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Die ersten drei Jahre: Gehen - Sprechen - Denken

Aus Geistesforschung

Die ersten drei Jahre: Gehen - Sprechen - Denken – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

DREISCHRITT DER INKARNATION

In welchen Etappen vollzieht sich die Inkarnation?

Welche thematischen Schwerpunkte gibt es dabei?

Drei grundlegende Entwicklungsschritte

Grundsätzlich lassen sich bei jedem Menschen drei Entwicklungsschritte feststellen:

·       Erster Schritt – Leibergreifung

Die Schicksalsvorausschau aus dem Vorgeburtlichen schafft die Bedingungen, dass Kinder sich aufrichten, sozusagen auf die eigenen Füße kommen und ein Ich-Bewusstsein entwickeln können. Dieser erste Schritt kann auch als das Geschenk der „Verleiblichung“ aufgefasst werden.

·       Zweiter Schritt – Schicksalssprache lernen

Soweit wir Einfluss haben, sollten wir an das Schicksalsbewusstsein in einer Weise appellieren, dass das Kind sich angesprochen, aufgenommen und angenommen fühlt, dass es in eine Welt kommt, in der von Mensch zu Mensch miteinander kommuniziert wird.

·       Dritter Schritt – Aufleuchten des Ich-Bewusstseins

Im dritten Lebensjahr kann dann „der Blitz“ einschlagen: ICH BIN. Zusammen mit dem ersten Aufleuchten des Ich-Bewusstseins und dem ersten bewussten Denken des Ich wird die leuchtende Erfahrung gemacht: Ich bin ein Wesen, das einen Leib und ein Schicksal hat. Aber ich bin noch mehr – ich bin ein Wesen, das ein Bewusstsein seiner selbst hat.

Diese drei Schritte variieren bei jedem Menschen in ihrer konkreten Ausgestaltung. Dabei gilt: Je mehr der Leib Instrument wird für die Entwicklung und je mehr ein Mensch sein Schicksal als Spielplatz bzw. Schauplatz für diese Entwicklung begreift, umso wahrer, souveräner kann sich das wahre Wesen, das Ich des Menschen, finden.

Vgl. Vortrag von Dr. Michaela Göckler bei der Welterziehertagung in Dornach, April 2012

EMBRYONALE LEIBWERDUNG UND BILDEBEWEGUNGEN

Inwiefern hängt die embryonale Leibwerdung mit den späteren Fähigkeiten des Gehens, Sprechens und Denkens zusammen?

Gehen, Sprechen und Denken sind Ausdruck und Grundlage unserer Menschlichkeit; diese Fähigkeiten sind nur der Möglichkeit nach genetisch veranlagt als „Reaktionsnormen“, wie man in der Vererbungslehre sagt. Je nach Umgebung und Vorbild prägt das Kind sich Bewegungsmuster und Sprachlaute ein.

Schicksal gestaltende Bewegungen des Embryos

Ich möchte im Zusammenhang mit Gehen, Sprechen und Denken etwas näher auf den delikaten Prozess der embryonalen Leibwerdung im Hinblick auf die Schicksalsgestaltung eingehen. Es kann sein, dass die Individualität den veranlagten, im Mutterleib bereits gebildeten Leib nicht annimmt, weil sie den Eindruck hat, dass die Form der Organe doch nicht zu dem Entwurf passt, den es sich für seinen Schicksalsweg vorgenommen hat. Dann kann es zu Fehlgeburten kommen oder auch noch nach der Geburt zum sogenannten plötzlichen Kindstod. Andererseits erlebt man auch, wie z.B. ein Kind nach einer Frühgeburt mit aller Macht um ihr Leben und ihren Leib kämpft und dankbar ist, wenn die Intensivmediziner dabei helfen.

Dem Erwerb des aufrechten Ganges gehen intensive Bewegungsübungen und Vorgänge anderer Art voraus. Denn die Embryonalentwicklung selbst ist ein unablässiges, sich gestaltendes Bewegen. Alles bildet sich aus der Bewegung von Flüssigkeit und Eigenbewegung der Zellen und Zellverbände. Der Embryo selbst führt wundervolle plastisch bildende, formende Bewegungen aus. Hände und Beinchen gehen auf und ab und plät­schern, solange sie noch Platz haben, äußerst munter in dem Fruchtwasser herum. Sie machen quasi Eurythmie…

Diese Bildebewegungen – in der anthroposophischen Menschenkunde sprechen wir hier ursächlich von den ätherischen Bildekräften – sind eine Gestensprache: Das Sich-Runden und Sich-Strecken ist ein Sich-Öffnen und Sich-Schließen, ein Sich-Durchdringen, ist ein Zur-Ruhe-Kommen und Zu-Ende-Bringen. Wachstum und Entwicklung ist sinnvolle Bewegungsarbeit.

Verständigung mit der geistigen Welt über Gesten und Bewegungen

Im vorgeburtlichen Leben existieren Geist und Seele ohne den physischen Leib. Die Verständigung der Wesen in der geistigen Welt erfolgt nicht über Wort und Gedanke, sondern über eine ausdrucksstarke Gesten- und Zeichensprache, die sich als reine Kraft, reine Wesenhaftigkeit, reine Seelenfarbe, reine Ausdrucksform, reiner Geistesklang äußert. In unsere Erdenbegriffe übersetzt ist es eine vielfältige Gesten- und Zeichensprache, die klingt und singt, die Farbe und Form hat.

In der vorgeburtlichen Zeit tritt nun das Wesen des Kindes beim Herabstieg durch die Planetensphären über Gesten und Bewegungen in Dialog mit den hierarchischen Wesen, die diese Sphären bewohnen. Es nimmt die Hinweise und Zeichen als Aufforde­rungen wahr, wie sein Leib für das nächste Erdenleben optimal zu bilden ist, damit er zum schicksals­gerechten Erdenwerkzeug wird.

Rudolf Steiner beschreibt,[1] wie die Wesen in der vorgeburtlichen Welt sehr viel Interesse an allem haben, was auf der Erde passiert. Wie ein Gedanke sich mühelos um den Erdball bewegen kann, so sind die vorgeburtlichen Wesen noch ganz ohne Raum und ohne Zeit. Sie sind von ihrem Bewusstsein her allgegenwärtig. Entsprechend ihrem Schicksal fangen sie jetzt an auszuwählen, zu gruppieren und sich vielleicht für einen Menschen, einen Dichter oder einen Wissenschaftler zu begeistern, der hundert Jahre vor dem Zeitpunkt auf der Erde lebt, bevor sie selbst geboren werden. Rudolf Steiner sagt, die Ungeborenen leben in den zukunftsgerichteten Motiven der Menschen und fassen dadurch Mut, sich für ein neues Erdenleben zu begeistern.

Schmerzvoller Zwiespalt

Später, wenn sie sich entschieden haben, wohin sie gehen wollen, findet oft ein tragischer Kampf statt. Sie erkennen, dass sie eine bestimmte körperliche Disposition brauchen. Oft zeigt sich an der Stelle – so berichtet Rudolf Steiner –, dass Eltern, die eine passende Keimanlage zur Verfügung stellen können und/oder an einem Ort leben, an dem man einen wichtigen Menschen treffen möchte, seelisch und moralisch nicht einfach sind, d.h. dass Kindheit und Jugend schwierig sein werden. Die Alternative wäre, in Kindheit und Jugend liebevoll umsorgt zu sein, aber auf wichtige Begegnungen verzichten zu müssen. Diesen Zwiespalt würden viele ungeborene Seelen als einen schmerzvollen Kampf erleben, der vor der Embryonalentwicklung stattfindet. Das wirft aber auch ein Licht auf den Freiheitsraum der Erde: Einerseits leuchten von dieser Erde die begeisternden Vorbilder wieder hinüber in die Sternenwelt, andererseits die unendliche Tragik des angedeuteten Kampfes.

Am Anfang nehmen kleine Kinder das, was die Menschen tun, genauso auf, wie sie das Tun der Engel und Erzengel aufgenommen haben, und ahmen es nach. Vor diesem Hintergrund können wir verstehen, warum sie nicht nur die äußeren Gesten nachahmen, sondern – wie sie es aus der geistigen Welt gewöhnt waren – auch die moralischen Gesten und die Ge­danken- und Gefühlsbewegungen der Menschen. Die Nachahmungsperiode ist als langsames Ausklingen der seelisch-geistigen Verhaltensweisen im Vorgeburtlichen zu sehen. Erst danach beginnen Kinder, sich zuerst leiblich, dann seelisch und zuletzt geistig immer mehr auf die eigenen Füße zu stellen und ihre Handlungen selbst zu bestimmen.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes – Was erhält das kleine Kind gesund?“, Persephone 2012, Vereinigung der Waldorfkindergärten e.V. in Deutschland


[1] Rudolf Steiner, Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. GA 140, Vortrag vom 11.10.1913S.

GRUNDSÄTZLICHES ZUR REIFUNG IN DEN ERSTEN DREI LEBENSJAHREN

Was ist mit embryonaler Reifung unter dem Gesichtspunkt der anthroposophischen Menschenkunde gemeint?

Wodurch kann der embryonale Reifungsprozess gestört werden?

Embryonalentwicklung und Wesensglieder

Wir sprechen in der anthroposophischen Menschenkunde auf sehr spezifische Art von Reifung: Reifung bedeutet, dass die Wesensglieder Ich-Organisation, Astralleib (AL) und Ätherleib (ÄL) den embryonalen Menschenkeim im Mutterleib ergreifen und die Erbanlage von Mutter und Vater durchdringen und sich so zu eigen machen.

In der Regel entscheidet sich nach drei Monaten, ob das Kind den Erbleib wirklich annimmt, sonst kommt es zu einer Fehlgeburt. Wenn die Anlage stimmt und angenommen wird, beginnt der eigentliche Reifungs- und Entwicklungsprozess des Körpers. Der Embryo ist schon in der Schwangerschaft gefährdet durch Stress der Mutter sowie durch Gifte wie u.a. Alkohol und Nikotin. In den ersten vier Wochen, in denen das Kind sehr vulnerabel ist, konsumieren selbst Mütter, die das sonst nicht machen würden, oft noch Substanzen, die für das Kind nicht gut sind, weil sie erst später merken, dass sie schwanger sind.

Grundsätzlich gilt: Je jünger der Mensch ist, desto entwicklungsoffener, störbarer, beeinflussbarer ist er auch. Warum ist das so? – Je jünger ein Kind ist, desto weniger Bewusstsein steht ihm zur Verfügung. Das lässt sich mit der Metamorphose von körpergebundenen Wachstumskräften in leibfrei gewordene Gedankenkräfte erklären: Erst wenn die Körperreife soweit gediehen ist, dass die Organe fertig geformt sind, kann die zugrundeliegende Kraft den Leib verlassen und sich als Bewusstsein am Gehirn spiegeln. Anders ausgedrückt: Bewusstes seelisch-geistiges Wachstum verdanken wir der Entstehung eines Seelenraumes, und damit der Möglichkeit Willens-, Gedanken- und Gefühlsaktivität zu entwickeln.

Reifung als labiles Gefüge verstehen

Unter dem Gesichtspunkt der Wesensglieder verstehen wir unter physischer Reifung ein labiles Gefüge von körperlichen Reifungsvorgängen, die möglichst ungestört verlaufen sollten, aber nicht immer ungestört verlaufen. Und auch die freigewordenen Gedanken-, Gefühls- und Willenskräfte im Seelenraum sind sehr störanfällig. Um ein klareres Bild dieses Gefüges zu bekommen, müssen wir fragen:

Wie gehen das bewusste Ich, das bewusste seelische Gefühlsvermögen und das bewusste Gedankenleben miteinander um?

Und wie kommt das erwachende, selbstbewusste Seelisch-Geistige mit seiner Umwelt zurecht?

Wir sehen, der Mensch ist ein doppelt angreifbares Gefüge, das einen seelisch-geistigen Aspekt und einen körperlich-leiblichen Aspekt hat. Die Seele ist zwischen beiden wie aufgespannt.

  • Der physische Leib ist ein Raumesleib, eine Gestalt im Raum.
  • Der Äther- und Gedankenorganismus, auch Lebensorganismus genannt, ist ein Zeitenleib, ein Prozessleib: Er ist der Träger aller Störungen in der Zeit. Er erinnert sich auf unbewusste Weise an all unsere Traumata und Probleme, hält sie alle fest, sie sind ihm tief eingeprägt.
  • Von beiden wird auch das seelische Erleben beeinflusst.

Allem voran metamorphosiert sich der ätherische Organismus in unser leibfreies geistiges Vermögen. Astralleib und Ich-Organisation sind immer nur „Trittbrettfahrer“ bei diesem ätherisch-prozessualen Geschehen, weil sie selber weder räumlicher noch zeitlicher Natur sind. Sie ragen über die Prozessqualität des Ätherischen ins Physisch-Räumliche nur herein.

Die Gehirnreifung in den ersten drei Lebensjahren

Abschließend ein sehr verkürzter Blick darauf, welche Riesenleistung das Kind dank der rasanten Gehirnreifung in den ersten drei Lebensjahren vollbringt. Man kann sich diesen Reifungsprozess bis hin zur geführten Bewegung gar nicht dramatisch genug vorstellen. Das sei hier in Bezug auf die Fähigkeit zu zeichnen exemplarisch dargestellt:

  • Zuerst haben wir den völlig unkoordiniert strampelnden Säugling vor uns.
  • Mit eineinhalb Jahren kritzelt das Kind schon gerne, es fällt ihm aber immer noch schwer, die Kreide, das Wachsblöckchen oder den Stift koordiniert zu führen.
  • Mit drei, vier Jahren wird die zunehmende Impulskontrolle in den zu diesem Zeitpunkt typischen Kinderzeichnungen bereits künstlerisch sichtbar.

Das geht soweit, dass ein geschulter Blick einer Kinderzeichnung den Entwicklungsstand des betreffenden Kindes unter bestimmten Gesichtspunkten ablesen kann. Allein dieser Reifungsprozess ist ein Wunder, (wenn auch ein störanfälliges Wunder): Sich vorzustellen, dass Kinder mit drei, vier, fünf Jahren bereits so viel Selbsterkenntnis haben, dass sie sich und ihren Entwicklungs(zu)stand so malen können, ist eigentlich unfasslich.

Vgl. Vortrag am Thementag „Unruhiges Kind“, Nov. 2012

GEHEN – FREIES HANDELN – SCHICKSALSGESTALTUNG

Wie begleiten und nötigenfalls fördern wir das Gehenlernen am besten?

Vorbereitende Impulse und Lernschritte

Den Impuls sich aufzurichten bekommt das Kind schon sehr früh über den tastenden Blick des Auges. Das heißt, vom ersten Kopfheben kurz nach der Geburt an hat es in Bauchlage das Bestreben sich aufzurichten. Es muss seinen Körper aber erst auf das aufrechte Stehen vorbereiten – deswegen beginnt das Gehenlernen mit dem Stehenlernen. Und so ist ein ganz entscheidendes Zwischenstadium zwischen dem Liegen und dem Gehenlernen eine ausgedehnte Krabbelphase. Denn beim Vierfüßlergang in der Krabbelphase wird die Wirbelsäule in bester Position entspannt und beweglich gemacht, sodass sie sich an die Gewichtsbelastung beim aufrechten Stand gut anpassen kann. Als Nächstes ziehen sich Kinder an einem Stuhl oder an einem niedrigen Tisch hoch. Krabbeln und Hochziehen müssen sich in dieser ersten Zeit möglichst viel abwechseln, damit die Rückenmuskulatur stark genug ausgebildet wird, um dem ständigen Gleichgewichthalten im Stehen gewachsen zu sein.

Am Stehen und Gehen sind alle Muskeln beteiligt, nicht etwa nur die der Beine. Das sollte man wissen. Deswegen bedeutet Stehen- und Gehenlernen den ganzen Menschen in die Vertikale zu bringen, aber so, dass er elastisch schwingt. Wir Menschen halten immer ein labiles Gleichgewicht, wir stehen nicht stabil wie ein Tier auf seinen vier Beinen. Um unser Gleichgewicht zu halten, müssen wir uns immer aktiv in die Vertikale bringen. Das geschieht nicht von selbst. Das können wir schon daran erkennen, dass Betrunkene oder sehr müde Menschen leichter hinfallen – und zwar nach vorne. Beim Stehen müssen wir im wahrsten Sinne des Wortes „Zurückhaltung“ üben, weil unser natürlicher Schwerpunkt etwas nach vorn gelagert ist.

Dieses Sich-zurück-Nehmen ist nicht nur eine körpersprachliche Geste, sondern eine eminent wichtige moralische Kraft. Ein Mensch, der sich nicht zurückhalten kann, „steht nicht auf eigenen Füßen“. Er ist öfter seinen Emotionen ausgeliefert als ein Mensch, der aufrecht oder in Zurückhaltung steht. Wenn wir als Erwachsene üben, das Ich im Fühlen zwischen dem denkenden und wollenden Teil zu halten, können wir das unmittelbar nachempfinden.

Bewegungsentwicklung und Freiheit

Nun noch ein Gedanke zur Freiheit: Jedes Gelenk, Kniegelenk, Handgelenk usw. hat Freiheitsgrade. Wir bewegen uns in der Regel aus einem spontanen Bedürfnis heraus, uns irgendwohin zu bewegen, etwas zu erreichen. Nirgendwo wird Freiheit so unmittelbar erlebbar wie in der Bewegung. Spielraum-Geben und freies Ausleben-Lassen des Bewegungs­dranges sind die wichtigsten Fördermaßnahmen, um bei einem Kind das Erleben von Freiheit zu veran­lagen.

In dem Zusammenhang ist es wichtig, den Tageslauf und die Umgebung so zu gestalten, dass man möglichst wenig in die spontanen Bewegungsabläufe und Aktivitäten der Kinder eingreifen muss. Das Gehen- und Bewegenlernen sollte für sie mit einem elementaren Freiheitserleben verbunden sein.

Wenn der Mensch gelernt hat zu gehen, ist er in der Lage, auf andere Menschen zuzugehen. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, Schicksal anzunehmen, auf Schicksal zuzugehen.­ Wenn wir auf etwas zugehen, gestalten wir über die Bewegung Beziehung im Raum. Wir stellen über die Aufrichte die Beziehung her zwischen unten und oben, zwischen rechts und links, zwischen vorn und hinten. Nach hinten zur Vergangenheit hin sind wir wie abgeschlossen. Nach vorne hin sind wir offen – wir orientieren uns dorthin, wo es weitergeht. Wir zeigen der Vergan­genheit, dass wir sie abgeschlossen haben, und gehen auf die Zukunft zu.

Gehenlernen bedeutet also auch, Beziehung im Raum sinnvoll zu gestalten und weiterzuentwickeln. Deswegen ist es so wichtig, dass die Dinge im Raum sinnvoll angeordnet sind und dass die Menschen im Umfeld des Kindes auf sinnstiftende Art miteinander in Beziehung treten.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes – Was erhält das kleine Kind gesund?“, Persephone 2012, Vereinigung der Waldorfkindergärten e.V. in Deutschland

SPRECHEN – ZUHÖREN – LIEBEFÄHIGKEIT

Wie fördern wir die Sprachfähigkeit beim kleinen Kind?

Sprechen beginnt mit Zuhören

Das Sprechen beginnt mit dem Zuhören. Der Kehlkopf muss sich erst zu einem Sprachwerkzeug entwickeln. Beim Säugling sitzt er noch ein bisschen zu hoch und das hat seinen guten Grund: So kann der Säugling gleichzeitig trinken und atmen. Auf dem Kehldeckel sowie auf der Schleimhaut der Luftröhre befinden sich noch Geschmacksknospen, die sich später wieder zurückbilden. Im Lauf des ersten Jahres steigt der Kehlkopf langsam ab. Dann hören die Kinder beim Schlucken auf zu atmen.

Bei den Säugetieren bleibt der Kehlkopf zeitlebens in dieser „Babyposition“. Deswegen können sie nur unartikulierte Laute und bestimmte Schreie von sich geben. Die Tiere können auch ihre Lippen, Zähne und den Gaumen nicht für das Sprechen ausbilden, weil der Kehlkopf in dieser Position bleibt und sich das Gaumen­dach nicht wölbt. Der Kehlkopf wird beim Tier also nie ein Instrument für Sprache. So ist nur die Bildung ganz bestimmter Laute möglich – je nach Formung des Mund- und Gau­mengewölbes.

Was das Erlernen von Sprache fördert

Im Folgenden gebe ich einige praktische Hinweise, wie das Sprechenlernen kindgemäß gefördert werden kann.

· Nonverbale Sprache

In dem Zusammenhang möchte ich die Bedeutsamkeit der nonverbalen Sprache betonen. Sprachförderung beim Kleinkind, insbesondere in den ersten drei Jahren, geschieht am besten durch „sprechende Handlungen“, indem die Kinder erleben, dass alles, was getan wird, einen Sinn hat. Zuschauen ist in diesem Alter wie Zuhören. Das Erleben von Sinnvollem ist der Anreiz, es entweder auch zu tun oder etwas Sinnvolles zu sagen. Heute wird viel zu viel auf Kinder eingeredet, erklärt – und nur wenige von diesen vielen Worten sind Ausdruck von nachvollziehbaren Taten, haben wirklich Gewicht.

Die wichtigsten Elemente der Sprachförderung sind also sinnvolle, sprechende, geschickte Bewegungen und Worte, die sich mit Taten decken. Kinder hören ganz genau, ob Worte Gewicht haben. Wenn nicht, nehmen sie sie nicht ernst. Dann provozieren sie so lange, bis der Erwachsene fuchsteufelswild wird und wirklich ganz bei der Sache ist oder aufgibt und sie gewähren lässt. Doch das ist für das Kind ein enttäuschendes Erlebnis, weil es dann am Erwachsenen nicht das Vorbild eines Menschen hat, der zu dem steht, was er gesagt hat.

· Gute Artikulation und stimmige Sprachmelodie

Es ist wichtig, dass wir als Vorbilder für die Kinder selber gut artikulieren. 60 bis 70 Prozent der Kindergartenkinder haben heute Sprachstörungen. Das rührt u.a. auch daher, dass nicht gut artikuliert mit den Kindern gesprochen wird.

Nicht nur zum Stehen und Gehen brauchen wir alle Muskeln, sondern auch zum Sprechen. Um wirklich gut artikuliert sprechen zu können, müssen wir alle Muskeln einsetzen. Denn wenn wir sprechen, vollzieht unser Kehlkopf mit seinem kleinen Stütz- und Muskelapparat all die Bewegungen im Kleinen, die wir mit den Fingerspitzen, Händen, Armen und Beinen beim Bewegen machen. Deswegen ist die gesunde Bewegungsentwicklung eine so wesentliche Voraussetzung für das Sprechenlernen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Sprachmelodie. In ihr lebt das Gefühlselement der Sprache. Ihr Träger ist der Vokal. Vokale sind Musik. Sie geben der Sprache den ganz indivi­duellen Klang. Die Konsonanten formen diesen Klangstrom und schließen ihn ab. Wir sind ständig dabei, Klangströme zu formen und abzuschließen – das nennen wir Sprechen.

· Verbinden von Vokalen und Konsonanten

Diese einfache Betrachtung zeigt, dass in der Sprache immer zwei Aspekte eng miteinander verbunden sind:

  • Das eine ist das, was der Mensch in seiner Seele erlebt und durch den Klang als Stimmung, als Aussage nach außen kundtun möchte – über die Vokale.
  • Das andere ist, was dem Sprachstrom mit Hilfe der Sprachwerkzeuge, Muskulatur, Zähne und Gaumen formend entgegengehalten wird – die Konsonanten, die ihn unterbrechen, zurückstauen, quetschen.

Es ist ein Inneres und ein Äußeres – Luftstrom und Sprachwerkzeuge –, das wir beim Sprechen miteinander verbinden, eine Kommunion, die in uns selbst stattfindet. Sprache gestaltet immer, was der Mensch in und an der Welt und mit anderen erlebt und kommunizieren möchte.

Sprechen als Gestaltung von Beziehung in der Zeit

Beim Sprechen gestalten wir Beziehung in der Zeit, im Hier und Jetzt. Auch Hören verläuft in der Zeit. Wir können auch sagen, Sprache verläuft in der Zeit und gestaltet zugleich überzeitliche Beziehungen. Denn ich kann über die Vergangenheit sprechen und sie in die Gegenwart hereinholen. Ich kann aber auch die Zukunft planen und damit jetzt beginnen lassen. Die Gegenwart vermittelt zwischen beidem – sie ist der Raum, in dem gesprochen wird.

Das erklärt, warum der Erzengel Michael sich nur für die Zukunft interessiert. Rudolf Steiner formuliert in seinem Notizbuch: „Michael lebt nicht mit den Ursachen, sondern mit den Folgen der Menschentaten."[1] Angesichts eines Problems ist nur wichtig, sich zu fragen:

Was kann ich daraus lernen?

Was hat das Problem aus mir gemacht?

Wie benütze ich diesen Schmerz, der mich geweckt hat, um etwas Sinnvolles für die Zukunft zu machen?

Das ist michaelische Gesinnung, die sich über die Sprache mitteilt. Mit einem Wort kann man die Vergangenheit abschließen, kann man sich entschließen, zu verzeihen oder um Verzeihung zu bitten und dann wieder neu zu beginnen.

Sprache ruft Wesensqualitäten hervor

Welche Geister bitten wir zu Gast, wenn wir sprechen?

Durch die Art, wie wir miteinander sprechen, rufen wir ganz unterschiedliche Wesens- und Wirkensqualitäten in unsere zwischen­menschlichen Beziehungen herein. Die Geister, die wir durch unser Verhalten beim Namen rufen, sind wirklich anwesend, ob wir es wollen oder nicht.

  • Christus sagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen." [2]
  • Luzifer sagt: Wo zwei in meinem Namen auf ihrem Stand­punkt beharren, da bin ich mitten unter ihnen.
  • Ahriman sagt: Wo zwei in meinem Namen sich streiten, da bin ich mitten unter ihnen.

Meinem Vater[3] war es immer ein Anliegen zu betonen, dass die geistige Welt nicht im Jenseits ist, sondern im Hier und Jetzt. Und so wie Christus in allen Hierarchien seine Boten und Helfer hat, so haben auch Luzifer und Ahriman gewisse gefallene Engel als ihre Diener und Helfer.

In den Vorträgen, die Rudolf Steiner 1923 in Prag hielt,[4] wird ausgeführt, dass es unsere Aufgabe als Erzieher ist, Kinder über das Sprechen auf das Erleben in der Nacht vorzubereiten, so dass sie stärkende Kräfte aus den mit dem Christus verbundenen Engelreichen mitbringen und nicht dämonische Inspirationen.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes – Was erhält das kleine Kind gesund?“, Persephone 2012, Vereinigung der Waldorfkindergärten e.V. in Deutschland


[1] Rudolf Steiner, Mysterienstätten des Mittelalters. GA 233a.

[2] Neues Testament, Matthäus Kap. 18, 20.

[3] Dr. Helmut von Kügelgen - *14. Dezember 1916 † 25. Februar 1998.

[4] Rudolf Steiner, Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitätenm GA 224, Vorträge vom 28. Und 29. April 19.

DENKEN – SELBSTBEWUSSTSEIN – GEISTERKENNTNIS

Wie fördern wir die Fähigkeit des Denkens am besten?

Was im Menschen, in der menschlichen Seele, hat die Möglichkeit, über Raumesgrenzen und Zeitbedingtheiten hinaus zu reichen?

Denken als übersinnliche Fähigkeit jenseits von Raum und Zeit

In einem Pfingstspruch von Rudolf Steiner heißt es:[1]

Wesen reiht sich an Wesen in Raumesweiten,

Wesen reiht sich an Wesen in Zeitenläufen.

Verbleibst du in Raumesweiten, im Zeitenlaufe,

so bist du, o Mensch, im Reiche der Vergänglichkeiten.

Über sie aber erhebt deine Seele sich gewaltiglich,

wenn sie ahnend oder wissend schaut das Unvergängliche,

Jenseits der Raumesweiten, jenseits der Zeitenläufe.

Diese Fähigkeit lebt in den ersten Lebensjahren als unbewusste Intelligenz im Kind. Dann – meist plötzlich, wie mit einem Ruck – wird dem Kind bewusst: Ich bin ich. Oft sind es schreckhafte Erlebnisse, die das provozieren, manchmal aber auch strahlendes Glück oder eine besonders friedevolle Erfahrung, in der das Kind erstmals zu sich selber als einem denkenden Wesen aufwacht.

Im Denken führt jeder Mensch sein ganz eigenes, ganz persönliches, „übersinnliches“ Leben, das mit dem ersten vollbewussten Ich-Sagen beginnt. Es ist wichtig, dass man als ErzieherIn ein warmes Verständnis entwickelt für diesen dritten entscheidenden Schritt in der frühkindlichen Entwicklung: dem Erwachen zu sich selbst.

Den Denkenden als eigene Wesenheit denken

Der Philosoph Fichte machte mit seinen Studenten gerne folgende Gedankenübung: „Meine Herren: bitte schauen Sie diese Wand an – und nun, meine Herren, denken sie diese Wand, stellen Sie sich die Wand mit geschlossenen Augen lebhaft vor. Und jetzt, meine Herren, denken Sie den, der die Wand gedacht hat.“

Diese Gedankenübung macht bewusst, dass wir im Denken auch jemand sind, ein rein „gedachtes“, wollendes, gestaltendes, tätiges Potential – ein Gedankenwesen, nicht nur ein Körperwesen. Je mehr Bezüge wir mit uns und der Welt herstellen beim Denken, je weniger isoliert wir die Dinge betrachten, je mehr wir sie in den Gesamtzusammenhang integrieren, umso wahrer ist das, was wir denken. Wir benützen das Denken, um all das zu lernen, was wir als Menschen nicht von Natur aus – d.h. instinktiv – können, z.B.

  • um eine vernünftige Struktur in den Tageslauf zu bekommen
  • um richtig schlafen zu lernen
  • um richtig essen zu lernen
  • um sozial kompetent zu werden
  • um Selbst-, Menschen- und Welterkenntnis zu betreiben
  • um uns menschenwürdig fortzupflanzen
  • um berufstätig und lebenstüchtig zu werden – usw.

Bei alledem müssen wir unser Bewusstsein einschalten, Fehler erkennen, Lernprozesse durchmachen. Tiere haben von Natur aus, worum wir ringen müssen. Bei ihnen verläuft das Lernen über die Körperinstinkte. Sie haben keine andere Möglichkeit als sich intelligent zu verhalten. Dafür sind sie aber auch nicht zur freien Willensentfaltung und zu lebenslangem Lernen und Wandel befähigt.

Bei Mineral, Pflanze und Tier ist das Wissen, ist das Naturgesetz, ist die der Entwicklung zugrunde liegende Weisheit an die Substanz, das genetische Material gebunden. Nirgendwo tritt diese Weisheit, die Gesetzmäßigkeit, nach der alles funktioniert, „an sich“ auf, losgelöst, unabhängig von der Materie. Sie ist immer an einen realen Prozess gebunden.

Denken der Naturgesetze und Neuschöpfung

Das menschliche Denken ist der einzige Ort, an dem die Gesetze der Natur in abstrakter Form zu finden sind, herausgelöst aus der Materie. Die Weisheit der Welt tritt dort aus dem Naturdasein heraus und führt in unserem Bewusstsein ein geistiges Eigendasein. Deswegen empfinden wir unser Denken als leicht und frei, ohne Gewicht, unver­bindlich. Denken ist reine Geistesbewegung, ohne dass sich dadurch materiell sofort etwas realisiert. Wir können alles denken, was es gibt, und alle Gesetze finden, denen die Schöpfung und Entwicklung der Welt folgt – als reines Geistesspiel, herausgehoben aus dem natürlich irdischen Entwicklungsgeschehen.

Wir dürfen die Gedanken, die der Schöpfergott realisiert hat, nachdenken. Aber nicht nur das. Auch Pflanzen und Tiere „denken“ die Schöpfung nach, indem sie sie leben und diese Weisheit materiell verkörpern. Wir Menschen können das Nachdenken in ein schöpferisches Weiterdenken verwandeln, in Denken von noch nicht da Gewesenem, und können dadurch Welt und Leben ändern. Wir können aber auch Blödsinn und Irrtum denken in dem völlig freien Spiel der Möglich­keiten.

Wir gestalten unsere Wirklichkeit nach unserem Denken: Hände und Füße müssen warten, bis wir ihnen sagen, was sie tun, wohin sie gehen sollen. Sie sind, wie es auch an der aufrechten Menschengestalt abzulesen ist,[2] dem Denken untergeordnet. Insofern stehen wir heute vor der erschüt­ternden Tatsache, dass die Schöpfung vom Urbeginn durch uns Menschen in eine kritische Phase geraten ist. Es liegt an uns, an unserer freien Entscheidung, wie es mit uns und der Welt weitergehen wird.

Die Götter haben den Menschen als „Krone der Schöpfung" bezeichnet, und – sie haben ihn körperlich nicht fertig gestellt, haben ihn nicht so vollendet geschaffen wie die Tiere. Wir wurden als halb physische, halb geistige Wesen geschaffen, aber nicht so, dass in der Wiege die Gebrauchsanweisung liegt, wofür das Baby seinen Geist im Leben anzuwenden hat, sondern so, dass es selber darauf kommen muss.

Gottgegebener Freiheitsspielraum im Denken

So wie der Mensch sich beim Aufrichten ein bisschen zurücknehmen muss, um sich im Gleichgewicht zu halten und sich frei nach allen Seiten bewegen zu können, so hat sich auch der Logos, der Schöpfergott, beim Menschen zurückgehalten: Er hat uns einen Rest des Schöpfungsprozesses zur Selbstgestaltung überlassen. Er hat darauf verzichtet, den Menschen zu vollenden, und hat uns damit die Freiheit gegeben, mit der uns innewohnenden Schöpferkraft zu machen, was wir wollen. Diesen Freiheitsspielraum haben wir in unserem Denken, da sind wir absolut frei, dank der Zurückhaltung Gottes. Wir entfalten unser Selbstbewusstsein in einer Gedankenwelt, die uns alle Gesetze, alle schöpfe­rischen Möglichkeiten zwar an die Hand gibt, uns jedoch nicht bestimmt. Daher kann Intelligenz auch im Dienst von Verlogenheit und Destruktivität wie Verbrechen und Krieg stehen.

Ich möchte jetzt noch einen Schritt weiter in diese geistige Realität einführen und zeigen, wie der Mensch sich bei all dieser Spiritualität nicht verliert, sondern findet. Denn das Denken überwältigt uns nicht, sondern ermöglicht uns, uns selbstbewusst mit dem Geistigen in Beziehung zu setzen.

Menschliche Gabe der Urteilskraft

Scottus Eriugena, ein Theologe und Mönch des frühen Mittelalters, sagt in seinem Buch „De Devisione naturae“ (Über die Einteilung der Natur), dass der Mensch mit den Mineralien die physische Substanz, mit den Pflanzen das Leben, mit den Tieren die Seele und mit den Engeln das Denken gemeinsam hat. Er fragt jedoch noch weiter:

Was hat der Mensch nur für sich?                                                                          

Wo ist er ganz allein, ganz selbständig, und verdankt sich selbst, was er tut?

Seine Antwort ist, dass der Mensch als einziger die Fähigkeit zu urteilen hat. Wenn er urteilt, ist er ganz auf sich gestellt. Beim „Ur-teilen“ bemüht er sich, die Teile in einem stimmigen Verhältnis zum Ganzen zu sehen und so die Wahrheit einer Situation oder eines Prozesses zu erkennen. Wir Menschen sind die „Wesen der Beurteilung“, wie es im Alten Testament heißt, die Böse und Gut unterscheiden sollen. Selbsterkenntnis und Selbst­beurteilung, Welterkenntnis und Weltbeurteilung, kommen durch den Menschen als neue Qualität zu dem durch die Schöpfung Gegebenen hinzu.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes – Was erhält das kleine Kind gesund?“, Persephone 2012, Vereinigung der Waldorfkindergärten e.V. in Deutschland


[1]Rudolf Steiner, Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt. GA 118, Vortrag vom 15. Mai 1910.

[2] Rudolf Steiner, Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten. GA 224, Drei Etappen des Erwachens der menschlichen Seele. Vortrag vom 28. April 1923.

ANGST IN DEN ERSTEN DREI LEBENSJAHREN

Welche Ängste treten in den ersten drei Lebensjahren auf?

Wie können Eltern und Erzieher ihnen entgegenwirken?                                             

Formen der Leibesangst

· Angst im ersten Lebensjahr – Leibesangst

Im ersten Lebensjahr tritt die Leibesangst archetypisch als Fremdeln auf. Von den Kinderuntersuchungen kennen wir die Fremdel-Räume: Es ist von Kind zu Kind sehr unterschiedlich, wie nah man sich als Arzt einem Kind annähern darf, wenn es auf dem Arm der Mutter ist, ohne dass die kindliche Seele kollabiert – was man daran sieht, dass das Kind sich abwendet und sich fest an die Mutter klammert. Es wird wie eins mit dem mütterlichen Leib, schlüpft wie hinein. Wenn man aber weit genug entfernt ist, schaut es ganz keck. Das Erlebnis von Angst ist abhängig von der Distanz zwischen den Körpergrenzen. Die Wesensglieder des Kindes – Ich, Seele und auch der Lebensorganismus – sind noch nicht voll inkarniert, sondern befinden sich in einer Aura um das Kind herum. Wenn diese Aura berührt wird, fühlt sich der Körper als Bewusstseinszentrum bedroht.

Fremdel-Reaktionen bedeuten nicht, dass einen das Baby nicht mag. Manch ein Erwachsener, der sich von einem Kind abgelehnt fühlt, entwickelt starke Emotionen, was natürlich schädlich ist. Man sollte sich vielmehr freuen, dass das Kind so gesund reagiert, auf Abstand geht und aus dem Abstand heraus lächelt. Denn die Leibesangst wird durch physische Geborgenheit überwunden.

· Angst im zweiten Lebensjahr – Seelenangst

Im zweiten Jahr wird Angst vom Kind schon mehr seelisch erlebt. Das rein Seelische ist eng mit dem Gefühl verbunden. Dann kann es das erste seelische Erleben von Angst überwinden.

Die Seelenangst im zweiten Jahr kann durch den Blick und das Lächeln eines Erwachsenen aufgelöst werden, der dem Kind das Gefühl vermittelt, wahrgenommen zu werden. Es sucht den Blick der Bezugsperson, der Mutter bzw. der Erzieherin, um sich geborgen zu fühlen. Wenn ein Kind dagegen von einem Fremden angeschaut wird, erlebt es das oft als bedrohlich – man spricht vom Fremdeln im zweiten Jahr. Man muss sich deshalb als Erwachsener vorsichtig herantasten an Kinder im zweiten Jahr. Die Bezugsperson muss sich im Gesichtsfeld des Kindes befinden. Es stellt bereits eine Mutprobe dar, wenn sich Kinder verstecken, indem sie sich ein Tuch über den Kopf ziehen. Es geht darum zu sehen und gesehen zu werden – verschwinden gehört auch dazu.

· Angst im dritten Lebensjahr – Bewusstseinsangst

Mit dem Ich-Sagen im 3./4. Jahr taucht zum ersten Mal die Bewusstseinsangst, die gedankengestützte Angst auf. Da gibt es nun die Möglichkeit dem Kind zu sagen: „Schau die Uhr an – wenn die Zeiger wieder übereinanderstehen, bin ich zurück.“ Das Kind kann jetzt schon Vertrauen in ein gesprochenes Wort bzw. in einen Gedanken, der Sicherheit gibt, aufbringen. Es lernt zum ersten Mal, sich durch eigene Gedankentätigkeit zu entängstigen.

Man kann den Eltern von ängstlichen Kindern zeigen, wie man das üben kann. Das ist wie bei der Desensibilisierung im Rahmen einer Allergiebehandlung. Wenn Kinder z.B. panisch schreien, wenn die Eltern das Haus verlassen wollen, kann man in kleinen Dosen das Weggehen und das Aushalten der Trennung üben und so nach und nach Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Eltern aufbauen.

Fehlen von Angst durch Lebenssicherheit

Interessant ist, dass es diese Angst im Kindesalter bei den Naturvölkern gar nicht gibt. Wo noch nach den kulturellen Traditionen alter Kulturvölker gelebt wird, finden die Menschen Sicherheit in ihrer Lebensart: Die Erwachsenen fühlen sich vollkommen gebor­gen in der Natur, in Religion und Tradition, für jedes Lebensalter gibt es Rituale – alle erleben sich in einer sicheren Welt.

Ich fragte einen australischen Aborigine–Häuptling, der mir Uluru[1] im Zentrum Austra­liens zeigte, was denn für ihn Initiation bedeute. Er sagte: „Wir sprechen von Initiation, wenn wir etwas Neues lernen.“ Initiation bedeutet, Angst vor dem Neuen, dem nächsten Schritt, zu überwinden, den Mut aufzubringen, sich auf etwas Unbekanntes einzulassen. Bei diesen Naturvölkern geschieht das ganz im Schutz der Gemeinschaft und der Familie. Wie in den alten Mysterien wird man von den Ältesten Schritt für Schritt geleitet und braucht keine Angst zu haben. Ich fand es interessant, dass diese Angstfreiheit heute ethnologisch beobachtet werden kann.

Vgl. „Vorgeburtliche Disposition zu Angststörungen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013


[1] Ayers Rock im Northern Territory in Australien.