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Freie Hochschule für Geisteswissenschaft

Aus Geistesforschung
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Freie Hochschule für Geisteswissenschaft – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

RUDOLF STEINERS LEBENSTHEMA

Was war Rudolf Steiners zentrales Lebensthema?

Welche Fragen waren für ihn wegweisend?

Welchen Leitmotiven folgte sein Lebensweg?

Die Frage nach der menschheitlichen Heimat

In „Heinrich von Ofterdingen“ lässt Novalis Heinrich Mathilde die Frage stellen: „Wo gehen wir hin?“ Mathilde antwortet: „Immer nach Haus“. Dieses Thema des Wohin kommt auch in dem Gedicht „Weißt du, wo die Heimat ist?“ von Albert Steffen zum Ausdruck. Es geht immer um die Fragen:

Wo kommen wir her?

Wo ist unsere Heimat?

Und wo gehen wir hin, wo ist unser aller Zuhause?

Gibt es ein allgemein-menschliches Zuhause, das uns mit vielen Orten und vielen Menschen verbindet?

Auf diese Fragen hat Rudolf Steiner geantwortet, indem er selbst einen sehr einsamen Weg beschritt. Sein Lebenswerk kreist im Grunde nur um ein einziges Thema: Um das Bemühen, die wahre Heimat zu schauen und eine Sprache zu finden, um mit denen, die sich dafür interessieren, sprechen zu können. Diesen Weg beschreibt er selbst in „Mein Lebensgang“.[1]

Heute wird viel von Authentizität gesprochen. Man findet diesen Begriff bei Rudolf Steiner auf Schritt und Tritt. Er erlegte sich die Verpflichtung auf, über nichts zu schreiben, hinter dem er nicht zu 100 % stehen konnte. Zum Beispiel schreibt er mit vierzig „Das Christentum als mystische Tatsache"[2] und publizierte das Werk mit einundvierzig. Als es erschien, sagte er, dass er es auch schon mit dreißig hätte schreiben können, weil er damals schon dieselben Gedanken gehabt hätte. Er hätte die zehn Jahre aber gebraucht, um das Gedachte persönlich zu durchleben. Zehn Jahre Authentizitätstraining, bevor er es wagte, seine Gedanken auszusprechen und zu veröffentlichen.

Eine Brücke und ein Weg für alle

Rudolf Steiner ging es darum, eine Brücke zu bauen, über die jeder gehen kann. Das Bild der Brücke verwendet auch Goethe in seinem Märchen: Diese Brücke konnte sogar mit Wagen befahren werden. Das ist wiederum ein Bild dafür, dass man auch Menschen mitnehmen kann, die nicht selbst laufen wollen oder können: Man packt sie einfach in den Wagen, überquert die Brücke und nimmt sie bis zum Tempel mit. Das ist ein zutiefst christlicher Ansatz: „Die Letzten werden die Ersten sein.“[3] Sie kommen am Ende sogar in tollen Autos über die Brücke. Und die wenigen, die die Brücke erbaut haben, bilden das Schlusslicht. Hauptsache, es sind alle drüben. Denn der Sinn des Brückenbaus war ja, dass alle hinüberkommen.

Im Gespräch mit der Wahrheit

Goethe hat in seiner Lebensmitte ein Einweihungsgedicht geschrieben mit dem Titel „Zueignung"[4]. Er schildert dort gleichnishaft, was er bei einem Morgenspaziergang erlebte:

Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte

Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,

Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte

Den Berg hinauf mit frischer Seele ging:

Ich freute mich bei einem jeden Schritte

Der neuen Blume, die voll Tropfen hing;

Der junge Tag erhob sich mit Entzücken,

Und alles war erquickt, mich zu erquicken.

Mit Hütte ist der Leib gemeint, aus dem er wie ausstieg und sich auf den Weg ins Geistige machte. Dabei begegnete er der Wahrheit, mit der er ein Gespräch begann.

Da schwebte, mit den Wolken hergetragen,

Ein göttlich Weib vor meinen Augen hin,

Kein schöner Bild sah ich in meinem Leben,

Sie sah mich an und blieb verweilend schweben.

Er sagte anklagend zu ihr:

„Ach, da ich irrte, hatt’ ich viel Gespielen!

Da ich dich kenne, bin ich fast allein!

Ich muß mein Glück nur mit mir selbst genießen,

Dein holdes Licht verdecken und verschließen.

Daraufhin liest ihm die Wahrheit die Leviten und sagt:

Sie lächelte, sie sprach: Du siehst, wie klug,

Wie nötig war’s, euch wenig zu enthüllen!

Kaum bist du sicher vor dem gröbsten Trug,

Kaum bist du Herr vom ersten Kinderwillen,

So glaubst du dich schon Übermensch genug,

Versäumst, die Pflicht des Mannes zu erfüllen!

Wie viel bist du von andern unterschieden?

Erkenne dich, leb’ mit der Welt in Frieden!

Dem entgegnet er:

„Verzeih’ mir, rief ich aus, ich meint’ es gut;

Soll ich umsonst die Augen offen haben?

Ein froher Wille lebt in meinem Blut,

Ich kenne ganz den Wert von deinen Gaben!

Für andre wächst in mir das edle Gut;

Ich kann und will das Pfund nicht mehr vergraben!“

Dann kommt der entscheidende Satz:

„Warum sucht‘ ich den Weg so sehnsuchtsvoll,

Wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?“

Das ist der entscheidende Satz – und genau das war Rudolf Steiners Lebensthema. Er hatte zwar einmal eine Krise und fragte sich – „Muss ich verstummen?“ –, weil das, was in ihm lebte, nirgendwo ein Echo fand. Er war von sich aus aber immer bereit, wenn er gefragt wurde, darüber zu sprechen.

Drei Etappen des einsamen Weges

Es gab drei Etappen auf seinem einsamen Weg, die jeweils ein Leitmotiv aufwiesen:

1. Das Denken für Geistiges durchlässig machen

In dieser ersten Phase ging es Rudolf Steiner darum, sein Denken als Philosophisch und Individuum so zu schulen, dass es durchlässig würde für die geistige Realität – mehr noch: dass es zu einer Anschauungsform des Geistes würde.

2. Im Tun Götter- und Menschenschaffen verbinden

In der nächsten Phase bemühte er sich darum, so zu arbeiten, dass sich bei all seinem Tun Götter- und Menschenschaffen verbanden. Das erstreckte sich auf alles, was Steiner im Großen „anpackte“ wie auch auf jeden noch so feinen künstlerischen Prozess. Denn auch hier ging es ihm immer darum, sich mit etwas Wesentlichem, Sinnhaftem verbunden zu fühlen; zu wissen, wofür er lebte, woran er arbeitete, was er durch sein Tun gestaltete.

3. Die berufliche Arbeit aus dem anthroposophischen Geist heraus neu ergreifen

In dieser dritten Phase ging es ihm darum, sein Lebenswerk so durchlässig zu machen, dass die berufliche Arbeit in den unterschiedlichen Lebensfeldern aus dem anthroposophischen Geist heraus neu ergriffen werden konnte. Zum Beispiel hätte Rudolf Steiner schon damals am liebsten eine Bank gegründet. Leider hat ihn niemand dazu eingeladen…

Doch kam es zu diversen Gründungen in anderen Lebensbereichen, wie zur Gründung der Waldorfschule, der Anthroposophischen Medizin, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft und anderes mehr. Dabei ging es immer um die Frage:

Wie sieht das berufliche Alltagsleben aus, wenn es Gottesdienst wird, wenn es durchlässig wird für Menschen- und Götterschaffen?

Drei Bedingungen der Hochschule an Bewerber

Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft sollte den oben genannten drei Leitmotiven dienen. Diese spiegeln sich in den drei Bedingungen, die man als Bewerber sich selbst gegenüber erfüllen muss:

1. Bedingung – Bereitschaft, das eigene Denken zu schulen

Hier geht es schlicht um die Bereitschaft, das eigene Denken auf authentische Art und Weise zu schulen. Es wird nicht gefordert, dass einem das gelungen sein muss, bevor man Mitglied in der Hochschule werden kann, sondern es wird ganz klar gefordert, dass man den individuellen anthroposophischen Gedankenweg einschlagen möchte.

Mit anthroposophisch meine ich, dass der Mensch, der „Anthropos“, den Weg selbst aus innerer Freiheit wählt und geht. Zum anthroposophischen Weg gehört, dass keine Autorität diesen Weg für uns vorzeichnet, sondern dass wir ihn selbst gehen.  Und wenn wir eine Autorität befragen, sollen wir ihr nicht blind folgen, sondern uns selbst fragen, und ob und warum wir einen Rat umsetzen wollen. Und schließlich sollen wir nach einer Zeit auch selbst beurteilen, ob uns das Befolgen des Rates gutgetan hat, ob es für uns richtig war. All das dürfen wir nicht delegieren, sondern müssen uns selbst damit mandatieren.

2. Bedingung – Bereitschaft, den Zusammenhang mit anderen zu halten

Hier geht es um die Bereitschaft, sich mit anderen Individuen, die sich ebenfalls auf dem Weg befinden, im Zusammenhang zu halten, sich als gemeinsam miteinander und mit den Göttern Schaffende zu begreifen.

3. Bedingung – Bereitschaft, den anthroposophischen Geist zu repräsentieren

Hier geht es darum, dass wir zu dem, was wir versuchen, auch stehen, dass wir das, worüber wir uns mit anderen verständigen, auch im Leben umsetzen, dass wir es nicht verleugnen. Rudolf Steiner formuliert so: „Repräsentant sein bedeutet, die Anthroposophie in allen Einzelheiten des Lebens umzusetzen, zu TUN“. Das kann man natürlich nur anstreben.

Diese drei Bedingungen erfordern Willensentschlüsse, sie zielen nicht auf die Evaluation von Ergebnissen ab. Deshalb wird gefragt:

Was willst Du?

Willst Du diesen Weg gehen?

Willst Du dich mit anderen darüber verständigen?

Und willst Du auch, dass das Leben, das du führst, Zeugnis davon ab belegt, dass du diesen Weg gehst?

Wenn man diese drei Dinge wirklich will, bekommt man in der Hochschule eine enorme Hilfe.

Vgl. „Offenes Gespräch über die Hochschule“ an der JK der Med. Sekt., Dornach 2009 


[1] Rudolf Steiner, Mein Lebensgang, GA 28.

[2] Rudolf Steiner, Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, GA 8, Dornach 1989.

[3] Neues Testament, Matthäus 19, 21.

[4] J.W. Goethe, Werke, Kommentare und Register, Band 1, Hamburger Ausgabe, 11. Aufl. 1978.

AUFBAU DER FREIEN HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT

Wie hängen die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, das Goetheanum und die Anthroposophische Gesellschaft zusammen?

Was sind die Aufnahmevoraussetzungen?

Hochschule als Innenseite des Goetheanum

Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft stellt die „Innenseite“, den sozialen Aspekt, des Goetheanum dar. Sie wurde von Rudolf Steiner im Anschluss an die Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft bei der Weihnachtstagung 1923/24 ins Leben gerufen und hat ihren Hauptsitz am Goetheanum in Dornach, ihre Mitglieder arbeiten jedoch weltweit im Sinne ihrer Zielsetzung: die geistige Forschung aus der Anthroposophie Rudolf Steiners heraus weiterzuführen und die einzelnen anthroposophischen Arbeitsfelder zu befruchten über die spirituelle Entwicklung des einzelnen wie auch der Gemeinschaft. Die Sektionen sind Arbeitsgemeinschaften, die sich um Formen der Zusammenarbeit bemühen, die dem christlich-künstlerischen Empfinden gemäß sind und die die heilkünstlerische und -pädagogische Tätigkeit nicht behindern dürfen, sondern sie vielmehr unterstützen bzw. abbilden sollen.

Rudolf Steiner gestaltete die Hochschule in Form eines Netzwerks aus horizontalen Ebenen und Vertikalen:[1] Die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft ist ihr Träger und Förderer, quasi der Förderverein. Grundlage der Arbeit sind die sogenannten Klassenstunden (ursprünglich drei geplante Klassen). Rudolf Steiner konnte selbst nur noch die Erste Klasse einrichten. Die vertikal ausgerichteten Sektionen mit ihren unterschiedlichen Themenschwerpunkten durchkreuzen die Ebenen, sodass die Klassenstunden quasi als spirituelle Werkstatt dienen: Dort entwickeln die Mitglieder besondere Instrumente und Fähigkeiten – einzig und allein, um damit dem Leben zu dienen. Das ist der rosenkreuzerische Impuls der Hochschule und zugleich ihre Hauptorientierung.

Drei Bedingungen als Willensorientierungen

Bestimmte Bedingungen müssen als Aufnahmevoraussetzung in die Hochschule angestrebt werden:

  1. Vertrautheit und Verbindlichkeit im Umgang mit dem anthroposophischen Entwicklungsweg und der meditativen Praxis – aus innerer Freiheit heraus.
  2. Bemühen um den sozialen Zusammenhalt mit anderen tätigen Mitgliedern, weil man als Einzelner gar nicht in der Lage wäre, die Themenschwerpunkte ausreichend zu erarbeiten. Dazu braucht man die anderen, braucht man die Vielfalt: Jeder hat eine andere Arbeits- und Herangehensweise. Wir können aneinander erwachen und voneinander lernen.
  3. Bereitschaft, die Anthroposophie in allen Bereichen des Lebens zu repräsentieren.

Bei diesen drei Bedingungen geht es um soziale Prozesse – um den Umgang:

  1. mit sich selbst,
  2. mit anderen,
  3. mit der Sache, die man vertritt.

Bei den drei Bedingungen zur Aufnahme in die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft handelt es sich um drei Willensorientierungen, bzw. um drei wesentliche Willensqualitäten. Es geht dabei nicht um Ergebnisse, sondern um unsere Absichten:

Was willst du?

Willst du den Weg gehen?

Willst du dich mit anderen darüber verständigen?

Und willst du auch, dass das Leben, das du führst, Zeugnis davon ablegt, dass du diesen Weg gehst?

In der christlichen Sprache würde man sagen, die dritte Bedingung ist die Bedingung der Zeugenschaft.

Sind wir Zeugen der Menschlichkeit, von der wir sprechen?

Sieht man sie an der Art, wie wir leben?

Repräsentieren wir die Sache?

Universelle Sprache des Denkens

Die Hochschule kann dabei eine enorme Hilfe sein. Denn in den Klassenstunden werden 19 Meditationen[2] als Zentrum unseres Erkenntnisweges gepflegt. Das ist ein menschheitlicher meditativer Weg zur Schwelle, der sich mit allen Religionen und esoterischen Systemen verträgt. Unter unseren Hochschulmitgliedern befinden sich Zen-buddhistische Tempelleiter aus Japan genauso wie Muslime, Katholiken, Protestanten und Atheisten. Das verträgt sich bestens, weil es sich um einen reinen Erkenntnisweg handelt, der beim Denken ansetzt. Jede Religion braucht das Denken, um ihre Grundsätze und Gebete zu formulieren und zu erklären.

Das Denken ist die universelle Sprache der Menschen – es ist die Ursprache. Jeder Übersetzer muss das Gesagte quasi in diese Ursprache übersetzen, d.h., er muss verstehen, was gesagt wird, und dann kann er es in der jeweiligen Fremdsprache formulieren. Würden die Übersetzer hier nur Worte übersetzen, würde man nichts von dem Gesagten verstehen. Die Ursprache des Denkens wird über Bilder, über Zeichen und auch über Worte, die den Gedanken tragen, übermittelt.

Luziferische, Ahrimanische und christliche Leitungsprinzipien

Es gibt drei Führungsprinzipien – eines von Luzifer, eines von Ahriman und das dritte von Christus inspiriert:

  • Das luziferische Führungsprinzip arbeitet mit dem charismatischen Auftreten der Leitung. Führung geschieht durch das Wesen des Betreffenden, durch Faszination und Kompetenz. Wenn einer charismatischen Leitung jedoch „ein Zacken aus der Krone bricht“, kann Sympathie in Antipathie umschlagen.
  • Der ahrimanische Führungsstil arbeitet mit Macht, Geld und vereinnahmenden Techniken des Herrschens.
  • Rudolf Steiner ging es um den Aufbau einer christlichen Führungskultur, die auf den christlichen Prinzipien von Liebe und Freiheit beruht und zwischen den anderen beiden Prinzipien vermittelt: Die Leitung soll nur von denen als Leitung anerkannt werden, die sie auch wollen, und sollte auch nur mit denen zusammenarbeiten, die ihn oder sie als Leitung wünschen.

Wäre es anders, könnten Leitung und Mitarbeiter einander nicht „auf Augenhöhe“ begegnen. Das wird nur durch die gegenseitige Freiwilligkeit möglich. Führung bzw. Leitung wird in manchen Bereichen noch gebraucht – auf Zeit. Um die mittlere Spur nicht zu verlieren, sollte sie sich aber ständig fragen:

Macht Leitung hier noch Sinn?

In welcher Art macht sie noch Sinn?

Oder können Aufgaben bereits an andere delegiert werden?

Sektionsleiter als Autorität des Wirkens

Die Hochschule ist so aufgebaut, dass es für jeden Bereich eine eigenständige Leitung gibt im Sinne einer Selbstverwaltung. D.h., der Sektionsleiter selbst hat keine Macht, hat aber die Aufgabe, das Ganze zusammenzuhalten und zu schauen, wie er helfend und fördernd darauf einwirken kann. Je weniger ein Sektionsleiter mit den einzelnen Arbeitsbereichen direkt zu tun hat, desto mehr kann er sich um den Aufbau von neuen Bereichen kümmern. Ein Vorteil davon ist: In einem noch unerschlossenen Bereich kommt er niemandem in die Quere. Und in allen Bereichen, die bereits entstanden sind, hat der Sektionsleiter die Aufgabe, zu loben und zu unterstützen.

Rudolf Steiner sagte, dass Leitung am Goetheanum keine Autorität der Lehre hätte – das meinte er auch in Bezug auf sich selbst. Das finde ich bemerkenswert.[3] Die Leitungskultur des Herzens baut vielmehr auf der Autorität des Wirkens auf: Sektionsleiter sollen etwas tun, sollen koordinieren und fördern, haben aber nicht die Macht, den Leuten zu sagen, wo es lang geht – das wäre total abwegig.

Vgl. Einleitung der Sprachtherapietagung am Goetheanum, Dornach 2012


[1] Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a, Dornach 1987.

[2] Rudolf Steiner, Thomas Meyer (Hrsg.), Der Meditationsweg der Michaelschule in neunzehn Stufen / Die Klassenstunden, Rudolf Steiners esoterisches Vermächtnis aus dem Jahre 1924, 3. Aufl. Perseus 2013.

[3] Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs, 12. Vortrag, GA 317, Dornach 1924.

FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT ALS MICHAEL-SCHULE

Inwiefern ist die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft als Michael-Schule zu verstehen?

Wie hängt Michael mit dem Ur-Impuls der anthroposophischen Bewegung zusammen?

Michaels Sieg über den Drachen und seine Folgen

Rudolf Steiner schrieb auf seinem Krankenlager die sogenannten Michael-Briefe[1], die in der Wochenschrift des Goetheanum publiziert wurden.

Zu Beginn der fünften Kulturepoche verlor – so Rudolf Steiner – der Erzengel Michael, bis dahin Verwalter der kosmischen Intelligenz, die in der Apokalypse mit dem Drachen gleichgesetzt wird, mit seinem Sieg über diesen seine bisherige Aufgabe: die kosmische Intelligenz so zu verwalten, dass sich der Mensch durch sein Denken auch in seiner geistigen Natur, d.h. als geistiges Wesen, erleben konnte.

Seitdem diese ehemals kosmische Intelligenz ganz auf der Erde angekommen ist, steht sie nicht mehr unter der Führung der göttlichen Wesen, die die Menschheitsentwicklung begleiten, was sich im Aufkommen des Materialismus zeigt.

Spiritualisierung des Denkens als Ur-Impuls

Deshalb versammelt Michael seit dem 15. Jahrhundert in einer Schule im Vorgeburtlichen Menschen, um sie über das Geheimnis dieses intellektuellen Sündenfalls aufzuklären. Diejenigen, die diesen Impuls vorgeburtlich aufnehmen konnten, suchen dann auf der Erde nach Wegen, ihr Denken wieder zu spiritualisieren und sich zu befähigen, geistig Wesenhaftes unmittelbar im eigenen Denken zu erleben.

Dieses von Michael inspirierte Anliegen der Spiritualisierung des Denkens ist der Ur-Impuls der anthroposophischen Bewegung und der von Rudolf Steiner begründeten anthroposophischen Geisteswissenschaft. Mit der Neubegründung der Hochschule konnte sie als „Michael-Schule auf der Erde“ das soziale Gefäß werden, das durch die Arbeit der Sektionen die Spiritualisierung der verschiedenen Berufsfelder und Lebensgebiete in eine weite Zukunft hinein ermöglicht.

Kosmischer Kultus um 1800 und Goethes Märchen

Rudolf Steiner sprach auch noch von einem Zwischenschritt zwischen der Begründung der Michael-Schule in der geistigen Welt im 15. Jahrhundert und der Begründung der Michael-Schule auf der Erde im 20. Jahrhundert auf der Weihnachtstagung: einem kosmischen Kultus um 1800, am Anfang des 19. Jahrhunderts, unmittelbar vor Beginn der von Michael als Zeitgeist geleiteten Epoche, die 1879 begann und, so wie jede Erzengelführerschaft, etwa 340/50 Jahre dauern wird.

Goethe hat in seinem „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“ das Wesen dieses kosmischen Kultus imaginativ geschaut und in Worte gefasst. Sein Märchen macht im Bilde deutlich worum es geht. Die diesbezüglichen Kerngedanken werden von dem Alten mit der Lampe so formuliert: „Ein Einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt.“ Und gegen Ende sagt er: „Drei sind, die da herrschen auf Erden: die Weisheit, der Schein und die Gewalt.“ Da widerspricht ihm der Jüngling und sagt: „Du hast die vierte Kraft vergessen, die noch früher, allgemeiner, gewisser die Welt beherrscht, die Kraft der Liebe!“ Der Alte aber sagt dazu lächelnd: „Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet und das ist mehr.“

Auf der Weihnachtstagung begründete Michael-Schule

Die von Rudolf Steiner auf der Weihnachtstagung begründete Michael-Schule sollte drei Klassen haben.

1. Klasse – Schwellenbewusstsein entwickeln

Die erste konnte Rudolf Steiner noch einrichten. Sie beschreibt den Weg der modernen Menschheit zum bewussten Stehen an der Schwelle zur geistigen Welt und die Dramatik des Schwellenübertritts.

2. Klasse – Bemühen um harmonisches Zusammenwirken

Elemente der zweiten Klasse kann man aus Rudolf Steiners Briefen an die Mitglieder entnehmen, in denen er nicht müde wurde, die Mitglieder zum harmonischen Zusammenwirken aufzurufen, indem sie sich füreinander interessieren, aneinander aufzuwachen und miteinander initiativ werden. Es war Steiner ein tiefes Anliegen, dass die Mitglieder die Anthroposophie in einer Weise vertreten, die von den Zeitgenossen auch verstanden werden konnte.

Man ahnt hier die Inspiration seitens des kosmischen Kultus. Wenn die Mitglieder diese Aufgabe ernstnehmen, „so kann im Arbeiten der tätig sein wollenden Mitglieder die Anthroposophische Gesellschaft zu einer echten Vorschule der Eingeweihten-Schule werden. Auf dieses wollte die Weihnachtstagung kräftig hinweisen; und wer diese Tagung richtig versteht, wird mit diesem Hinweisen fortfahren, bis ein genügendes Verständnis dafür der Gesellschaft wieder neue Aufgaben bringen kann.“[2]

3. Klasse – Dienst an der Menschheitsentwicklung

Elemente der dritten Klasse lassen sich in den Michael-Briefen finden.[3] Manches darin ist so formuliert, dass es aus einem Michael-Kultus stammen könnte, in dem sich eine Gemeinschaft von Menschen dem Dienst an der Menschheitsentwicklung weiht. Dass dies das zentrale Anliegen der Weihnachtstagung war, wird auch in der Ansprache deutlich, die Rudolf Steiner am 28. September 1924 für die Mitglieder hielt,[4] bevor er sich endgültig auf das Krankenlager zurückziehen musste. Diese Ausführungen münden in einer Michael-Imagination, in der die Quintessenz der anthroposophischen Bewegung und der Menschengemeinschaft, die sich ihr auf der Erde widmen will, zusammengefasst ist.

Die finale handschriftliche Fassung dieser Imagination entstand kurz vor Rudolf Steiners Tod im Zusammenhang mit den von ihm entworfenen Formen für eine eurythmische Darstellung des Spruches. Am 12. April 1925, dem Ostersonntag nach Rudolf Steiners Tod, kam sie erstmals eurythmisch in der Goetheanum-Schreinerei zur Aufführung.

Michael-Imagination

Sonnenmächten Entsprossene,

Leuchtende, Welten begnadende

Geistesmächte; zu Michaels Strahlenkleid

Seid ihr vorbestimmt vom Götterdenken.


Er, der Christusbote, weist in euch

Menschentragenden, heil`gen Welten-Willen;

Ihr, die hellen Ätherwelten-Wesen,

Trägt das Christuswort zum Menschen.


So erscheint der Christuskünder

Den erharrenden, durstenden Seelen;

Ihnen strahlet euer Leuchte-Wort

In des Geistesmenschen Weltenzeit.


Ihr, der Geist-Erkenntnis Schüler,

Nehmet Michaels weises Winken,

Nehmt des Welten-Willens Liebe-Wort

In der Seelen Höhenziele wirksam auf.

Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen


[1] Rudolf Steiner, Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie. Das Michael-Mysterium, GA 26.

[2] Rudolf Steiner, Mitglieder-Brief vom 13. Juli 2024, GA 26.

[3] Siehe FN 1.

[4] Rudolf Steiner, Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge. Vierter Band. Das geistige Leben der Gegenwart im Zusammenhang mit der anthroposophischen Bewegung, GA 238.

ARBEITSANLIEGEN DER HOCHSCHULE

Wie können wir die Arbeitsanliegen und -zusammenhänge, die Rudolf Steiner gestiftet hat, einem größeren Menschenkreis zugänglich machen?

Wo ist es wirklich angebracht, über den meditativen Weg, den man in der Hochschule beschreitet, zu berichten?

Horizontale und vertikale Arbeitsebenen von Hochschule und Gesellschaft

Wir sind bestrebt, das soziale Bauwerk, bestehend aus Freier Hochschule für Geisteswissenschaft und Anthroposophischer Gesellschaft, aus dem heutigen Bewusstsein heraus in seiner Sinnhaftigkeit als unterstützendes Element für die verschiedenen Berufs- und Lebensgebiete wieder neu zugänglich zu machen, – u.a. indem Hochschulmitglieder von ihren Erfahrungen mit der Hochschule sprechen.

Hochschulmitglieder sind diejenigen unter uns, die sich entschieden haben, der Ersten Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft[1] beizutreten. Sie haben eine blaue Karte, so wie Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft eine rosa Karte haben.

Die Sektionen, wie auch die Medizinische Sektion, sind vertikal ausgerichtet und kreuzen die horizontalen Arbeitsebenen von Hochschule und Gesellschaft. Sie beginnen in der geistigen Welt und „enden“ im Leben, in der Arbeit, wie die „Vertikalität“ des Menschen auch. Rudolf Steiner hat die Hochschule mit gutem Grund so eingerichtet, dass die Sektionen einerseits mit den Inhalten der Klassenstunden arbeiten und andererseits miteinander kooperieren.

Schulungsweg und Meditation

Denn das Wesentlichste, was Rudolf Steiner uns geschenkt hat, ist der Schulungsweg und die einzigartige, beim bewussten Denken ansetzende anthroposophische Meditation. Es ist uns ein Anliegen, dass sich die Berufsgruppen ganz neu darauf besinnen, wie der meditative Erkenntnisweg als Schulungsweg im Berufszusammenhang zum Tragen kommt und wie er sich mit dem persönlichen Schicksal und dem menschheitlichen Zeitschicksal, das wir mitgestalten, verbindet.[2]

In den ersten beiden Meditationsstunden werden die in der Seele aufsteigenden Gegenkräfte behandelt: Angst und Furcht, Hass und Spott, Zweifel. Es ist wichtig zu erkennen, mit welchen inneren Kräften man sie überwinden kann.

Auf diese Weise könnte man auch andere Inhalte zu Kollegen in den unterschiedlichen Berufsfeldern tragen und dabei erwähnen, dass sie aus dem Kontext der Klassenstunden stammen. So könnte die Hochschule das Leben vieler anregen und dadurch selbst auch wertvolle Anregungen erhalten.

Vgl. Abschlusswort an der JK der Med. Sektion, Dornach, 17.09.2009


[1] Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a, Dornach 1987.

[2] Michaela Glöckler (Hrsg.), Rolf Heine (Hrsg.), Die anthroposophisch-medizinische Bewegung: Verantwortungsstrukturen und Arbeitsweisen, Dornach 2010.

AUFBAU DER SEKTIONEN                                                                         

Wie sind die Sektionen des Goetheanum aufgebaut?

Welche Möglichkeiten bietet die von Rudolf Steiner gegebene Struktur?

Das Allgemein-Menschliche als Grundlage

Der erste Satz in Steiners Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten“[1] lautet: „In der Seele eines jeden Menschen schläft die Sehnsucht nach den Höheren Welten“. Das gilt ohne Ausnahme, betrifft jedes Menschenwesen und ist damit etwas Allgemein-Menschliches. Ein Buch, das so beginnt, muss vom Inhalt her ein christliches Buch sein – das begreifen wir sofort, wenn wir diesen ersten Satz lesen.

Die Allgemeine Anthroposophische Sektion des Goetheanum[2] baut auf dieses Werk auf und auch allen anderen Sektionen[3] dient es als Grundlage. Die Allgemeine Anthroposophische Sektion befasst sich also allem voran mit Christus als dem Repräsentanten des Allgemein-Menschlichen sowie mit den Fragen, die das Menschsein heute mit sich bringt: mit Selbstschulung, Meditation, mit sozialen Belangen und Forschungen zu diesen Themen.

Auch Religion und Politik haben es nötig, sich an allgemein-menschlichen Gesichtspunkten zu orientieren: Denn solange sie nicht das Allgemeinmenschliche ins Zentrum rücken, werden die Kämpfe zwischen einzelnen Gruppierungen, die einem separatistischen Geist entstammen, andauern.

Die unterschiedlichen Berufsfelder im Umfeld der Sektionen brauchen ebenfalls den allgemein-menschlichen Blick. Es gibt kein spezifisch medizinisches Wissen, das seine Wurzeln nicht in den allgemein-menschlichen Grundlagen der Allgemeinen Anthroposophischen Sektion hätte.

Vertikale Struktur der Sektionen

Die Anthroposophische Gesellschaft als Träger und die angedachten Klassen der Hochschule stellen exklusive Ebenen dar. Ein Großteil der Anthroposophen befindet sich jedoch außerhalb davon: Auch wenn wir als Gesellschaft und Hochschule insgesamt keine 60.000 Mitglieder zählen, so gibt es doch Hunderttausende, die anthroposophische Produkte, Erkenntnisse und Methoden benützen. Wir sind alle auf unterschiedlichen Ebenen Mitarbeiter der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft und der Anthroposophischen Gesellschaft. Wir alle gehören zu Rudolf Steiners Konzept der Hochschule.

Die vertikale Struktur der Sektionen ist in keiner Weise exklusiv: Sie beginnt in der geistigen Welt und reicht bis ins Alltagsleben. Steiner sprach auf der berühmten Weihnachtstagung sinngemäß davon, dass die Sektionen die anderen Ebenen „durchkreuzen“ und sie so zu Arbeitsebenen würden in Bezug auf die Qualitäten, die auf diesen Ebenen erworben werden können. Das hat Steiner bereits ausgearbeitet.

Rudolf Steiner hat mit dieser Struktur ein Netzwerk veranlagt – alles kreuzt sich mit allem. Netzwerke sind sehr modern: Sie ermöglichen intelligente Zusammenarbeit, ohne dass spezifische Kompetenzen verloren gehen. Das moderne Leben ist auf Spezifikation angewiesen. Im medizinischen Bereich brauchen wir z.B. grundlegende medizinische Kenntnisse. Das Gleiche gilt für Erziehung, Sozialwissenschaften, für die Wirtschaft mit dem Bankenwesen und auch für all die anderen Bereiche.

Unsere Aufgabe als Hochschule für Geisteswissenschaft ist es, eine materialistische Kultur in eine spirituelle zu transformieren mithilfe der Erfahrungen, Erkenntnisse und Fähigkeiten, die wir im Umgang mit den Inhalten der Klassenstunden sammeln, aber auch bei den sehr guten Arbeitsgruppen bzw. dem Anthroposophie-Studium, das die Allgemeine Anthroposophische Sektion anbietet. Wir können alle guten Eigenschaften, Gedanken, Konzepte, Ideen ins Leben bringen und so dem Leben dienen.

Vgl. Vortrag an der Tagung „International Conference Biographywork", England 2013


[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten? GA 10.

[2] Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a, Dornach 1987.

[3] Mathematisch-Astronomische Sektion, Medizinische Sektion, Naturwissenschaftliche Sektion, Sektion für Landwirtschaft, Pädagogische Sektion, Sektion für Bildende Künste, Sektion für Redende und Musizierende Künste, Sektion für Schöne Wissenschaften, Sektion für Sozialwissenschaften, Jugendsektion.

DAS PRINZIP DER VERTIKALEN SUKZESSION IN DER ANTHROPOSOPHIE

Was bedeutet vertikale Sukzession und was zeichnet sie gegenüber der horizontalen Sukzession aus?

Was bedeutete dieses Prinzip für die anthroposophische Bewegung nach Rudolf Steiners Tod?

Horizontale versus vertikale Sukzession

Es ist wichtig zu wissen, dass auch bezüglich der Sukzession ein großer Unterschied besteht zwischen den alten und neuen Mysterien.

  • In den alten Mysterien galt das Prinzip der „horizontalen Sukzession“ in Form von Handauflegen oder anderen Kontinuitätsritualen. Das findet sich auch noch innerhalb der katholischen Kirche bei den Weiheritualen der Priester, Bischöfe und der Päpste.
  • Für die neuen Mysterien gilt das Prinzip der „vertikalen Sukzession“, durch das jeder Mensch sich befähigen kann, selber in innerster Gewissensfreiheit den Anschluss an den Quellort der göttlichen Inspiration zu suchen.

Obwohl es keinen Nachfolger gab für Rudolf Steiner und obwohl Marie Steiner in ihrer Einleitung zur Erstherausgabe des gesamten Weihnachtstagungsgeschehens über das Scheitern der damaligen Mitglieder der Bewegung sprach,[1] so erwies sich das Prinzip der vertikalen Sukzession als Brückenschlag in etwas Neues, das erlaubte, Rudolf Steiners Impulse weiterzuführen und immer tiefer zu ergreifen.

Aus der Resignation in die Begeisterung

Marie Steiner schreibt dazu an genannter Stelle: „Wir waren wohl berufen, aber nicht auserwählt. Wir sind dem Ruf nicht gewachsen gewesen. Die weitere Entwicklung hat es gezeigt.“ (…)

„Die tiefste Esoterik könnte darin bestehen, bisher divergierende frühere geistige Strömungen in einigen ihrer Repräsentanten jetzt zum harmonischen Ausgleich zu bringen. Das wäre eine esoterische Aufgabe gewesen, die im Zusammenwirken mit Dr. Steiner durch seine überragende Einsicht, Kraft und Liebefähigkeit hätte gelöst werden können. Aber unser menschliches und Gesellschaftskarma entlud sich auf ihm. (…)

In diesem tragischen Lichte steht die Weihnachtstagung für den, der die Möglichkeit hat, die Geschehnisse zu überschauen. Von der Schwere und dem Leide dieses Geschehens haben wir nicht das Recht, unsere Gedanken abzuwenden. Denn aus dem Leide kommt die Erkenntnis – aus dem Schmerz wird sie geboren.“

Und dann fährt sie unmissverständlich und ohne jegliche Resignation fort: „Dieser Schmerz muss uns dazu führen, mit umso stärkerem Wollen unsere Aufgaben zu erfassen. (…)

Unsere Aufgabe ist es nun, anhand der Ansprachen und Vorträge Rudolf Steiners, die uns im Stenogramm erhalten sind, die Weihnachtstagung selbst sprechen zu lassen. (…)

Das Ganze der Verhandlungen ist für uns ein Schulungsweg in Dingen der Versammlungsführung und der Behandlung gesellschaftlicher Probleme. Aber getaucht ist dies alles in die Atmosphäre höchster Geistigkeit, dargebracht wie ein Bitt- und Dankopfer den höheren Mächten. Es herrscht das Bestreben vor, die Dinge dieser Welt praktisch und sinngemäß zu vollziehen, aber sie dem Willen einer weisen Weltenlenkung unterzuordnen. Das Alltägliche wird dadurch in die Sphäre der geistigen Zielsetzung und der höheren Notwendigkeit gehoben.“

Aus diesen Worten sprechen der Realismus und die Begeisterung im Hinblick auf die Möglichkeit der vertikalen Sukzession – keine Trauer über eine ununterbrochene und damit möglicherweise gescheiterte horizontale Sukzession.

Rudolf Steiner war durch sein eigenes Leben und Handeln eine Art Urbild für diesen Übergang der alten in die neuen Mysterienkulturen. Es war ihm ein tiefes Bedürfnis wo immer möglich anzuknüpfen an das bisher Gewordene, um dann in unmittelbarer Verantwortung vor der geistigen Welt im Hier und Jetzt den neuen spirituellen Einschlag zur Wirksamkeit zu bringen. Hella Wiesberger nannte dies in ihren Publikationen zum Werk Rudolf Steiners das Prinzip von Kontinuität und Wandel.

Persönliche Erfahrung als Sektionsleiterin

Als ich 1988 die Leitung der Medizinischen Sektion am Goetheanum übernahm, stand ich einerseits vor der Aufgabe, mich an das bisher gewordene anzuschließen, und mich andererseits zu fragen, welche Möglichkeiten sich für die Fortsetzung und Weiterentwicklung der Arbeit der Med. Sektion ergeben:

Was haben die vier LeiterInnen der Medizinischen Sektion – Ita Wegman, Margarethe Kirchner-Bockholt, Walter Holtzapfel und Friedrich Lorenz vor mir getan?

Und was kann ich jetzt als nächsten Schritt in der Fortsetzung der Arbeit unternehmen?

Ohne Anknüpfung an die Aufgabenstellung, die Rudolf Steiner auf der Weihnachtstagung der Medizinischen Sektion und ihrer Leiterin gegeben hat, nämlich das medizinische System der Anthroposophie auszuarbeiten, hätte ich gar nicht gewusst, was meine Leitungsaufgabe ist.

So aber war klar, dass es darum geht, wo und wie auch immer möglich, Menschen und Menschengruppen darin zu unterstützen, an der Substanzbildung der Anthroposophischen Medizin in all ihren Disziplinen zu arbeiten und die Ausbreitung der medizinischen Bewegung weltweit zu fördern.[2]

Meine Initiative für die Weiterarbeit entzündete sich an meinem Bemühen, mich mit dem geistigen Impuls der Aufgabe im Sinne der Qualität vertikaler Sukzession zu verbinden. Dadurch fühlte ich mich unmittelbar in meiner eigenen Handlungsbereitschaft angesprochen und empfand andererseits unmittelbar und zweifelsfrei die Tragekraft und Fruchtbarkeit des historisch Veranlagten.

Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen


[1] Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924, GA 260, S. 18.

[2] Michaela Glöckler, Rolf Heine Hsg., Führungsfragen und Arbeitsformen in der anthroposophisch-medizinischen Bewegung, Dornach 2015.

KONSTRUKTIVER UMGANG MIT WANDLUNGSBEDARF IN LEITUNG UND MITGLIEDSCHAFT

Muss in Vorstand und Mitgliedschaft von „Freier Hochschule für Geisteswissenschaft“ und Allgemeiner Anthroposophischer Gesellschaft (AAG) nicht dringend ein Kulturwandel in der Zusammenarbeit stattfinden?

Behindert die oft als rückwärtsgewandt wahrgenommene Haltung mancher Mitglieder nicht eine weitere Ausbreitung der anthroposophischen Impulse?

Zwischen Anspruch und Realität

Der Anthroposophischen Bewegung wird oft vorgeworfen,

  • dass ihr in der Lebenswirklichkeit nach wie vor etwas Sektiererisches und Dogmatisches anhafte,
  • dass die Mitglieder oft unverständlich reden und mehr der Vergangenheit als der heutigen Zeit zugewandt seien,
  • dass die Art und Weise, wie die Leitung von AAG und AG in Dornach sich in den vergangenen Jahrzehnten betätigt habe, undemokratisch und pyramidal gewesen sei.

Diese Vorwürfe mögen berechtigt sein. Man kann diese Problematik jedoch auch als Aufforderung verstehen, selbst verstärkt mitzuhelfen, dass sich etwas zum Positiven verändert.

Ist nicht auch unter Anthroposophen das Negative, Destruktive dazu da, für das Positive, Konstruktive immer wacher zu werden?

Warum laufen wir weg, wenn es schwierig wird, anstatt uns stärker zu engagieren?

Sei du selbst die Veränderung[1]

Rudolf Steiner hat mit den Menschen gearbeitet, die da waren. Auch er konnte sich keine „idealeren“ Mitglieder suchen. Mit den Menschen, Mitteln und Möglichkeiten zu arbeiten zu wollen, die vorhanden sind, erscheint mir eine der wichtigsten Qualitäten in unserer Zeit zu sein.

Denn jedes Mitglied in der Anthroposophischen Gesellschaft und in der Hochschule hat die Möglichkeit, Gesellschaft und Hochschule in einer Weise zu repräsentieren, die es für angemessen hält. Je mehr wir das einsehen und nach bestem Vermögen praktizieren, anstatt nur Vorwürfe zu erheben und an Anderen Kritik zu üben, umso besser wird es der Gesamtbewegung gehen.

Und ja, der Kulturwandel im Umgang miteinander ist tatsächlich ein dringendes Erfordernis. Das haben auch die Vorstände und Sektionsleiter am Goetheanum gemerkt – bis in ihr eigenes Miteinander herein.

Persönliche Erfahrung

Als ich 1988 ans Goetheanum kam, konnte man als Sektionsleiter in seiner eigenen Sektion frei schalten und walten – vorausgesetzt, man konnte sich auch die dafür nötigen finanziellen Mittel beschaffen. Ansonsten hatte man aber bezüglich dessen, was am Goetheanum geschah und von ihm ausging nichts zu sagen. Die Sektionsleiter hatten allenfalls beratende Funktion in den gemeinsamen Besprechungen mit dem Vorstand am Goetheanum. Dieser fühlte sich für alle drei im Weihnachtsstatut genannten Gremien verantwortlich. Er empfand sich als Goetheanum-Leitung, als Vorstand der AAG/AG und Leitung der Hochschule.

Es war dann ein kontinuierlicher Arbeitsprozess über die Jahre bis 2012, in dem die Einsicht wuchs, dass ein Arbeiten gemäß des Weihnachtsstatuts in jeder Hinsicht hilfreich wäre. So haben wir heute eine verantwortliche Goetheanum-Leitung, in der die Vorstände der Gesellschaft und die Leiter der Sektionen am runden Tisch sitzen und Unternehmens-Entscheidungen, die das Ganze betreffen nach gründlicher Beratung gemeinsam fällen.

Die Umsetzung dieser Entscheidungen wird dann selbstverständlich über die dafür verantwortlichen Gremien realisiert.  Gemäß dem Weihnachtsstatut vertritt der Vorstand die Goetheanum-Leitung in der Mitgliedschaft der Gesellschaft – ist sie aber nicht. Ebenso wenig ist er die Leitung der Hochschule. Rudolf Steiner nannte dafür als verantwortliches Gremium den Kreis der Sektionsleiter.

Noch ausstehende Strukturwandlung

Dieses Hochschulkollegium ist derzeit noch nicht realisiert. Steiner bezeichnete dies Gremium auf der Weihnachtstagung als Direktorium der Hochschule. Es kann dieses Gremium aber jederzeit – bei entsprechendem Willen der Sektionsleiter und innerhalb der Goetheanum-Leitung auf den Weg gebracht werden.

So erfreulich dieser grundlegende Kulturwandel am Goetheanum selbst war, so wurde er jedoch noch nicht zureichend von der weltweiten Mitgliedschaft wahrgenommen, weswegen mancherorts noch die alten pyramidalen Bilder figurieren.

Vgl. „Die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, Sept. 2023, Akanthos Akademie Edition Zeitfragen


[1]   Das vollständige Zitat lautet: „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für die Welt.“ Mahatma Gandhi.

DER GRUNDSTEINSPRUCH

Welche Bedeutung hat der sogenannte Grundsteinspruch?

Inwiefern bildet er das Fundament der Anthroposophischen Gesellschaft?

Wie soll und darf mit ihm umgegangen werden?                                               

Anwesenheit des Gottes-Ich im eigenen Ich erkennen

Die Anthroposophische Gesellschaft hat ein tragfähiges, urgesundes Fundament, denn Rudolf Steiner vollzog 1924 auf der Weihnachtstagung eine spirituelle Grundsteinlegung, indem er den berühmten Grundsteinspruch[1] gab. Dort wird ausgesprochen, was geschehen kann und geschehen wird, wenn die einzelne Menschenseele sich ihres umfassenden Weltzusammenhanges bewusstwird und zum Ich, zum Weltbewusstsein, erwacht. Mit diesem Erwachen geht die Entdeckung einher, dass das Gottes-Ich und damit auch das Menschheits-Ich im eigenen Ich anwesend sein können. Aus dieser Anwesenheit heraus wird Gemeinschaftsbildung möglich zu guten Zielen und zu gutem Wollen:

Menschenseele!

Du lebest in den Gliedern,

Die dich durch die Raumeswelt

In das Geistesmeereswesen tragen:

Übe Geist-Erinnern

In Seelentiefen,

Wo in waltendem

Weltenschöpfer-Sein

Das eigne Ich

Im Gottes-Ich

Erweset;

Und du wirst wahrhaft leben

Im Menschen-Welten-Wesen.

Denn es waltet der Vater-Geist der Höhen

In den Weltentiefen Sein erzeugend:

Ihr Kräfte-Geister

Lasset aus den Höhen erklingen,

Was in den Tiefen das Echo findet;

Dieses spricht:

Aus dem Göttlichen weset die Menschheit.

Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd:

Menschen mögen es hören.

Menschenseele!

Du lebest in dem Herzens-Lungen-Schlage,

Der dich durch den Zeitenrhythmus

Ins eigne Seelenwesensfühlen leitet:

Übe Geist-Besinnen

Im Seelengleichgewichte,

Wo die wogenden

Welten-Werde-Taten

Das eigne Ich

Dem Welten-Ich

Vereinen;

Und du wirst wahrhaft fühlen

Im Menschen-Seelen-Wirken.

Denn es waltet der Christus-Wille im Umkreis

In den Weltenrhythmen Seelen-begnadend.

Ihr Lichtes-Geister

Lasset vom Osten befeuern,

Was durch den Westen sich formet;

Dieses spricht:

In dem Christus wird Leben der Tod.

Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd:

Menschen mögen es hören.

Menschenseele!

Du lebest im ruhenden Haupte,

Das dir aus Ewigkeitsgründen

Die Weltgedanken erschließet:

Übe Geist-Erschauen

In Gedanken-Ruhe,

Wo die ew’gen Götterziele

Welten-Wesens-Licht

Dem eignen Ich

Zu freiem Wollen

Schenken;

Und du wirst wahrhaft denken

In Menschen-Geistes-Gründen.

Denn es walten des Geistes Weltgedanken

Im Weltenwesen Licht-erflehend.

Ihr Seelen-Geister

Lasset aus den Tiefen erbitten,

Was in den Höhen erhöret wird:

Dieses spricht:

In des Geistes Weltgedanken erwachet die Seele.

Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd;

Menschen mögen es hören.

In der Zeiten Wende

Trat das Welten-Geistes-Licht

In den irdischen Wesensstrom;

Nacht-Dunkel

Hatte ausgewaltet;

Taghelles Licht

Erstrahlte in Menschenseelen;

Licht,

Das erwärmet

Die armen Hirtenherzen;

Licht,

Das erleuchtet

Die weisen Königshäupter.

Göttliches Licht,

Christus-Sonne,

Erwärme

Unsere Herzen;

Erleuchte

Unsere Häupter;

Dass gut werde,

Was wir

Aus Herzen

Gründen,

Aus Häuptern führen

Wollen.

Spirituelles Taktgefühl verfeinern

Ist es nun passend, den Grundsteinspruch, die spirituelle Basis des Goetheanum, bei Tagungen zu rezitieren oder zu eurythmisieren?

Natürlich kann man diesen Spruch als etwas Schönes zur Aufführung bringen. Dabei ist aber zu bedenken, dass mancher, der diesen Spruch zu hören bekommt, möglicherweise noch keine innere Verbindung zum Goetheanum, zur Anthroposophischen Gesellschaft und zur Hochschule, für die der Grundsteinspruch gegeben wurde, hat. Würde man ihn erst darbieten, nachdem er von Mund zu Ohr vorgestellt und so ein Raum erschaffen wurde, in dem er erscheinen kann, wäre das wesentlich angemessener. Denn es ist eine Frage des Taktes, dass man dem Grundsteinspruch gegenüber eine bestimmte Haltung einzunehmen imstande ist.

Rudolf Steiner sagte mehrfach, die Menschen hätten ihr esoterisches Taktgefühl verloren. Sie sind taktvoll, wenn es um materialistische Objekte geht: Wir waschen unsere Autos, mähen den Rasen, putzen die Zähne. Doch im Umgang mit Worten und Gedanken, wie auch beim Präsentieren von Mantren, fehlt uns oft diese Sensibilität. Ich machte in diesem Zusammenhang die Erfahrung, dass das Zustandekommen einer guten Klassenstunde davon abhängt, ob es gelingt, aus dem Herzen heraus zu sprechen, anstatt von einem Gefühl großer Bedeutsamkeit beseelt zu sein.

Die Frage, wie man angemessen mit einem Mantra umgehen sollte, z.B. indem man die Zielgruppe bedenkt und die Darbietung entsprechend in eine Veranstaltung wie eine Tagung integriert, ist nun eine schöne Möglichkeit, unser spirituelles Taktgefühl zu verfeinern.

Vgl. Vortrag an der Tagung „International Conference Biographywork", England 2013


[1] Rudolf Steiner, Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Der Wiederaufbau des Goetheanum, GA 260a, Dornach 1987.

ARCHITEKTUR, SOZIALE GESTALT UND KUNSTIMPULS

Welche Absichten versuchte Rudolf Steiner als Architekt des Ersten und Zweiten Goetheanum auszudrücken?

Sozial-architektonischer Aspekt des Goetheanum

Man kann sich fragen, warum Rudolf Steiner sich die Mühe machte, als Architekt aufzutreten, vor allem beim Bau des Ersten und Zweiten Goetheanum. In Bezug auf die Kunstrichtungen Sprache und Eurythmie sind seine Absichten klar. Doch die Angaben zu anderen Kunstzweigen sind bereits so spärlich, dass sich die Kunsttherapeuten dieser Sparten oft als unterprivilegiert gegenüber den erstgenannten Bereichen fühlen. Worüber er fast nie sprach, ist die Architektur.

Wir können aber feststellen, dass Rudolf Steiner immer einen sozial-architektonischen Bezug herstellte, bevor er ein Bauwerk begann. Und auch bevor er den Kunstimpuls 1907 setzte,[1] bemühte er sich in den Jahren davor in der theosophisch-anthroposophischen Gesellschaft um die Pflege des menschlichen Zusammenhanges. Die soziale Architektur bestand also bereits, bevor das Künstlerische überhaupt zum Tragen kam: Den Kunstimpuls setzte Steiner dann bewusst als Gestaltungsimpuls in einer sozial kritischen Situation. Dazu gehört aber auch die Tatsache, dass das soziale Gefüge, das jede anstehende Baumaßnahme am Goetheanum erst ermöglichte, über Jahre und Jahrzehnte gewachsen war.

Was die Kunstrichtungen verbindet

Jede Kunstrichtung hat einen sozial-architektonischen Aspekt, wie auch jede ihre Architektur, ihren eigenen Aufbau hat: Das zeigt sich im Aufbau eines Gedichtes, in den räumlichen Formen in der Eurythmie, in der Bildkomposition in der Malerei, in der Gestalt einer Plastik, im Aufbau einer Komposition usw. Darüber hinaus sind die Künste miteinander verbunden und wirken zusammen, wie es auch die Sinne tun: Man kann mit Blicken tasten, mit den Händen sehen, mit Klängen malen, und malend Farbklänge erzeugen. Das ist grandios.

Kunst ist, wie alles Soziale auch, prozesshafter Natur. Das Soziale ist jedoch aufgrund der Stagnation in vielen Bereichen heute vielfach krank: Die Prozesse, die stattfinden, sind politisch reaktionär, retardierend, kriegerisch. Auch im Privaten „steckt man weg“, zieht sich zurück – nur selten finden heilende Prozesse statt. Rudolf Steiner als Baumeister im Sozialen war klar, dass die gesunde Gestaltung des Sozialen auf einem künstlerischen Prozess basieren muss, um zu einer wahrhaft sozialen Gestalt zu führen.

Vgl. Einleitung zur Sprachtherapietagung 2012 am Goetheanum


[1] Mit Rudolf Steiners temporärer Gestaltung des Saales für den Kongress der Theosophischen Gesellschaft in München 1907 trat sein Impuls, das Kunstschaffen aus geisteswissenschaftlicher – anthroposophischer – Quelle zu erneuern und zu bereichern erstmals in die Sichtbarkeit (dokumentiert in Band 284/285 der R. Steiner Gesamtausgabe). Bereits in dieser situationsbedingt installativen Arbeit deutete sich die Idee an, die Künste wieder als "Gesamtkunstwerk" zu vereinen (www.goetheanum.org).

SPRECHEN ÜBER DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT

Wie lädt man Menschen richtig ein, Mitglied der Hochschule zu werden?

Wie erreichen wir die jüngere Generation?

Den Weg zur Hochschule finden

Jahrzehntelang hat man über die Existenz der Hochschule geschwiegen, weil man Angst hatte etwas Falsches zu sagen. Ich kann das sehr gut verstehen. Das Ergebnis ist jedoch, dass bei unseren Hochschul-Treffen derzeit fast nur grau- und weißhaarige Menschen zu sehen wären, würde sich ein Teil der Frauen nicht die Haare färben. Die ältere Generation hat den Weg zur Hochschule gefunden, aber schon die nächste Generation, der Nachwuchs, weiß zu großen Teilen – abgesehen von ein paar Ausnahmen – nicht einmal von der Existenz der Hochschule.

Man könnte jetzt mit Recht sagen: Jeder, der wirklich will, findet den Weg dorthin. Und sei es, dass er darüber liest. Es wurde ja vieles darüber publiziert. Ich meine, dass es nicht so einfach ist. Denn die Hochschule ist aus Liebe und Sorge um den Menschen und seine Geistsuche auf der Erde begründet worden. Es braucht die Begegnung von Mensch zu Mensch, damit sich jemand wirklich angesprochen fühlt.

Beispiel von Heinz Hartmuth Vogel

Einige von euch haben sicher Heinz Hartmuth Vogel gekannt. Ich kannte ihn natürlich von früher, von den Ärztetagungen, wir waren befreundet. Als ich Sektionsleiter wurde, besuchte ich ihn bei der Wala. Ich erzählte ihm, dass ich kürzlich an alle 850 Mitglieder eine handschriftliche Einladung geschrieben hatte, wobei ich jeden mit Namen angeschrieben und auch persönlich unterschrieben hätte, doch er wäre nicht dabei gewesen. Er gehörte zu den Personen, die ich unter den Hochschulmitgliedern vermisste. Ich frage ihn also geradeheraus: „Warum bist du nicht Hochschulmitglied?“ Worauf er mich ganz groß anschaute und sagte: „Mich hat nie jemand eingeladen“. Für ihn war es eine klare Sache, dass man dazu eingeladen werden musste.

Seitdem lebe ich mit der Frage, wie man Menschen richtig einlädt. Ich mag euch jetzt alle wie damals Heinz Hartmut Vogel fragen:

Warum seid ihr nicht Hochschulmitglieder?

Vielleicht könnten bei dieser Gelegenheit alle Mitglieder aufstehen. Ich gehe davon aus, dass sie alle einen Grund haben, warum sie Mitglied werden wollten. Das bedeutet in keiner Weise, dass sie bessere Menschen sind, als die anderen hier Anwesenden. Anthroposoph zu sein ist keine Belohnung für gutes Benehmen und Hochschulmitglied zu sein auch nicht. Es ist vielmehr eine Willensbekundung.

Mein Weg in die Hochschule

Bevor ich Hochschulmitglied wurde, kannte ich bereits die drei Bedingungen. Ich leitete in Tübingen eine Studentengruppe und fühlte mich deshalb als Repräsentant der Anthroposophie. Wenn man sich damals öffentlich zur Anthroposophie bekannte, folgte wie selbstverständlich der Schritt in die Hochschule. Soviel zu meiner Motivation. Ich wusste auch, dass ich zuvor mit jemandem ein Gespräch führen musste. Ich wollte dazu nach Dornach fahren und Rudolf Grosse, den ich von einer Lehrertagung her kannte, um dieses Gespräch bitten. Ich besorgte mir also einen Termin bei ihm, in der Hoffnung, von ihm zu erfahren, ob ich reif für diesen Schritt wäre und ob mein bescheidenes Motiv reichte.

Ich hatte keine Ahnung, worum es bei den Klassestunden geht. Ich wusste nur, dass meine Mutter da immer hinging, ohne je ein Wort darüber zu verlieren. Für uns Kinder bedeutete Klassenstunde nur Eines: Mama ist weg. Und man muss sehr pünktlich sein. Mehr wusste ich nicht.

Rudolf Grosse war damals auch noch ganz jung und meinte, das müsste ich schon selbst entscheiden. Nur Rudolf Steiner wäre in der Lage gewesen zu beurteilen, ob jemand reif für die Hochschule war. Er fragte mich, ob ich das Grundlagenbuch „Wie erlangt man Erkenntnisse…“[1] kennen würde, überließ mir aber die Entscheidung, Mitglied zu werden oder nicht. Ungefähr so ist es bis heute geblieben.

Miteinander ins Gespräch kommen

Meine eigenen Erfahrungen sind als Überleitung zu Ihren Fragen gedacht, die Sie mir im Anschluss stellen können. Es wäre schön, wenn wir miteinander darüber ins Gespräch kommen könnten, warum die einen sitzen geblieben und die anderen aufgestanden sind. Dafür gibt es keine logischen Kriterien. Es gibt auch kein „moralisches Thermometer“ oder eine Messlatte, die irgendwo hängt und über die Mitgliedschaft entscheidet.

Es wäre schön, wenn wir nach dem heutigen Abend mehr darüber wissen, warum einige von uns Mitglieder der Hochschule sind und andere nicht. Das ist für jeden von uns interessant. Indem wir einander davon erzählen, findet eine wesentliche Begegnung statt – dafür möchte ich Ihnen jetzt schon danken.

Vgl. „Offenes Gespräch über die Hochschule“ an der Jahreskonferenz der Medizinischen Sektion, Dornach 2009


[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.