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Sexualität und Pädagogik
Sexualität und Pädagogik – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
SEXUALITÄT UND IDENTITÄT
Welchen Erziehungsauftrag haben Pädagogen und Bildungseinrichtungen in Bezug auf die Sexualität?
Welche Rolle spielt Sexualität im Kontext der Entwicklung des jungen Menschen?
Ist die Sexualität Schicksalssache?
Stärkung der Ich-Kompetenz als Erziehungsziel
Für Kinder und Jugendliche ist es eine entscheidende Entwicklungsaufgabe, sich mit ihrem Körper zu identifizieren. Dabei spielen das eigene Geschlecht und die Sexualität eine wichtige Rolle. Großen Einfluss haben dabei aber auch maskuline und feminine Rollenmuster und Vorbilder im Umkreis der Jugendlichen sowie die Debatten und Auftritte in den sozialen Netzwerken und Medien.
Bevor ich näher auf die Thematik eingehe, möchte ich betonen, dass alle menschliche Entwicklung in der Ich-Kompetenz gipfelt, d.h. im Menschsein und nicht im Mann- oder Frausein. So wichtig eine gute Kohärenz mit dem eigenen Körper und Geschlecht ist, so hilfreich ist es auch, wenn dieses als Teil der menschlichen Identität angesehen wird und nicht als dominanter Bestandteil. Letztlich gilt dies ja auch für alle anderen »Erbschaften«, die man in sein Leben und seine Identität zu integrieren hat: Familienzugehörigkeit, Hautfarbe, Religion oder Atheismus, sozialer Status, Sprache, Nationalität, Begabungen, Behinderungen und vieles mehr. Lebensglück und Lebenszufriedenheit und nicht zuletzt das körperliche und seelische Gesundheitsgefühl hängen davon ab, wie frei man sich dem allen gegenüber in seinem innersten Persönlichkeitskern empfindet. Ob diese „Erbschaften“ Instrumente sind für die eigene Schicksalsgestaltung oder Faktoren, von denen man abhängig ist, mit denen man hadert oder sonst in irgendeiner Form von Zwiespalt lebt. Ziel der Waldorfpädagogik ist es, das zentral Menschliche zu stärken und die Heranwachsenden im umfassendsten Sinne bei der eigenen Identitätsbildung zu unterstützen.
Aus Sicht wiederholter Erdenleben
Wenn man den Wiederverkörperungsgedanken in die Thematik Sexualität und Identität miteinbezieht, eröffnen sich zusätzliche Perspektiven. Aus Rudolf Steiners Forschung zu Fragen der Reinkarnation geht hervor, dass normalerweise eine männliche und eine weibliche Inkarnation miteinander abwechseln. Selbstverständlich gibt es auch hier immer wieder Ausnahmen, auch was die Häufigkeit der Wiederverkörperungen anbetrifft. Grundsätzlich gilt die Regel, dass man sich dann wiederverkörpert, wenn sich die geschichtlichen Umstände so stark geändert haben, dass man wieder ganz neue Dinge lernen kann.
Der Materialismus wirkt sich jedoch so aus, dass sehr viele Menschen sich zu Lebzeiten kein Wissen über ihre geistige Identität nach dem Tod, kein „geistiges Selbstbewusstsein“ erwerben (können), weswegen sie im Nachtodlichen quasi schlafen.[1] Dadurch aber – so Steiner – entwickeln sie eine große Sehnsucht, sich baldmöglichst wiederzuverkörpern, um bei einer nächsten Inkarnation auf der Erde durch entsprechende Umstände ebendieses Geistbewusstsein zu entwickeln. In diesem Phänomen sah Steiner einen der Hauptgründe für das exponentielle Wachstum der Erdbevölkerung.[2]
Wer dagegen einen reichen Entwicklungsertrag aus seinem Erdenleben mit in die geistige Welt nimmt, kann zwischen dem Tod und einer neuen Geburt dieses Erdenleben im Zusammenwirken mit göttlich-geistigen Wesen bewusst verarbeiten. Er kann zudem auf die Lebenden, mit denen er verbunden war, inspirierend wirken und ihnen aus der geistigen Welt bei ihren Aufgaben und Tätigkeiten helfen. In solchen Fällen ist das Intervall zwischen zwei Verkörperungen wesentlich größer.
Wir können als Pädagogen nicht wissen, wie es in dieser Hinsicht um das uns anvertraute Kind bestellt ist. In der Waldorfpädagogik zählt deshalb immer nur die Frage:
Wie kann ich dem Individuum bestmöglich helfen, sich so zu finden, wie es seinem Schicksal entspricht?
Vgl. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung. Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2020
[1] Vgl. Rudolf Steiner, Vierter Vortrag, Dornach, 2. Februar 1915, in: Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung, GA 161, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1999, S. 81 f.
[2] Vgl. Rudolf Steiner, Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse, GA 209, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1982, S. 41 f.
TRANSGENDER UND ASEXUALITÄT
Wie kommt es, dass es immer mehr Transgender-kids gibt?
Vor welche Herausforderungen sind Pädagogen damit gestellt?
Wie können und sollen sie damit umgehen?
Wunsch, das Geschlecht zu wechseln
Gegenwärtig nimmt der Wunsch unter Kindern und Jugendlichen zu, das angeborene Kerngeschlecht Mädchen oder Junge infrage zu stellen und aus Lars eine Lara oder aus Leo eine Leonore machen zu wollen. Tritt dieser Wunsch bei jüngeren Kindern auf, ist es wichtig, dass die Umgebung gelassen bleibt und Elternhaus und Schule ihn wie ein Naturereignis betrachten, von dem man noch nicht weiß, wie lange es dauert oder ob es zum Normalzustand werden wird. Gelingt das, ist oft zu beobachten, dass der*die Jugendliche seine Entscheidung nach einigen Jahren wieder revidiert. Je größer die Opposition, desto stärker auch die Reaktion, unbedingt an dieser Entscheidung festzuhalten.
Im Kindergarten handelt es sich oft nur um Nachahmung. Es kann aber auch vorkommen, dass ein Kind erstaunt ist z.B. ein Junge zu sein und spontan mitteilt, dass er sich nicht so fühlt, weil er eigentlich ein Mädchen ist. Manchmal braucht das betreffende Kind dann nur Zeit, sich an den eigenen Körper zu gewöhnen. In jedem Fall ist es entscheidend, dass das Umfeld sachlich-beobachtend reagiert und nicht emotional-besorgt-ängstlich. Das Kind findet schon seinen Weg, wenn wir Vertrauen in sein Schicksal haben und es sich ernst genommen, „gesehen“ und unterstützt fühlt. Oft bleibt dann Episode, was sich anderenfalls emotional fixieren würde.
Vor der Pubertät geäußerte Wünsche, als Mädchen oder Junge zu gelten, obwohl der Leib ein anderes Geschlecht vorgibt, zeigen, in welch hohem Maß das Identitätserleben von Kindern und Jugendlichen mit dem Wunsch, zum Mann bzw. zur Frau zu werden, verbunden ist. Kinder und Jugendliche brauchen in jedem Fall eine verständnisvolle Begleitung in diesen Fragen seitens der Erwachsenen. Je selbstverständlicher sie gelingt, umso entspannter kann das Kind oder der*die Jugendliche seinen weiteren Weg gehen, einschließlich folgenreicher medizinischer Entscheidungen. Wird der Wunsch nach hormoneller Umstellung mit Vehemenz schon vor oder während der Pubertät gewünscht, sind klärende Gespräche mit dem*der Kinder- und Jugendarzt*ärztin erforderlich. Denn Kinder und Jugendliche haben in diesem Alter noch nicht die volle Entscheidungs- und Verantwortungsreife, weswegen hier viel Empathie und Feinfühligkeit seitens der Erwachsenen nötig sind, um den nicht einfachen Entscheidungsprozess in ihrem Sinne zu unterstützen.
Wunsch nach asexuellen Lebensweisen
Neben der Transgender-Lebensform gibt es zunehmend auch andere Lebensstile, die asexuell sind. Auch hier nimmt die Zahl der jungen Menschen zu, für die körperliche Liebe so gut wie keine Rolle spielt. Sie pflegen enge Freundschaften mit Angehörigen beider Geschlechter, belassen es aber bei der seelischen Verbindung. Diese Breite des Spektrums im Umgang mit der eigenen Sexualität zeigt, wie sehr heute auch dieser Bereich selbstbestimmt gelebt werden will. Gesellschaftliche Normen werden beiseitegeschoben, sobald man den Menschen die Freiheit gibt, sich so zu entwickeln, wie es ihnen entspricht.
Vgl. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung. Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2020
ZUM UMGANG MIT PORNOGRAFIE
Wie wirkt sich die zunehmende Verfügbarkeit von pornografischen Inhalten auf Kinder und Jugendliche aus?
Pornografie, die früher in Buchhandlungen unter dem Ladentisch gehandelt wurde und ansonsten nur durch einschlägige Magazine Verbreitung fand, ist inzwischen durch das Internet so allgegenwärtig, dass sie vor allem für viele männliche Jugendliche Teil ihrer Lebensnormalität geworden ist. Bereits 2009 bestätigte die repräsentative Dr. Sommer Studie 2009 – Liebe! Körper! Sexualität! diesen neuen Trend, Tendenz steigend bis heute. Damals waren es schon 35 % der 11- bis 12-Jährigen, die bereits pornografische Darstellungen gesehen hatten; bei den 13- bis 17-Jährigen waren es 74 Prozent. 35 % der Jungen gaben zu, dass sie gelegentlich pornografische Bilder konsumieren, 8 % regelmäßig. Bei den Mädchen antwortete nur 1 % der Befragten, dass sie regelmäßig pornografische Inhalte betrachten. Entsprechendes galt auch für das Anschauen von Erotik- oder Pornofilmen. Während Jungen bis zum Alter von 18 oder 19 Jahren viel Erfahrung mit virtuellen Pornowelten haben, fühlen sich Mädchen in der Regel von pornografischen Darstellungen abgestoßen. Sie empfinden Ekel, Angst und Scham.[1]
Fatale Folgen
Eine Reihe von Studien zeigt bei Jugendlichen nachteilige Auswirkungen des häufigen Pornokonsums. Als Hauptproblem stellte sich heraus, dass pornografische Inhalte für realistisch gehalten werden, was dazu führt, dass die Attraktivität der Partnerin und die eigene sexuelle Beziehung abgewertet werden. Die Unzufriedenheit mit der eigenen Sexualität steigt. Das führt letztlich dazu, dass die Betroffenen eine eher ablehnende Haltung gegenüber Familiengründung und Kinderwunsch entwickeln. Bei Internetsex in pornografischen Chats der sozialen Netzwerke geht es nicht um die Pflege echter menschlicher Beziehungen. Das virtuelle Gegenüber wird vielmehr zum bloßen Objekt der eigenen Triebbefriedigung degradiert. Kinder und Jugendliche werden so nicht nur verführt, andere als Objekt anzusehen, sondern auch sich selbst als Objekt zu präsentieren. „Sexting“, die Präsentation erotischer Selfies, wird auch bei Mädchen immer beliebter – mit zum Teil fatalen Folgen für die Betreffenden.
„Chatroulette“ war der erste Chatraum, in dem man die unterschiedlichsten virtuellen Partner vorgestellt bekam. Inzwischen gibt es eine große Vielfalt an Möglichkeiten, sich ungehindert in einer erotischen, von pornografischen Bildern bestimmten Fantasiewelt zu bewegen.
Bildung und Kunst als pädagogisches Gegengewicht
Die Waldorfpädagogik versucht, den suggestiven Gefühlen von „Machtkitzel und Erotik“ insbesondere durch künstlerische Betätigung ein vielfältiges Bildungsangebot wie auch durch Gespräche zum Thema gegenzusteuern. Diese Angebote sind ein wichtiger Schwerpunkt der „Erziehung im Reifealter“, der Steiner mehrere Vorträge gewidmet hat.[2]
Der Einfluss der Pornografie auf das sich entwickelnde Gefühlsleben ist nicht nur ein brutaler Angriff auf die Integrität des seelischen Innenraums der Kinder und Jugendlichen, sondern verhindert auch die Entwicklung von Empathie und sozialer Kompetenz. Die Hinwendung zum anderen sollte immer dem Menschen an sich gelten, nicht seiner geschlechtlichen Identität. Wer einen anderen Menschen über seine Hautfarbe, seinen Reichtum, seine Familien- oder Berufszugehörigkeit oder aber über seine sexuelle Anziehung definiert, begegnet ihm nicht wirklich in seinem tiefsten Wesen, sondern bezieht sich nur auf einen Teilaspekt seiner Identität. Schlimmer noch: Der andere wird in gewisser Weise entindividualisiert und in bestimmte Kategorien eingeordnet.
Sexuelle Perversionen
In der klinischen Sexologie[3] ist man sich einig darüber, dass es keine definitorischen Beschreibungen sexueller Verhaltensmuster gibt, die man als pervers oder nicht pervers klassifizieren könnte. Vielmehr wird heute jede sexuelle Handlung als pervers angesehen, die am Sexualpartner vorgenommen wird, ohne dass dieser es möchte. Das beginnt bereits mit einer zärtlichen Berührung oder einem Kuss, den der andere nicht erwidern kann und sich dadurch bedrängt fühlt. Es endet bei den abscheulichsten Missbrauchsszenarien bis hin zum Lustmord. Die Frage bleibt, ob und, wenn ja, wieso es im Wesen der Sexualität liegt, dass diese Abgründe menschlichen Fehlverhaltens und hemmungsloser Machtausübung über andere mit ihr verbunden auftreten können.
Vgl. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung. Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2020
[1] Vgl. Tabea Freitag: Internet-Pornografiekonsum bei Jugendlichen – Risiken und Nebenwirkungen. In: Christoph Möller (Hg). Internet- und Computersucht. Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Pädagogen und Eltern. Kohlhammer, Stuttgart 2015, S. 175; Silja Matthiesen: Jungen und Pornografie. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hg): FORUM. Sexualaufklärung und Familienplanung 1/2013.
[2] Siehe Rudolf Steiner: Erziehungsfragen im Reifealter. Zur künstlerischen Gestaltung des Unterrichts. In: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis. GA 302a. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1993.
[3] Vgl. P. Hertoft: Klinische Sexologie, Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 1989.
GEFAHR IDEOLOGIEGESTÜTZTER GRUPPENBILDUNG
Wie hängen sexuelle Gewalt und Gruppenideologien zusammen?
Triebkräfte hinter dem Nationalismus
Rudolf Steiner führt den Nationalismus und den mit ihm verbundenen Hass auf die „Fremden“, die „Anderen“ auf ein und dieselben Triebkräfte zurück. In der emotionalen Verbundenheit von Abstammungsgemeinschaften (Familie, Clan, Stamm, Ethnie) wirkt der körperbezogene, leibgebunden tätige Astralleib und dämpft das wache, zur Selbstdistanzierung fähige Ichbewusstsein durch das organische Triebleben herab. Im Seelischen lebt der Astralleib in der polaren Spannung zwischen Sympathie und Antipathie. Wirken seine Kräfte zu stark, so kann er die Ich-Führung außer Kraft setzen, wenn diese durch Erziehung und Leben nicht genügend Eigenkompetenz entwickeln konnte: Dann ist der Mensch zu Reaktionen in der Lage, zu welchen ihn seine jeweilige Umgebung anregt oder treibt. Je weniger Identitätssicherheit im individuell erfassten Geistigen, umso größer sind Sehnsucht nach Geborgenheit und Stabilität im Seelisch-Körperlichen.
Auch das Bedürfnis nach Geborgenheit in einer Gruppe, die Sehnsucht nach Anerkennung oder die Angst vor Ausschließung können zur Triebfeder destruktiver Verhaltensweisen werden. In Nationalismus, Fanatismus und religiösem Sektierertum zeigt sich eine kollektive Ersatzidentität, die an die Stelle der nicht oder nur schwach vorhandenen persönlich entwickelten Identität tritt. Jede Form von ideologiegestützter Gruppenbildung birgt daher die Gefahr von Persönlichkeits- und Identitätsverlust und fördert das Ausleben sexueller Perversionen und daraus resultierender Gewalt. Oft traut man es den betreffenden Menschen überhaupt nicht zu, wenn man ihnen im Strafvollzug begegnet, dass sie gemordet haben oder Missbrauchstäter waren. Sie erscheinen häufig weich, sentimental, von Selbstmitleid erfüllt. Infantile Ansprüche an das Leben und Angst vor sich selbst stehen im krassen Gegensatz zu dem brutalen Auftreten ihren Opfern gegenüber.
„Ich selbst bin mein Himmel und meine Hölle!“
Das alte Sprichwort: „Wo die Götter den Tempel verlassen, da walten Gespenster“ gilt auch für den menschlichen Leib. Wenn das Ich sich zurückzieht oder sich nicht richtig inkarnieren kann, treten andere Mächte an seine Stelle. Gedanken, Gefühle und Motivationen sind Realitäten – ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Die geistige Welt ragt mit ihren Kräften und Wesen in die menschliche Seele herein, die selbst der Schauplatz der Entwicklung des Menschengeistes ist oder, wie es Schiller noch als junger Erwachsener in seinen „Räubern“ den Karl Moor sagen lässt: „Ich selbst bin mein Himmel und meine Hölle!“ Moor erkennt, dass es von ihm und seiner Ich-Tätigkeit abhängt, in welchem Seelen- oder Geistesreich er sich bewegt. „Sei, wie du willst, namenloses Jenseits – Bleibt mir nur dieses mein Selbst getreu! Sei wie du willst, wenn ich nur mich selbst mit hinübernehme! Außendinge sind nur die Farbe des Geistes – Ich selbst bin mein Himmel und meine Hölle!“[1]
Zu dieser erlebten Hölle kann auch gehören, dass man später selber zum Täter wird, wenn es einem nicht gelingt, z.B. eine sexuelle Traumatisierung in der Kindheit zu verarbeiten. Derartige unverarbeitete Traumata können zu einem Identitätsverlust führen, in dessen Folge man selbst gefährdet ist, andere zu missbrauchen.
Vgl. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung. Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2020
[1] Friedrich Schiller: Die Räuber. IV/15. Sämtliche Werke. Band 1. München 1968.
SCHICKSALSFRAGEN ZUR SEXUALITÄT
Inwiefern ist die geschlechtliche Orientierung eine Schicksalsfrage?
Welche Gesichtspunkte gibt es dazu?
Aus Sicht wiederholter Erdenleben
Wenn man den Wiederverkörperungsgedanken in die Thematik Sexualität und Identität miteinbezieht, eröffnen sich zusätzliche Perspektiven. Aus Rudolf Steiners Forschung zu Fragen der Reinkarnation geht hervor, dass normalerweise eine männliche und eine weibliche Inkarnation miteinander abwechseln. Selbstverständlich gibt es auch hier immer wieder Ausnahmen, auch was die Häufigkeit der Wiederverkörperungen anbetrifft. Grundsätzlich gilt die Regel, dass man sich dann wiederverkörpert, wenn sich die geschichtlichen Umstände so stark geändert haben, dass man wieder ganz neue Dinge lernen kann.
Der Materialismus wirkt sich jedoch so aus, dass sehr viele Menschen sich zu Lebzeiten kein Wissen über ihre geistige Identität nach dem Tod, kein „geistiges Selbstbewusstsein“ erwerben (können), weswegen sie im Nachtodlichen quasi schlafen.[1] Dadurch aber – so Steiner – entwickeln sie eine große Sehnsucht, sich baldmöglichst wiederzuverkörpern, um bei einer nächsten Inkarnation auf der Erde durch entsprechende Umstände ebendieses Geistbewusstsein zu entwickeln. In diesem Phänomen sah Steiner einen der Hauptgründe für das exponentielle Wachstum der Erdbevölkerung.[2]
Wer dagegen einen reichen Entwicklungsertrag aus seinem Erdenleben mit in die geistige Welt nimmt, kann zwischen dem Tod und einer neuen Geburt dieses Erdenleben im Zusammenwirken mit göttlich-geistigen Wesen bewusst verarbeiten. Er kann zudem auf die Lebenden, mit denen er verbunden war, inspirierend wirken und ihnen aus der geistigen Welt bei ihren Aufgaben und Tätigkeiten helfen. In solchen Fällen ist das Intervall zwischen zwei Verkörperungen wesentlich größer.
Karmische Hintergründe für sexuelle Orientierung
In Bezug auf die sexuelle Orientierung kann es durchaus sein, dass jemand in der letzten Verkörperung mit dem eigenen Geschlecht ein Problem hatte. Wer beispielsweise als Frau viele Demütigungen oder Zwangsprostitution erlebt hat, könnte eine tiefe Antipathie gegenüber dem Frausein entwickelt haben, die sich möglicherweise bemerkbar macht, wenn man in einem folgenden Leben als Mann wiedergeboren wird. Das kann ein Grund dafür sein, dass man die homosexuelle Lebensform wählt. Entsprechendes gilt für die lesbische Liebe, wenn durch bestimmte Vorkommnisse ein großer Hass gegenüber dem Mann entstanden ist. Das kann auch Ursache von Promiskuität, dem häufigen Partnerwechsel sein.
Wir sehen also: Ein Grund für die genannten Abneigungen und Vorlieben kann sein, dass das Erleben von Intimität primär auf der körperlichen Ebene gesucht wird, wo es niemals auf zufriedenstellende Weise gefunden werden kann. Andererseits liegen oft auch bedingende Faktoren aus dem Schicksalszusammenhang vor.
Seit langem sucht man seitens der Schulmedizin hormonelle oder genetische Ursachen zu finden, die Abweichungen von der regulären Heterosexualität und der monogamen Tradition erklären könnten. Wenn man sich jedoch klarmacht, dass die Hormonbildung nicht Ursache, sondern Folge konkreter Gesetzmäßigkeiten ist, die im Körper wirken, kann man sich mit dieser Perspektive zur Ursachenfindung nicht zufriedengeben. Sie erklärt z.B. nicht die Tatsache, dass eineiige Zwillinge in ihrer erotischen und sexuellen Orientierung durchaus individuell sind.
Entscheidend für die Qualität einer Beziehung ist doch, wie tief man befreundet und verbunden ist – unter Umständen schon durch mehrere Erdenleben hindurch. Wenn man sich einmal sehr geliebt hat und sich in einem folgenden Leben wieder begegnet, mag diese Liebe sogar stärker sein als die Konstitution, so dass auch dies ein Grund für eine homosexuelle Beziehung sein kann oder aber dafür, dass ein Transgender-Lars wieder zur Lara wird, wenn er sich in einen Mann verliebt und ein Kinderwunsch entsteht. Denn letztlich ist es die menschliche Beziehung, auf die es ankommt und in die die sexuellen Neigungen miteinbezogen werden. Spielt die Sexualität für die Partner in einer Beziehung überhaupt keine Rolle, so ist die Beziehung nicht vollumfänglich als „menschlich“ anzusehen.
Individuelle Schicksalsfragen
Im Schicksalskontext wird auch öfter gefragt, welchen Sinn es haben könnte, als Homosexueller oder als Transsexueller aufzuwachsen und seine Biografie sozusagen im Anderssein zu leben. Da es sich hier um eine individuelle Schicksalsfrage handelt, die auch nur individuell beantwortet werden kann, gibt es hier nur wenig, was allgemeingültig dazu gesagt werden kann.
Im Umgang mit Einzelschicksalen ist mir eines immer wieder deutlich geworden: das „Anderssein“ bewirkt eine Verstärkung des Selbstbewusstseins und des eigenen Identitätserlebens. Anders zu sein als die Mehrheit – in diesem Fall in geschlechtlicher oder geschlechtsidentitärer Hinsicht – bedeutet immer, mit mehr Ablehnung und Ausgrenzung konfrontiert zu werden. Wenn man damit umgehen lernt, resultiert daraus große innere Stärke. Nicht angepasst an die Gesellschaft zu sein, um Anerkennung der eigenen Lebensform ringen zu müssen, ruft Kräfte auf, die sonst nicht aktiviert worden wären. Das Bewusstsein von der eigenen Persönlichkeit, die Selbstbejahung erfährt eine Stärkung. Wie leicht ist es doch, „normal“ und angepasst im großen Strom der Zeit mitzuschwimmen, während man als Angehöriger einer Minderheit immer auffällt, anstößt, sich rechtfertigen und bekennen muss und in der Regel mehr leisten muss als andere, um akzeptiert zu werden. Auch gehören viel Mut und wirkliche Liebe dazu, eine Liebesbeziehung zu leben und durchzutragen, der die gesellschaftliche Anerkennung versagt wird. Denn was letztlich immer den Ausschlag gibt, ist die reale Beziehung zum anderen Menschen. Ist diese gesund, können sich die Beteiligten auch gesund entwickeln.
Die zu starke Fokussierung auf den körperlichen Aspekt lenkt davon ab, dass es ja um Individualitäten geht, deren Identität sich nicht in der geschlechtlichen oder Transgender-Identität erschöpft, sondern in ihrer rein menschlichen Ich-Erfahrung gipfelt.
Vgl. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung. Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2020
[1] Vgl. Rudolf Steiner: Vierter Vortrag. Dornach, 2. Februar 1915. In: Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung. GA 161. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1999, S. 81 f.
[2] Vgl. Rudolf Steiner: Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse. GA 209, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1982, S. 41 f.
AUFKLÄRUNG IN DER SCHULE
Welche Rolle spielt Aufklärung in der Schule?
Wann ist der richtige Zeitpunkt dafür?
Welche pädagogischen Überlegungen stehen dahinter?
Fächerübergreifender aufklärender Unterricht nötig
In der Schule ist es wichtig, Fragen der Aufklärung[1] nicht nur im Rahmen der Biologie zu behandeln, da die Sexualität etwas so Allgemeinmenschliches und Omnipräsentes ist. Ihre biologischen, seelischen und sozialen Aspekte sind derart vielschichtig, dass sie nicht in einem einzelnen Fachgebiet abgehandelt werden können, sondern im Kontext von Blutkreislauf, Atmung, Ernährung, Sinnespflege, Jugendhygiene und Drogenmissbrauch durchgenommen werden sollten, vorbereitend für den Sexualkundeunterricht.
Im Grunde muss die ganze Art und Weise, wie der Unterricht gestaltet wird, aufklärend auf die SchülerInnen wirken. In der Art, wie Vorgänge des Lebens kommentiert werden, wie mit Männern und Frauen und mit den Jugendlichen umgegangen wird – all dies klärt im besten Sinne des Wortes auf, sensibilisiert, weckt Vertrauen und schafft die Grundlage, um dann auch individuelle – meist heikle – Fragen auf diesem Gebiet anzusprechen.
Frage des richtigen Zeitpunktes
Anfang der siebten Klasse mag vor Jahren noch angemessen gewesen sein. Heute sind die SiebtklässlerInnen nicht unbedingt körperlich weiterentwickelt, der Großteil von ihnen wurde jedoch bereits über Jahre seitens der Musik- und Filmindustrie mit einer Flut an sexuellen Eindrücken und Themen konfrontiert, ganz abgesehen von dem wachsenden Pornokonsum, der vor allem bei den Jungen gang und gäbe ist. So empfiehlt es sich, zur ausgleichenden Einflussnahme das Thema Sexualität in der Schule bereits in der 6. Klasse durchzunehmen.[2] Oder aber es situativ aufzugreifen, sobald man den Eindruck hat, dass es in einer Klasse virulent wird.
Wichtig ist jedoch, die Eltern zu informieren und so weit wie möglich in den Prozess mit einzubeziehen. Gut ist auch, wenn sie rechtzeitig vor einer solchen Aufklärungsepoche Bescheid wissen und ihren Kindern die Thematik schon vorher in der vertrauten Umgebung vorbereitend nahebringen können
Die Epoche selbst hat zum Ziel, das männliche und weibliche Element in den Naturreichen aufzusuchen und Übereinstimmungen wie auch Unterschiede zum Menschen herauszufinden. Dem folgt die Beschreibung der Geschlechtsorgane und ihrer Funktion, wozu auch die Menstruation gehört, und zum Schluss wird besprochen, wie Kinder gezeugt werden und es zu einer Schwangerschaft kommt. Hier geht es grundsätzlich darum, Achtung nicht nur für das eigene, sondern vor allem auch für das andere Geschlecht zu entwickeln.
Die nähere Beschäftigung mit der Entwicklung des ungeborenen Kindes vor der Geburt soll bei den Kindern ein Gefühl von Ehrfurcht und Respekt wecken, dass sie staunen lässt über das Wunder, dass der sieben Wochen alte Embryo bei einer Größe von nur zwei Zentimetern bereits Augen, Ohren, Darm, Nieren, Leber, Lungen, Mund und Nasenlöcher besitzt.
Möglichkeit geben, anonyme Fragen zu stellen
Im Laufe dieser Epoche werden bei vielen Fragen kommen und zunehmend auf der Zunge brennen, die Betreffenden werden aber kaum wagen sie offen zu stellen, weder in der Familie, noch in der Schule. Deshalb finde ich die Idee eines Waldorflehrers, einen Briefkasten in der Klasse anzubringen, in den die SchülerInnen ihre Fragen täglich einwerfen konnten, eine geniale Lösung. Sie brauchen die Möglichkeit zu fragen, um den Umgang mit der Sexualität für sich klarer zu bekommen. Anonym gestellt, konnte der Lehrer die Fragen im Laufe des Unterrichts nach und nach aufgreifen und die meisten auch beantworten.[3]
Auch in der Oberstufe leben Fragen, die die Jugendlichen lieber „nebenbei“ ansprechen und im Unterricht nie zu stellen wagen würden. In den Jahren meiner schulärztlichen Tätigkeit hatte ich zum Beispiel einmal einen 17-Jährigen neben mir, als ich über den Schulhof lief. Im Gehen fragte er mich, ohne mich anzuschauen: „Frau Glöckler, ist es normal, wenn man mit 17 noch keinen Sex hatte?“ Ich erwiderte knapp: „Das ist ganz normal!“ Und weg war er. Ihm genügte das, heute haben die Kinder aber meist mehr Gesprächsbedarf zu der Thematik.
Sex und Liebe
Es geht darum, bei den Heranwachsenden ein Verständnis dafür zu wecken, dass Liebe dann eine positive Kraft ist, wenn der andere Mensch dabei die Hauptperson ist, dass sie jedoch ins Negative gekehrt wird und zerstörend wirken kann, wenn die eigenen Interessen dabei im Vordergrund stehen und der andere instrumentalisiert bzw. benützt wird für die eigene Befriedigung. Insofern ist der sexuelle Umgang miteinander immer auch eine Gewissensfrage. Die körperliche Anziehung ist das eine – wie man sich als Mensch dabei erlebt, wie man miteinander über das Erlebte spricht, das andere. Erst durch solch echtes Begegnen im Gespräch und im Gedankenaustausch entsteht eine umfassende Liebesbeziehung. So kann auch der Unterschied zwischen geistiger und körperlicher Liebe erlebt und verstanden werden, und dass diese Hand in Hand gehen müssen, damit der Mensch Sex als tief beglückend empfinden kann.
Als Grundregel sollte beim Sexualkundeunterricht stets beachtet werden, dass keine/r der SchülerInnen individuell angesprochen oder bloßgestellt wird, dass aber auch die Stellung der Lehrperson in den Augen der Kinder nicht gefährdet werden darf. So sollte sie nie über eigene Erfahrungen oder Gefühle sprechen.
Es wäre schön, wenn den Jugendlichen aus dieser Hauptunterrichtsepoche zwei Schlüsselbegriffe im Gedächtnis blieben: Respekt und Liebe.
Vgl. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung. Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2020
[1] Vgl. Jeanne Meijs, Liebe und Sexualität im Kindes- und Jugendalter, Urachhaus.
[2] Vgl. Hrsg. Andreas Neider, Liebe und Sexualität: Ihre Entwicklung und Gefährdung von der Kindheit bis ins Jugendalter, Deutscher Waldorfbund.
MANN UND FRAU AUS SICHT DER ANTHROPOSOPHISCHEN MENSCHENKUNDE
Wie unterscheiden sich Mann und Frau im Seelisch-Geistigen?
Warum sind das weibliche Denken und Beobachten eher sprühend, flexibel, nach außen orientiert und das männliche eher besonnen, introvertiert und systematisch?
Warum gibt es kein einziges bekanntes philosophisches System, das von einer Frau geschrieben wurde?
Welche Erklärungen bietet die anthroposophische Menschenkunde für diese Phänomene?
Embryonalentwicklung der Geschlechter
Mann und Frau unterscheiden sich in ihrer physischen Organisation durch das jeweilige Kerngeschlecht XX und XY. Genetische Abweichungen sind selten und als Hermaphroditismus ein eigenes Fachgebiet der Medizin. Die verschiedenen Formen der Intersexualität werden inzwischen auch als eigene geschlechtliche Identität anerkannt. Es ist Eltern heute von Gesetzes wegen untersagt, über die Geschlechtsidentität ihrer Kinder zu entscheiden. Vielmehr muss abgewartet werden, bis klar ist, welches Geschlecht das Kind „von sich aus“ bevorzugt.
· Die ersten 6 Wochen: intersexuelle Phase
Interessant ist, dass in den ersten sechs Wochen der Embryonalentwicklung jeder Embryo sowohl eine männliche als auch eine weibliche Gonadenanlage ausbildet und sozusagen jedes Menschenleben intersexuell beginnt. In den ersten sechs Wochen ist sozusagen jeder Embryo ein Zwitter oder Hermaphrodit.
· 6. bis 12. Woche: Ausbildung eines Geschlechts
Von der 6. bis 12. Woche beginnt dann parallel zur Entwicklung des Großhirns und der Veranlagung aller Körperorgane der langsame Prozess der Unterdrückung des entgegengesetzten Geschlechtes. Nachdem sich die entgegengesetzte Geschlechtsanlage zurückgebildet hat, bleiben nur kleine entwicklungsgeschichtliche Rudimente aus dieser Zeit im Umkreis der Hoden und Ovarien vom jeweils anderen Geschlecht zurück: beim Mann die Appendix testis als Rest der weiblichen Fortpflanzungsanlagen und bei der Frau das Paroophoron und die Zyste des Gartnerschen Gangs von der männlichen Anlage.
Da normalerweise der Organismus auf alles verzichtet bzw. es zum Verschwinden bringt, was er nicht braucht, ist es schon verwunderlich, dass diese Rudimente ein Leben lang bestehen bleiben. Als ich meinen Anatomieprofessor fragte, warum das denn so sei, konnte er diese Frage begreiflicherweise nicht beantworten, sondern bemerkte nur trocken, das seien eben „entwicklungsgeschichtliche Rudimente“.
· Ab 7. Woche: Beginn der Gehirnentwicklung
Aus anthroposophischer Sicht macht dieser Tatbestand jedoch sehr viel Sinn. In den ersten sechs Wochen beginnt sich der männlich-weibliche ätherische Gesamtorganismus zu verkörpern. Infolge des Einflusses der Geschlechtschromosomen differenziert sich der Ätherleib ab der sechsten Woche in einen Teil, der sich weiter inkarniert und der die Entwicklung der Geschlechtsorgane besorgt, und in einen anderen Teil, der die Gehirnentwicklung vorantreibt. D.h. die freiwerdenden Ätherkräfte, denen wir unser späteres bewusstes Gedankenleben verdanken, beteiligen sich als leibfreie ätherische „Gedankenaura“ ab der siebten Woche aktiv an der Gehirnentwicklung, die mit der Großhirnbläschenbildung am Vorderhirn beginnt.
Unterschiedlichkeit von Mann und Frau in Physis und Denken
So wie sich jedes Organ an seiner Funktion bildet, also Folge eines physiologischen Prozesses ist, so bildet sich auch das Gehirn an der aktiv tätigen, aus den rückgebildeten gegengeschlechtlichen Ätherkräften gebildeten Gedankenaura zum Denkorgan. Deswegen hat auch das männliche Denken eine weibliche Prägung und das weibliche Denken eine männliche. Rudolf Steiner berichtet folgerichtig aus seiner Forschung, dass bei Frauen der männliche Charakter im Ätherleib dominiere und bei Männern der weibliche. Deshalb zeigt sich die Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen nicht nur in den physischen Geschlechtsmerkmalen, sondern ebenso in ihrem Denken und Empfinden – nur auf gegenläufige Art und Weise: Die Gedankenaura umfasst bei der Frau die volle Kompetenz der ätherischen Kräfte, die als Wachstumskräfte die männlichen Fortpflanzungsorgane bildeten. Beim Mann ist es umgekehrt. Man kann sich diese Unterschiedlichkeit gut klarmachen, wenn man sich die Funktionsdynamik der männlichen und weiblichen Fortpflanzungsorgane vorstellt.
- Das Spontane, Unstete, Sprühende, Flexible ist typisch für die männliche Fortpflanzungstätigkeit und entsprechend für das weibliche Denken.
- Wogegen das in sich Ruhende, Reifenlassende, Abwartende die Geste der weiblichen Reproduktionskraft ist und entsprechend für das männliche Denken.
Viele Probleme in Ehe und Partnerschaft kommen gerade daher, dass das, was einen am anderen besonders nervt, das gedankliche Gegenstück der eigenen Fortpflanzungsaktivität ist. Macht man sich dieses jedoch klar, so kehrt der heilsame Humor auf beiden Seiten wieder leichter in den Alltag zurück.
Beispiele aus dem Leben
Zu der eingangs gestellten Frage: Frauen schreiben gerne philosophische Essays, aber sie würden doch nicht lebenslang an einem System arbeiten! Andererseits gibt es keinen Philosophen – auch nicht Steiner, der nicht wichtige Anregungen in seinem Werk dem Gespräch mit Frauen verdankt.
Weitere Beispiele aus dem Alltag: Es ist evident, dass eine Frau höchst selten einen Einkaufszettel schreibt, bevor sie aus dem Haus geht, wohingegen Männer dies in der Regel tun. Entsprechend kommen Männer auch relativ rasch mit dem Notierten nach Hause, wogegen Frauen „schon wissen, was sie brauchen“, sich gerne beim Einkaufen selbst auch noch anregen lassen durch das, was sie sehen, und manchmal sogar ohne das Produkt heimkommen, dessen Fehlen den Einkauf ausgelöst hat.
Oder: Ein Paar hat sich endlich über ein schon lange bestehendes Problem in Ruhe ausgesprochen und sogar eine mögliche Lösung gefunden und erste Verabredungen getroffen. Am nächsten Morgen sagt sie jedoch beim Frühstück: „Du, ich hab’ da eine Idee, wir sollten uns doch noch einmal unter diesem Aspekt der Problematik zuwenden.“
Unterschiede im Seelischen
Hinzu kommt die Verschiedenheit auf der Ebene der astralischen Organisation:
Die männliche Konstitution zeichnet sich dadurch aus, dass die astralische Organisation mit ihrer Differenzierungskraft viel tiefer in die physische Organisation eingedrungen ist, als dies bei der Frau der Fall ist. Das zeigt sich an der stärkeren Behaarung, der tieferen Stimme und der insgesamt kantigeren und differenzierteren männlichen Konstitution.
Die weibliche Konstitution dagegen zeichnet sich dadurch aus, dass die ätherische Organisation stärker in der physischen ausgeprägt ist und sich dem tieferen Eingreifen der astralischen Kräfte widersetzt. Dadurch ist die ganze Gestalt rundlicher und weicher und körperlich in der Lage, ein Kind auszutragen. Die astralischen Kräfte jedoch, die in der weiblich-physischen Konstitution nicht wirken können, stehen der Frau zusätzlich seelisch zur Verfügung. Daher ist die Frau generell emotionaler, hat es leichter ihre Gefühle auszusprechen, nimmt sie auch wichtiger als der Mann, und ist in der Regel auch seelisch belastbarer als er, der meist physisch stärker ist.
Ausgleichende Fähigkeiten zur Kommunikation erwerben
Rudolf Steiner war es ein besonderes Anliegen, dass Jugendliche in der Reifezeit zwischen 13 und 16 Jahren in Bezug auf ihr Geschlecht von den Pädagogen im schulischen Rahmen differenziert angesprochen werden:
- Den Jungen sollte man helfen, aus sich herauszugehen und mithilfe des künstlerischen Unterrichts auch zu lernen, über Empfindungen und Gefühle zu sprechen.
- Mädchen sollte man hingegen anregen zu üben, ihren Redefluss zu stoppen, also erst zu denken und dann zu reden.[1]
Beide müssten lernen so zu kommunizieren, dass sie sich gut verständigen können und nicht durch die einseitige Eigenart ihres Geschlechts – nicht reden zu wollen oder ungefragt zu viel zu reden – an einer guten Kommunikation gehindert werden.
Durch die stärkere physische Astralisierung ist der Mann wacher in seinen Sinnen, die Frau hingegen differenzierter und empfindsamer gegenüber dem, was sie denkt. Daher fällt es Frauen auch leichter als Männern, sich für Spiritualität zu interessieren. Beide können aber lernen, was ihnen fehlt – denn beide sind ganze Menschen. Die ätherische Organisation ist männlich und weiblich zugleich und die astralische ebenso. Beide Organisationen wirken sich aber aufgrund der physischen Geschlechtertrennung körperlich und seelisch unterschiedlich aus.
Unterschiede in der Ich-Organisation
Auch die Ich-Organisation ist davon betroffen.
- Denn durch die stärkere Gefühlspräsenz im Seelischen bei der Frau ist diese eher in Gefahr, dass ihre Willens-Kompetenz ins Schlepptau der Gefühle und Emotionen gerät und die Gedankenführung nicht stark genug ist.
- Hier hat es der Mann leichter, weil der größere Anteil seines Astralleibes physisch verkörpert ist und deswegen sein bewusstes Seelenleben stärker vom Denken dominiert wird als bei der Frau.
Umso nötiger ist es, dass diese Einseitigkeiten im Sozialen zum Ausgleich kommen. Denn das Denken der Frau ist lebensgemäßer, empfindsamer und von mehr Empathie geleitet als das mehr rational-strukturelle Denken des Mannes, das oft von Frauen als abstrakt und lebensfremd empfunden wird.
Gestörte Gefühlsentwicklung durch Medien
Es darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass gerade in dem Alter, in dem das Kind lernen sollte, sein Gefühlsleben gesund zu entwickeln, die mediale Welt dies brutal behindert. Ist es doch das Gefühlsleben, durch das wir Kohärenz mit uns und der Welt erleben. Dazu braucht es aber das realweltliche Gegenüber und die eigenständige Verarbeitung der gemachten Erfahrungen durch das Denken. Werden unsere Gefühle jedoch von der digitalen Welt beansprucht, so können sie nicht menschlich reifen und zu einem autonomen „Seelenleben“ werden, das der Ich-Steuerung unterliegt. Die emotionale Reifung bleibt vielmehr unentwickelt und abhängig von den Anregungen aus dem Internet, der Spiel- und Unterhaltungsindustrie.
Diese Betrachtung kann aber auch deutlich machen, warum es so wichtig ist, ein klares Verständnis von der „quinta essentia“ und vom wahren höheren Ich zu haben. Dieses ist nicht identisch mit der bisher beschriebenen Ich-Organisation. Letztere ist individuell, inkarniert sich einerseits im Physischen und liegt andererseits, als leibfrei gewordene Ich-Kraft, unserem Willensvermögen zugrunde. Sie bildet unser „niederes Ich“, unser an den Körper gebundenes Selbst.
Egoismus in körperlicher Hinsicht ist gesund – ohne funktionierendes Immunsystem, ohne unser biologisches Ego, wären wir krank. Problematisch wirkt der Egoismus erst dann, wenn er diese körperbezogene Funktionsdynamik bei der Metamorphose in die leibfreie Willenskraft beibehält. Daher bedeutet seelisch-geistige Entwicklung immer zuerst Selbsterkenntnis: einfaches Beobachten des eigenen Denkens, Fühlens und Wollens und die freie bewusste Entscheidung, in welche Richtung man diese Seelenkräfte betätigen und für die eigene Entwicklung und die seiner Mitwelt einsetzen möchte.
Höheres Ich und Christusbewusstsein
Die damit verbundene Möglichkeit, über sich selbst und seine persönlichen Bedürfnisse hinauszuwachsen und sich für die großen Belange der Menschheit und die Nöte der Zeit einzusetzen, befähigt den Menschen, einen Begriff vom „wahren Ich“ zu bilden. Diese Instanz, auch „höheres Selbst“ genannt, verkörpert sich nicht in einem individuellen Menschenleib. Es steht vielmehr der ganzen Menschheit als Wesenhaftes zur Verfügung, in der sie sich eins fühlen und in ihrer „Gottebenbildlichkeit“ erkennen kann.
Das Besondere an der christlichen Religion ist, dass sie davon ausgeht, dass dieses wahre höhere Ich der Menschheit bei der Jordan-Taufe als Gottessohn, als Christus, in Jesus einzog und für drei Jahre auf Erden wandelte, bevor es durch den Tod auf Golgatha in die Äthersphäre der Erde überwechselte, um von dort aus das weitere Schicksal der Menschheit zu begleiten. Seither kann dieses wahre höhere Ich von jedem Menschen in sein Denken, Fühlen und Wollen aufgenommen werden, so wie es im Prolog des Johannesevangeliums beschrieben wird: „Die es aber aufnahmen, denen gibt es die Kraft, Gotteskinder zu werden.“[2]
In der Waldorfpädagogik bemüht man sich, den Kindern und Jugendlichen zu helfen, mit allem, was sie aus Familie, gesellschaftlichem Umfeld, aber auch konstitutionell an Begabungen, zu denen auch das eigene Geschlecht gehört, mitbekommen haben, so umzugehen, dass es ein hilfreiches Instrument wird auf dem Weg zum wahren Ich.
Identifiziert sich ein Mensch nur mit den unteren Ebenen des Menschseins, mit Familie, Beruf, Nation oder dem Mann- bzw. Frausein, sodass er diese Identität für das eigene Ich hält, stagniert seine Entwicklung und er ist nicht wirklich frei. Ziel der Waldorfpädagogik ist es, die Entwicklung so lange im Fluss zu halten, bis die Jugendlichen so weit sind selbst bestimmen zu können, wie sie mit sich und der Welt umgehen möchten. Dann geht die angestrebte „Erziehung zur Freiheit“ wie selbstverständlich in die „Selbsterziehung aus Freiheit“ über.
Vgl. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung. Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2020
[1] Siehe Rudolf Steiner: Erziehungsfragen im Reifealter. Zur künstlerischen Gestaltung des Unterrichts. In: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis. GA 302a. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1993; siehe auch Michaela Glöckler: Die männliche und weibliche Konstitution. Urachhaus, Stuttgart 1987.
[2] Neues Testament, Johannes 1,12.