Herzlich Willkommen!
Denken
Denken – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
ENTWICKLUNG DER ORGANSYSTEME UND DENKEN
In welchem Zusammenhang stehen Organentwicklung und Denkentwicklung?
Übereinstimmung zwischen Organen und Denken
Mit Blick auf die kindliche Entwicklung ist es interessant zu sehen, wie in den Jahren zwischen Geburt und Mündigkeit im Zuge der kindlichen Entwicklung ein Organsystem nach dem anderen heranreift. Dabei herrscht eine wundervolle Übereinstimmung zwischen diesen Organsystemen und dem sich entsprechend entwickelnden denkenden Bewusstsein.
· Nervensinnessystem – 1. Jahrsiebt
Das erste Organsystem, das bereits in den ersten neun Lebensjahren seine Grundausreifung und damit nahezu seine Erwachsenenfunktion erreicht, ist das Nervensystem mit den Sinnesorganen, wobei letztere am frühesten voll funktionstüchtig werden. Die das Nervensystem und die Sinnesorgane aufbauenden Kräfte werden entsprechend als erste frei für die denkende Tätigkeit. Daher hat das kindliche Denken einen stark bildlichen Charakter. Alles, was die Sinne erleben, wird lebhaft vorgestellt und phantasiereich ausgestaltet. Das phantasievolle Übersprudeln des beginnenden kindlichen Denkens hängt mit den Wachstumstendenzen zusammen, die den kindlichen Organismus bestimmen. Diese Periode endet etwa mit dem 9., 10. Lebensjahr. Dann haben die Kinder ihr bildhaftes, an den Sinneserfahrungen orientiertes Denken zur vollen Reife gebracht und verfügen jetzt meist auch über eine ausgezeichnete Merkfähigkeit.
Das entspricht der ausdifferenzierten Organstruktur der Sinnes- und Nervenorgane, in denen ab diesem Stadium kein Wachstum mehr, sondern nur noch Regeneration geschieht. Es finden keine weiteren Zellteilungen mehr statt, jegliche Wachstumstätigkeit hat aufgehört. Das regenerierende Bewahren der bis dahin ausgebildeten Form steht ab da im Vordergrund. Das gibt auch dem kindlichen Denken dieses Alters den Charakter. Was Mutter oder Vater bzw. der Lehrer gesagt haben, hat Gültigkeit und wird vom Kind zunächst so festgehalten und bewahrt.
· Herzkreislauf-System und Atmung – 2. Jahrsiebt
Zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr steht das Heranreifen von Herz-Kreislaufsystem und Atmung im Vordergrund. Diese erlangen jetzt ihre Funktionsreife und damit auch die für das Erwachsenenleben typische Frequenz ihrer Rhythmen: etwa 20 Atemzüge und 80 Pulsschläge pro Minute in Ruhelage. Diese Organe brauchen bis zum 16. Lebensjahr, um annähernd ihre Erwachsenenfunktion zu erreichen. Daher ist es sportmedizinisch nicht zu vertreten, Jugendliche vor dem 16. Lebensjahr hart für den Leistungssport trainieren zu lassen. Da diese Organsysteme vor diesem Zeitpunkt noch nicht genügend herangereift und stabilisiert sind, können Schäden am Herzen und am Bewegungsapparat entstehen, die das ganze folgende Leben belasten können.
Entsprechend der Entwicklung dieser rhythmisch tätigen Organe zeigt sich in diesen Jahren auch eine neue Qualität im Denken des Heranwachsenden: eine zunehmende Fähigkeit zur selbständigen Urteilsbildung. Nicht neue Gedanken sind hier das Entscheidende – der Bildgehalt des Denkens ist ja bereits entwickelt. Er kann zwar noch bereichert werden, das würde aber keine neue Qualität im Denken bewirken. Das Neue hängt vielmehr mit einer anderen Art des Umgangs mit den vorhandenen Gedanken zusammen, so wie dies bei der urteilenden Tätigkeit der Fall ist. Die Urteilsfähigkeit stellt eine neue Möglichkeit dar, Gedanken zu bewegen und gegeneinander abzuwägen.
Diese Tätigkeit des Abwägens entspricht dem Ein- und Ausatmen, dem rhythmischen Aufnehmen und Abgeben, indem man zunächst den einen Gedanken aufnimmt und prüft und ihn dann wieder vor sich hinstellt und dann dasselbe mit einem anderen tut. So wird im Abwägen zwischen unterschiedlichen Gedanken ein Urteil gebildet.
Wer Kinder dieses Alters beobachtet, wird auch bemerken, dass es sich bei dieser erwachenden Urteilsfähigkeit nicht um ein abstraktes Urteilsvermögen handelt, sondern in erster Linie um ästhetische Urteile: ob etwas schön oder hässlich, gut oder böse, gemein oder nicht gemein ist, ob Kinder in der Schule „doof“ oder „nett“ sind, ob die Lehrer etwas taugen oder nicht. Das ist das Feld, auf dem intensiv geurteilt wird. Das Mitschwingen von Gefühlen beim Bilden ästhetischer Urteile hängt mit dem Zusammenspiel mit Atmung und Kreislauf zusammen. Auch noch im Erwachsenenalter wirkt sich jede Gefühlsregung unmittelbar auf Atemtiefe und -frequenz oder auch auf die Blutzirkulation aus, indem wir erröten oder erblassen.
· Gliedmaßen- und Stoffwechselsystem – 3. Jahrsiebt
Nach der Pubertät reifen die Gliedmaßen aus, die ihre endgültige Größe zwischen dem 18. und 22. Jahr erlangen, und mit ihnen auch der gesamte innere Stoffwechsel. In dieser Zeit werden die hormonelle Regulationsfähigkeit sowie die volle Funktionstüchtigkeit der Reproduktionsorgane erworben. Blickt man auf das sich jetzt auch weiterentwickelnde Denkvermögen des Jugendlichen, so fallen einem sofort zwei ganz neue Qualitäten ins Auge:
Auf der einen Seite der starke Wille, im Denken eine eigene Meinung zu bilden. Diese selbst erarbeitete Meinung oder Lebensansicht wird von dem Jugendlichen als neugewonnene innere Stabilität erlebt – wie ein seelisch-geistiges Rückgrat. Die Fähigkeit zur eigenen Wahrheitssuche und die Festigkeit und Sicherheit, die durch selbsterarbeitete Wahrheiten entsteht, gibt dem Gedankenleben gleichsam eine Art inneres Skelett.
Auf der anderen Seite erleben wir beim Jugendlichen den erwachenden Idealismus, die Fähigkeit, sich für dieses oder jenes im wahrsten Sinne des Wortes zu erwärmen und zu begeistern. Es wird erlebbar, wie die Kräfte, die die Stoffwechselorgane gebildet haben, nun für das Denken mehr und mehr zur Verfügung stehen und hier nun ebenfalls die Brennwärme liefern.
Damit verbunden keimt etwas im menschlichen Denken auf, was man mit individueller Verantwortungs- und Entschlussfähigkeit bezeichnen kann.
Daher sollten Jugendliche erst dann für mündig erklären werden, wenn sie ausgewachsen sind, was im Durchschnitt mit dem 21. Lebensjahr der Fall ist. Erst wenn in seinem Denken die volle Kraft der Persönlichkeit wirksam ist, kann ein junger Mensch die volle Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Und das ist eben erst mit dem Ausgewachsen-Sein des ganzen Organismus der Fall und nicht schon mit der Reifung des Nervensystems und der Sinnesorgane.
Gedanken entstammen dem ganzen Körper
An dieser Stelle sei gesagt, dass es eine irrige Vorstellung ist zu meinen, das Gehirn produziere Gedanken. Der ganze Organismus kann, wenn er seine Wachstumskräfte entlässt, gleichsam Gedanken „produzieren“ und weisheitsvolle Strukturen zur Verfügung stellen. Das Gehirn ist jedoch dasjenige Organ, an dem diese freiwerdenden Wachstumskräfte reflektiert und damit zum Bewusstsein gebracht werden. Das Nervensystem dient demnach nur dem Bewusstwerden der Gedanken, nicht aber ihrer Produktion.
Es wäre reizvoll zu zeigen, wie viele Erfahrungen aus dem Bereich der Neurologie diese Ansicht unterstützen und sicherstellen würden, wenn man sie nur in Erwägung zöge. Auch die große Plastizität und Übernahmefähigkeit der Großhirnrindenbezirke für neue Funktionen gehören in diesen Bereich und können dadurch verstanden werden.
Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Glöckler, Michaela, Verlag Urachhaus, Stuttgart
DIE NATUR DES DENKENS IN ERKENNTNIS UND ERFAHRUNG
Welche Rolle spielt das Denken für die Erlangung geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse?
Worauf basiert dieses umfassende Denkvermögen?
Denken als ein notwendiges Werkzeug
Rudolf Steiner und Ita Wegman berufen sich in ihrem gemeinsamen Grundlagenwerk Anthroposophischer Medizin „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst…“ auf die Natur des Denkens selbst. Denn sowohl in den exakten Naturwissenschaften als auch in jedem philosophischen und religiösen Bestreben wird das Denken als ein notwendiges Werkzeug vorausgesetzt. Ja mehr noch, würde man sich auf Wirklichkeit und Logik des Denkens nicht verlassen können, wäre überhaupt kein Erkennen möglich, geschweige denn das Vertrauen in die Ergebnisse der Forschung.[1]
In seiner Schrift „Die Schwelle der geistigen Welt“ bemerkt Rudolf Steiner dazu: „Die Seele hat ein natürliches Vertrauen zu dem Denken. Sie fühlt, daß sie alle Sicherheit im Leben verlieren müßte, wenn sie dieses Vertrauen nicht haben könnte. Das gesunde Seelenleben hört auf, wenn der Zweifel an dem Denken beginnt. Kann man über irgend etwas im Denken nicht ins klare kommen, so muß man den Trost haben können, daß die Klarheit sich ergeben würde, wenn man sich nur zur genügenden Kraft und Schärfe des Denkens aufraffen könnte. […] Diese Stimmung der Seele gegenüber dem Denken liegt allem Erkenntnisstreben der Menschheit zu Grunde.“[2]
Wegweisende Definition des Denkens
Um also überhaupt die Grenzen der Naturerkenntnis überwinden zu können, muss man sich auf die Natur des Denkens besinnen, mit dessen Hilfe
- einerseits Sinneserfahrungen vorgestellt – und damit gedacht – werden können,
- welches sich andererseits von der Sinneserfahrung loslösen kann und dann für rein geistige Betätigung zur Verfügung steht.
So steht im Zentrum von Kapitel 1 des genannten Grundlagenwerkes eine für Medizin und Psychosomatik wegweisende Definition des Denkens als Fundament für alles Weitere im Buch Ausgeführte. Das gewöhnliche Denken sei eine normalerweise unbewusst bleibende außerkörperliche Erfahrung: Es sei umgewandelte bzw. „verfeinerte“, nicht mehr im Lebenszusammenhang des Körpers tätige Wachstumskraft.[3] Dieser für Steiner grundlegende Tatbestand ist das Fundament der dann im zweiten Teil von Kapitel 1 skizzierten spirituellen Anthropologie sowie dem zugehörigen Substanz-, Krankheits- und Gesundheitsbegriff.
Da dieser dort nur formelhaft knapp beschriebene Tatbestand zum Verständnis des Buches grundlegend ist, sei im Folgenden der Versuch gemacht, ihn anhand einiger Beispiele aus Forschung und Erfahrung zu konkretisieren.
Vertiefende Verständnishilfe von außerkörperlichen Erfahrungen
Mit Rudolf Steiners Aussage, dass das unbewusste Körperleben und das bewusste Gedankenleben ein und dasselbe sind, werden
- ‚ewiges’ Gedankenleben im leibfrei-außerkörperlichen Bereich
- und vergänglich-zeitgebundenes Körperleben
konkret aufeinander bezogen: Denken wird als Brücke zwischen Geist und Materie verstanden.
Die Autoren schildern diesen Tatbestand aus geisteswissenschaftlicher Forschung Jahrzehnte, bevor empirische Schilderungen außerkörperlicher Erfahrungen im Sinne der ‚out-of-body experience‘ (OBE) bekannt wurden. Dieser Tatbestand kann wesentlich zum Verständnis von OBEs beitragen, wenn einem die Erfahrungsberichte der Betroffenen, bestimmte Glaubensvorstellungen oder der naturwissenschaftliche Erklärungsversuch als neuropatholo-gisches Phänomen nicht ausreichen. Denn die naturwissenschaftlich basierte Schulmedizin und Psychologie geht hypothetisch davon aus, dass hinter außerkörperlichen Erfahrungen lediglich abnorme hirnphysiologische Prozesse stehen, wie sie unter Medikamenteneinfluss und Sauerstoffmangel auftreten und zu Halluzinationen etc. führen können.
Für den anthroposophischen Arzt sind sie hingegen natürliche Exkarnationserfahrungen, die durch eine umfassende Lockerung des Ätherleibes aus dem physischen Leib zustande kommen. Was van Lommel und Knüll „endloses“ bzw. „fundamentales Bewusstsein“ nennen, beschreibt Rudolf Steiner als ein Erwachen in der ätherischen Welt. Tod wäre demnach ein Erwachen in der ätherischen Welt – im ‚ewigen Leben’. Was die meisten Menschen, die bewusst in Todesnähe waren, aus dieser Erfahrung mit ins Leben zurückbringen, ist die innere Gewissheit, dass das Leben nach dem Tod weitergeht und dass sich jeder Tag des Erdenlebens auf dem Entwicklungsweg hin zu mehr Menschlichkeit lohnt.
Berichte von außerkörperlichen Persistenzerfahrungen
Sehr erfreulich ist, dass seit den Berichten von Raymond A. Moody, George G. Ritchie und anderen weltweit bekannten Autoren auf diesem Gebiet sich auch namhafte Schulmediziner wie der niederländische Kardiologe Pim van Lommel und der deutsche Allgemeinmediziner Wolfgang Knüll, der selber eine Nahtoderfahrung auf der Intensivstation erlebt hatte, des Themas angenommen haben. Sie setzen sich auf Kongressen dafür ein, sensibler mit ‚bewusstlosen’ Menschen und solchen in Todesnähe umzugehen, da sie definitiv nicht ohne Bewusstsein sind.[4]
Vielmehr berichten diese Menschen nach der Rückkehr zum normalen Bewusstsein erstaunlich übereinstimmend von ihren Persistenzerfahrungen außerkörperlicher Art und den damit verbundenen Begegnungen mit lieben Verstorbenen und Wesen höherer Art in einer Welt von Licht, Liebe und Wärme, die in krassem Gegensatz zu den Szenarien von Krieg und Streit auf der Erde steht. Interessant ist dabei die kaum reflektierte Tatsache, dass diese Schilderungen zeigen, dass in diesem Ausnahmezustand die Sinneserfahrung zugleich eine Denkerfahrung ist. D.h. die Betroffenen ‚sehen’ ihren Leib von oben und ‚wissen’ zugleich davon und nehmen noch vieles andere gleichzeitig wahr. Meist tut sich auch eine umfassende Panorama-Erfahrung auf, oft verbunden mit einer Lebensüberschau, in der auch längst Vergessenes wieder gegenwärtig wird.
Erkenntniswissenschaftlicher Ansatz von OBEs
Steiner und Wegman beschreiben diese intensive außerkörperliche Erfahrung, in der Schauen und Denken eins werden, im Kapitel 1 so: „Was man jetzt in der verstärkten Denkkraft wahrnimmt, ist durchaus nicht blass und schattenhaft; es ist vollinhaltlich, konkret-bildhaft; es ist von einer viel intensiveren Wirklichkeit als der Inhalt der Sinneseindrücke. Es geht dem Menschen eine neue Welt auf, indem er auf die angegebene Art die Kraft seiner Wahrnehmungsfähigkeit erweitert hat. Indem der Mensch in dieser Welt wahrnehmen lernt, wie er früher nur innerhalb der sinnlichen Welt wahrnehmen konnte, wird ihm klar, dass alle Naturgesetze, die er vorher gekannt hatte, nur in der physischen Welt gelten; und dass das Wesen der Welt, die er jetzt betreten hat, darin besteht, dass ihre Gesetze andere, ja die entgegengesetzten, gegenüber denen der physischen Welt sind.“[5]
„Hier handelt es sich um das wirkliche Anschauen – um das geistige Wahrnehmen – eines Wesenhaften, das im Menschen wie in allem Lebendigen ebenso vorhanden ist wie der physische Leib.“[6]
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 2025[7]
[1] Vgl. hierzu Thomas Nagel, der in seinem Buch „Geist und Kosmos“ gezeigt hat, dass der Versuch, das Denken materialistisch zu erklären einen performativen Selbstwiderspruch enthält, da dieser Versuch „schließlich in etwas seinen Boden finden muss, das für sich genommen als gültig verstanden wird“. Nagel (2013).
[2] Rudolf Steiner, Die Schwelle der geistigen Welt, GA 17, S.7f.
[3] Rudolf Steiner Ita Wegman, Grundlegendes für einer Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27, S. 6.
[4] Vgl. van Lommel (2001; 2023); Knüll (2023).
[5] Siehe FN 3, S. 4.
[6] Siehe FN 3, S. 7.
[7] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.
DIE VIER QUALITÄTEN VON DENKEN UND LEBEN
Welche Gedankenqualitäten gibt es?
Wie kann man die Unterschiede erkennen und charakterisieren?
Natur der vier Denkarten
Es gibt nur vier Arten des „normalen“ Denkens – wenn wir den meditativen Bereich außenvorlassen, der außerdem die Imagination, die Inspiration und die Intuition umfasst. Alles, was wir denken, ist eine Kombination aus diesen vier Arten, genauso wie der Körper nur aus den unterschiedlichen Aggregatszuständen des Stofflichen, incl. der Wärme, zusammengesetzt ist. Ich möchte im Folgenden auf die Natur dieser vier Denkarten eingehen und darauf, welche „Form“ und „Substanz“ sie haben.
1. Fest – Gedanken über sinnlich Erfahrbares
Allen Gedanken sinnlich-substantiellen Inhalts liegt eine Sinneserfahrung zugrunde. Es handelt sich dabei um feste Vorstellungen mit klar umrissenen Inhalten aus Sinnes- und Lebenserfahrung. Diese Sinneserfahrung ist „fest“, kann nicht verändert werden. Was man sieht, hört, riecht, wenn man sieht, wie jemand sich heute kleidet, wie die Frisur aussieht, hört wie die Stimme in einem bestimmten Moment klingt – all sind Wahrnehmungen. Wenn man es verändert, macht der Beobachter eine neue Wahrnehmung, die als solche unveränderlich ist. Der Sinneseindruck selbst kann nicht verändert werden.
2. Flüssig – abstrakte Begriffe
Dem flüssigen Element kommt man auf die Spur, wenn man sich auf Gedanken konzentriert, die nichts mit Sinneswahrnehmungen zu tun haben, auf Begriffe. Diese sind bildlos, als solche nicht „vorstellbar", obwohl man sich natürlich eine bildhafte Vorstellung von einem Begriff machen kann. Zum Beispiel ist der Begriff „Blume" nirgendwo als „die Blume schlechthin", als das „Prinzip Blume“ sichtbar. Vielmehr gibt es nur Abertausende von ganz bestimmten Blumen, die vorstellbar sind. Das normale Denken basiert auf der Verwendung von Begriffen, um Vorstellungen zu bilden. Dabei nehmen wir den „flüssigen Bestandteil“ des Denkens, die Begriffe, jedoch meist nicht wahr, weil wir es gewöhnt sind bei den sinnlichen Inhalten unserer Vorstellungen Halt zu machen.
3. Luftig – plötzliche Einfälle
Das luftige Element hat eine vollkommen andere Dynamik, benützt aber das „Material“, das uns zur Verfügung steht: die Begriffe und Vorstellungen. Obwohl die Wesensglieder über Zeit und Raum hinausgehen, können sie nur auf das zugreifen, was in Zeit und Raum vorhanden ist. Es handelt sich um das luftige Element des Denkens, wenn plötzlich eine „gute Idee“ aufblitzt, man einen Einfall hat, der wie ein Windhauch ankommt und auch rasch wieder verschwinden kann. „Der Geist weht, wo er will“[1], heißt es im Evangelium.
Das Luftige ist sehr individuell in seinem Auftreten: Es gibt Menschen, die ihr Leben lang keine gute Idee haben. Ich kenne andererseits Menschen, die zu Veranstaltungen oder gesellschaftlichen Anlässen eingeladen werden, nur weil sie so viele gute Einfälle haben. Zwei oder drei von ihnen an einem Ort zu versammeln, kann sehr inspirierend sein.
Meine Erfahrung mit Einfällen ist, dass ich sie allzu schnell vergesse. Ein guter Einfall erfüllt mich so sehr, dass ich immer denke, ich müsste ihn nicht aufschreiben, weil er so wunderbar ist, dass ich ihn niemals mehr vergessen werde. Im nächsten Moment habe ich ihn jedoch vergessen. Das ist die luftige Dynamik: Etwas kommt und geht, rein und raus. Es verflüchtigt sich, auch wenn es noch so konzentriert wirkt.
Zur Unterscheidung von einer Intuition:
Eine Intuition kann zwar auch in Form von Gedanken- oder Erinnerungsbildern auftreten oder auch als plötzliche Vorstellung, ist aber grundsätzlich etwas anderes als ein Einfall. Jemand, der vorhat sich umzubringen, tut es wahrscheinlich nicht, wenn im letzten Moment das Bild eines geliebten Menschen auftaucht. Plötzlich tritt etwas aus unserem gesamten Gedankenpool, aus dem, was man sich bereits angeeignet hat, vor das innere Auge. Eine Intuition kommt nicht von außen herein, sie bildet sich aus dem, was man bereits hat. Sie hat deshalb eine andere Qualität als ein Einfall, der aus dem ohne Willensbeeinflussung stattfindenden freien Gedankenfluss auftaucht. Auf Intuitionen kann man sich willentlich vorbereiten – die Intuition ist deshalb der Willensaspekt des Denkens.
4. Wärme – Ideale
Wärme im Denken hat mit Idealen zu tun. Unabhängig davon, welche Ideale man hat, ihnen allen gemeinsam ist die Wärmequalität, die das ganze Seelen- und Geistesleben erwärmt und anregt. Ideale sind Gedanken, deren Sinn paradoxerweise nicht mehr im Bereich des Denkens selbst liegt, sondern in dem Willen, sie zu realisieren. Nur dadurch werden es tatsächlich Ideale. Daher kann man an ihnen die spirituelle Natur des Denkens am besten erkennen. Denn der Mensch wird zu dem, wonach er idealistisch strebt. Er verwandelt sich und seine Umwelt vermöge seiner Ideale. Sie – obgleich oberflächlich gesehen „nur" Gedanken – erweisen sich als das Leben und die Arbeit beherrschende geistige Kräfte.
Man braucht nicht viele Ideale: Wenn man nur ein oder zwei Ideale im Leben hat, werfen sie Licht und Wärme auf das ganze Leben, so wie Licht und Wärme ein Zentrum haben, von dem sie ausstrahlen.
Alle Gedanken, so intelligent sie auch sein mögen, setzen sich aus diesen vier Elementen zusammen.
Zeitliche Dimension der vier Denkarten
Zeitlich gesehen können Vorstellungen veralten. Was heute sichtbar und damit vorstellbar war, kann morgen schon verschwinden oder als Irrtum erkannt sein. Hingegen können Begriffe nicht veralten. Sie machen vielmehr die gedankenschöpferische Tätigkeit in der Gegenwart aus, in der immer wieder eine neue begriffliche Verarbeitung des Wahrgenommenen und Vorgestellten stattfindet.
Neues, Zukünftiges, Werdendes hingegen kommt erst durch Ideen und Ideale in das Denken herein. Das Gedankenleben umfasst und integriert somit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es entspricht der Zeitstruktur lebendiger Wesen. Denn ihre Art zu werden und zu vergehen, zu sterben und geboren zu werden, macht das Fundament der Lebensgesetzlichkeit aus.
Vgl. Ausführungen in einer Arbeitsgruppe an der JK Sept. 2007
[1] Neues Testament, Joh. 3, 8: „Der Wind weht wo er will. Du hörst sein Sausen, weißt aber nicht woher er kommt und wohin er geht. So ist jeder, der aus dem Geist geboren ist.“
BILDERDENKEN, DIALEKTISCHES UND IDEALISTISCHES DENKEN
Welchen Kräften verdanken wir die verschiedenen Arten zu denken?
Inwiefern sind unsere Wesensglieder daran beteiligt?
Denken dank Metamorphose der Wesensglieder
Die Wesensglieder sind einerseits an der Leib- bzw. Organbildung und andererseits, wenn sie leibfrei geworden sind, an der Bildung seelisch-geistiger Organe bzw. Kompetenzen beteiligt. Die Metamorphose der Formkräfte des Ätherleibes, die auch Gestaltungs- bzw. Bildekräfte genannt werden, der differenzierenden Kräfte des Astralleibes und der Integrationskräfte der Ich-Organisation stellt im Zuge der Entwicklung einen kontinuierlichen Prozess dar. Spannend ist, dass die Art des Wirkens der Wesensglieder auf körperlicher Ebene sich auf seelisch-geistiger Ebene deutlich erkennbar widerspiegelt.
· Bilderdenken durch freiwerdende Formkräfte
Dieser Zusammenhang wird für Eltern gut nachvollziehbar, wenn man sie darauf hinweist, dass nach der Formung des Leibes und der Organe im 1. Jahrsiebt die Kinder in Bildern, also Bildformen, denken.
· Dialektisches Denken durch freiwerdende Differenzierungskräfte
Entsprechend kommt das am Ende des 2. Jahrsiebts typische dialektische Denken dadurch zustande, dass die differenzierenden Kräfte nach der Ausreifung von Atmungs- und Kreislaufsystem im 15., maximal 16. Lebensjahr bzw. nach Erreichung der Geschlechtsreife leibfrei werden. Jetzt bildet sich die Fähigkeit aus, alles als Gegensätze sehen zu können. Der Hang zur Dialektik zeigt sich darin, dass der Erwachsene das eine sagt und der Heranwachsende das andere.
· Idealistisches Denken durch freiwerdende Integrationskräfte
Diesem Reifungsschritt folgt das idealistische Denken, das dem leibfrei Werden der integrierenden Kräfte aus Stoffwechsel-Gliedmaßen-System im 3. Jahrsiebt zu verdanken ist: Der junge Mensch ist jetzt in der Lage, eigenständig zu denken, sprich: geistig auf eigenen Füßen zu stehen, weil die entsprechenden Kräfte aus seinem fertig ausgebildeten Gliedmaßensystem leibfrei geworden sind. Die Kräfte, die der Brennwärme des Stoffwechsels entspringen, werden jetzt zur Brennwärme des Idealismus.
Und so kann man für die Funktion jedes physischen Organs die entsprechende Funktion im Seelisch-Geistigen finden und so den Zusammenhang mit den Wesensgliedern erkennen, wie sie jeweils leibbildend, seelenbildend und geisttragend wirken.
Vgl. Vortrag über Wesensglieder auf der Schulärztetagung 2016
ZEITLICH-ÜBERZEITLICHES DENKVERMÖGEN
Inwiefern ist das Denken der Zeit unterworfen?
Was macht die überzeitliche Qualität des Denkens aus?
Denken als Gestalter der Zeit
Denken verläuft in der Zeit, hat aber gleichzeitig aufgrund seiner Natur einen überzeitlichen Aspekt, den man auch als das Ewige im Menschen bezeichnen kann.
· Nachdenken und Vergangenheit
Wenn wir von Denken sprechen, gibt es zunächst die Möglichkeit des Nachdenkens. Man denkt mit oder nach, über was man selbst oder ein anderer bereits gedacht hat. Das gilt auch für das gesamte Wissen über die Natur. Denn die Natur ist bereits da. Wir finden sie vor und benützen unser Denken dazu, sie zu verstehen, darüber nachzudenken, wie sie zu dem geworden ist, was wir sehen können, welche Gesetzmäßigkeiten in ihr wirken und wie sich das Vorhandene aufgrund dieser Gesetzmäßigkeiten weiterentwickeln lässt.
· Vorausdenken und Zukunft
Mit der Frage nach der Weiterentwicklung stoßen wir schon an die Grenze zum Vorausdenken. Durch Vorausdenken können wir nicht nur in Fortsetzung des Nachdenkens Vorstellungen im Sinne einer Konsequenz für die Zukunft entwickeln, sondern wir können ganz neu und schöpferisch vorausdenken. Eine Mutter kann z.B. morgens bei der Hausarbeit plötzlich einen Einfall haben, wo die Familie im Sommer in den Ferien hinfahren könnte. Sie erkundigt sich hinsichtlich der Möglichkeiten und kann so im Februar die Voraussetzungen für einen Sommerurlaub schaffen, der sich erst im August verwirklichen soll und der nur durch Vorausdenken zustande gekommen ist.
Denkrichtung und Lebensalter
Tendenziell ist es so, dass ältere Menschen mehr im Nachdenken leben, wogegen Jugendliche mit ihrem stark von Wünschen getragenen Bewusstsein in der Zukunft zu Hause sind. In der Mitte des Lebens ist das Interesse an Vergangenheit und Zukunft oft gleich groß. Das menschliche Denken umfasst also nicht nur das geistig Wirksame bzw. Gesetzmäßige in der unbelebten, belebten und beseelten Natur, sondern es erweist sich auch als Gestalter und Meister der Zeit
- im Nachdenken über das, was in fernster Vergangenheit einmal angefangen hat
- und im Vorausdenken, was in späterer Zukunft vielleicht einmal kommen kann.
Beides ist als Möglichkeit im Denken veranlagt, das gewaltige Zeiträume umspannen und in die Gegenwart hereinholen kann, um angemessene Entscheidungen in der Gegenwart treffen zu können.
· Meditation und ewiges Jetzt
In seiner überzeitlichen Dimension zeigt sich das Denken, wenn man begreift, dass das Gedankenleben und das Körperleben beide den ätherischen Kräften zu verdanken sind, die, wenn sie leibfrei werden unser Denken ermöglichen. Sie sind Grundlage jeglicher geistigen Tätigkeit und somit das Ewige im Menschen, wie Steiner es nannte. In der Meditation über Begriffe und Ideale, aber auch über die Natur des Denkens gehen wir bewusst mit dieser Qualität um.
Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart
WAHRHEIT ALS GRUNDLAGE FÜR KÖRPERAUFBAU UND DENKEN
Inwiefern liegt Wahrheit unserem Denken und unserer Leiblichkeit zugrunde?
Wahres denken – aus Liebe handeln
Es gibt nichts in der Welt, worüber wir nicht nachdenken könnten. Die Welt, wie sie ist, kann in allen Einzelheiten bedacht und nach und nach verstanden werden. Dabei kann uns auf bestürzende Weise bewusstwerden, dass unser Denken bzw. unser Denkvermögen an sich auch „wahr“ ist, da es der Träger aller Gedanken und Gesetzmäßigkeiten ist, denen die Einzelheiten der Sinneswelt entsprechen. Dennoch ist das bloß Gedachte für uns noch nicht wahr, solange wir nicht aktiv die Beziehung zur Sinneswirklichkeit oder zu dem, worauf das Denken sich bezieht, hergestellt haben. Gelingt es, eine Übereinstimmung zwischen Gedanken und Wirklichkeit herzustellen, können wir die betreffende Wahrheit nicht nur denken, sondern auch empfinden und, wo möglich, realisieren. Es ist eine große Illusion zu meinen, es wäre schon genug, eine Wahrheit nur zu denken.
Gesellt sich zu dem, was als wahr erkannt wurde, nicht die Liebe zur Wahrheit, ist man nicht in der Lage, mit ihr im Leben und damit in der Welt des Handelns – also auf dem Boden der Wirklichkeit – so umzugehen, wie es dem Wesen der erkannten Wahrheit entspricht. Wie verletzend kann eine lieblos ausgesprochene Wahrheit für unsere Mitmenschen sein! Sie kann Kränkung bedeuten für das ganze Leben. Wird sie hingegen im rechten Augenblick und mit dem gebotenen Taktgefühl ausgesprochen, kann sie helfen, dass der andere seine Beziehung – zur Arbeit oder zu einem Menschen – neugestalten kann. Geht man mit der Wahrheit nicht in heilsamer, gesunder Weise um, wird man ihr nicht gerecht. Man läuft dann Gefahr, sie zu missbrauchen und in den Dienst persönlicher Neigungen zu stellen, indem man z.B. jemanden kritisiert, ohne sich zu vergegenwärtigen, was man damit bewirkt.
Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gesundheit
Rudolf Steiner hat deshalb im pädagogischen Zusammenhang immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Begriffe „wahr“ und „falsch“ heute ersetzt werden müssen durch „gesund“ und „krank“. So wie Irrtum und Lüge Behinderung und Unordnung bedeuten, so ist Wahrheit gleichbedeutend mit Einklang, Zusammenhang, Beziehung, Integration und Gesundheit.
Der Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gesundheit – und damit auch zwischen dem Denken und dem menschlichen Organismus – geht jedoch noch tiefer. In seinem gemeinsam mit der Ärztin Dr. med. Ita Wegman verfassten Buch „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“[1] führt Rudolf Steiner aus, dass das Denken dem Kraftsystem entspringt, nach dessen Gesetzen der menschliche Organismus aufgebaut ist. Nach Vollendung des Aufbaus wird ein Großteil dieser Kräfte aus dem Körper entlassen für das freie Gedankenspiel. Im Körper werden nur die Kräfte belassen, die zur lebenslangen Regeneration und Selbstheilungstätigkeit nötig sind.[2]
Schöpferisches Potential des Denkens
Die Denktätigkeit des Menschen nicht nur als schattenhafte Reflexion anzusehen, sondern als schaffende Bildekraft der Evolution, ändert schlagartig unser Verhältnis zu dieser Welt. Eine neue Dimension der Verantwortlichkeit tut sich auf, wenn uns bewusstwird, dass die Kräfte und Gesetze, die der Schöpfung zugrunde liegen, in Form des menschlichen Denkens auch uns in die Hand gegeben wurden. Durch unsere geistigen Möglichkeiten geht die Schöpfung weiter. Wir gestalten sie verantwortlich mit, indem wir Gedanken in Wirklichkeit umsetzen.
So wie am menschlichen Organismus alle Naturgesetze in irgendeiner Form mitwirken und nahezu alle Stoffe, die auf der Erde vorkommen – zumindest in Spuren – an seinem Aufbau beteiligt sind, so finden wir auf der Gedankenebene dieses weltumspannende Zusammenspiel von Gesetzmäßigkeiten entsprechend wieder.
Leiblichkeit, Kunst und Religion
Wir finden die Gesetze, die den verschiedenen künstlerischen Disziplinen zugrunde liegen, aber auch im Aufbau des Leibes wieder: Unserem Leib liegt Architektur zugrunde, er ist eine Plastik, folgt einer Komposition, hat Farbe, einen mimischen Ausdruck, „Körpersprache“ und kann sich in Tanz und Eurythmie bewegen. All diese Gesetzmäßigkeiten tragen wir selbstverständlich auch in unserem Denken, wodurch Kunsterkenntnis und Kunstverstehen überhaupt erst möglich sind.
Unser Leib ist aber auch nach moralisch-religiösen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut, was mit dem Wort aus dem Alten Testament angedeutet wird: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bild.“ Wir können das Studium der Bildnatur des Leibes als Weg zur Gotteserkenntnis entdecken.[3] Wer den menschlichen Leib als Bild zu sich sprechen lässt, begegnet der Göttlichkeit des Menschen – dem reinsten Ideal der Menschlichkeit, das sich in Bau und Funktion des menschlichen Körpers ein physisches Abbild geschaffen hat: Die Menschengestalt hat den Kopf im wahrsten Sinne des Wortes oben und alle anderen Bereiche, auch Herz und Hand sowie die inneren Organe, die Fortpflanzungsorgane, die Beine und Füße sind diesem Kopf sichtbar untergeordnet bzw. unterstellt. Wohin die Füße den Menschen tragen, wie er mit seinen Fortpflanzungskräften umgeht, was er sich von seinem Herzen sagen lässt, all das bedarf der klärenden und ordnenden „Weisung von oben“.
Denken als Orientierungshilfe
Wer nur seinem Herzen folgt oder seinen sexuellen Neigungen oder sich vom Leben hierhin und dorthin treiben lässt, widerspricht durch sein Handeln der Bildnatur seines Leibes, die davon spricht, dass das Erkenntnisleben, das Denken, dem Herzen, der Hand und dem Fuß Perspektive und Orientierung geben muss. Die Hand des Menschen ist so geformt, dass man ihr nicht ansehen kann, ob sie im nächsten Augenblick streicheln oder schlagen wird. Die Motive für den Gebrauch der Hand können nur gedanklich gefasst und klar erkannt werden.
Das Bild des menschlichen Körpers zeigt, dass darin ein Wesen lebt, das veranlagt ist, seinen Weg zu gehen, selbst die Wahrheit zu suchen und im Denken seine Orientierung, sein inneres bewusstes Lebenselement zu finden. Das macht deutlich, nach welchem Gottesbild der menschliche Körper geformt ist: nach der Christuswesenheit, die von sich sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“[4], und die durch ihre Inkarnation in einem menschlichen Leib diesen als Gottes Ebenbild in der Realität mit der Anwesenheit Gottes erfüllt hat. Damit ist das Zukunftsziel des Menschen für uns real geworden und kann nun als mögliche Wirklichkeit für unsere Selbstverwirklichung gesucht werden. Auf diesem Wege sind Lüge und Irrtum weckende Begleiter.
Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 4. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997
[1] Rudolf Steiner/Ita Wegman: Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, 1925, neueste Aufl. 2000, S. 12 f.
[2] Nähere Ausführungen hierzu in: Michaela Glöckler, Elternsprechstunde, 8. Aufl. Stuttgart 2008; Glöckler, M.: Elternfragen heute. 2. Aufl. Stuttgart 1995.
[3] Vgl. Michaela Glöckler, Elternfragen heute, 2. Aufl. Stuttgart 1995, S. 121 ff.
[4] Neues Testament, Johannes 14, 6.
DENKEN ALS BRÜCKE ZWISCHEN DER SINNESWELT UND DER WELT DES GEISTIGEN
Inwiefern kann das Denken die Kluft zwischen der Sinneswelt und dem Geistigen überbrücken?
Die Kraft gerichteter Aufmerksamkeit
John Eccles hat in seinem Buch „Wie das Selbst sein Gehirn steuert“[1] herausgearbeitet, in wie hohem Maß durch die Kraft der gerichteten Aufmerksamkeit, die das Ich den Dingen und Vorgängen mithilfe des bewussten Denkens zuwendet, das Gehirn erst zu seinen Leistungen angeregt wird. Die lebenslange Plastizität des menschlichen Gehirns, das heißt die Möglichkeit, das Gehirn in seinen Feinstrukturen bis ins höchste Alter verändern zu können und immer wieder neue Vernetzungsstrukturen zu veranlagen und zu benützen, ist eine Folge dieser nur beim Menschen vorhandenen Denkfähigkeit und der vom Denken gelenkten und kontrollierten Lernprozesse und Handlungsabläufe.
Dem menschlichen Denken sind alle Gesetzmäßigkeiten zugänglich, die den Dingen, der Natur und den Naturwesen, aber auch der vom Menschen geschaffenen Technik zugrunde liegen. Z.B. zeigt sich das Gesetz des freien Falls an jedem Körper, der fällt – es beherrscht ihn, ist in ihm „drin“, an ihm wirksam. Der Mensch kann dieses Gesetz denken, auch wenn es gerade bei ihm nicht wirksam bzw. in Aktion ist. Denn in der menschlichen Denkfähigkeit ist die gesamte Weisheit der Natur enthalten, die Gesetze, nach denen Minerale sich bilden und zerfallen, nach denen Erde und Kosmos verbunden sind, nach denen sich die Verinnerlichung äußerer Eindrücke vollzieht. All das kann man sich durch bewusste Seelentätigkeit zugänglich machen.
Schöpferisch durch außerkörperliche Kompetenz
Der Mensch kann diese Weisheit in abstrakter, das heißt von dem „Drin-Sein“ in den Naturvorgängen befreiter Form als Denken betätigen. Die außerkörperlich wirksame Natur des Denkens gibt uns die Möglichkeit, in freier Weise die sonst zwingend wirksamen Naturgesetze zu handhaben, spielerisch mit ihnen umzugehen, sie auch neu zu kombinieren und damit originell und schöpferisch tätig zu sein. Ja, mehr noch: Sie ermöglicht dem Menschen ein selbstbewusstes, rein geistiges Leben, die Erfahrung, ein selbstbestimmt lebender „freier Geist“ zu sein.
So gesehen erweist sich das Denken tatsächlich als Brücke „über den Strom“, der rein Geistiges von natürlichen, den Sinnen wahrnehmbaren Dingen trennt. Denn die allem materiellen Dasein innewohnende Gesetzmäßigkeit kann im menschlichen Denken durch rein geistige Tätigkeit als Gesetz erkannt werden. Über das Denken, das Geistesleben des Menschen, haben wir Zugang zu der die Materie beherrschenden Weisheit. So ist es berechtigt, das Wort „Geist“ im engeren Sinne für den von der Wirksamkeit in den Naturerscheinungen losgelösten Menschengeist zu benutzen. Es ist aber auch gerechtfertigt, im weiteren Sinne vom Geist in der Natur zu sprechen.
Denken als übersinnliche geistige Realität begreifen
Damit ist der Weg frei, im Denken eine übersinnliche – eben nur dem Denken selbst zugängliche – geistige Realität zu sehen. Gedanken als Bilder, Imaginationen, und geistige Gesetze sind Zugänge zu übersinnlichen Wesen und Vorgängen, die sich im Denken ebenso darstellen lassen wie Sinnlich-Gegebenes.
Wird uns im Nachdenken über das Denken bewusst, dass wir im Denken die sinnliche Welt verlassen können und von zwei Seiten her Botschaften empfangen – von der sinnlichen und von der geistig wesenhaften Seite, so erleben wir die Denktätigkeit als Brücke zwischen den zwei Welten. Das Denkvermögen selbst ist übersinnlicher Natur, durchdringt und versteht aber auch die Naturgesetze und damit alles sinnlich gegebene Dasein. Wird das Denken in seiner geistigen Natur erlebt, können auch meditative Wege beschritten werden, auf denen es möglich wird, das dem Denken innewohnende rein Geistig-Wesenhafte zu erfassen.
Der Gedanke des Ich kann hierbei richtungweisend sein. Denn bei ihm erleben wir genau, wie „dünn“ zunächst der bloße Gedanke des Ich ist gegenüber unserer komplexen sinnlichen Körpererfahrung. Durch Schulung unserer Aufmerksamkeit und unseres Denkvermögens können wir jedoch lernen, dessen leibfreie Natur zu erkennen und bewusst weiterzuentwickeln. Im Gedanken des Ich können wir die körperlose spirituelle Kompetenz unseres Wesens ebenso erfahren und verstehen lernen wie unsere naturgegebene körperliche Konstitution.
Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 3. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004
[1] John Eccles, Wie das Selbst sein Gehirn steuert, München 1996.
DENKEN UND LEBEN IN DER GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE
Welchen Aufschluss gibt die Philosophie im Wandel der Zeiten über den Zusammenhang von Denken und Leben?
Was sagt Rudolf Steiner über den Zusammenhang von Denken und Leben?
Einträge aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie
Dieser Zusammenhang lässt sich eindrücklich nachverfolgen beispielsweise im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ zu den Stichworten ‚Denken’[1] und ‚Leben’.[2]
A Definitionen von Denken in der Geschichte der Philosophie
- Die ‚Alten’, d.h. die Vorsokratiker bis herauf zu Homer, haben – so Aristoteles – „das Denken und das Wahrnehmen gleichgesetzt“[3]– Hören, Sprechen, Denken ergänzten einander und wurden als Bewusstseinsinhalte einheitlich erlebt.
- Erst bei Parmenides sei eine scharfe begriffliche Trennung vorgenommen worden.
- Platon habe dies erkannt, jedoch daran festgehalten, dass Denken ein übersinnliches Schauen, d.h. eine geistige Wahrnehmung ist.
„Im ‚Phaidon’ antwortet er auf die Frage, wann die Seele die Wahrheit erfasse . . . [65b9], daß dies nicht durch den Leib und die sinnliche Wahrnehmung (αἴσθησις) geschehe, sondern daß ‚ihr im Überlegen, wenn überhaupt irgendwo, etwas vom Seienden offenbar wird’ . . . [65c2f.] Das Wesen (οὐσία) einer Sache erkennt man, indem man über sie nachdenkt . . . [65e2–4]. Dies aber vermag am reinsten, wer ‚mit dem Denken selbst’, . . . ohne irgendeine sinnliche Wahrnehmung ‚beim vernünftigen Überlegen’ . . . hinzuzuziehen, sich einem jeden Ding selbst in seiner Reinheit zuwendet . . ., sozusagen ganz ohne den Leib, weil ‚der Leib die Seele verwirrt und sie die Wahrheit und vernünftige Einsicht nicht erlangen läßt, solange er mit ihr Gemeinschaft hat’ . . . [65e6–66a6]“[4]
- Während für Descartes in seinem berühmten „Ich denke – also bin ich“[5] das eigene Dasein noch durch das Denken Realitätscharakter bekommen konnte,
- tritt bei Kant die ‚reine Vernunft’ an die Stelle der platonischen Ideen, als eine transzendentale Vorstellung, die weiterhin das Übersinnliche als notwendig denkbar hält, wenn es auch ‚an sich’ durch das Denken nicht (mehr) beschreibbar ist.
- Damit ist seine Philosophie zwar anschlussfähig für die deutschen Idealisten Fichte, Schelling und Hegel. Anders als Kant beschreiben diese dann aber auf unterschiedlichen Gedankenwegen das ‚Ichsein’ und damit das eigene Seinserlebnis als transzendentale Subjekterfahrung.
„Hegel anerkennt als das Epochemachende der Philosophie seit Descartes und Kant die Einsicht, dass Denken Tätigkeit des Subjekts ist: ‚Das Denken als Subjekt vorgestellt, ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des existierenden Subjekts als Denkenden ist Ich.’ [Enzykl § 20]“[6]
Nach Hegel tritt dann aber diese ontologische Dimension der Selbsterfahrung im Denken in den Hintergrund.
- Daher wendet sich die Darstellung im Wörterbuch im weiteren Verlauf den sprachanalytischen Konzepten zu bis hin zu Wittgenstein,
- den geisteswissenschaftlichen Analysen von Husserl und Heidegger
- und der zunehmenden Formalisierung und Mathematisierung der Leistungen des Denkens bis in die Gegenwart.[7]
Rudolf Steiners Philosophie findet dort keine Erwähnung. Er ist der Entwicklung des denkenden Bewusstseins in seinen Rätseln der Philosophie von den Anfängen bis in seine Gegenwart nachgegangen.[8]
- Steiners historische Gesamtübersicht findet im Ausblick auf die imaginative Fähigkeit eines ‚erkrafteten’ Denkens, das zu einem ‚leibfreien’ und damit ‚übersinnlichen’ Schauen wird, seinen Abschluss.
B Definitionen von Leben in der Geschichte der Philosophie
· Leben nach Aristoteles und Thomas von Aquin
Nach Thomas von Aquin ging bei der Bestimmung des Lebens aus „von der aristotelischen Bestimmung des Lebens als der Seinsweise derjenigen Seienden, die der Selbstbewegung fähig sind.“ Dies ermöglichte es, „Wahrnehmungs- und Denkakte als Selbstbewegung zu fassen und ihren Subjekten Leben zuzuschreiben. Aus dem je verschiedenen Ausmaß der Selbstverfügung des Lebenden über die Bedingungen seiner Selbstbewegung leitet Thomas verschiedene Stufen des Lebens ab: Pflanze, Tier, Mensch, Gott.[9] Die gleichen Stufen erklärt er aus dem je verschiedenen Maß der Immanenz der Lebensakte.[10] Die höchste Stufe des Lebens ist in Gott verwirklicht, insofern seiner Selbstbewegung keine außergöttlichen Bedingungen vorgegeben sind und insofern seine Lebensakte den höchsten Grad der Immanenz besitzen… Dieses Leben bestimmt er als ein Erkanntwerden. Leben wird so zu einer transzendentalen Seinsbestimmung. Während die transzendentale (ontologische) Wahrheit die Erkennbarkeit des Seienden meint, zielt ‚vita’ auf dessen faktische Erkanntheit. Dieser thomasische Ansatz ist weder von Thomas selbst noch von späteren Denkern des Mittelalters systematisch ausgewertet worden.“ – so Vennebusch in seinem Beitrag zum Stichwort ‚Leben’ im Wörterbuch.[11]
· Leben nach Descartes
Erst im 17. Jahrhundert verliert der Begriff „Leben“ im philosophischen Diskurs seine Bedeutung, insbesondere bei Descartes, der versucht, das „Zusammenwirken von ‚Seele’ und ‚Körper’“ durch „esprits animaux“ (Lebensgeister) zu erklären.[12]
· Leben nach Toellner
Toellner stellt in seinem Beitrag zu ‚Leben’ als „Begriff und Gegenstand einer Wissenschaft vom Lebendigen“ zusammenfassend klar: „Die Bestimmung dessen, was als Leben zu gelten hat, ist also primär abhängig vom Weltbild, in dem die Kriterien für die Entscheidung Leben/Nicht-Leben gefunden oder gesetzt werden müssen. Die Ausgrenzung eines spezifischen Lebensbezirkes aus den (verschiedenen) Vorstellungsformen einer total belebten Welt (z.B. Hylozoismus) einerseits und aus dem rationalen Entwurf einer total unbelebten anorganischen Welt (Mechanismus) andererseits teilt die europäische Biologiegeschichte in zwei Epochen: in die antik-mittelalterliche, die von Aristoteles begründet wird, und in die neuzeitliche, die nach Descartes entsteht.“[13]
· Identität von Leben und Denken nach Steiner
Dass Rudolf Steiner die Identität von Lebens- und Denktätigkeit in seiner Anschauung von der ätherischen Organisation als sowohl leibbildend als auch leibfrei der gedanklichen Reflexion dienend zum Zentrum seiner praxistauglichen Menschenkunde macht, wird auch hier nicht erwähnt.
· Zusammenhang von Leben und Denken Mitte bis Ende 20. Jhdt
Seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutieren Philosophen erneut die Frage des Zusam-menhangs von Leben und Denken (allgemeiner: Bewusstsein). So wiesen Hans Jonas[14], Viktor von Weizsäcker[15], Robert Spaemann, Reinhard Löw[16] und Thomas Fuchs[17] darauf hin, dass das Verständnis des Lebendigen die Selbsterfahrung im eigenen, lebendigen Körper voraussetzt. Der kanadische Philosoph Evan Thompson schrieb von einer „tiefen Kontinuität“ zwischen Leben und Bewusstsein, da sowohl das Leben als auch das denkende Bewusstsein sich in sinnvoller und sinnschaffender Weise nach autonomen Kriterien selbst organisieren. Denken kann deshalb als eine „innere, bewusste Erfahrung“ des Lebens angesehen werden.[18]
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 2025[19]
[1] Vgl. Bormann u. a. (1972), S. 59–104.
[2] Vgl. Hadot u. a. (1980), S. 51–103.
[3] Aristoteles, De anima, S. 427.
[4] Vgl. Bormann u. a. (1972), S. 63f.
[5] Descartes (2009), Meditation (II, 3).
[6] Vgl. Bormann u. a. (1972), S. 91.
[7] Vgl. ebd., S. 92–104.
[8] Vgl. dazu SKA 4.
[9] [S. theol. I, q. 18, a. 1–3]
[10] [S. contra gent. IV, 11.]
[11] Vgl. Vennebusch in: Hadot u. a. (1980), S. 61.
[12] Vgl. Piepmeier in: Hadot u. a. (1980), S. 66.
[13] Vgl. Toellner in: Hadot u. a. (1980), S. 98.
[14] Jonas (2011).
[15] V. v. Weizsäcker (1960).
[16] Spaemann und Löw (2005).
[17] Fuchs (2021).
[18] Vgl. Thompson (2007) und Hueck (2023).
[19] In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.
FRAGEN ZUM THEMA EINFLUSS DES DENKENS AUF DIE GESUNDHEIT
FRAGE: Wie kommt es, dass man gerade heute so viele müde und verhärmte alte Menschen trifft, wo es doch eigentlich mit der geistigen Kraft aufwärts gehen sollte?
ANTWORT: Ich möchte diese Frage am Beispiel einer Patientin erläutern, bei der ich besonders gut wahrnehmen konnte, wie schwer ihr das Altwerden gefallen ist, nachdem sie das 75. Lebensjahr überschritten hatte. Sie war ein geistig sehr aktiver Mensch und verfiel dennoch in den letzten Lebensjahren zunehmend in eine gewisse geistige Starre, die es ihr erschwerte, mit anderen Menschen Kontakte zu pflegen. Sie wurde ängstlich und argwöhnisch, und man sah, wie die Verhärtungs- und Sklerotisierungsprozesse des Alters so überhandnahmen, dass sie ihr bewusstes Gedankenleben stark beeinflussten
Sie hatte als junges Mädchen die Anthroposophie kennengelernt und seither unablässig an ihrer inneren Entwicklung gearbeitet und führte äußerlich ein erfolgreiches und tüchtiges Berufsleben. Ihr Mann war früh verstorben, sie war ganz auf sich angewiesen. In ihrer frühen Kindheit hatte sie sehr unter einem extrem strengen Vater zu leiden gehabt und war in der Situation, als ältestes von jüngeren Geschwistern viel zu Hause helfen und bis in die Nacht hinein arbeiten zu müssen.
Sie ist für mich ein typisches Beispiel dafür, wie gerade in der frühen Kindheit, in der das Nervensystem sich aufbaut, Schäden veranlagt werden können, die sich dann in stärkeren Abbauerscheinungen im späteren Alter widerspiegeln. Aufgrund ihrer erschwerten Kindheits- und Jugendentwicklung wären Erkrankungen im Alter schon früher zu erwarten gewesen. Durch ihr sehr aktives Innenleben jedoch war sie weitgehend in der Lage, diesen schwächenden Einflüssen entgegenzuwirken.
Hier liegt für mein Empfinden eine der wichtigsten Aufgaben einer zukunftsorientierten Erziehung, die nicht nur den Augenblickserfolg, sondern die ganze Biographie ins Auge fasst: durch die Pflege der Wachstumskräfte in der Kindheit solchen Alterungsvorgängen vorzubeugen. Der Grund, warum es so viele Menschen gibt, die im Alter in bedauerliche Lebensumstände geraten, liegt zum einen in den unzureichenden Entwicklungs- und Erziehungsbedingungen unserer Zeit. Zum anderen ist die mangelhaften Aktivierung der seelisch-geistigen schöpferischen Kräfte daran schuld, die in einer durch den Materialismus geprägten Kultur zu wenig angesprochen und gepflegt werden.
FRAGE: Welche Möglichkeiten gibt es im späteren Leben, den durch zu frühes intellektuelles Training zu erwartenden Schäden vorzubeugen, indem Wachstumskräfte in der Kindheit übermäßig in Denkkräfte umgewandelt wurden?
ANTWORT: Korrekturmöglichkeiten liegen immer in den Lernthemen, die für ein bestimmtes Lebensalter an der Reihe sind. Ist ein achtjähriges Kind z.B. durch überhöhten Fernsehkonsum motorisch ungeschickt, neigt zu Stereotypie in seinen Bewegungen, wiederholt ständig bestimmte Formulierungen und ist unfähig sich länger zu konzentrieren, so hat es keinen Sinn, mit einem solchen Kind die versäumte Kinderentwicklung einfach nur nachholen zu wollen.
Achtjährige brauchen Spaziergänge in der Natur, Bewegungsspiele im Freien, einfache Rätsel, Lernen von Gedichten, die immer wieder neu sprachlich geübt und erarbeitet werden, Zeichnen von einfachen Formen mit der Hand, mit dem Fuß, mit immer anderen Farben, das Malen von Bildern zu gehörten Geschichten, einfache musikalische Übungen an einem Instrument und in Form von Singen. All das sind altersentsprechende Lernfelder, die fordert das Kind in seiner Lerndisposition herausfordern und gleichzeitig eine Beziehung zwischen Lehrer und Kind aufbauen helfen. Erst auf dieser Grundlage kann manches aus der Kleinkindentwicklung altersgemäß angepasst nachgeholt werden.
Im Erwachsenenalter lässt sich durch Arbeit an sich selbst auch noch manches nachholen. Denn jedes Alter hat seine altersspezifische Lerndisposition, weshalb wir lebenslang die Möglichkeit haben, Versäumtes bis zu einem gewissen Grad nachzuholen, indem wir eigenaktiv seelisch-geistig heilsam auf den Leib einwirken.
FRAGE: Gibt es auch eine intellektuelle Unterforderung in der Kindheit?
ANTWORT: Es gibt natürlich auch das Problem der Unterforderung. Wenn Wachstumskräfte brachliegen und nicht altersentsprechend angespannt und genützt werden, so werden dadurch möglicherweise Schädigungen für das spätere Leben veranlagt. Wachstumskräfte, die vom Organismus nicht mehr gebraucht werden und nicht rechtzeitig in Gedankenprozesse übergeführt werden, verbleiben tendenziell beim Organismus und können hier zu Krankheitsdispositionen führen, wie es Rudolf Steiner verschiedentlich beschrieben hat. Durch den Krankheitsprozess betätigen sich diese Kräfte wiederum organisch, anstatt in Gedankenkräfte umgewandelt zu werden. Anstelle geistiger Neuschöpfungen durch Gedankenarbeit entsteht jetzt eine Geschwulst. Auch hier hilft die künstlerische Tätigkeit im späteren Leben, solche Schäden wieder auszugleichen. Denn im künstlerischen Schaffen werden die schöpferischen Kräfte ergriffen und die Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedankenkräfte wird stimuliert.
An den öffentlichen Schulen kommt es zudem häufig zu einer Unterforderung anderer Art. Intellektuell sind die Kinder zwar eher überfordert, im künstlerischen Bereich sind sie jedoch fast alle unterfordert. Dies verhindert ebenfalls, dass sich alle Wachstumskräfte in Gedankenkräfte umwandeln können. Denn in der einseitigen intellektuellen Inanspruchnahme werden nur bestimmte Wachstumskräfte in Gedankenkräfte verwandelt und zum Denken benützt. Diejenigen Denkkräfte aber, die mit dem Phantasieleben und den schöpferischen Gestaltungsmöglichkeiten zusammenhängen, werden brachliegen gelassen.
Würde man auf diesem Felde gewissenhafte Studien durchführen, würden die Ergebnisse nahelegen, dass unsere Erziehungs- und Bildungssysteme grundlegender Veränderungen bedürfen, wenn wir als Menschheit auch im vorgerückten Alter schöpferisch und gesund bleiben wollen. Hierzu möchte die Waldorfpädagogik einen Beitrag leisten.
Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart