch die Legende wollte, dass mir alles besser geglückt war als ihr; kein Bemühen, kein Erfolg verhalfen ihr jemals dazu, sich gegen mich durchzusetzen. Als Opfer eines ungreifbaren Fluches lebte sie und saß abends oft weinend auf ihrem Stühlchen. Man warf ihr ihr mürrisches Wesen vor: Es entstammte einzig und allein ihrem Minderwertigkeitsgefühl.“[2]

Zum Vergleich ein Beispiel aus Mark Twains Autobiographie: „Meine Mutter hatte ziemlich viel Ärger mit mir, aber ich glaube, sie genoss es. Sie hatte nie Ärger mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder Henri, und ich nehme an, dass ihr seine stets gleichbleibende Bravheit, Ehrlichkeit und Folgsamkeit zur Last geworden wäre, hätte ich ihr nicht mit dem Gegenteil Erleichterung und Abwechslung verschafft [...] Ich habe nie erlebt, dass Henri sich mir oder anderen gegenüber boshaft verhielt. Aber dass er stets das Richtige tat, ist mir schlecht bekommen. Es war seine Aufgabe, meine Sünden zu berichten, wenn es nötig war, und er nahm seine Aufgabe sehr ernst. Er ist Sid in Tom Sawyer. Aber Sid war nicht Henri. Henri war ein viel besserer Junge, als Sid jemals gewesen ist.“[3]

Die Beispiele zeigen jeweils zwei Kinder im Abstand von zwei Jahren, wobei es bei dem jungen Tom keinerlei Minderwertigkeitsgefühle erzeugt, zurückgesetzt und mit dem idealen Bruder Henri verglichen zu werden, sondern vielmehr das Bewusstsein seiner eigenen Persönlichkeit und Andersartigkeit verstärkt und er in dieser Auseinandersetzung für sein späteres Leben gewinnt. Es sind also nicht die Faktoren „Annahme“ oder „Ablehnung“ durch die Eltern allein, die sich auf das Verhalten des Kindes positiv oder deprimierend auswirken, sondern es spielt immer auch ganz entscheidend mit, wie das Kind selbst die Art der Annahme und der Ablehnung erlebt, wie es aufgrund seiner eigenen Veranlagung damit umgeht bzw. umgehen lernt und was es für sein späteres Leben daraus macht.

Konstruktiver Umgang mit Kindheitserlebnissen

Ähnlich ist es mit den zu Hause erlebten Stimmungen. Je bewusster man sie erlebt hat, umso leichter wird es einem auch, sich davon zu distanzieren und den Versuch zu machen ihnen auszuweichen, sich zu wehren oder auch daran zu arbeiten, indem man sich seine eigene Welt aufbaut und sich dort wohl fühlen lernt.[4] Es gilt dies auch für das spätere Leben. Viele Menschen übergehen die Ereignisse ihrer Kindheit, können sich nur an wenig erinnern, bezeichnen sie sogar vielleicht als „gut“ oder „harmonisch“ und haben völlig verdrängt, was sie an Demütigungen, Ungerechtigkeit und Vernachlässigung erleben mussten. Sie verstehen im späteren Leben dann auch nicht, warum sie die Neigung haben (und dass sie sie haben), andere Menschen zu demütigen und zu vernachlässigen.

„Eine als Kind sexuell ausgebeutete Frau, die ihre kindliche Realität verleugnet und gelernt hat, Schmerzen nicht zu fühlen, ist ständig auf der Flucht vor bereits Geschehenem – mit Hilfe von Männern, Alkohol, Drogen oder Leistung-Erbringen. Sie braucht den ständigen Kick, um nur ja nicht die Langeweile aufkommen zu lassen, ja nicht eine Sekunde der Ruhe zuzulassen, in der die brennende Einsamkeit ihrer kindlichen Wirklichkeit spürbar wäre, weil sie dieses Gefühl mehr als den Tod fürchtet – es sei denn, sie hatte das Glück zu lernen, dass das Aufleben und Bewusstwerden der kindlichen Gefühle nicht tötet, sondern befreit.“[5]

Es gibt immer diese beiden Möglichkeiten: die des Negativ-geprägt-Werdens durch destruktive Einflüsse im Kindesalter mit entsprechenden Folgen für späteres aggressives oder destruktives Verhalten und daneben die andere Möglichkeit, sei es aus eigenem Antrieb oder unter professioneller Anleitung, die eigene Biographie anzuschauen, zu bearbeiten und daran aufzuwachen für das, was man selber möchte.

Umgang mit „schlechten“ Erfahrungen

Vieles im späteren Leben ist Anlass, sich zurückzuerinnern und sich Erlebnisse aus der eigenen Kindheit und Jugend bewusst zu machen. Das kann bei der Lektüre von Romanen geschehen, im Gespräch mit Menschen, die etwas aus Kindheit oder Jugend berichten. Nun hängt alles davon ab, ob man bereit ist, die eigene Kindheit so zu sehen, wie sie wirklich war. Wenn wir uns unsere Vergangenheit bewusst machen, können wir uns ihr gegenüberstellen, können sie objektiver und vor allem distanziert betrachten. Das gibt uns die Freiheit, eine neue Einstellung unseren Erfahrungen gegenüber zu gewinnen und von ihnen zu lernen. Die Arbeit an der eigenen Vergangenheit gibt uns die Möglichkeit, daraus Gewinn für die weitere Entwicklung zu ziehen. Hat man im Elternhaus eine gleichgültige Atmosphäre erlebt oder sich nicht geliebt gefühlt, so kann man sich vornehmen, mit seinen Kindern anders umzugehen.

Auf diese Weise können gerade auch die „schlechten“ Erfahrungen in der eigenen Kindheit dazu führen, dass man als Erwachsener später aus solchen Erlebnissen die pädagogische Kraft schöpft zu geben, was einem selbst einmal gefehlt hat: Menschen, die sich bewusst sind, dass sie von bestimmten Verhaltensweisen wie Strenge, Gleichgültigkeit oder Ungerechtigkeit in ihrer Kindheit geängstigt, gedemütigt oder geärgert wurden, gehen oft ganz anders mit ihren Kindern um.

Es gibt aber auch das Gegenteil, dass anstelle der bewussten Verarbeitung ein unbewusstes Sich-Rächen eintritt. Man empfindet dann Genugtuung dabei, seinen eigenen Kindern und dem Partner genau das anzutun, was man selber erdulden musste bis dahin, dass man Lust an der Machtausübung über andere entwickelt. Und so werden viele Opfer zu Tätern.[6]

Es hängt jedoch in hohem Maß vom eigenen Selbstbewusstsein ab, wie man später mit letztlich „schlechten“ Erfahrungen umgeht.

These und Antithese

Hegel entdeckte, dass jede These und jedes Gesetz ein ihm Polares, eine Antithese, hervorruft. Die Urpolarität der Welt liegt demnach „im Sein“ und im „Nicht-Sein“. Ohne den Seins-Begriff können wir das „Nichts“, als Abwesenheit von „Sein“, nicht denken und ohne den Begriff des „Nichts“ wüssten wir nicht, was „Sein“ ist. Jedes braucht den Gegensatz, um sich selbst im Bewusstsein geltend machen zu können. Zwischen diesen Gegensätzen aber liegen jene Qualitäten, die unsere Lebenswirklichkeit ausmachen. Denn der Mensch lebt weder im „Sein“ noch im „Nichts“. Die Welt des Menschen ist vielmehr der Weg vom „Sein“ in das „Nichts“ und umgekehrt der Weg vom „Nichts“ ins „Sein“: Alles Leben auf der Erde bewegt sich zwischen Werden und Vergehen – das ist die irdische Realität. In der sinnlichen Wirklichkeit erscheinen und verschwinden die Dinge. So ist mit dieser Polarität von „Sein“ und „Nichts“ auch auf die große Weltpolarität von Geist und Materie hingedeutet. Dabei gilt für den Materialisten die Materie als der Bereich des „Seins“, die Welt des Geistes hingegen als Bereich des „Nichts“. Umgekehrt bezeichnet der spirituelle Mensch das Geistige als das eigentliche Sein und das Materielle als Maja, als Schein, als Nichts.

Für den Blick in die Vergangenheit ist es nun entscheidend, dass man nicht bei der Geburt stehenbleibt (egal, ob man sie als Sein oder Nichts bezeichnet), sondern weiterdenken kann zu einem vorgeburtlichen Leben und einem davor liegenden früheren Erdenleben (egal, ob man sie als Sein oder Nichts bezeichnet). Erst wenn man sein vorgeburtliches Leben auch als Folge eines nachtodlichen und beides wiederum als Folge eines früheren Erdenlebens anzusehen lernt, zeigen die eigene Kindheit und Jugend, wie sie – gerade so, wie sie waren – zu einem gehören. Dann sucht man die Ursachen für seine persönlichen Probleme in erster Linie in der eigenen Vergangenheit, bei sich selbst, und macht nicht primär die Umstände und Personen der Kindheit dafür verantwortlich. Probleme werden so zu Anlässen, sich bewusst zu machen, was es zu lernen gilt.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997


[1] Judy Dunn; Robert Plomin, Warum Geschwister so verschieden sind. Stuttgart 1996, S. 81 f.

[2] Simone de Beauvoir, Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, Reinbek 1960, S. 42, zitiert nach Dunn/Plomin.

[3] Mark Twain, Gesammelte Werke, Band 5, zitiert nach Dunn/Plomin.

[4] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, Kapitel „Die Bedingungen zur Geheimschulung“ (Ausgabe Zürich 1974, S. 91 f.)

[5] Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, S. 13.

[6] Gerade in jüngster Zeit ist eine zunehmende Sensibilisierung des öffentlichen Bewusstseins für dieses Thema festzustellen. Dabei wurde der Zusammenhang von früher am eigenen Leib erlebtem Machtmissbrauch und späterer krankhafter Praktizierung desselben, bis hin zu Kindesmissbrauch und Mord, immer evidenter;

vgl.  auch: Mathias Wais/Ingrid Gallé, Der ganz alltägliche Missbrauch, Stuttgart 1996; Peter Petersen,/J. Rosenhag, Dieser kleine Funken Hoffnung, Stuttgart 1993; neueste Aufl. 2008.

MEDIZINISCHE WEITERBILDUNG FÜR BIOGRAPHIEARBEITER

Welche Möglichkeiten der medizinischen Weiterbildung für Biografiearbeiter gibt es?

Warum und für wen ist sie wichtig?

Ich möchte an die ursprüngliche Intention der Zusammenkünfte von Biographiearbeitern in der Medizinischen Sektion erinnern. Bernhard Lievegoed[1] und Gudrun Burkhard[2], die eine sehr enge Zusammenarbeit verband, merkten damals, dass die Biographiearbeit im Begriff war, eine Schwelle zu überschreiten: In den Ausbildungen wurden nur in geringem Umfang medizinische Grundlagen vermittelt. Viele der Klienten waren jedoch wirklich krank und die Biographiearbeiter waren damals nicht in der Lage einzuschätzen, ob sie noch Zugang zum Ich der Klienten hatten oder nicht.

Notwendigkeit von medizinisch-psychologischem Wissen

Wenn das Ich eines Menschen manchen Seelenzuständen hilflos gegenübersteht, braucht der Betreffende psychiatrische und psychotherapeutische Hilfe, er benötigt Medikamente und Therapie. Lievegoed bat mich, die Biographiearbeiter dabei zu unterstützen, ihr Bewusstsein für genau diese Fragen zu sensibilisieren.

Deshalb würde es mich sehr freuen, wenn Sie Ihr medizinisches Wissen vertiefen wollen. Wir könnten z.B. den Biographiearbeit-Tagungen alle zwei Jahre eine Art Arbeitsgruppe voranstellen, die sich zwei Tage lang mit Themen wie Prävention, Pädagogik, Lebensende und Lebensanfang, Medizin, Soziales etc. befasst, um relevante Themen noch spezifischer und mit größerer Kontinuität anzubieten. So würden kleine Kompetenzzentren entstehen und Interessierte hätten alle zwei Jahre die Möglichkeit, ihr Wissen zu vertiefen. Die Erkenntnisse könnten gesammelt, schriftlich zusammengefasst und damit für alle zugänglich gemacht werden.

Wenn wir Strukturen dieser Art rund um die gewünschten Inhalte bilden, würden Biographiearbeiter gezielt spezifische Kompetenzen, einen sichereren Stand und ein umfassenderes Problembewusstsein erwerben und gleichzeitig in Kontakt kommen mit diversen anderen Berufsgruppen, die bisher nichts mit Biographiearbeit zu tun hatten. Sie würden die Biographiearbeiter dann als Kollegen und Brückenbauer erleben, die ihr Aufgabenfeld kennen und ihre Sprache sprechen.

Prävention als Königsweg der Medizin

In unserer schulärztlichen Arbeitsgruppe gilt Prävention als der Königsweg der Medizin. Deswegen berührte es mich sehr, als wir gestern die ersten Zeilen des Spruches hörten, den Rudolf Steiner den Jungmedizinern für die Zusammenarbeit mit den Lehrern gab.[3] Wenn es damals schon Biographiearbeiter gegeben hätte, hätte Rudolf Steiner auch sie aufgefordert mit den beiden genannten Berufsgruppen zusammenzuarbeiten. Denn alle suchen mit dem Patienten gemeinsam einen Weg zur Heilung.

Erziehung geht beim Erwachsenen über in Selbsterziehung und so kann jeder Mensch sich in Richtung „vollendetes Menschsein“ weiterentwickeln. Wir alle tragen den Samen dafür in unserem Herzen. In der Biographiearbeit schauen wir auf den Weg zu diesem Endziel unter der folgenden Fragestellung:

Was kann mein Leben zur allumfassenden Reise zum vollendeten Menschsein beitragen?

Schauen wir aus der Perspektive von Prävention und Heilung auf egal welches Leben, erkennen wir, dass jeder sich auf diesem Weg befindet – vorausgesetzt, er erkennt, zu welchen Schritten die individuellen Herausforderungen seines Weges anregen. Das herauszufinden erfordert oft viel Arbeit. Wir können Menschen bis zu dem Punkt begleiten, an dem es ihnen gelingt, zu sich selbst zu sagen:

  • Das ist mein Weg
  • Ich bin der Weg
  • Ich bin das Ergebnis wahrer Selbsterkenntnis
  • Ich bin die Wahrheit
  • Das ist mein Leben, mein Erwachen im Geiste: ICH BIN das Leben, mein Leben

Wenn Menschen so weit gekommen sind, können wir ihnen Begleiter sein auf dem christlichen Weg: Denn jede Biographie, jedes Leben will ein Stück des Weges sein hin zum Endziel der Menschheit, zum Menschen-Ich, für das wir den Namen des Christus verwenden, weil er diesen Pfad in klare Worte und Gedanken fasste: „Ich bin der Weg, ich bin die Wahrheit, ich bin das Leben.“[4] Sinngemäß sagte er weiter: „Wenn ihr auf euer Ich BIN achtet, könnt ihr dasselbe über euch sagen.“ Damit spricht er über primäre Prävention.

Heilung über Ätherleib und Ich

Es gibt zwei Ebenen für Heilung im Menschen:

· Den Ätherleib

Auf der ätherischen Ebene können wir viel tun: über Prävention aufklären, Ratschläge geben in Bezug auf Erziehung, rhythmisches Leben, die richtige Lebensführung, gesunde Nahrung und vieles andere, was den Ätherleib stärkt.

· Das Ich

Das Ich ist dagegen unberührbar und kann nicht von außen beeinflusst werden. Wenn jemand nicht aus eigenem Willen heraus geheilt werden möchte, können wir nichts tun. Der innere Heiler im Menschen muss von ihm selbst geweckt werden. Wir können nur Geburtshelfer sein in diesem Prozess – und wir geben dabei natürlich unser Bestes. Wir können Menschen jedoch unterstützen, wenn sie sich selbst um Prävention und Heilung bemühen. Das ist der Hintergrund, aus dem heraus wir zu ihnen sprechen. Es ist unser echtes Anliegen, Menschen dabei zu helfen.

Aus den Tiefen bitten lernen

Ich möchte jetzt noch Bezug nehmen zum Grundsteinspruch[5], den wir gestern hörten. Im dritten Teil des Aufrufs an die menschliche Seele wird gesagt, dass die 3. Hierarchie, also Archai, Archangeloi und Angeloi, aus den Tiefen angerufen werden sollen. Im Deutschen heißt es, wir sollen bitten – was nicht das Gleiche wie beten ist, sondern die Bedeutung von erbeten, fragen, sich wünschen hat. Wir sollen um etwas bitten, das in den Höhen gehört werden kann. Und aus den Höhen kommt sinngemäß die Antwort: „Du brauchst den Heiligen Geist und er wird Dich erwecken und heilen.“ Wir sollen den Menschen dabei unterstützen, die richtigen Fragen zu stellen und um Dinge zu bitten, die in den Höhen erhört werden können und Heilung durch die Begegnung mit dem Heiligen Geist ermöglichen.

„Aus den Tiefen bitten“ zu lernen, bedeutet also um die richtigen Gedanken, Gefühle und eine dienstbereite Haltung zu bitten, damit die 3. Hierarchie „in den Höhen“ sie hören kann, damit unsere Konflikte und Kämpfe im Sozialen auf unserer Reise durchs Leben Heilung erfahren und wir dadurch heilsam auf den Zeitgeist einwirken können. Wir sind dann auf allen Ebenen in Kontakt mit dem Heiligen Geist. Das ist Biographiearbeit im eigentlichen Sinn.

Weitere Spezifikation anstreben

Ich möchte Sie deshalb ermutigen, sich näher mit dem Inhalt dieser Passage des Grundsteinspruches[6] auseinanderzusetzen, um herauszufinden, wie Sie das in Ihrer Praxis als Tool einsetzen können, abhängig davon, wo jeder einzelne von Ihnen im Berufsleben steht: ob Ihr Klientel mehr aus Eltern oder Lehrern besteht, ob Sie ganz unterschiedliche Klienten haben, ob Sie eine mehr beratende Funktion haben, ob Sie in einem Gefängnis arbeiten, ob sie mehr psychotherapeutisch oder mehr kunsttherapeutisch arbeiten.

Den medizinischen Berufen rate ich immer, sich zusätzlich in Biographiearbeit auszubilden, um sich wichtiges Hintergrundwissen anzueignen, das dafür nötig ist. Wer das nicht tut, kann keine wirkliche Anamnese erstellen.

Entsprechendes gilt für die Biographiearbeit. Inhalt und Form der heutigen Ansätze halte ich bereits für sehr gut. Sie könnten aber in der Anwendung noch zusätzliche Werkzeuge entwickeln, sich also noch mehr spezifizieren. Jetzt, wo Sie als Berufsgruppe aufgrund langjähriger Auseinandersetzung mit den Inhalten der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion vertraut sind, könnte die Zeit reif sein, die Inhalte der anderen Sektionen in die Biographiearbeit auf der Basis der geschilderten Zusammenarbeit miteinzuschließen.

Vgl. Vortrag an der Tagung „International Conference Biographywork", England 2013


[1] * 2. September 1905 in Medan, Sumatra, † 12. Dezember 1992 in Zeist; war ein niederländischer Arzt, Sozialökonom und Anthroposoph.

[2] *14. Dezember 1929 in São Paulo, bereits verstorben, studierte Medizin und Anthroposophische Medizin, lernte durch Hellmuth J. ten Siethoff die Biographiearbeit kennen, leitete bis ins hohe Alter zahlreiche Biographieseminare, baute eine Ausbildung für Biographiearbeit auf und schrieb viele Bücher über Biographiearbeit.

[3] Es war in alten Zeiten,

da lebte in der Eingeweihten Seelen

kraftvoll der Gedanke,

dass krank von Natur

ein jeglicher Mensch sei.

Und Erziehen ward angesehen

gleich dem Heilprozess,

der dem Kinde mit dem Reifen

die Gesundheit zugleich erbrachte

für des Lebens vollendetes Menschsein.

[4] Neues Testament, Johannes 14, 6.

[5] Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a, Dornach 1987.

[6] Denn es waltet der Vater-Geist der Höhen

In den Weltentiefen Sein erzeugend:

Ihr Kräfte-Geister

Lasset aus den Höhen erklingen,

Was in den Tiefen das Echo findet;

Dieses spricht:

Aus dem Göttlichen weset die Menschheit.

Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd:

Menschen mögen es hören.