Herzlich Willkommen!
Ideale
Ideale – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
DIE BESONDERE NATUR DER IDEALE
Was sind Ideale ihrem Wesen nach?
Was lässt sie zu einer besonderen Kraft im Menschen werden?
Gedanken von besonderer Art
Ideale sind Gedanken von besonderer Art. Sie gehören zum Intimsten, ja „Heiligsten“, was ein Mensch in seiner Seele tragen kann. Man kann über sie spotten, sie lächerlich machen, sie fehlinterpretieren oder über Bord werfen – wer sich jedoch tief mit ihnen verbindet, kann erleben, dass Idealen nicht nur Gedankenhaft-Ideelles innewohnt, was sich z.B. mit Qualitäten wie „Treue“, „Andacht“, „Wahrheit“, „Freiheit“ oder „Brüderlichkeit“ umschreiben ließe. Darüber hinaus sind sie die größten Kraftquellen auf seelisch-geistiger Ebene.
Wer ein wirkliches Lebensideal gefunden hat, wird sich in allen Lebenslagen zurechtfinden und in gewissem Sinne unangreifbar sein. Es mag geschehen, was will, er wird immer etwas Sinnvolles, Fruchtbares daraus zu machen wissen. Woher kommt das? Von der Möglichkeit, sich mit einem Ideal ganz und gar zu identifizieren. Diese Identifikationsmöglichkeit wirft aber nicht nur Licht auf das Wesen der Ideale, sondern auch auf das Wesen des menschlichen „Ich“.
Was macht nun die Wesenheit des Ich aus?
Was Licht und Ich gemeinsam haben
Dies sei an einem Beispiel aus dem Johannes-Evangelium verdeutlicht. Denken Sie an das Wort: „Ich bin das Licht der Welt.“[1] Man könnte das wie einen schlichten Vergleich ansehen: Christus vergleicht sein eigenes Wesen, sein Ich, mit dem Licht der Welt. Es kann aber auch Ausdruck seines Idealismus sein, dass er sich mit der ganzen Schöpfung identifiziert, verbindet – insbesondere aber mit dem Licht.
Was aber ist die Qualität des Lichtes?
Licht macht alles sichtbar, obwohl es selbst nicht sichtbar ist. Es zeigt Einzelheiten, macht Zusammenhänge und Bezüge erkennbar, es erfüllt den Raum, lebt in der Zeit, es erscheint, verschwindet, dämmert und gibt uns überhaupt erst die Möglichkeit, die sinnliche Welt mit unseren Augen wahrzunehmen.
Hat die Wesenheit des Ich dieselbe Qualität?
Wer sich auf die Eigenart seines Ich besinnt, macht in diesem Zusammenhang die überraschende Entdeckung, dass dem tatsächlich so ist: Mit dem Wörtchen „ich“ ist etwas bezeichnet, das zwar alles ist, ohne aber selbst als solches in Erscheinung zu treten. Wir sagen doch zu allem „ich“: Ich bin so und so, ich mache, sehe das und das, ich habe vor...
Und was sind wir wirklich?
Lichtnatur und Ich-Natur sind identisch
Wir sagen zu allem insofern berechtigterweise „ich“, als alle Stoffe der Welt, alle Kräfte und Gesetze der Welt, die wir kennen, irgendwo am Aufbau und an der Entwicklung des Leibes beteiligt sind, mit dem wir uns identifizieren. Im Alten Testament wird vom Menschen gesagt, er sei die Krone der Schöpfung. Das ist eine sehr exakte Beschreibung, weil tatsächlich das gesamte Naturreich mit seinen Gesetzen im Menschen wirksam ist. Aus dem Zusammenwirken von stofflicher Vielfalt mit all ihren Kräften und Gesetzen blickt am Ende eine menschliche Persönlichkeit in die Welt, die zu sich „ich“ sagt.
Andererseits wissen wir nicht wirklich, wer mit „ich“ gemeint ist. Wenn wir einander fragen – Wer bist du denn wirklich? – antwortet manch einer: Das weiß ich nicht. Selbst Goethe hatte Mühe, das Wesen des Ich zu beschreiben. Er macht die Bemerkung, dass man, wenn man den Charakter eines Menschen erfassen will, auf das sehen muss, was er getan hat und welche Wirkungen davon ausgegangen sind. Denn das geistige Wesen des Menschen ist zwar wirksam – man kann es aber nicht mit Augen sehen.
So erleben wir auch das Licht: Selbst unsichtbar wirkt es überall sichtbar machend, Zusammenhänge schaffend und verdeutlichend. Licht- und Ich-Natur lassen sich demnach nicht nur vergleichen, sie sind in gewisser Weise identisch.
Typische Identifikation mit einem Ideal
So ist der Ausspruch des Christus – „Ich bin das Licht der Welt“ – nicht nur ein Vergleich, sondern zeugt von einer Identifikation mit dem Licht. Dieses Element der Identifikation ist bezeichnend für die Art und Weise, wie ein Mensch zu seinen Idealen steht. Wenn wir z.B. dem Ideal der „Treue“ folgen, so bemühen wir uns treu zu sein, uns ganz mit diesem Ideal zu identifizieren. Und so kann auch ein Menschen-Ich dem Christus nachstreben und sagen: „Ich möchte so werden, wie das weisheitsvoll die Welt erhellende reine Licht. Interessant ist, dass jemand, der ein Ideal hat, dieses Ideal in allem, was er tut, verwirklichen möchte.“
Wird er sich selbst dabei untreu?
Oder ist das Ideal zum innersten Wesen seines Selbst, des Ich, geworden?
Indem ein Mensch zu einem anderen sagt: „Du bist aber lieb“, oder „Du bist ein Engel“, oder „Sei nicht so garstig“, taucht auch hier die Identifikation mit einer moralischen Eigenschaft, also mit einem Ideal, auf. Es liegt im Wesen des Ich, dass es selbst nicht in Erscheinung tritt, es sei denn, es verbindet sich mit etwas. Ich bin so gut und so schlecht, wie meine Ideen über mich und die Welt sind, nach denen ich handle und die ich durch mein ganzes Leben und Tun zum Ausdruck bringe.
„Bin“ ich also gar nicht „ich“, sondern das, wofür ich mich entscheide und womit ich mich verbinde?
„Werde“ ich erst?
Es ist wohl beides wahr: Ich werde immer bewusster zu dem Menschen, der ich in Wahrheit bin.
Wirksamkeit geistiger Wesen
Jeder Mensch, der an diese Grenze seiner Selbstbeobachtung stößt, erlebt sich wie an einem Abgrund zwischen zwei Welten, von der die eine sinnlich gegeben und die andere ideell-gedanklich zugänglich ist. Er erlebt sich durch seinen Leib in die sinnliche Welt gestellt und mit ihr identisch. Durch seine Gedanken jedoch ragt er hinein in die rein geistige Welt von moralischen Idealen und Intentionen. Diese können zu Kräften werden, die denjenigen befeuern, der sich mit ihnen verbindet.
Woher kommen diese Kräfte?
Sie kommen von den Wesen, die durch das entsprechende Ideal wirken, so wie der Christus wesenhaft in uns ist, wenn wir den Idealen folgen, mit denen er sich identifiziert hat, mit denen er wesensgleich geworden ist.
Wie es gute und böse Gedanken, Aufbauendes und Zerstörendes in der Welt gibt, so gibt es auch gute und böse Wesen, deren Intentionen in uns wirksam werden können, je nachdem, welchen Ideen und Idealen wir folgen. Wir können hier von der Wirksamkeit geistiger Wesen sprechen, die nicht in einem Naturzusammenhang verkörpert sind und dennoch im menschlichen Leben wirksam sind. Das Denken eines Ideals ist gleichsam nur eine zarte Berührung mit einem geistigen Wesen, die in dem Augenblick zu einer Wesensbeziehung wird, in dem sich der Mensch innerlich verbindlich dafür entscheidet.
Freier Umgang mit Idealen
Würden sich die geistigen Wesen dem Menschen aufdrängen und ihn mit Gewalt beherrschen, so wäre die Idee der Freiheit eine Illusion. Daher muss es dem Menschen selbst überlassen bleiben, welchen Idealen und Intentionen er folgen möchte. Wer durch die Ideale von Freiheit und Liebe mit Christus verbunden ist, kann auch in schwärzeste Schicksalssituationen Licht bringen, indem er sich fragt:
Was kann ich durch diese Erfahrung über mich und die Welt auf dem Entwicklungsweg zur Freiheit lernen?
Wie kann diese Situation dazu beitragen, meine Mitleids- und Liebefähigkeit zu fördern?
Wer so vorgeht, hat durch seine Ideale ein Rüstzeug, mit dem er auch in schwerem Leid, Zusammenhänge herstellt und dadurch neue Kraft zum Weiterleben findet. Das Ich und dasjenige, womit es verbunden ist, das Ideal, beleuchtet die seelische Innenwelt in der gleichen Weise, wie das äußere Licht die sinnliche Welt sichtbar und damit zugänglich macht.
Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
[1] Neues Testament, Joh. 8, 12.
IM REICH DER IDEALE
Welche Kräfte wirken im Reich der Ideale?
Wodurch gewinnen wir an Kraft, wodurch verlieren wir Kraft?
Drei Schritte zur Verwirklichung eines Ideals
Das Reich der Ideale betreten wir, wenn wir die reine spirituelle Kraft in unserem Denken aufsuchen, indem wir alles, was in unserem Denken auf Sinneseindrücke zurückzuführen ist, beiseitelassen. Wir können ein Ideal denken. Darüber hinaus können wir uns für diesen Gedanken erwärmen, ja begeistern. In einem nächsten Schritt sollten wir unser Leben nach diesem Ideal ausrichten. Denn in dem Moment, indem wir etwas sagen oder tun, was nicht unserem Ideal entspricht, verlieren wir an Kraft.
Rudolf Steiner formulierte deshalb drei nötige Schritte, um konstruktiv mit Idealen umzugehen:
- Das Ideal denken.
- Sich für das Ideal erwärmen.
- Das Ideal verwirklichen.
Man muss sich jeden Tag der Herausforderung zu stellen, dem eigenen Ideal gerecht zu werden. Gelingt es einem nicht, sollte man sich ehrlich im Rahmen der abendlichen Rückschau Rechenschaft darüber ablegen. Es geht darum, eine Idee zu einem Ideal zu erheben, indem man sich für sie begeistert und auch umzusetzen versucht. Idealen zu folgen ist so gesehen ein Schulungsweg, der Übung, Übung und wiederum Übung verlangt.
Kraftzuwachs durch Identifikation mit einem Ideal
Nach einiger Zeit des Umgangs mit einem Ideal treffen wir vielleicht einen Freund von früher, der bewundernd sagt: „Du hast dich aber sehr verändert!“ Was ist da geschehen? Wenn man über ein Thema nur nachdenkt, benützt man zwar die eigenen spirituellen Kräfte, um es zu verstehen. Aber wenn man ein Ideal zu verwirklichen versucht, wird man selbst zu diesem Ideal.
In den Evangelien haben wir ein enormes Vorbild in den Worten Jesu: ICH BIN die Wahrheit. ICH BIN das Licht der Welt.
Indem wir über das Denken nachdenken, reflektieren wir über das Licht der Welt. Die Gedanken bringen Licht in alles: Sie sind die Träger der Wahrheit, die Kräfte der Integration. Sie sind auch der Weg: Schritt für Schritt kann ich eine Idee denkend nachvollziehen und versuchen zu verstehen, kann mich bemühen, Licht in eine Sache zu bringen.
Im Reich der Gedanken, dem Reich der ätherischen Kräfte, finden wir das ewige Leben. Es ist die Sphäre der Begegnung mit dem Heiland, der das Herz der Evolution ist, der in allen Lebenskräften lebt. Er ist das moralische Zentrum der gesamten Entwicklung.
Durch diese Art des Idealismus können wir in unserem Ätherleib zusätzlicher spirituelle Kräfte gewinnen. Das ist der meditative Weg des Anthroposophen. Er beginnt immer im Denken, greift über auf das Fühlen und ergreift den Willen, indem ich in kleinen Schritten zu verwirklichen versuche, was ich voll Begeisterung gedacht habe.
Vgl. Vortrag „Meditativer Zugang zur Wärme“ an der Französische Ärztetagung am Goetheanum am 13.03.2008
DIE UR-IDEALE – WAHRHEIT, LIEBE UND FREIHEIT
Welches sind die grundlegenden Ideale des Menschen und der Menschheit?
Inwiefern gehören sie zusammen?
Wovon sind sie unmittelbarer Ausdruck?
Verwirklichung von Menschlichkeit durch Ideale
Im Neuen Testament wird von der Verwirklichung von Menschlichkeit auf dreierlei Weise gesprochen. Man könnte auch sagen, wir haben es hier mit einer philosophischen Trinität zu tun:
- im Denken durch Ehrlichkeit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit
- im Fühlen durch Mitleidsfähigkeit und Liebe
- im Wollen durch Freiheit für sich selbst, aber auch für die Mitmenschen
Wer sich mit diesen Idealen bewusst zu identifizieren versucht, beginnt einen konsequenten Weg der Verwirklichung seiner Menschlichkeit. Alles, was ihm begegnet, wird dann zum Anlass, an diesen drei Fähigkeiten zu arbeiten. Denn es gibt keine Schwierigkeit, kein Problem, keine Aufgabenstellung, an die man nicht mit den folgenden Fragen herangehen kann:
Welche Wahrheit steckt darin?
Was kann ich hier lernen?
Wie arbeite ich an dem Problem so, dass ich dadurch verständnisvoller, mitleidsvoller, liebevoller werde?
Wie arbeite ich so daran, dass meine eigene Freiheit und die der anderen dadurch vergrößert wird?
Dreifaches Ideal
Geht man mit Fragen dieser Art an Probleme und Konflikte heran, kann sich das dreifache Ideal als unsichtbarer Freund und Begleiter, als Licht auf dem täglichen Weg erweisen.
1. Wahrheit und Denken
Wahrheit und Wahrhaftigkeit betreffen unser erkennendes Denken. Wenn geschrieben steht: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch“, oder „Wer Gott sucht, soll ihn im Geist“, d.h. im Denken, in der geistigen Begegnung, „und in der Wahrheit anbeten“, bereitet es keine große Mühe das zu verstehen, auch wenn man sich bewusst ist, dass man von dem Ganzen noch sehr wenig begreift. Jeder, der Freude hat an solchen Gedanken, wird diese Aussagen als stimmig erleben können.
2. Liebe im fühlenden Umgang miteinander
Liebe betrifft unsere soziale Verabredungs-, Sprach- und Umgangskultur. Wenn man Jugendliche fragt: „Was ist für euch das Wichtigste am Menschen?“ dann sagen sie meist: „Ehrlichkeit. Und Liebe“. Unter Liebe verstehen sie, dass man einander gut versteht. Wenn sie sich verstanden fühlen, wissen sie sich geliebt.
3. Freiheit als Willensangelegenheit
Freiheit ist eine kraftvoll wirkende Willensangelegenheit. Das zeigt sich darin, dass, wenn es um Freiheit geht, immer etwas getan werden muss. „Die Wahrheit wird euch frei machen“ – das muss Auswirkungen haben. Und es geschieht nicht von selbst, es ist eine Willensangelegenheit.
Licht und Schatten um der Freiheit willen
Wer mit diesen Idealen lebt, wird aber auch sensibel für alles, was einer solchen Arbeit an der Menschlichkeit entgegensteht. Die „Finsternis“ auf diesem Weg ist auch gegenwärtig.
- Wir können auf der einen Seite erleben, wie dieses Ideal uns immer wieder Mut macht und sein Licht auf unseren Wegen nie erlischt. Mit ihm können wir uns dauerhaft identifizieren und uns dadurch in unserem unzerstörbaren Wesen erleben und erkennen. Wenn wir mit dem Ideal des Werdens „eins“ geworden sind, leuchtet ganz real etwas von unserem ewigen Wesen in die Zeitlichkeit unseres Werdens hinein.
- Auf der anderen Seite gibt es auch finstere Momente, in denen wir zugeben müssen, dass wir oft nicht wirklich wollen, dass wir Zweifel haben und sogar Hass und Wut auf das Ideal – und auch Angst davor. Jeder Mensch, der ehrlich mit sich ist, spürt neben dem stillen Licht auch die aktive Finsternis in sich, die zu diesem Ideal „nein“ sagen möchte.
Um die Spannung zwischen dem inneren Ja und dem inneren Nein auszuhalten zu können, brauchen wir die Kraft der Einsicht, dass auch unsere seelische Finsternis, die sich als Zweifel, Hass und Angst kundtut, Sinn und Bedeutung hat für unsere Entwicklung. Wäre das Nein nicht auch als Möglichkeit in uns veranlagt, könnten wir nicht aus eigenem Entschluss und in Freiheit zu unserem Lebensideal hinfinden. Dann könnten wir nur das verwirklichen, was durch den Schöpfungsprozess selbst in unsere Natur gelegt worden ist. Es wäre nicht möglich, dass wir uns als freies Wesen selbst verwirklichen.
Drei Seiten des Ideals wahrer Menschlichkeit
Eine Selbstbesinnung dieser Art kann zu der Entdeckung führen, dass die Spannung zwischen dem Ideal und den inneren Widerständen, die ihm entgegenstehen, gerade die Voraussetzung dafür ist, das zu entwickeln, worauf wir mit Recht stolz sind: Freiheit und Liebe.
Denn was wäre Liebe, wenn wir zu ihr nur von Natur aus veranlagt wären und sie nicht frei in unserer Seele bilden und aktiv dem anderen entgegenbringen könnten?
Außerdem können wir erleben, wie unmittelbar das Individuelle und das Soziale ineinander verschränkt sind und wie die soziale und rechtliche, dem Anderen gerecht werdende Dimension, fehlt, wenn die Liebe fehlt.
Denn was wäre Liebe ohne bedingungslose Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit?
Und was bewirkte die Freiheit, wenn sie der Lüge dienen würde?
Ohne Liebe lassen sich Wahrheit und Freiheit auch nicht im Sinne von mehr Menschlichkeit realisieren. Denn dann wird die Situation sofort unmenschlich. Diese drei Qualitäten gehören untrennbar zusammen.
Wer das Johannesevangelium mit Interesse für die gedankliche Ebene liest, kann eine Vorstellung davon bekommen, wie der Mensch im Idealfall gedacht ist:
- Er ist wahrhaftig – das ist Haupteskultur
- Er ist liebevoll – das ist Herzenskultur
- Er ist frei – das ist Willenskultur.
Der sich entwickelnde Mensch befreit sich und andere durch die Arbeit an sich selbst und an der Welt. Diese drei sind verschiedene Seiten ein und desselben Ideals. Nur wenn sie in ihrer Zusammengehörigkeit erlebt werden, erscheinen sie als unmittelbarer Ausdruck tiefster Menschlichkeit.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 3. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
LICHT UND KRAFT DER IDEALE
Welche Bedeutung haben Ideale in der heutigen Zeit?
Wie sieht mein ganz persönliches Verhältnis zu diesem Ideal aus?
Was davon kann ich verstehen und auch verwirklichen?
Wie setze ich mich in ein gesundes Verhältnis zu einem Ideal?
Ideale als Leitsterne begreifen
Heutzutage wird oft gesagt: „Es gibt keine Ideale, alles ist relativ!” Mit dieser Haltung fallen wir in das Verhalten der vom Verstand dominierten Verstandesseelenkultur zurück. Es gibt sehr wohl Ideale und sie können uns aufgrund ihrer Natur als Leitsterne durch schwierige Lebenssituationen hindurchtragen. In Reinform finden wir sie allerging erst, wenn wir gestorben sind, in der geistigen Welt, wo das reine, ideale, wesenhafte Sein unvermischt mit Materie zu finden ist.
Wir tragen die Ideale unseres Menschseins als ätherische Kräfte in Form unserer Gedanken aus der geistigen Welt in das Erdenleben herein. Ohne das Licht der Ideale wäre unser Leben finster, ja geradezu ein Alptraum. Die Tatsache, dass diese Ideale nie volle Wirklichkeit werden, bewirkt, dass sie zu starken Entwicklungsimpulsen werden, zu Entwicklungshelfern, die uns unsere Arbeit nicht abnehmen. Doch geben sie uns Kraft, Halt, Orientierung für unsere ganz individuelle Lebenswirklichkeit, die zahlreiche Herausforderungen für uns bereithält.
Wenn man sich einer scheinbar ausweglosen Problemstellung gegenübersieht, braucht man als „Ausweg“ ein neues Motiv, ein Ideal, mit dem man sich identifizieren, an das man sich halten kann.
Ehrlichkeit führt zu Selbständigkeit
Doch braucht man die richtige Technik im Umgang mit Idealen. Rudolf Steiner formuliert am Ende seines Buches „Die Philosophie der Freiheit“[1] klar, was man lernen muss, um mit Idealen richtig umzugehen zu können, damit sie zu Stützen und Kraftquellen werden im Leben. Damit sie den Menschen nicht niederdrücken und in Depression, Ratlosigkeit und Unfähigkeitserlebnisse stürzen lassen. Der letzte Satz seines bedeutsamen Werkes lautet: „Nur wer sich der Idee erlebend gegenüberstellt, gerät nicht unter ihre Knechtschaft.“ Diese Worte sind eine Art Schlussfolgerung und können zugleich als Anweisung zum Umgang mit Ideen dienen, zu denen auch Ideale gehören.
Ideale zu haben ist gut, aber man darf nicht zu ihrem Knecht werden. Es gibt nur ein Mittel, eine Technik, wie man dem entgehen kann. Man muss um das Geheimnis der kleinen, ehrlichen Schritte wissen: abgrundtiefe Ehrlichkeit sich selbst und anderen gegenüber. Jede innere Schulung sollte mit dieser Grundstimmung beginnen. Wer das beherzigt, den führt es zu einer neuen Selbstständigkeit.
Die oben genannten Fragen können uns helfen herauszufinden, wo genau man sich im Verhältnis zu einem Ideal befindet. So beginnt die Arbeit an einem gesunden Selbstbewusstsein: dass man das, was man für sich als Ideal erkannt hat, auch zu verwirklichen versucht– mit der entsprechenden Konsequenz. Das führt zu neuer Kraft und einem neuen Freiheitsgrad in Bezug auf das eigene Leben mitsamt seinen Herausforderungen.
Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Persephone, Kongressband Nr. 2, Verlag am Goetheanum, Dornach
[1] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, Rudolf Steiner Verlag.
IDEALE ALS KRAFTQUELLE
Woher haben Ideale ihre Kraft?
Ideale und geistige Wesen
Ideale sind Gedanken, die sich auf Realitäten, Werte, und Eigenschaften beziehen, die das Edelste im Menschen ansprechen: seine Würde, seine innersten Lebensziele. Sie beziehen sich aber auch auf konkrete geistige Wesen, die die Eigenschaften der Ideale „verkörpern“:
- Das Wesen der Liebe bezieht sich auf die Engelhierarchie der Seraphim, auch „Geister der Liebe“ genannt.
- Ebenso gibt es „Geister der Weisheit“, die Kyriotetes
- und „Geister der Formgewalt bzw. Vollmacht“, die Exusiai.[1]
Und so wie der eine Mensch das Wesen eines geliebten anderen Menschen „in sich tragen“ kann, so kann auch ein Engelwesen – dem das Ideal der Selbstlosigkeit entspricht – in und mit einem Menschen leben, mit ihm kommunizieren und ihm dadurch von seiner Kraft geben. Wenn Wesen sich verbinden, werden neue Kräfte verfügbar. Umgekehrt kann Trennung Kraftverlust bedeuten.
Gute Taten geistiger Wesen durch Menschen
Wenn Menschen sich rund um bestimmte Ideale oder Aufgaben verbinden, bemerken sie oft nicht, dass diese Ideale und Aufgaben Ausdruck bestimmter Taten sind, die höhere geistige Wesen auf der Erde durch Menschen vollbringen – und nur durch sie vollbringen können.
Das Beseligende, das uns ergreifen kann, wenn etwas Gutes gelingt, die Freude am Tun des Guten, ist nie nur persönliches Erleben, sondern immer auch auf die Anteilnahme und Anwesenheit der Engelwesen unter uns zurückzuführen, die uns an ihrer Freude teilhaben lassen. Wohingegen sie uns keine Kraft geben können, wenn wir nichts erstreben oder tun, was mit ihnen in Beziehung steht.
Hinter dem Ideal, uns zur Selbständigkeit zu entwickeln, verbirgt sich z.B. das Wesen des Engels, der uns durch das Leben begleitet, auch Schutzengel genannt. Er möchte in unseren Gedanken Führer und Helfer sein, damit wir die richtigen Ziele für unsere nächsten Entwicklungsschritte finden. Sein Wesen ist reinste Selbstlosigkeit, da er beim Begleiten „seines“ Menschen nichts für sich will. Wir arbeiten mit Engelkräften und dem Beistand der Engel, wenn Taten der Selbstlosigkeit gelingen.
Ideale als gedankliche Ausdrucksform von höheren Wesen
Jedem Gedanken in der Welt entspricht eine Wirklichkeit. Nichts in der sinnlich wahrnehmbaren Welt entspricht jedoch den Idealen, da sie ja noch nicht Wirklichkeit geworden sind. Ideale beziehen sich vielmehr auf übersinnliche, schöpferische Wesen, die diese idealen Eigenschaften haben, sie spirituell verkörpern und die uns Menschen damit begaben können, wenn wir es wollen. So sind Ideale die gedankliche Ausdrucksform von höheren Wesen, deren Eigenschaften wir mit der Zeit kennenlernen können, wenn wir nach ihnen streben. Und so wie Menschen, die sich lieben, einander Kraft geben können, so können wir auch aus der Verbindung mit höheren Wesen Kraft schöpfen, wenn wir sie durch das Ideal, das ihr Wesen kennzeichnet, lieben und verehren lernen und sie in unseren Gedanken „tragen“ und „leben lassen“. Dann sind wir von guten Geistern begleitet und nicht „von allen guten Geistern verlassen“.
Darin gründet auch der Sinn der kirchlichen Sakramente mit ihren idealistischen Formulierungen. So sucht man z.B. in der kirchlichen Trauung den göttlichen Beistand für die Lebensgemeinsamkeit. Das lässt sich in dem Maß realisieren, in dem man in der Lage ist, die göttlichen Qualitäten zur Richtschnur für das gemeinsame Leben zu machen.[2]
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
[1] Vgl. H.-W. Schröder, Mensch und Engel. Stuttgart 1979.
[2] Vgl. J. Lenz, Lebensgemeinschaft und Trauung – Das Sakrament der Ehe, Stuttgart 1985.
IDEALE ALS LEITSTERNE
Wie lassen sich Ideale konstruktiv und entwicklungsfördernd einsetzen?
Wie lassen sich ein Ziel und der Weg dahin als einander bedingend und gleichwertig erleben?
Wann wirken Ideale konstruktiv, wann destruktiv?
Ziel und Weg nicht gegeneinander ausspielen
Es gibt Menschen, die sagen, der Weg wäre das Ziel, man solle nicht zielorientiert leben. Das ist aber total abstrakt gedacht, ist ohne Bezug zur Wirklichkeit. Ich muss das Ziel kennen, denn erst dann kann ich meine Kräfte entsprechend anspannen. Nur weil man „Zielwissen“, also Ideale, missbrauchen kann, sollte man nicht darauf verzichten, Ideale zu haben. Eine therapeutische, pädagogische oder sonstige entwicklungsförderliche Methode sollte nie aus dem Wunsch, Missbrauch zu verhindern, abgeleitet werden, sondern aus einem positiven Blick.
Kinder zu lehren, zielorientiert ihren Weg zu gehen, hat laut Rudolf Steiner folgende Voraussetzungen:
- Die Lehrer sollten einerseits genau wissen, worauf sie hinauswollten, und entsprechend gut vorbereitet in den Unterricht gehen. Das heißt, sie sollten klare Lernziele haben.
- Andererseits sollten sie im Unterricht alles zur Disposition stellen und ihn als reinen Prozess gestalten.
Auf diese Weise erreichen sie das Unterrichtsziel oft schneller. Oder aber sie machen einen lehrreichen Umweg zum Ziel. Ziel und Weg gegeneinander auszuspielen, halte ich schlichtweg für dumm, für einen Ausdruck intellektueller Hypertrophie.
Ideale als Leitsterne versus erdgebundener Fanatismus
Eine Idee konkret umzusetzen zu versuchen, ist hoch spirituell. Denn wenn es einem zum Beispiel gelingt, in einem bestimmten Bereich ein Ideal zu fassen und im Lichte dieses Ideals, gleichsam erwärmt von der Sonne des Zukünftigen, ganz banale kleine Schritte zu gehen, wird man eine Lebensgrundzufriedenheit in der Seele aufbauen können, die sich nur im Licht dieses Ideals, im Sinne eines erstrebenswerten Zieles, erwerben lässt – selbst wenn man es nie ganz erreichen kann.
Man muss aber zwei unterschiedliche Arten, mit Idealen umzugehen, unterscheiden:
- Ideale am Himmel sind gut – als Sterne, die uns leiten und still unseren Weg beleuchten.
- Ideale, die im Fanatismus lautstark „auf die Erde heruntergezwungen werden“, sind eine satanische Verkehrung, die Hass erzeugt.
Diese Art Ideale beruhen auf einem Komplott zwischen Luzifer und Ahriman. Luzifer lässt das Ego in seiner Arroganz glauben, dass es alles weiß, und Ahriman versucht, alles im Weg Stehende auszuschalten, erfüllt von Zerstörungswut.
Verdrehte Ideale sind der Konfliktstoff, aus dem Traumata gemacht sind. Umso mehr ist es Aufgabe der Therapeuten, hier Ordnung zu schaffen, indem sie sich selbst darüber im Klaren sind, was oben und was unten angesiedelt ist und aus welchem Stoff Träume, Katastrophen und Traumata gemacht sind. Erst dann begreifen sie, was sich beim traumatisierten Menschen wirklich abspielt.
Friedensfähigkeit erwerben
Um den Bogen zu schlagen zu Steiners Feststellung „Der Mensch ist ein unzufriedenes Wesen“:[1] Wir sind als Menschen unserem Wesen nach Idealisten und deshalb sind wir unzufrieden. Sinn des Schulungsweges ist es jedoch, uns friedensfähig zu machen, indem wir lernen, mithilfe der Ideale am Himmel den Erdenweg zu meistern.
- Innerer Frieden entsteht dadurch, dass man Vollkommenheit im Sinne innerer Ganzheit anstrebt. Dafür braucht man zukunftsweisende Ideale. Sie zu erstreben, stimmt bereits friedlich.
- Umgekehrt kann man aber auch sagen: Jeder Zustand von Friedlosigkeit kommt von der verführenden Dominanz eines Ideals.
Die eigene Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit zeigt an, in welchem Maß man Ideale weise nützt bzw. gegen sich wendet, also missbraucht.
Als Therapeuten müssen wir Frieden ausstrahlen, brauchen wir eine Kultur des Friedens, um die stresskranken Menschen, die zu uns kommen, überhaupt auf dem Weg zu innerer Ruhe und Frieden begleiten zu können.
Vgl. Ausführungen aus Seminargruppe 5 an der Kunsttherapietagung 2010, Dornach
[1] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4, S. 27.
KONSTRUKTIVER UMGANG MIT IDEALEN
Wie können Ideale zu mehr Zufriedenheit verhelfen?
Wie kann man in diesem Sinne konstruktiv mit ihnen umgehen?
Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit
In Gesprächen mit Drogenabhängigen, insbesondere aber auch mit Alkoholikern, kann man erleben, dass gerade diese Menschen ausgesprochene Idealisten sind. Nur sind ihre Ideale so perfekt, so strahlend, dass die Wirklichkeit demgegenüber kümmerlich wirkt und sie das nicht ertragen. Sie leiden an der Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen der Welt, in der sie leben, und der Welt, die sie sich wünschen. Der eigentliche Grund für ihre tiefe Lebensunzufriedenheit und den Zweifel am Sinn ihrer Existenz ist die Tatsache, dass diese Kluft nicht zu überbrücken ist. Ihr Drogen- und Alkoholkonsum soll ihnen darüber hinweghelfen. Die Frage ist jedoch, wie ihnen nachhaltig geholfen werden könnte.
Es gibt ein lesenswertes Buch von Wolfgang Schmidbauer.[1] Der Autor beschreibt die enorme Destruktivität von Idealen, wenn jemand sich so mit ihnen identifiziert, dass er meint, erfüllen zu müssen, was er als Ideal vor sich sieht. Könnte man Ideale im Handumdrehen verwirklichen, wären es aber keine Ideale.
Rudolf Steiner schließt sein durch und durch idealistisches Buch „Die Philosophie der Freiheit“ mit dem bemerkenswerten Satz ab: „Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können, sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“[2] Ideale dienen dem Werden und nicht dem zwanghaften Wunsch nach „Sein“, nach Können, nach der Verwirklichung im Hier und Jetzt. Das zu verstehen ist geradezu entscheidend, um das notwendige Maß an Zufriedenheit mit dem So-Sein aufbringen zu können.
Sich als werdender Mensch begreifen
Solange ich nicht lerne, mit der Kluft zwischen meinem Ist-Zustand und meinen zukünftigen Möglichkeiten zurechtzukommen, kann ich keine Lebenszufriedenheit empfinden. Wenn es mir nicht gelingt, mich mit den Idealvorstellungen von Mensch und Welt so zu verbinden, dass ich in ihnen Impulse für die Entwicklung sehe, werden sie mich knechten und nicht nur unzufrieden, sondern auch unfrei machen.
Gelingt es aber, sich mit der Tatsache zu identifizieren, dass man ein Werdender ist, dass man lernen darf, dass man Zeit hat und in Entwicklung begriffen ist –, kann Zufriedenheit und Humor die Seele friedlich und fröhlich stimmen. Jetzt kann man so viel an sich und den Lebensverhältnissen arbeiten, wie man wirklich möchte. Dabei ist es hilfreich, in den täglichen Belastungen und Herausforderungen die jeweils anstehende Aufgabe zu sehen. Es geht darum, im Üben und Umgehen-Lernen mit uns selbst in einen Werde-Prozess zu kommen. Man erlebt sich in einer großen evolutiven Perspektive und verspürt zunehmend Dankbarkeit darüber, dass das so ist, dass man im Werden begriffen ist und die eigene Entwicklung in die Hand nehmen kann.
Ideale als Wegweiser erkennen
Menschen ohne Ideale sind schwer vorstellbar. Zumindest im Verborgenen spürt jeder, dass er Ziele und Möglichkeiten in sich trägt, die er ersehnt, die er aber nicht recht formulieren kann oder an deren Verwirklichung er zweifelt, wo er resigniert hat. Durch Selbsterziehung und die Art, wie wir miteinander umgehen, können wir Menschen bei dieser Selbstfindung helfen und so an der Überwindung der allgegenwärtigen Unzufriedenheit mitarbeiten.
Um Zufriedenheit zu erwerben, müssen wir lernen, das Ideal menschlichen Werdens in einen Weg umzuwandeln, in konkrete Schritte, die uns täglich das Gefühl geben, dem Ideal wieder etwas nähergekommen zu sein. Es gibt viele persönliche und sachliche Gründe, um mit diesem oder jenem im Außen unzufrieden zu sein, – deshalb müssen wir die Quelle der Zufriedenheit in uns selbst suchen. Dann wird es uns auch gelingen, den Aufgaben, die das Leben uns stellt, so zu begegnen, dass unsere Arbeit friedenstiftend und hilfreich wirkt. Ein menschliches Verhältnis zu seinem Lebensideal aufzubauen bedeutet, dass man es aushält, ihm noch nicht zu entsprechen, dass man sich aber dennoch genügend anstrengt, es zu erreichen.
Individueller Umgang mit Idealen
Die Ideale, nach denen wir uns richten, können sehr unterschiedlich sein. Deshalb muss jeder seinen eigenen Weg suchen und das für ihn passende und erstrebenswerte Ideal für seine Entwicklung finden. Für viele Menschen sind Erfolg, Reichtum, privates Glück, Anerkennung von Kollegen und der Gesellschaft die erstrebenswertesten Ideale der Selbstverwirklichung.
Man kann im Laufe des Lebens feststellen, dass Ideale und Lebensinhalte sich wandeln und eine Vertiefung finden. Auch können kleine Ideale soweit verwirklicht werden, dass sie zu leuchten aufhören: Ihre Substanz, ihr Potential, ist dann „ausgeschöpft“.[3] Jeder Mensch, auch derjenige, der zunächst in äußeren, materiellen Gütern sein Lebensideal sieht, wie dies z.B. bei Tolstoi der Fall war, hat Sehnsucht nach mehr Menschlichkeit, nach Werten, die unvergänglich und nicht nur für das Leben auf der Erde sinnvoll sind.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 3. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
[1] Wolfgang Schmidbauer, Alles oder Nichts, Reinbeck 1980.
[2] Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, GA. 4.
[3] Die Biographie Tolstois stellt ein bedeutendes, literatur- und geistesgeschichtlich folgenreiches Beispiel für einen solchen Wechsel von Idealen dar. Der metaphorische Bezug zu Licht und Finsternis kommt in diesem Zusammenhang besonders deutlich in dem Titel desjenigen Dramas von Tolstoi zum Ausdruck, in dem er autobiographisch diesen Umschwung dargestellt hat: „Und das Licht scheint in die Finsternis“.
WAHRHEIT UND WESENSGLIEDER
In welchem Bezug steht Wahrheit zu unseren Wesensgliedern?
Gibt es eine Erziehung zur Wahrhaftigkeit?
Ist die Wahrheit ein Wesen?
Spezifischer Bezug der Wahrheit zu den Wesensgliedern
Ich sollte als junge Kinderärztin vor Jahren einen Vortrag über Lüge und Wahrheit halten und darüber, wie man Kinder zur Wahrheit erziehen kann. Damals habe ich viel darüber nachgedacht, ob das überhaupt möglich ist. Als ich mich fragte, in welchem der Wesensglieder des Menschen die Wahrheit zuhause ist, wurde mir klar, dass die Wahrheit auf allen fünf Seins-Ebenen des Menschen lebt, nur in unterschiedlicher Art und Weise. Es gehört zu den größten Aha-Erlebnissen auf meinem eigenen Entwicklungsweg, als mir das bewusstwurde.
· Wahrheit im Physischen
Auf dieser Ebene geht es um Fakten und sinnliche Tatsachen. Es ist eine Tatsache, dass ich heute diese Bluse anhabe. Niemand kann behaupten, ich hätte eine andere an. Und ihr sitzt alle hier und hört mir zu, auch das ist ein Fakt.
Erziehung zur Wahrhaftigkeit kann durch Sinnespflege und Sinnesandacht, durch präzise Sinneswahrnehmung im Physischen erfolgen.
· Wahrheit auf der ätherischen Ebene
Auch im Ätherischen drückt sich die Wahrheit durch Gedankenstimmigkeit in logischen Gesetzen, Beweisen und folgerichtiger Logik aus. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Addition von zwei und zwei vier ergibt.
Erziehung zur Wahrhaftigkeit im Ätherischen erfolgt durch Gedankenklarheit und folgerichtiges Denken. Das kann und muss geübt werden und ist ein wesentlicher Bestandteil der Waldorfpädagogik.
· Wahrheit auf der astralischen Ebene
Lessing formulierte in seiner „Erziehung des Menschengeschlechtes“: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit hätte, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, ohne sie je zu haben, und würde mich fragen: Was willst du?“ Daraufhin antwortet Lessing: „Ich fiele Gott mit Demut in seine Linke und sagte: „Vater gib! Die reine Wahrheit ist doch nur für dich allein.“
Lessing hat natürlich tief wahr gesprochen, denn es geht hier um die astrale Ebene: Seelisch sind wir immer in Entwicklung. Auf dieser Ebene ist keine allgemein gültige Wahrheit zu finden. Wir können noch so begeistert sein darüber, wie „herrlich weit“ wir es gebracht haben, um Goethes Ausdruck zu gebrauchen, die nächste Herausforderung, die uns wieder an den Anfang stellt, kommt mit Sicherheit! Wenn ihr z.B. heute denkt, ihr hättet irgendetwas aus der Anthroposophie verstanden, kann ich euch versprechen, dass wenn ihr in 10 Jahren an heute zurückdenkt, ihr milde lächeln werdet und denken: „Wie wenig habe ich damals gewusst im Vergleich zu dem, was ich heute weiß!“ Wir nennen das Entwicklung. Ein anderes Beispiel: Wenn wir mit Dreißig in ein Buch schauen, in dem wir mit fünfzehn Jahren bestimmte Stellen angestrichen und mit unserer Kinderschrift etwas daneben geschrieben haben, sind wir ganz gerührt. Im Astralischen ist die Wahrheit etwas, das sich entwickelt. Man „hat“ sie nie als etwas Gesichertes und Unveränderliches.
Viele ertragen die Vorstellung, sich ständig weiterentwickeln zu müssen, nicht und wollen deshalb die Verantwortung für die eigene Entwicklung nicht übernehmen. Sie wollen sie delegieren aus der Ohnmacht heraus, nie wirklich der zu sein, der man ist. So wie Papageno, der sagte: Ich bleibe ledig! Heiraten ist viel zu kompliziert, mach‘ ich nicht! Ich entwickle mich nicht. Das ist heute eine tief empfundene Seelenstimmung.
Deswegen ist es aber so wichtig, dass man Kinder zur Genauigkeit in der Sinnesanschauung und zur Folgerichtigkeit im Denken erzieht, damit sie die Unsicherheit und Veränderlichkeit der Entwicklung aushalten können. Durch genaues Beobachten und Nachdenken kann man sich halten, wenn das Entwicklungsschiff schwankt. Das sind zwei richtig gute Krücken, mit denen einem nichts passieren kann.
· Wahrheit auf der Ich-Ebene
Auf der Ich-Ebene winkt dann die Erlösung: Das Ich empfängt Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist. Ein Mensch ist umso wesentlicher, umso mehr er selbst, je mehr er oder sie sich identifiziert mit den großen Absichten, Zielen und Idealen seines Daseins.
Man kann das Zukünftige des Menschen in den drei christlichen Kernidealen zusammenfassen:
- in dem Erkenntnisideal der Wahrheit
- in dem Gefühlsideal der Liebe
- in dem Willensideal der Autonomie, der Freiheit
Erst damit verbunden sind wir ganz Mensch, können wir zu uns „Ich“ sagen. Vorher wissen wir gar nicht, zu wem wir „Ich“ sagen: Mit der unvollkommenen Person, die ich im Moment gerade bin, kann ich mich nicht zur Gänze identifizieren. Mit ihr bin ich viel zu unzufrieden, bin mir all dessen bewusst, was ich noch bin und nicht mehr sein will.
Dieses Seelenchaos als Parameter der Entwicklung muss ausbalanciert werden durch bewusste geistige Identitätsbildung und Erziehung an der Sinneswelt, durch Beobachten und Denken. Nur so ist die lebenslange Unzulänglichkeit auszuhalten.
· Wahrheit als spirituelle Orientierung
Der Anthroposophische Weg beleuchtet uns das Menschenwesen in einer Art und Weise, dass wir uns für unsere eigene Entwicklung daran orientieren können. Wir sprechen deshalb auch vom Initiationsweg: Jeder Mensch, der sich ein Leben lang wirklich für die Wahrheit interessiert, der sich in Wahrhaftigkeit übt, während er sich entwickelt, wird immer wahrhaftiger werden – das lässt sich gar nicht verhindern. Menschen spüren, dass ein wahrhaftiger, ehrlicher Mensch sich nicht beherrschen lässt, dass er nicht verführt werden kann, weil er nicht korrumpierbar ist. So jemand ist kein guter Untertan und das erscheint manchen Autoritäten unheimlich.
Was ist daran unheimlich?
Es ist die Begegnung mit der Wahrheit, die in diesem Menschen lebt und durch ihn zum Ausdruck kommt. Dieses Gefühl des Unheimlichen tritt immer auf und ist völlig legitim, wenn wir der Wahrheit ins Auge schauen. Wenn wir gut darauf vorbereitet sind, lieben wir die Wahrheit, dann ist sie uns nicht mehr unheimlich. Denn die Wahrheit selbst ist ein Wesen. Wenn ein Mensch wahrhaftig ist, ist das Bestandteil seines Wesens. So kann der Christus sagen: „Ich bin die Wahrheit.“ Er ist unter uns, wenn wir keine Angst vor der Wahrheit haben. Doch die Wahrheit selbst ist etwas Unsichtbares. Sie ist etwas Geistiges, eine geistige Entität, ein Wesen.
Grundsätzlich gilt, dass Gedanken nicht nur Gedanken, sondern Engelsboten von Wesen sind. Wenn wir uns ernsthaft mit so einem Wesen verbinden, kann es uns beschenken, uns Kraft geben und uns auf unserem eigenen Entwicklungsweg ein Stück weit zu unserem eigenen Wesen verhelfen. Gedanken sind nicht bloß Kräfte, die ich anspannen kann auf ein Ziel hin, sondern sie sind die Baumeister meines Wesens, sie sind selbst Wesen. Und ich bin auch ein Wesen unter Wesen. Und so wie ich mit lieben Menschen im Wesensaustausch bin, so bin ich auch mit diesen höheren Wesen, mit meiner geistigen Führung, im Wesensaustausch. Die geistige Welt ist real. Und jeder Gedanke ist ein Engelsbote, eine Botschaft.
Die Scheu vor dem Geistigen ist sehr menschlich. Aber der Sinn des inneren Initiationsweges ist, dass wir diese Scheu vor der Wahrheit überwinden und wir uns dadurch selbst mehr mit unserem eigenen Wesen identifizieren können, dass wir mehr wir selbst werden und dadurch auch die Welt besser in ihrem Wesen erkennen können.
Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010
IDEALISMUS ALS SPIRITUELLE GEBURT
Wie hängen die spirituelle Geburt und Idealismus zusammen?
Inwiefern ist Idealismus Ausdruck lebendigen Denkens?
Wesen und Geist als etwas real Geistiges
Jemand sagte einmal zu mir: „Ich bin katholisch. Und was ich überhaupt nicht gut finde, ist das Reden der Anthroposophen von ‚Wesen‘, von ‚Geist‘, von ‚Geistern‘. Das ist mir unheimlich.“ Das klingt nur gefährlich, wenn nicht geklärt ist, ob jemand, wenn er vom Geiste redet, ein Gespenst meint oder etwas real Geistiges. Ich überlegte mir also, was ich darauf antworten könnte. Denn Gott ist ein Wesen, Maria ist eines, das Jesuskind ist eines, Christus ebenfalls und wir alle doch auch. Dass jemand diese Sichtweise unheimlich findet, hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir Anthroposophen selbst eine Blume und den Merkur als Wesen ansehen. Die Anthroposophie meint aber niemals etwas Gespenstisches, sondern etwas real Geistiges, Wesenhaftes, mit dem man sich in höchster geistiger Liebe verbinden kann.
Idealismus ist ein Weg, sich mit etwas Geistigem zu verbinden – ist aber im Grunde eine Denkart. Mehr noch: Idealismus enthüllt uns die wahre Natur des Denkens, denn nur in dieser Form und Ausprägung führt das Denken zur Wesensveränderung. Durch den Idealismus wirkt die Ich-Fähigkeit im reinen Denken. Das kann damit beginnen, dass man über eine Vorstellung von etwas Schönem und Erstrebenswertem meditiert, bis man die Idee dahinter erkennt. Diese kann dann zum Ideal erhoben werden, indem man sagt: „Das will ich verwirklichen!“ Das wirkt sich dann auf die ganze Existenz aus.
Idealismus als Entdeckung des Ich im Denken
Erst wenn ich beginne, eine Idee umzusetzen, wird sie zu meinem persönlichen Ideal. Ich benütze mein eigenes Wesen, um einen Gedanken zu realisieren, und so wird der Gedanke Teil von mir und ich werde zum lebendigen Ausdruck dieses Gedankens. Ein Ideal greift nur, wenn ich es umsetze, weil ich erkenne, dass ein Gedanke eine geistige Realität ist, wie ich selbst auch eine geistige Realität bin. Das ist, was man „spirituelle Geburt“ nennt. Im Evangelium heißt es, dass wir „wiedergeboren“ werden müssen aus Wasser und Geist – aus den Lebenskräften bzw. den Kräften des Ätherischen in seinen beiden Ausprägungen:
- leibgebunden als Wachstums- bzw. Regenerationskraft (Wasser)
- und leibfrei als Denken (Geist).
Idealismus ist deshalb viel mehr als eine „bürgerliche Weltauffassung“, ist nicht nur eine historische Epoche der Goethezeit, sondern ist die Epoche, in der die Menschen ihr Ich im Denken zum ersten Mal entdeckten. Das ist ein Menschheitsfortschritt, der nicht verloren-gehen darf. Wir sollten alle dazu beitragen, dass jeder an dieser Errungenschaft teilhaben kann, dass wir sie nicht verlieren, während wir als Menschheit neuen zukünftigen Errungenschaften entgegengehen.
Vgl. Zusammenfassung von Ausführungen in der Arbeitsgruppe an der JK Sept. 2007
JUGEND UND IDEALE
Was ist die Aufgabe der Jugend in einer Welt, in der Ideale nur noch wenig gelten?
Welche Bedeutung haben Ideale für Jugendliche?
Aufgabe der Jugend
Der Verlust von Idealen ist nicht nur ein biologisches Problem. Denn die Werte gehen auch den Alten verloren, nicht nur den Jungen. Sich für Werte zu begeistern, ist ein Ausdruck, ein Zeichen von Jung-Sein, bedeutet Jung-Sein. Es gibt junge Leute, die uralt sind, die eine unglaublich kritische Haltung und große Ansprüche an die Welt haben, aber keine Ideale. Im Gegensatz dazu gibt es ältere Menschen, die große Ideale haben, was ihnen eine junge Ausstrahlung verleiht. Ideale und Werte zu haben macht jung.
Die Aufgabe der Jugend in einer Zeit ohne Werte besteht darin, wirklich jung zu werden, wirklich jung zu sein. Sich für Werte zu entscheiden, neue Werte zu schaffen, neue Wertmaßstäbe zu setzen. Es gehört zum Initiationsweg, dass man sich für ein Ideal, wie z.B. die Freiheit, entscheidet. Die drei christlichen Ideale, Ehrlichkeit, liebevolles Interesse und Autonomie oder Freiheit, sind die schönsten menschlichen Werte, die es gibt. Wenn man sich dafür begeistern kann, ist man jung und bleibt auch das ganze Leben lang jung. Jünger kann man gar nicht werden.
Jeder auf seine Art
Es liegt aber am einzelnen Individuum, wie man diese Begeisterung lebt: Jeder muss das auf seine Art machen. Werte wollen auf ganz individuelle Art und Weise ins Leben integriert werden. Deswegen ist jeder junge Mensch anders, aber auch jede Generation.
Ich bin im Grunde sehr froh darüber, dass die alten Wertesysteme kaputtgehen, weil das ein Signal dafür ist, dass das Zeitalter des Individualismus angebrochen ist. Die Werte, die derzeit verloren gehen, sind kollektive Werte. Individuell gesetzte Werte können nicht verloren gehen. Die Werte, die kollektiv sterben, müssen individuell auferstehen. Das verstehen junge Leute am besten. Es ist die Aufgabe der Jugend, den Alten etwas darüber zu erzählen. So gesehen ist es überhaupt nicht schlimm, dass Ideale sterben: Wir lassen sie neu erstehen, diesmal jedoch nicht angepasst an die Auffassung der Gesellschaft, sondern so, wie jeder sie selbst versteht.
Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010 im Gespräch mit jungen Menschen
DIE WIRKLICHKEIT ERSCHAFFENDE KRAFT VON IDEALEN
Wie lassen Ideale sich verwirklichen?
Welchen Schritten folgt dieser Verwirklichungsprozess?
Was gilt es dabei zu beachten?
Sieben Schritte der Verwirklichung
Ich möchte hier die sieben Schritte bis hin zur Verwirklichung eines Ideals anhand des Ideals der „Eigenverantwortlichkeit“ systematisch durchdeklinieren.
1. Schritt – Aufnehmen des Ideals in die eigene Seele
Wenn wir eine Idee für gut befinden und wir sie ernst genug nehmen, um uns näher damit befassen zu wollen, wird sie für uns bereits zu einem Ideal, dann gehen wir bereits eine Art Verbindlichkeit gegenüber diesem Ideal ein. Konkret könnte das so aussehen, dass wir vier Wochen lang täglich dreimal daran denken bzw. darüber nachdenken – ohne Aggressionen zu entwickeln gegenüber denjenigen, die dieser Idee nicht anhängen und auch ohne darüber zu klagen, dass sie es nicht tun. Wir werden sehr bald feststellen, dass das gar nicht einfach ist. Ideale sind etwas Kostbares, Reines – und sie sind dem Unreinen oft ein Dorn im Auge. Auch die Schatten in uns selbst geraten in Aufruhr angesichts dieser Sphäre. Schiller sagte: „Es liebt die Welt Strahlendes zu schwärzen.“
Es ist gut, wenn wir dieses Problem erkennen und es trotzdem schaffen, das neue Ideal in die Seele aufzunehmen. Man sollte durch allen – bedingt durch die eigenen Schatten – aufkommenden Ärger hindurch solange mit dem Ideal umgehen, bis man sich wieder daran erfreuen und es anlächeln kann wie einen Freund.
2. Schritt – Integrieren des Ideals ins normale Leben
An diesem Punkt müssen wir uns überlegen, wie wir unser Leben ändern müssen, damit wir dem Ideal im eigenen Leben gerecht werden. Der Umgang mit einem Ideal muss gepflegt und ganz bewusst geübt werden. Gelingt uns die Integration, hat sich unser Leben bereits verändert. Das bemerken dann nicht nur wir selbst, sondern auch andere. Man fragt uns vielleicht: „Wer ist dein neuer Coach?“
3. Schritt – Das Ideal wird zur Kraftquelle
In diesem Stadium bemerken wir, dass das Ideal in uns eine weitere Fähigkeit erschließt: das innere Hören. Wir sind zu einem Lauschenden, sind „inspirationsfähig“ geworden. Indem wir uns selbst zu führen beginnen, schöpfen wir zunehmend aus der eigenen Aufrichtekraft (Vertikale). Sie wird uns zum ideellen Wanderstab, zu einer Quelle der Inspiration, aus der wir Kraft und Selbstsicherheit beziehen können.
4. Schritt – Willen zur Konsequenz entwickeln
Je mehr wir den vertikalen Anschluss spüren, desto stärker bemerken wir auch Abweichungen vom Ideal in unserem Umfeld, aber auch in uns selbst. Das tut weh. Sich mit einem Ideal zu verbinden ist, als würde man selbst ins Licht treten und auch das ganze Umfeld neu beleuchten – die Schatten erscheinen dann schwärzer.
Jetzt brauchen wir den Willen zur Konsequenz, indem wir genau abwägen, ob wir wirklich weiterhin alles tun wollen, was bisher zu unserem Leben gehörte. Jetzt ist es an der Zeit, Dinge zu lassen, die uns in unserer Eigenverantwortlichkeit schwächen, z.B. Alkohol und andere schwächende Gewohnheiten. Wir müssen uns mit den Schatten in uns selbst befassen, müssen entdecken, wo wir immer noch unsere Verantwortung auf andere abwälzen wollen und so die Eigenverantwortlichkeit meiden. Wir brauchen genug Zeit für die Umsetzung dieses Schrittes, brauchen einen bewussteren Umgang mit unseren Gewohnheiten. Vielleicht gilt es auch Konsequenzen im eigenen Leben zu ziehen, indem man gewisse Produkte nicht mehr kauft, die Bank wechselt, etc.
Der „schlafende Riese“, wie wir Konsumenten auch genannt werden, ist dabei zur Eigenverantwortlichkeit zu erwachen. Wenn alle Welt schon dazu erwacht wäre, würde unsere Gesellschaft mitsamt dem Gesundheitswesen anders aussehen! Unsere heutige Gesellschaft lebt vom andauernden Schlaf des Riesen – er soll bloß nicht aufwachen und nachzudenken beginnen! Deshalb versucht man ihn in Albträumen gefangen zu halten…
5. Schritt – Entwicklung neuer Lebensformen anhand des Ideals
Wer selbst zur Eigenverantwortlichkeit erwacht ist, wird auch die Erziehung zur Selbstverantwortung in Familie, Schule, Arbeitsplatz, in der ganzen Gesellschaft fördern. Hier handelt es sich um eine Art Stabilisierungsphase von neuen Entwicklungen und neuen Lebensformen: Ich weiß, was ich will und verstärke gesellschaftliche Trends im Sinne meines Ideals.
6. Schritt – Entwicklung neuer Gesellschaftsformen
In dieser Phase erleben wir, dass unser Einfluss auf unser Umfeld gewachsen ist und wir an weit über uns hinausgehenden Entwicklungen beteiligt sind und Verantwortung dafür übernehmen. Wir beeinflussen jetzt die Verhältnisse in einem viel größeren gesellschaftlichen Rahmen – oft auch ohne selbst im Rampenlicht zu stehen.
7. Schritt – Zukunftsfähigkeit durch Erneuerung mithilfe des Ideals
Die Herausforderung dieser letzten Phase besteht darin zu erkennen, dass eine Initiative, ein Unternehmen, eine Gemeinschaft oder Gesellschaft nur zukunftsfähig sind, wenn sie erneuerungsfähig bleiben. Mit der Einsicht in die Notwendigkeit der Erneuerung beginnt dann eine neue Runde.
Anhand dieser kurzen Ausführungen wird erkennbar, dass Ideale unser Bewusstsein sukzessive erweitern und dass sie zuerst in uns wirken und dann um uns. Spätestens ab dem 4. Schritt, ab dem unser Engagement für ein Ideal in der Gesellschaft wirksam wird, bekommen wir es möglicherweise mit der Angst zu tun. Ab dem Punkt greift man sichtbar in die Geschichte ein. Doch Mut und Angst flankieren den Menschen lebenslang auf seinem Weg der Verwirklichung seiner Ideale.
Vgl. Nachschrift des Vortrags „In sieben Schritten aus der Krise – der Weg vom Ideal zur Wirklichkeit“, gehalten am 16.10.2009 in Pforzheim
IDEALE, FÜHRUNG UND ZUSAMMENARBEIT
Wie wirken sich Ideale auf unser Leben aus?
Wofür sind sie nicht gedacht?
Welche Aufgabe hat das Leitbild einer Institution?
Wie lassen sich die Ideale einer Institution verwirklichen?
Welche Rolle spielt dabei der Einzelne, welche die Institution?
Richtungweisende Instanz für uns selbst
Die Ideale einer Institution nennt man heute „Leitbild“. Es sollte möglichst einfach formuliert sein und im Hinblick auf die christliche Orientierung so zugänglich, dass jeder Mensch, der hier arbeitet, seinen ganz persönlichen Bezug dazu herstellen kann. Je nach Funktionsbereichen und Verantwortlichkeiten sollten Wege und Bedingungen gefunden werden für Momente der Reflexion, für Einzelne und im Miteinander.
Wir dürfen Ideale nicht dazu missbrauchen, andere zu verurteilen oder etwas von ihnen einzufordern. Wir müssen das Ideal als richtungweisende Instanz in uns selbst begreifen lernen, die uns aus der geistigen Welt begnadet. Dazu gehört anzuerkennen, dass in einem Betrieb oder einer Institution zwar hohe Ideale angestrebt werden können, dass das aber noch lange nicht bedeutet, dass sie bereits beherrscht und umgesetzt werden. Wir gleichen uns alle in der Hinsicht, dass wir noch längst nicht errungen haben, was uns als ideal erscheint.
Humorvoller Umgang mit Idealen
Ideale sollten wie Sterne am Himmel angesehen werden, wie Boten, wie Wesenhaftes aus der geistigen Welt. Sie haben Führungskompetenzen, die auf Erden wirksam werden, wenn sich Menschengemeinschaften auf individuelle Art zu ihren Idealen emporarbeiten und sich davon stärken, begnaden und inspirieren lassen. Dabei entsteht eine Art spirituelle Brüderlichkeit, bei der es nicht darauf ankommt, ob jemand Anfänger ist oder fortgeschritten, ob jemand gerade einen großen Fehler begangen hat oder das Glück hatte, drei Jahre lang keinen nach außen hin sichtbaren Fehler zu machen. Man schafft es miteinander, leise schmunzelnd …
Wer sich auf das Ideal besinnt, kann wieder lächeln. Es gibt das chinesische Lächeln des Friedens. Das christliche Lächeln hingegen ist das humorvolle Schmunzeln, das weiß, dass der Weg noch weit ist, aber das Ziel schon zu sehen ist und sich in jedem Augenblick ein kleines bisschen realisieren lässt. Dieser wundervolle Widerspruch kann humorvoll stimmen, bringt Leichtigkeit ins Leben – dann habe ich im Kleinen, was ich im Großen suche.
Bedingungen schaffen für Entwicklungsprozesse
Damit aber nicht genug: Wenn ich das Gute nur denke, frustriert es mich irgendwann. Ich will mich davon auch begeistern lassen, will daran arbeiten, bis ich die Kraft finde für neue Schritte im Schaffen von neuen Bedingungen für Entwicklungsprozesse. Kreative Erneuerungsprozesse sollten nicht nur als Reaktion auf ungute Umstände wie die Finanzkrise stattfinden, sondern sollten direkt der Liebe zum Guten entspringen. Dann mobilisieren sie neue Kräfte und helfen uns, uns über kleine Fortschritte zu freuen. Man kann persönlich stolz darauf sein, wenn kleine Veränderungsprozesse stattfinden und man weiß, man hat selbst etwas dazu beigetragen, es ging nicht von der sogenannten Leitung aus.
Wahre Führung, von der entwicklungsfreundliche Impulse ausgehen, kommt aus der geistigen Welt in Form der Ideale, von denen das Haus sich leiten lässt. Dem gegenüber ist die Funktion, die „Machtbefugnis“, die die einzelnen Mitarbeiter haben, von untergeordneter Bedeutung. So kann eine brüderliche bzw. horizontale Vernetzung entstehen.
Die Gewissheit, dass unser wahres Wesen sich nicht im heutigen Menschen verkörpern kann, dass dieser höhere Wesenskern aber herein leuchten, hindurch leuchten und ausstrahlen kann in dem Maß, in dem wir ihn durch unser Denken und Handeln „anziehen“, kann uns in der therapeutischen Arbeit begleiten und unserem Tun die notwendige therapeutische Ausstrahlung verleihen.
Diesen Entwicklungsschritt muss jede Institution früher oder später schaffen, wenn sie authentisch bleiben, und den Geist, der in ihr lebt, nicht verleugnen will. Nur so wird sie zukunftsfähig sein und ihre Ausstrahlung behalten.
Vgl. Festvortrag zum 40jährigen Jubiläum des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke, am 10.11.2009