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Erziehung

Aus Geistesforschung

Erziehung – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

DIMENSIONEN DER ERZIEHUNG

Was bedeutet Erziehung?

Wer oder was erzieht den heranwachsenden Menschen?

Hauptfaktoren für Entwicklung

Seit den Forschungen von Robert Plomin und Judy Dunn[1] u.a. ist deutlich, dass drei Haupt­faktoren die körperliche Reifung und Entwicklung des Menschen bestimmen:

  1. Genetische Veranlagung
  2. Erziehung und Milieu
  3. die Qualität der menschlichen Beziehungen, die ein Kind in seinen Entwicklungsjahren er­lebt.

Erziehung und Medizin müssen sich immer wieder an diesen drei Faktoren ausrichten.

Heute ist bekannt, dass selbst die Gene im Sinne offener Systeme funktionieren und nicht so stabil und unveränderlich arbeiten, wie man dies noch im 19. und bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts geglaubt hat. Es wurde auch entdeckt, inwiefern die Qualität des Erbgutes positiv und negativ im Hinblick auf die Weitergabe an die nächste Generation beeinflusst werden kann. Man hat viele sogenannte terratogene, d.h. erbgutschädigende Substanzen und Medikamente gefunden und untersucht, wie z.B. Contergan. Es ist nachgewiesen, in wie hohem Maß z.B. Al­koholkonsum der Mutter oder das Zigarettenrauchen des Vaters degenerative Prozesse des Erb­gutes fördern, aber auch psychische Faktoren wie negative Emotionen und Stress.

Konsequenzen für die Pädagogik

Durch die umfangreichen Erhebungen im Rahmen der Bindungs- und Erziehungsforschung wurde evi­dent, wie sehr die Qualität menschlicher Beziehungen die Entwicklung des Kindes beeinflusst - ganz gleich, ob es sich um Eltern, Nachbarn, Menschen aus dem Bekanntenkreis oder aber Erzieher, Pädagogen und Ärzte handelt. Entscheidend ist, ob ein Kind sich von dem betreffenden Menschen angenommen und in seiner Persönlichkeit verstanden und unterstützt fühlt.[2]

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Pädagogik?

Dass man sich dieser Tatsache bewusst ist. Dass bei allem, was vom Säuglingsalter an durch die Wachstums- und Entwicklungsperiode mit Kindern und Jugendlichen geschieht, gefragt wird:

Welchen Einfluss hat diese Tätigkeit auf die körperliche Entwicklung?

Fördert sie Wachstum und Reifung der Vorgänge, die gerade in diesem Lebensalter an der Reihe sind, oder behindert sie diese?

Um diese Fragen altersentsprechend beantworten zu können, bedarf es einer Übersicht über die wesentlichen Reifungsschritte der körperlichen Entwicklung.

Vgl. „Gesundheit durch Erziehung“, 1. Kapitel, Kongressband 2006, derzeit vergriffen


[1] Judy Dunn; Robert Plomin, Warum Geschwister so verschieden sind, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nf. GmbH, Stuttgart 1996.

[2] Günther Opp; Michael Fingerle; Andreas Freytag (Hrsg.), Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz, Verlag Ernst Reinhardt, München.

DIE FÜNF EBENEN DER PÄDAGOGIK

Welche Ebenen der Pädagogik gibt es?

Welche Entwicklungsfelder betreffen sie?

Welche pädagogischen Perspektiven eröffnen sich dadurch?

Ebenen der Interaktion mit dem Kind

Hier würde ich gerne einige grundlegende Gesichtspunkte nennen, die für die kindliche Entwicklung hilfreich sind und die zuhause wie auch im Rahmen der professionellen Betreuung berücksichtigt werden können.

1. Der Raum – körperliche Entwicklung

Alles, was sich in der Umgebung eines Kindes befindet, wirkt auf seine Sinne. Deshalb ist es entscheidend, wie man den „Raum“, das Umfeld des Kindes, behandelt. Denn was über die Sinne wirkt, muss vom Nervensystem verarbeitet werden. Und daraus wiederum resultiert die Konfiguration des Gehirns für das ganze Leben. Auch der Körper ist Teil dieses „Raumes“.

Wie kann ein Kind dazu angeregt werden, sich so autonom wie nur möglich im Raum zu bewegen?

Rudolf Steiner sagt, die beste Erziehung bestehe darin, dem Kind Anregungen zu geben für seine Eigentätigkeit, ihm so wenig wie möglich zu zeigen oder vorzugeben und es so zu indoktrinieren. Spielräume schaffen ja, aber keine „spanischen Stiefel“ anlegen, die das Kind zwingen, in bestimmte Richtungen zu gehen.

Zum Aspekt des „Raumes“ gehört auch die gesunde Ernährung und alles, was mit der Interaktion von Körper und Umwelt zu tun hat, also alles, was die körperliche Entwicklung betrifft.

2. Die Zeit – Entwicklung von Fähigkeiten

Der Titel eines berühmten Buches in den USA lautet „The Hurried Child“[1] – das gehetzte Kind. Emmi Piklers Grundlagen-Buch hat den Titel: „Lasst mir Zeit“.[2] Diese Titel deutlich machen, dass das schöne biblische Wort – „Alles hat seine Zeit" – ganz besonders für die kindliche Entwicklung gelten sollte. Alle Prozesse, alle Tagesabläufe, alle Rhythmen haben ihre besondere Bedeutung im Tageslauf: Der Morgen hat andere Qualitäten als der Abend, Pflegezeiten haben eine andere Qualität als die Zeiten für das freie Spiel. In der Ausbildung zur Waldorfpädagogik wird man regelrecht darin geschult, wie man mit Rhythmen, mit Zeitgestalten, mit Entwicklungsepochen umgehen kann.

Ich habe vor einiger Zeit die Entwicklungsschritte des Kindes von Jahr zu Jahr detailliert ausgearbeitet.[3] Auch nach der modernen Entwicklungsforschung hat jedes Jahr ganz bestimmte Entwicklungsfenster, in denen bestimmte Fähigkeiten sich besonders gut entwickeln können. Wenn man etwas zu früh, also zum falschen Zeitpunkt, trainiert oder fördert, kann sich das Altersentsprechende nicht ausreichend entwickeln und das, was sich später entwickeln sollte, ist „frühreif“ und damit nicht stark genug entwickelt. Daraus ergeben sich in der späteren Entwicklung entsprechende Probleme.

3. Die Beziehung – seelische Entwicklung/Beziehungsfähigkeit

Zur Gestaltung der Beziehung möchte ich etwas ausführen, was die Brücke ist zu einem wirklich spirituellen Verständnis des Menschen bilden kann. Die moderne Bindungsforschung spricht von drei Qualitäten, die eine gute Beziehung kennzeichnen:

Ehrlichkeit: Je ehrlicher es zugeht in einer Beziehung, desto besser fühlen sich die Beteiligten.

Liebe in einer Form, die eher mit Verständnis als mit Sympathie umschrieben werden kann, ist die zweite Qualität: Ein Mensch fühlt sich erst dann wirklich geliebt, wenn er sich auch verstanden fühlt. Wenn einer sagt – „Ich liebe dich!“ – und der andere entgegnet – „Du verstehst mich aber nicht“ – kommt die Liebe wenig zum Tragen. Oder wenn ein Streit mit den Worten abgebrochen wird: „Lass uns nicht streiten, wir lieben uns doch.“ Menschen, die nicht mehr miteinander reden können, haben ein ernstzunehmendes Problem, weil jeder im Grunde seines Herzens verstanden werden möchten. Das ist ein hochsensibles Feld.

Wenn man Kinder so nimmt, wie sie sind, und sie so sein dürfen, wie sie sind, entspannen sie sich, können sich öffnen und sind lernfähig. Das Gegenteil passiert, wenn sie immer das Gefühl haben, dass sie, so wie sie sind, nicht richtig sind, weil man ständig an ihnen „rummacht“. Um sich verstanden zu fühlen, muss ein Kind wissen, dass es, so wie es gerade ist, angenommen wird. Es geht um das Verstehen des Anderen/Andersartigen und nicht darum, dass der andere so zu sein hat, wie man selbst (ihn haben will).

Goethe fand in einem Gedicht an seine geliebte Charlotte von Stein eine sehr schöne Formulierung: „Ich fühlte mich in deinen Augen gut.“  Dieses Bild habe ich mir zu einer Übung gemacht, indem ich mich frage:

Wie muss ich selber über andere Menschen denken, über sie reden, mit ihnen umgehen, dass sie sich in meinen Augen gut fühlen?

Als Antwort kam ich auf die bereits genannten Qualitäten einer guten Beziehung.

Respekt vor der Autonomie des anderen: Das ist die dritte Qualität. Es geht darum, viele Räume für Eigentätigkeit und Interaktion mit anderen zu schaffen und nicht zu versuchen, die eigenen Ziele im und über das Kind zu verwirklichen.

Die Gestaltung der Beziehung ist extrem wichtig und erfordert ein moralisches Fundament. Kinder durchschauen unmittelbar, wenn beim Erwachsenen kein echtes, ehrliches Interesse waltet. Sie blicken tief bis in unser Innerstes, spüren, was wir wirklich fühlen. Wenn sich Gedachtes, Gesagtes und Gefühltes decken, fühlen Kinder sich in unserer Gegenwart wohl. In dem Punkt hat die Bildungsforschung recht: Es ist egal, wer es ist, aber es muss einen Menschen im Leben des Kindes geben, zu dem es eine gute Beziehung hat und eine Bindung entwickeln kann. Wenn es die Mutter ist, ist das ein besonderes Glück für beide.

4. Die Identität – Entwicklung von Selbstbewusstsein

Das vierte Prägungsfeld für eine individualitätsorientierte, persönlichkeitsstärkende Erziehung ist die Identitätsbildung.

Wie aber bildet sich Selbstbewusstsein?

Wie vollzieht sich der Prozess der Identifizierung?

Wir wissen, dass jedes Kind zwischen zwei und vier Jahren zu sich „ich“ zu sagen beginnt. Erst ab da weiß es von sich. Davor ist zwar „da“, es isst, trinkt, spricht, freut sich, empfindet Schmerz, weiß aber nicht von sich, hat kein echtes Selbstbewusstsein. Dann kommt der magische Moment, das erste bewusste Ich-Erlebnis: Dabei handelt es sich um ein erstes eigenständig reflektierendes Denkerlebnis als ein Produkt der Entwicklung, das in aller Regel erst in dieser Zeit auftritt. Das bedeutet, unser Selbstbewusstsein wurzelt und entwickelt sich im Denken. Ab da kommt es zu einem ersten Erleben von Identität und Selbstbewusstsein. Man kann zwischen einem Leben davor und einem Leben danach unterscheiden:

Einfluss von Erlebnissen vor dem Ich-Sagen: Alles, was vor diesem magischen Moment geschah, auch wenn es sich um negative, traumatische Ereignisse handelt, hat die Raum-Zeit-Struktur und die kindliche Seelenstruktur im Unbewussten, Körperlichen, Physiologischen tief beeinflusst und geprägt. Was geschieht, wenn das Selbstbewusstsein in einer solch negativ geprägten Konstitution erwacht, wissen wir aus der Traumatherapie: Ereignisse im späteren Leben, die an diese unbewussten, dem Körper eingeprägten Erlebnisse rühren, führen zu überraschenden, aus der Tiefe kommenden, schweren Reaktionen. Die Identitätsbildung wird durch solche Traumata behindert. Das betroffene Kind rutscht wie ab, verliert sich im Ereignis. Dann ist eine gute Erziehung mit sehr viel Beziehungskultur gefragt um diese Abgründe zu „sanieren", um Narben aus dieser vor-ich-bewussten Zeit im Nachhinein auszuheilen.

Einfluss von Erlebnissen nach dem Ich-Sagen: Alles, was das Kind nach dem bewussten Ich-sagen erlebt, wird vom eigenen Denken begleitet. Deswegen ist es entscheidend, dass sich der Lehrplan altersentsprechend immer an dieses Persönlichkeitsbewusstsein wendet, sodass die Kinder nie mehr zu verdauen haben, als sie auch verarbeiten können. Wenn es Schritt halten kann mit den Lerninhalten, entwickelt sich beim Kind ein starkes Selbstbewusstsein.

Wenn es aber nicht so richtig mitkommt, wenn es den Eindruck hat, die anderen können etwas, das es selbst nicht kann, entwickelt sich ein negatives Selbstbewusstsein. Das Kind wird sich dann immer selbst in Zweifel ziehen. Es wird den Belastungen im späteren Leben weniger gewachsen sein. Ein selbstbewusstes Kind lebt von dem Bewusstsein: „Ich kann, wenn ich will. Und wenn ich etwas noch nicht kann, wird mir geholfen.“ Es erlebt, dass ihm nichts abgenommen wird, dass es aber Hilfe zur Selbsthilfe bekommt. Das ist ich-stärkende identitätsbildende Erziehungskultur. Identität bildet sich durch Selber-Machen, Selber-Erleben, Selber-Denken. Dann ist Identifizierung mit dem eigenen Tun möglich. Wenn andere anstelle des Kindes machen und tun, sind die anderen stark, es selbst aber fühlt sich schwach. Im Grunde ist das sehr einfach. Man muss diesen Prozess nur in seiner ganzen Folgenschwere erkennen.

5. Die spirituelle Orientierung – geistige Entwicklung

Dieses Erfahrungsfeld ist heute besonders sensibel. Wenn Sie sich an einem schönen Sonntagnachmittag bei einem Wetter wie heute in einer belebten Fußgängerzone einer Klein- oder Großstadt hinsetzen und sich die Zeit nehmen, nur zu beobachten, wie die Menschen gehen, wie ihre Haltung ist, wohin sie schauen, wenn sie gehen, und wie sie schauen, werden Sie drei Extremvarianten erleben:

Sie werden Menschen beobachten, vor allem auch Jugendliche, bei denen Sie das Gefühl haben, dass sie ganz in sich „drinstecken“. Wenn sie irgendetwas finden, dass ihnen in die Quere kommt, wird es weggekickt. Sie beziehen ihre Grundorientierung ganz stark aus dem Körper und seinen Bedürfnissen. Oft haben sie eine Flasche in der Hand, dann sieht man es gleich, aber es geht auch ohne. Man merkt, sie sind sehr stark körperverhaftet und dementsprechend ist ihr Gang.

Die zweite Gruppe sind Menschen, die nicht ganz in sich drin sind, die wie Überflieger wirken, die nicht zentriert sind. Oder sie gehen gehetzt irgendwohin, aber es wirkt, als wäre es nicht das, was sie wirklich wollen. Sie müssen.

Die dritte Gruppe ist eher klein. Es gibt gar nicht so viele Menschen, die frei und offen aus der Mitte heraus auf ein Ziel zugehen, die weder zu sehr „draußen“ sind, noch zu sehr „drinnen“ stecken. Diese Menschen befinden sich in einem freien, ausgewogenen (mittleren) Zustand.  Man merkt, dieser Mensch gibt sich selbst eine Orientierung und ist mit seinem Ziel, mit dem, wohin er geht, in Übereinstimmung.

Es gibt eine schöne Überlieferung von einem Schüler, der seinen Zen-Meister fragte, wie er denn die richtige Orientierung gewinnen könnte. Dieser sagte: „Das ist ganz einfach - ich kann dir sagen, wie ich es mache: Wenn ich liege, liege ich. Wenn ich sitze, sitze ich. Wenn ich stehe, stehe ich. Und wenn ich gehe, gehe ich.“ So jemand wird nicht gegangen, er geht.

Die Art, wie wir uns aufrecht halten, wie wir sprechen, wie wir uns Ziele setzen, wofür wir uns einsetzen, wie wir unser Leben gestalten, ist ein Produkt der Art und Weise, wie wir gelernt haben über uns selber, über das Leben und die Menschen, aber auch über die Menschheit, nachzudenken. All das spiegelt wider, woran wir uns selber geistig orientieren.

Warum aber ist eine solche spirituelle Orientierung des Erwachsenen gerade für kleine Kinder so wichtig?

Kleine Kinder wachen aus einer tiefen Unbewusstheit durch ihr Ich-Bewusstsein in unsere Welt herein auf und spüren die spirituelle Orientierung des Erwachsenen, die ihm geistig Rückgrat gibt und zu einem eigenen Standpunkt verhilft, die ihm innere Sicherheit schenkt und der Quell seiner selbst gewählten weltanschaulichen lebensbejahenden Kompetenz ist. Diese orientierende Kraft wird nachgeahmt und gibt dem Kind ebenfalls Sicherheit und Vertrauen in das Leben und in andere Menschen. Deswegen müssen wir uns besonders um diesen Bereich der spirituellen Orientierung kümmern, nicht in dem Sinn, dass wir sagen, so oder so muss sie aussehen, sondern in dem Sinn, dass man zu verstehen beginnt, dass eine solche Orientierung nötig ist und man sich aus diesem Wissen heraus ehrlich auf die Suche nach einer persönlichen Orientierungsmöglichkeit macht.

Vgl. Vortrag „Kindsein heute – quo vadis Menschheit“, 22. Mai 2011 in Bühl/Baden


[1] David Elkind, The Hurried Child: Growing Up Too Fast Too Soon.

[2] Emmi Pikler, Laßt mir Zeit, Die freie Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen.

[3] Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung, 2019.

ERZIEHUNG ZUR WELTZUGEWANDTHEIT

Wie kann man Kinder zur Weltzugewandtheit erziehen?

Was sind die Voraussetzungen dafür?

Voraussetzungen für Weltzugewandtheit

Unsere Welt braucht engagierte, am Zeitgeschehen interessierte, weltzugewandte Menschen, die sich nicht scheuen, sich für das Wohl der Erde und der Menschen einzusetzen. Voraussetzung für das Gelingen einer Erziehung zur Weltzugewandtheit ist, dass wir das Gedanken-, Gefühls- und Willensleben der Kinder in der Schule so erziehen, dass der körpereigene Egoismus möglichst unbewusst bleibt. Das erfordert in jedem Jahrsiebt eine andere Herangehensweise, einen anderen Schwerpunkt.

· Denken und Welt – 1. Jahrsiebt

Was braucht es, dass sich das Kind über Sinne und Denken mit der Umwelt verbindet?

Im 1. Jahrsiebt ist es entscheidend, dass der körpereigene Egoismus durch die Sinneserziehung unbewusst bleiben kann. Auch wenn Kinder ständig „haben“, „haben“ sagen und alles in den Mund stecken, also eine unglaublich narzisstische Daseinsform leben, sind sie trotzdem mit ihrem Bewusstsein in ihrer Sinnesoffenheit ganz bei der Welt. Sie ahmen jedoch die Verdauung nach, den Leibaufbau: alles nehmen und hereinholen, alles haben wollen. Die Sinne verbinden das Kind mit der Welt und heilen so den altersbedingten Egoismus.

Als eine Art ästhetische Erziehung im 1. Jahrsiebt sollten viele Märchen und Geschichten erzählt werden, die das Denken des Kindes zur Welt hinlenken. Das Kind sollte den Freiraum bekommen, Dinge zu untersuchen und nicht nur vorm Bildschirm sitzen und mit sich und „der Kiste“ beschäftigt sein.

· Gefühl und Welt – 2. Jahrsiebt

Wie kann man bei einem Kind Weltinteresse zu wecken?

Dazu möchte ich ein Beispiel nennen. Mein schönstes Erlebnis an der Waldorfschule in Witten war ein Elternabend, auf dem eine Mutter mich ansprach, um mir etwas zu erzählen, was mich freuen würde: „Mein Sohn hat gerade die griechisch-römische Epoche in der 5. Klasse. Er erzählte mir mittags immer das Neueste von Cäsar. Vor ein paar Tagen hat er ohne Gruß, ohne ein Wort, seinen Schulranzen in die Ecke geschmissen und nur im Vorbeigehen verzweifelt gerufen: Mama, Cäsar ist tot!“ Er war völlig mitgenommen, weil sein Held auf so bestialische Art ermordet worden war.

Das ist ein Beispiel dafür, dass der Lehrer durch seine wesenhafte Schilderung die Sympathien und Antipathien seiner Schüler, die sich im Laufe der Geschichte entwickeln, so mitnimmt, dass sie gar nicht erst auf die eigene Befindlichkeit und darauf, wie doof die Schule ist, abzielen, sondern sich dem Wesentlichen zuwenden: den Wesen und Vorgängen. Auf diese Weise bildet sich ein sittliches Urteil: Cäsar ist gut aufgrund seines Mutes, weil er bestimmte Dinge in die Welt gebracht hat, weil er einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung von Europa geleistet hat. Für all das kann man Sympathie empfinden und für denjenigen, der einen anderen umbringt, eben Antipathie. Das Gute bzw. das Böse muss so geschildert werden, dass das Kind dafür Sympathie bzw. Antipathie aufbringt.

Unterscheiden zwischen Menschen und Handlungen

Dabei geht es immer um die Handlungen und nicht um die Menschen. Das ist ganz wichtig. Brutus war ja auch ein Mensch, der weiterlebte, der auch viel Gutes getan hat, der aber an dieser Stelle dachte, man müsse beim Alten bleiben und nichts Neues anzetteln, bzw. man müsse die Macht begrenzen und nicht das Cäsarentum fördern. Bei der Sympathie- und Antipathie-Erziehung ist es ganz entscheidend, dass man sie auf Wirklichkeiten, Eigenschaften, Qualitäten lenkt und nicht dazu benützt, Menschen und ihre Taten in Bausch und Bogen mit einem vernichtenden Urteil zu belegen. Die feine Trennlinie wird über das Wie bestimmt.

Wenn das gelingt, entwickelt sich ein Seelen- und Gefühlsleben, das nicht egoistisch durchtränkt, sondern weltorientiert ist. Es ist schwierig, Weltinteresse zu wecken – das gelingt nur über Emotionen und darüber, dass der Lehrer selbst Interesse an der Welt hat und dass er die Kinder über seine Liebe, seine Begeisterung, seine Freude, sein Interesse, seine Trauer und seinen Frust wirklich mitnehmen kann, hin zur Welt. Der Lehrer als geliebte Autorität ist die Brücke und verkörpert beides, lebt beides vor, Sympathie und Antipathie. Er hat dieses und jenes vorbildliche Urteil, weshalb das Kind es riskieren kann, ihn zu lieben.

· Wille und Welt – 3. Jahrsiebt

Inwiefern hilft Idealismus im 3. Jahrsiebt und wie äußert er sich?

Zwischen 14 und 21 Jahren ist Idealismus gefragt. Der Heranwachsende weiß: Ich will etwas werden! Gedanken werden zu Führern des Willens, geben ihm Orientierung. Wenn die Gedanken weltbezogen sind, ist der dritte Schritt in der Überwindung des Egoismus gelungen. Dann macht der Jugendliche dies und jenes nicht nur um der eigenen Karriere und des eigenen Vorteils willen. Wer gelernt hat, aus Liebe zur Sache zu lernen, qualifiziert sich nun auch aus Liebe zur Welt und nicht, um vor dem Lehrer gut dazustehen: Er will etwas Sinnvolles tun und will etwas bewegen. Dieser Einstellung liegt ein starkes Selbst zugrunde, dem es gelingt, die eigene Angst zu überwinden.

Vgl. „Ängste im Jugendalter und ihre Überwindung“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013

ERZIEHUNGSNOTSTAND

Worin wurzelt der heutige Erziehungsnotstand?

Was kann dagegen unternommen werden?

Gründe für den Erziehungsnotstand

Eltern und Erziehern stehen heute zahlreiche Bücher zur Verfügung, in denen nicht nur die menschenkundlichen Grundlagen und die Schritte der kindlichen Entwicklung erläutert werden, sondern die darüber hinaus auch Hinweise für die praktische Umsetzung erzieherischer Maßnahmen im Umgang mit dem Kind enthalten. Auch stehen Erziehungsberatungsstellen, Kinderpsychologen und Selbsthilfegruppen für jeden Ratsuchenden zur Verfügung, werden in jeder Hinsicht differenzierte Förderungsmöglichkeiten geboten.

Warum aber besteht dennoch ein „Erziehungsnotstand“?

Das liegt mit Sicherheit nicht daran, dass Eltern und Erzieher über ein mangelndes Wissen verfügen, sondern vielmehr an der Schwierigkeit, dieses Wissen umzusetzen. Es gibt zwar in der Praxis viele nachahmenswerte Beispiele, wie man einen Krippenalltag sinnvoll gestalten oder einen Kindergarten nach modernen Gesichtspunkten so einrichten kann, dass Sinnesentwicklung, Kreativität, Sprachvermögen, Bewegungsfähigkeit und Geschicklichkeit dort optimal angeregt und ausgebildet werden. Die Realität sieht aber zumeist doch so aus, dass die Kinder, die es am nötigsten brauchen, es nicht bekommen.

In dem aufrüttelnden Buch „Wer hat unseren Kindern das Töten beigebracht?“[1] wird darüber hinaus noch die neue Art der Vernachlässigung kindlicher Bedürfnisse aufgedeckt: die gekonnte und bewusste Desensibilisierung gegenüber Grausamkeit und Gewalt und der Verlust von Mitgefühl und empathischer Beziehungsfähigkeit. Dabei hat sich z.B. der Anteil von Kindern an Gewaltdelikten seit 1993 mehr als verdreifacht und zeigt in Deutschland eine Zunahme bei Jugendlichen von 72%.

Mitverantwortung für das Morgen übernehmen

Demgegenüber gibt es Versuche, sich international zum Schutz der Kindheit zusammenzutun. Hunderte von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) und Vereinigungen zum Kampf um die Rechte der Kinder sind hier aktiv. Ein Beispiel dafür ist die „Alliance for Childhood“, die im Jahr 2000 gleichzeitig in New York, London und Stuttgart begründet wurde. Sie hat das Ziel, ein internationales Netzwerk kooperierender Organisationen, Institutionen und aktiver Einzelpersönlichkeiten aufzubauen und weltweit zu agieren.[2]

Dennoch steht es noch aus, dass die elementarsten Grundsätze einer gesunden Entwicklung überall Gehör finden, indem z.B. Einrichtungen geschaffen werden und dafür Sorge getragen wird, dass diese für die Menschenentwicklung so lebenswichtigen Maßnahmen vor allem denen zugutekommen, die es am nötigsten brauchen, weil hier das soziale Netz von Anfang an eine Schwachstelle hat.

Jeder – auch diejenigen, die selbst keine Kinder haben – ist heute aufgerufen, sich zu bemühen, die Kinder und Jugendlichen unserer Zeit zu verstehen. Das versetzt uns auch in die Lage, das eigene Menschsein umfassender zu begreifen und diese Dimension nicht im wachsenden Druck der Ereignisse zu vergessen. Es liegt an uns, Mitverantwortung für das Morgen zu übernehmen und es nicht nur „irgendwie“ kommen zu lassen, sondern aktiv mitzugestalten.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003


[1] Dave Grossman, Gloria DeGaetano, Wer hat unseren Kindern das Töten beigebracht? Ein Aufruf gegen Gewalt in Fernsehen, Film und Videospielen, Stuttgart 2002.

[2] Alliance for Childhood: Uwe Buermann, Alte Landstr. 70, 229 49 Ammersbek. Tel. 04532/ 266410; Fax 04532/ 266411. Internet: www.allianceforchild- hood.de.

ERZIEHUNG MIT BEZUG AUF DIE WESENSGLIEDER

Wie lässt sich bewusst erzieherisch auf die Wesensglieder Einfluss nehmen?

Welche Aspekte müssen dabei beachtet werden?

Erziehungseinflüsse auf die Wesensglieder

· Erziehung auf der Ich-Ebene

Die Ich-Ebene unserer Persönlichkeit wird am unmittelbarsten angesprochen durch das Verhalten der Eltern und der nächsten Personen im Umkreis. Dabei sind die wichtigsten Erziehungsmittel das „Ja“ und „Nein“, mit denen wir es im Leben ständig zu tun haben. Das Festlegen und Überschreiten von Grenzen sind die bedeutsamsten Maßnahmen für das Ich.

  • Eine Erziehung, die zu enge Grenzen setzt, wirft das Ich zu sehr auf sich zurück und verletzt es ständig, so dass das Selbstbewusstsein stark von Schmerzhaftem geprägt wird.
  • Wenn Grenzen zu locker gehandhabt werden, ist ein zu schwaches, eher unkonturiertes Selbstbewusstsein die Folge.

Es kommt nicht selten vor, dass Kinder ihre Eltern später fragen, warum sie nicht strenger mit ihnen waren. Sie würden eine gewisse Willensstärke vermissen und dazu neigen, schnell aufzugeben, weil sie nie Hindernisse und Grenzen überwinden mussten. Aber auch das Gegenteil wird zum Vorwurf gemacht: „Du hast mich so streng gehalten, dass ich mich nicht selbst liebgewinnen konnte. Ich hatte nie so recht Freude an mir und habe mich immer unter Druck gefühlt und meinte immer, anders sein zu müssen als ich bin.“

Beide Extreme führen auf unterschiedliche Art dazu, dass man sich als Ich nicht richtig in sich beheimaten kann. Dieses Sich-Beheimaten wird am besten dadurch unterstützt, wenn das Ja und das Nein „atmen“, dass Bestätigung und Tadel, Erlauben und Verbieten ihren Rhythmus haben. Die beste Voraussetzung für die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins ist das Erwachen am Nein und das Erstarken am Ja. Lob und Bejahung geben Kraft, der Schmerz weckt dagegen auf. Man braucht Kraft, um Schmerzen ertragen zu können, man braucht aber auch den Schmerz, um sich bewusst zu werden, wofür man die eigene Kraft einsetzen möchte.

· Erziehung auf der seelischen Ebene

Auf der seelischen Ebene entwickelt sich die Art und Weise, wie wir denken, fühlen und wollen. Seelische Motivation, seelische Erlebnisse und Gefühle werden durch das Leben angeregt, Gedanken werden durch Lernprozesse bewusst gemacht. Die Seele ist gleichsam eine „schlafende Braut“, die geweckt werden muss. Alle Fähigkeiten, die sich auf sie beziehen, werden uns nicht „anerzogen“, vielmehr wachen wir zu ihnen auf. So nannte schon Platon jegliches Erkennen ein Wiedererinnern an etwas, das unbewusst schon im Menschen ruht. Rudolf Steiner beginnt sein Schulungsbuch „Wie erlangt man Erkenntnis der höheren Welten?“ mit den Sätzen:

„Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann. Der Mystiker, der Gnostiker, der Theosoph sprachen stets von einer Seelen- und einer Geisterwelt, die für sie ebenso vorhanden sind wie diejenige, die man mit physischen Augen sehen, mit physischen Händen betasten kann. Der Zuhörer darf sich in jedem Augenblicke sagen: Wovon dieser spricht, kann ich auch erfahren, wenn ich gewisse Kräfte in mir entwickele, die heute noch in mir schlummern. Es kann sich nur darum handeln, wie man es anzufangen hat, um solche Fähigkeiten in sich zu entwickeln.“[1]

Jeder Mensch bringt eine Fülle von unbewussten Fähigkeiten mit und es hängt nun von den Lebensumständen ab, was ihm davon zu Bewusstsein kommt, um damit von ihm erlebt und gehandhabt zu werden. Eigenschaften oder Fähigkeiten, die uns durch kein Erlebnis, keinen Lernvorgang bewusstwerden, sind uns – zumindest für dieses Leben – nicht zugänglich. Durch Selbsterziehung und Lebenserfahrung kann später noch vieles aktiviert und ausgeglichen werden, was vielleicht durch die Art, wie Kindheit und Jugend verlaufen sind, nicht oder nur teilweise bewusstwerden konnte.

Das Hauptproblem bei der Erziehung der Seele ist jedoch, dass diese nicht zu früh, aber auch nicht zu spät im oben genannten Sinn geweckt werden sollte. Wenn bestimmte Gedanken zu früh hervorgebracht, gewisse Information zur Unzeit gegeben werden, sodass sie gefühlsmäßig noch nicht verarbeitet werden können, stellen sie eine Belastung dar und schädigen die seelische Entwicklung. Aus Einsicht sollten wir daran arbeiten, Lernschritte und Ereignisse, soweit irgend möglich, altersentsprechend und damit förderlich an das Kind heranzutragen und nicht einfach alles zuzulassen, was heute möglich ist.

· Erziehung auf der Lebens(kräfte)ebene

Eine dritte Ebene der kindlichen Erfahrung ist die unbewusste Sphäre der Lebenskräfte. Sie betrifft die dem Körper innewohnende Regenerationskraft und Gesundheitsdisposition und wird gepflegt durch Eigenschaften und Verhaltensweisen, die dem Leben verwandt sind. Dazu gehört insbesondere der Rhythmus von Essen und Schlafen, von Ruhe und Erholung, von Alltag und Sonntag und überhaupt alles Gewohnheitsmäßige. Gerade die Lebenssphäre ist auf die Wiederholung der immer gleichen Vorgänge angewiesen. Krankheit zeigt sich ja dadurch, dass plötzlich etwas aus der Bahn läuft und „nicht so wie gewohnt“ ist.

So ist auch die Pflege des religiösen Lebens mit seinen vielen Wiederholungen – den immer gleichen Gebeten, den wiederkehrenden Festen, den vertrauten Liedern, den bekannten Geschichten – von größtem Wert gerade für die Lebenstüchtigkeit.[2] Das betrifft auch das künstlerische Üben und das Erleben von Kunsteindrücken. Je häufiger und regelmäßiger diese Eindrücke wirken, umso größer ist ihr Einfluss auf die Lebenstätigkeit des Organismus bzw. auf den ätherischen Leib.

· Erziehung auf der physischen Ebene

In seiner Schrift „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft“[3] führt Steiner Freude, Heiterkeit und eine liebevolle Umgebung als Förderungsmittel für die körperliche Entwicklung, insbesondere in der Vorschulzeit, an.

Wie wurde der physische Leib behandelt?

Wie wurde er gepflegt?

Wie waren die Stimmungen dabei?

Was hat dazu beigetragen, dass man lernte, sich in diesem physischen Leib wohlzufühlen?

Wie verlief die Bewegungsentwicklung?

Welche Bewegungsfreiheit wurde gewährt?

Was trug dazu bei, dass man seinen Körper bis heute hasst und weder schön noch tüchtig genug findet?

Welche Sinneseindrücke wurden ermöglicht und regten den Organismus zur Nachahmung und damit zum Tätig-Werden an?

Es ist wichtig sich klarzumachen, dass jede Tätigkeit, die der physische Leib im Wachstumsalter verrichtet, als Bilde-Impuls auf ihn zurückwirkt: Ohne dass das Sehen geübt wird, kann sich kein gesundes Auge entwickeln. Ohne dass das Gehen geübt wird, entwickelt sich kein gesundes Skelettsystem usw.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 8. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997


[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10.

[2] Vgl. Michela Glöckler, Die Heilkraft der Religion. Stuttgart 1997.

[3] Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft, GA 34.

ERWERB VON KONZENTRATION UND BESONNENHEIT

Wie lernen Kinder sich zu konzentrieren und bei der Sache zu bleiben?

Wie erwerben sie Ruhe und Besonnenheit?

Voraussetzungen für den Erwerb von Konzentrationsfähigkeit

Haben Kinder die Gelegenheit, konzentriert arbeitende Erwachsene zu erleben oder mit ihnen etwas zu beobachten, so ist ein solches Vorbild zugleich der beste Wegweiser für die Entwicklung des eigenen Konzentrationsvermögens.

Für die Schulung von Konzentration und Aufmerksamkeit sind wichtig:

  1. Interesse am Gegenstand
  2. Wärme der aufmerksamen Beobachtung
  3. Innere Ruhe beim Anschauen

Beispielsweise ist es sinnvoll, an Weihnachten Geschenke so auszupacken und anzuschauen, dass sie von den Kindern nicht nur oberflächlich registriert, sondern wirklich angenommen werden. Wenn Kinder viel geschenkt bekommen, ist es ratsam, sie nicht alles auf einmal auspacken zu lassen, sondern nur so viel, wie sie verdauen und annehmen können. Das Übrige kann auf den Abend oder sogar auf die folgenden Tage verschoben werden.

Ruhe und Konzentration

Wer Menschen beobachtet, die sich auf körperliche oder künstlerisch-geistige Leistungen vorbereiten, sieht, wie sie sich „zusammennehmen", sich konzentrieren und ganz ruhig werden. Je größer die Sammlung und Ruhe vor dem Beginn, umso größer die Chance, die ganze Kraft und Geschicklichkeit in die zu vollbringende Leistung hineinstecken zu können.

Für ein Kind ist es wohltuend, mit Menschen zusammen zu sein, die in bestimmten Momenten Ruhe ausstrahlen, die auch einmal still und konzentriert dasitzen, die etwas lesen oder beobachten. Manchmal kann dieser Eindruck so stark sein, dass das Kind gar nicht wagt, den Erwachsenen anzusprechen, sondern dass es sich im Umkreis zu schaffen macht in der Hoffnung, dass man es bemerkt.

Wer ständig von einem zum anderen hetzt und nichts in Ruhe fertig macht, kann für Konzentration und Ruhe kein Vorbild sein. Indem wir uns für das, was wir tun müssen oder wollen, wirklich entscheiden, lernen wir, uns mit der Handlung zu identifizieren. Nur dann haben wir die nötige Geistesgegenwart, von der Ruhe und Besonnenheit ausgehen.

Vgl. „Willensschulung – eine Notwendigkeit in Pädagogik und Selbsterziehung“, Kapitel: „Motivation und Willenserziehung im Kindes- und Jugendalter“, Gesundheit aktiv

INNERE RUHE ALS MAGISCHES MITTEL

Was hilft unruhigen Kindern sich zu konzentrieren?

Was kann der Lehrer tun im Sinne eines guten Vorbildes?

Was besagt das pädagogische Gesetz?

Beruhigende Nachahmung des Pädagogen

Alle Störungsbilder, die Unruhe und Unaufmerksamkeit als Leitsymptom haben, egal wie sie verursacht wurden, können mithilfe eines magischen Mittels bekämpft werden: Mit der Magie der tiefen inneren Ruhe des Lehrers und Erziehers. Der liebevolle Blick auf das Kind aus einer Seele, die im Kern ruhig und aufmerksam ist, eine Haltung, die dem Kind helfen will, die für das Kind auf professionelle Art da und bereit ist, es so zu nehmen, wie es ist, und mit ihm einen Weg zu gehen – diese erzieherische Haltung, die man sich nur durch Selbsterziehung aneignen kann, ist das allerbeste Heilmittel gegen Unruhe. Warum?

Weil das Kind in dieser Ruhe und akzeptierenden Hinwendung ein Vorbild hat, das es wie aufsaugt und nachahmt. Es darf einen reifen Menschen nachahmen, der es ihm ermöglicht, an ihm zu reifen. Es darf jemanden erleben, der zuhört, der das Kind sieht, der nichts von ihm will, sondern der ihm Raum gibt, so zu sein, wie es ist.

Professioneller Dialog mit dem Kind

Jetzt erst kann der professionelle Dialog ansetzen im Sinne eines dialogischen Unterrichtens, das Steiner zu seiner Zeit schon zu beschreiben versuchte, indem er sagte, die Lehrer müssten auf die latenten Fragen ihrer Schüler achten und sie beantworten. Der ganze Waldorfunterricht basiert auf diesem dialogischen Prinzip: Die Schüler fragen, der Lehrer antwortet. Wenn der Lehrer fragt, versucht er herauszufinden, welche Fragen die Schüler haben, was sie brauchen. In einer solchen fragenden, dialogischen Haltung, kann sich das Kind entfalten. Die Voraussetzung dafür ist innere Ruhe.

Die erste Übung aus „Wie erlangt man…“[1], dem Hilfsbuch für jeden Lehrer und Erzieher, der seinen Schülern wirklich weiterhelfen will, handelt von der inneren Ruhe: „Man schaffe sich Augenblicke innerer Ruhe, in denen man versuche, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden.“[2] Es genügen zehn Minuten am Tag, in denen man sich mit diesem Buch beschäftigt. Auch wenn man noch keine Übung durchgeführt hat, geht es einem nach der Lektüre schon ein bisschen besser im Umgang mit den Kindern, das wage ich zu behaupten. Denn indem wir dieses Buch lesen, ahmen wir bereits den großen Meister der inneren Ruhe, der Selbstdisziplin, des Selbstmanagements, wie man heute sagt, nach. Wir sollten uns natürlich die Übungen heraussuchen, die in uns genau die Fähigkeiten hervorrufen, die dem Kind fehlen – damit wir sie ihm vorleben können: innere Ruhe, Aufmerksamkeit, Liebe und Respekt für das Kind.

Karmische Verbindung von Lehrer und Schüler

Der karmische Aspekt wird heute in der Schulmedizin insofern auch gesehen, als man merkt, dass es Menschen gibt, von denen sich auch die schwierigsten Kinder etwas sagen lassen. Diese karmisch bedingte Verbundenheit von bestimmten Lehrern und Kindern gibt es natürlich auch in der Waldorfschule. Weshalb es in einer Klassenkonferenz oft auch darum geht herauszufinden, wer den besten Zugang zu einem bestimmten Kind hat.

In der Wittener Waldorfschule versuchten wir in schwierigen Situationen immer, einen Patenlehrer zu finden, der Zugang zu dem betroffenen Schüler hatte und bereit war, sich um seine Belange zu kümmern. Das bedeutete konkret: über ihn zu meditieren, innerlich mit ihm zu leben; jeden Tag wissen zu wollen, wie es ihm geht, auch wenn er nicht immer mit ihm sprechen konnte; ihn zu begleiten, bis er soweit war, sich von sich aus zu verabschieden; nicht loszulassen, verbindlich zu bleiben, ihn mit professioneller selbstloser Liebe zu lieben. Der Lehrer fühlte sich aufgrund einer karmischen Beziehung verantwortlich für das Kind. Das Kind musste sich nicht gut benehmen, sondern der Lehrer bemühte sich um das richtige Verhalten dem Kind gegenüber.

Auch in solchen Fällen gilt das pädagogische Gesetz: Der Pädagoge wirkt vom Ich aus auf das untergeordnete Wesensglied, den Astralleib. Dieser wirkt wiederum auf den Ätherleib und dieser auf den physischen Leib: Das höhere Wesensglied wirkt jeweils auf das niedrigere Wesensglied. Die Botschaften des Kindes werden vom Lehrer verarbeitet und ich-geführt wiederum als Antwort an die Seele des Kindes zurückgegeben.

Vgl. Vortrag am Thementag „Unruhiges Kind“, Nov. 2012


[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten? GA 10.

[2] Ebenda, 1. Kapitel.

ERZIEHUNG, DROGENPROPHYLAXE UND –THERAPIE

Wie kann dem Griff zur Droge vorgebeugt werden?

Welche Rolle spielt dabei die Erziehung?

Drogenkonsum anstelle von Eigenaktivität

„An Stelle des Ich“ heißt das sehr lesenswerte Buch des holländischen Drogentherapeuten und Psychologen Ron Dunselmann,[1] in dem er in differenzierter Weise die körperlichen, seelischen und geistigen Wirkungen der Drogen beschreibt.

Es ist wirklich so, dass die jeweilige Droge an die Stelle des Ich tritt, indem sie eigene Aktivität ersetzt und bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen vermittelt, ohne dass man die dafür nötige Entwicklungsarbeit selbst hätte leisten müssen. Auch die Psychotherapie kämpft mit diesem Problem. Wie viel leichter ist es doch, ein Schlafmittel oder eine Beruhigungspille zu nehmen, als beispielsweise beten zu lernen oder einen meditativen Weg zu beschreiten, durch den man selber die innere Ruhe finden lernt. Oder aber durch Meditation dahin zu gelangen, dass einem die Natur wieder geistdurchdrungen erscheint, das eigene Gedanken- und Gefühlsleben farbiger und realer wird.

Wie viel leichter ist es, Tabletten zu schlucken, die einen abschirmen oder euphorisieren, anstatt notwendige Übungen zur Selbsterziehung und inneren Stabilisierung vorzunehmen, um die Lebensumstände besser auszuhalten! Andererseits ist es auch immer wieder erstaunlich zu sehen, welches Ausmaß an Leid manche Menschen zu tragen bereit sind, woran sie innerlich arbeiten, und wie rasch unter Umständen ein anderer – weil es ihm unerträglich wird – nach der Droge greift.

Gesichtspunkte zur Vorbeugung und Therapie

Wenn nun im Folgenden einige Gesichtspunkte zur Vorbeugung und Therapie genannt werden, so geschieht es in dem Bewusstsein, dass all dies nur Sinn hat, wenn zu dem Betroffenen ein echter, tragfähiger menschlicher Kontakt aufgebaut werden kann. Kann doch der Mensch allen Versuchungen widerstehen, wenn er es sich selbst oder einem anderen Menschen zuliebe tut, wenn er vom Ich aus die Herrschaft in seinem Denken, Fühlen und Wollen anstrebt.

Dabei sind sicher diejenigen die begabtesten Helfer und Therapeuten, die aus ihrem eigenen Leben Situationen kennen, in denen sie nahe daran waren, nach der Droge zu greifen, oder sie auch vorübergehend genommen haben, um dann wieder davon loszukommen aufgrund der Erfahrung, dass dies kein weiterführender Weg ist. Drogenkonsum und -abhängigkeit sind – wenn nicht wirksam eingegriffen wird – der Weg in Krankheit und zunehmende Ausschaltung der Eigenaktivität und damit des Ich. Die Anzeichen dafür sind Antriebs- und Willensschwäche, Aushöhlung des Gefühlslebens sowie die Untergrabung einer geordneten Gedankentätigkeit.

Da Orientierungslosigkeit, Zweifel, Hassgefühle gegenüber der Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit der Welt sowie existenzielle Angst und Sorgen weltweit zunehmen und auch vor Jugendlichen und Kindern nicht Halt machen, ist es verständlich, dass etwa jeder Dritte bis Fünfte weltweit Alkohol konsumiert und jeder Zehnte bis Fünfzehnte gefährdet ist, unter entsprechendem inneren oder äußeren Druck auch nach anderen Drogen zu greifen. Ebenso ist es verständlich, dass immer mehr Stimmen nach der Legalisierung der Drogen rufen und den Umgang damit in die Verantwortung des Einzelnen legen wollen.

Neue Tragekräfte notwendig

Denn wie will man wirksam verbieten, was immer mehr Menschen als normal ansehen, weil sie es „brauchen“?

In einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Kräfte und auch die religiösen Traditionen nicht mehr als tragfähig empfunden werden und neue innere Tragekräfte und persönliche Stabilität noch nicht zureichend entwickelt sind, muss es zu solchen krisenhaften Erscheinungen kommen, wie wir sie gegenwärtig erleben.

Doch anstatt hier aufzugeben und das Kranke für gesund zu erklären, möchten wir motivieren, alles nur irgend Mögliche dafür einzusetzen, dass an die Stelle der Droge das aktive Menschen-Ich treten kann, das sich und seiner Mitwelt auf dem Entwicklungsweg weiterhilft.

Alkohol- und drogenabhängige Kinder und Jugendliche sind oft empfindsamer als andere. Sie sind den Härten des alltäglichen Lebens nicht genügend gewachsen. Sie weichen Problemen entweder aus oder versuchen sie gewaltsam zu lösen – es fällt ihnen schwer, sich Tag für Tag mit ihnen auseinander zu setzen, bis sie wirklich verarbeitet sind.

Prophylaxe durch Erziehung

Demgemäß ist die Therapie nur mit großer individueller Anstrengung der Betroffenen und einer stützenden Umgebung Erfolg versprechend.

  • Konsequent die Möglichkeit geben, selber aktiv zu werden, es „selber zu machen“: „von sich selbst abhängig“ werden
  • Stillen in der Säuglingszeit statt Flaschenernährung
  • Echtes Interesse für die Entwicklungsschritte des Kindes
  • Sinnespflege
  • Pflege guter Gewohnheiten im Tagesablauf bis hin zu regelmäßigen Mahlzeiten
  • Vermeiden von Zwischenmahlzeiten in Form von Süßigkeiten
  • Grenzen setzen, einen Mittelweg zwischen Strenge und Nachgiebigkeit finden, so dass das Kind sich sicher fühlen kann
  • Stärkung der Phantasie durch Märchenerzählen und Vorlesen inhaltsreicher Geschichten, Sagen und Lebensberichte
  • Schutz vor passivem Konsum von vorgefertigten Bildern und Erlebnisinhalten
  • Spirituelle Erziehung, undogmatisches Religionsverständnis.

Vgl. 16. Kapitel von „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband 2006, derzeit vergriffen


[1] Ron Dunselmann, Anstelle des Ich, Freies Geistesleben 1996.

KLEINKINDPÄDAGOGIK WIE IN DER FAMILIE

Was macht einen guten Waldorfkindergarten aus?

Familie als Vorbild

Ein gut geführter Waldorfkindergarten ist im Grunde nichts anderes als die Nachahmung einer kinderreichen Familie. So gesehen haben wir in den letzten Jahrzehnten die Kleinkindpädagogik zu Hause in der Familie entwickelt – das habe ich selbst in meiner Familie und mit den Kindern der Nachbarschaft erlebt. Wir lernten all die Sing- und Reigenspiele, die man sich heute in der Ausbildung zum Erzieher mühsam aneignen muss, von etwas älteren Kindern auf der Straße. Wir spielten stundenlang draußen und gingen singend in Ketten aufeinander zu. Die erste Reihe sang:

Vierzehn Engel fahren, fahren, fahren,

Vierzehn Engel fahren, ditsche, datsche, dutsch...

Dann die zweite gegenüber aufgestellte Reihe, ebenfalls vor- und rückwärts gehend:

Wohin wollt ihr denn fahren, fahren, fahren?

Wohin wollt ihr denn fahren, ditsche, datsche, dutsch?

Dann kamen wieder die ersten:

Zur Hochzeit woll'n wir fahren, fahren, fahren ...

Dann wieder die zweiten:

Wen wollet ihr denn heiraten, heiraten, heiraten? ...

Die Sabine woll'n wir heiraten, heiraten, heiraten ...

Die Sabine geben wir nicht her ... usw.

So ging das immer hin und her. Es waren die lustigsten Texte und Melodien, und natürlich hat keiner geprüft, ob das pentatonisch war. Meine Mutter gab uns nicht in den Kindergarten, hatten wir doch alles, was wir brauchten. Wir fühlten ihren Blick aus der Küche oder dem Wohnzimmerfenster – das war genug für den ganzen Vormittag. Aus dem Familienleben kamen dann die anderen kulturellen Einflüsse, die für Kinder wichtig sind: Märchen, Gedichte, Gebete, Lieder zu den Jahresfesten, Ausflüge, wundervolle Arbeitsabläufe und sich wiederholende Tätigkeiten. Je individueller und optimaler Anthroposophie in die Lebenspraxis als Familienkultur umgesetzt wird, umso besser für Familie, Kindergarten bzw. Kinderkrippe.

Bedarf von Elternschulen

Es wäre wunderbar, wenn wir eine Elternschule angliedern könnten, in der Mütter, die sich für das Muttersein als Beruf interessieren, die Möglichkeit haben, diesen Beruf zu erlernen, während Mütter, die sich für einen anderen Beruf entschieden haben, ihm guten Gewissens nachgehen können, weil sie ihr Kind zu uns in die Krippe bringen. Diesen Müttern sollten wir vermitteln, dass wir unsere Arbeit gerne machen.

Was das Wochenende betrifft, sollten wir die Eltern bitten, einige der guten Ideen und Gewohnheiten beizubehalten, damit für das Kind eine gewisse Kontinuität und Geborgenheit auch an den Tagen erhalten bleibt, an denen es nicht in der Krippe ist. Man vermittelt ihnen dann jeweils so viel, wie sie umsetzen können – nicht zu viel und nicht zu wenig und so taktvoll, aber auch so ehrlich wie möglich.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft

TIEFERER SINN DER KRIPPENARBEIT

Was ist zu tun, um das oberste Ziel, die Entwicklung von mehr Menschlichkeit, zu erreichen?

Wie setzt man dieses Ideal in die Praxis um?

Leitbild der Krippenarbeit hinterfragen

Zur Beantwortung dieser Fragen muss das Leitbild der Krippenarbeit, dem Menschenwesen geistig, seelisch und körperlich zur Entwicklung zu verhelfen, im Detail hinterfragt werden. Dazu möchte ich einige Gesichtspunkte nennen.

Der Sinn der Krippenerziehung kann nicht nur darin bestehen, Kinder mög­lichst gut aufzubewahren, damit ihnen nichts passiert und sie in etwa bekommen, was sie brauchen, bis sie wieder den Eltern übergeben werden. Der eigentliche tiefere Sinn unserer Arbeit wird u.a. deutlich, wenn wir beobachten, wie die Computer-Industrie diesen größten aller Märkte, den Markt „kleines Kind“, für sich zu erobern sucht. In den USA gibt es bereits eine Software für drei Monate alte Babys; sobald der Blick Gegenstände zu fixieren beginnt, fängt das Computer-Training an.

Dieser Prozess ist schon so weit fortgeschritten, dass wir uns bewusst dafür einsetzen müssen, eine maschinen- und computergeschützte Kindheit zu erhalten bzw. ganz neu zu schaffen. Da diese Entwicklung in vielen Haushalten nicht mehr zu stoppen ist, müssen wir die heiligen Stunden, in denen die Kinder bei uns in der professionell geführten Kinderkrippe sind, dazu nützen, ihnen das zu geben, was ihnen später hilft, mit dieser Technik-Welt konstruktiv umzugehen.

Geistiges Gegenstück zu Materiellem finden

Die Geisteswissenschaft der Anthroposophie ist zum Ausgleich des Materialismus begründet worden. Der Ma­terialismus wissenschaftlicher Prägung engagiert sich weltweit, religiöse Systeme früherer Zeit auszuhöhlen und lächerlich zu machen.

Die Anthroposophie sieht sich damit vor einer schwierigen Aufgabe: Sie muss auf der einen Seite dazu beitragen, dass die religiösen Systeme wieder verstanden werden und Religion authentisch ausgeübt werden kann. Überall, wo ein religiöses Bestreben vorhanden ist, bei Hindus, Moslems und Buddhisten ebenso wie bei den verschiedenen christli­chen Bekenntnissen, möchte Anthroposophie helfen, eine Brücke von der Religion zur Naturwissenschaft zu schlagen, um dadurch das Göttliche wieder in das moderne wissenschaftliche Bewusstsein zu integrieren. Auf der anderen Seite hat diese Art der Geisteswissenschaft die Aufgabe, zu jedem mate­rialistischen Naturgedanken das geistige Gegenstück zu finden.

Innere Wahrheit von Naturvorgängen erfassen

Wenn Sie z.B. irgendwo Licht anschalten, kann man das Aufleuchten unter ganz materialistischen Aspekten als ein elektromagnetisches Phänomen erklären.

Wie aber erlebe ich als Mensch das Licht?

Was ist Licht seinem We­sen nach?

Wenn Licht aufleuchtet, erscheinen die Dinge der Welt sofort in Zusammenhang. Und wenn ich die Augen schließe, wird es innerlich hell, weil mein Denken Lichtstruktur hat. Ein Gedanke ist Licht; wenn wir etwas verstehen, „geht uns ein Licht auf“. Wenn ich etwas mit liebevollem Interesse im Tageslicht betrachte, erlebe ich die Göttlichkeit meiner Seele – dann erstrahlt meine Menschlichkeit, das Höhere in mir. Inneres und äußeres Licht kommen zusammen.

Glauben Sie bitte nicht, es wäre für die kleinen Kinder, die Sie betreuen, gleichgültig, welches Verständnis von Licht Sie haben, wenn Sie morgens den Lichtschalter betä­tigen; ob Sie gar nichts oder an Elektronen oder elektrische Leitungen denken oder ob Sie geistig-seelisch-leiblich wissen, was Sie tun, wenn Sie den Raum äußerlich erhellen. Erst wenn Sie in dem Augenblick, in dem Sie äußerlich das Licht anknipsen, auch innerlich in sich selbst Licht entzünden, sind Sie wahrhaftig menschlich. Ob wir wirklich zu Wahrheit, Schönheit und Güte erziehen können, hängt auch davon ab, ob wir die Wahrheit, das wahre Wesen des Lichts, erkennen.

Pädagogischer Umgang mit dem Wesen des Wassers

Was ist denn die Wahrheit des Wassers?

Diese Frage sollten wir uns stellen, wenn wir das Kind baden. Äußerlich betrachtet ist Wasser eine interessante chemische Substanz, die die Fähigkeit hat, unglaublich viele Stoffe aufzulösen und zwischen ihnen zu vermitteln.

Was aber ist Wasser seelisch-moralisch gesehen?

Warum heißt es im Evangelium, dass das Wasser, das vom Engel bewegt wird, heilende Kräfte in sich aufnimmt?

Was hat das Wasser mit dem Engel zu tun?

Warum ist Wasser die Voraussetzung allen Lebens?

Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, die Amöbe. Eine Amöbe ist ein sehr intelligenter Einzeller, mit einer dünnen Haut.

Was macht nun dieses Tierchen, wenn die Pfütze, in der es sich ernährt, oder die Blumenvase, in der es sich entwickelt hat, austrocknet?

Es wird zu „Staub“. Es bildet eine feste Hülle und schützt seinen Kern; zum Schluss ist diese Hülle so fest, dass kein Wasser mehr verdunsten kann und so der letzte Rest von Wasser bewahrt wird. Dann wartet die Amöbe auf bessere Zeiten. Sie kann z.B. mit dem Kehricht in den Wind gelangen, kann mit dem Wind in die Sahara wehen – sie sind wirklich international, diese Amöben – kann in einem Flugzeug um die Welt jetten, bis sie einmal im Regen wieder auf den Boden tröpfelt. Sobald genügend Wasser vorhanden ist, schwillt sie wieder an und lebt weiter, nachdem sie lange Zeit wie tot war und fast keine Lebensprozesse in ihr stattgefunden haben; sie war jedoch nur optimal konserviert.

Alles kann also vorhanden sein, das genetische Programm, die Enzyme, die Substanzen, sogar Nahrungsstoffe, wenn aber das Entscheidende, das Wasser, fehlt, das den Austausch vermittelt, kann sich kein Le­ben entfalten. Wenn Sie einmal alles zusammennehmen, was Sie vom Wasser wissen, dann sehen Sie: Es ist der Inbegriff von „Dienstleistung“. Die moralische Eigenschaft, immer und überall zur Verfügung zu stehen, wo man gebraucht wird, hat in dieser allumfassenden Form nur das Wasser. Damit ist es der Inbegriff von Selbstlosigkeit und man kann verstehen, dass die Engel so viel mit Wasser zu tun haben. Denn die Engel sind wie das Wasser: Sie begleiten uns durch Geburten und Tode, stehen immer selbstlos zur Verfügung, reden uns aber nicht in unsere Freiheit hinein.

Innere Wahrheit des Äußeren erleben

Wenn wir uns nun beim Baden eines Säuglings bewusst sind, was wir tun, wenn wir wahr und ehrlich sind und die Wahrheit des Wassers in uns lebt, dann baden wir das Kind in Engel-Substanz. Dann kann es physisch erleben, was den Schutz­engel geistig ausmacht: Reinheit, Zartheit, Durchsichtigkeit, Klarheit, Sauberkeit, Moralität, Regeneration, Hei­lung, Trost, Erfrischung.

Es ist also wichtig, dass wir uns als Krippenerzieher bemühen in allen Einzelheiten des täglichen Lebens die innere Wahrheit der äußeren materiellen Vorgänge zu erleben. Angesichts dieser hohen Anforderung kann man verstehen, warum Rudolf Steiner sagte, in der Oberstufe der Schule, bei den Jugendlichen, könnten ruhig junge Akademiker unterrichten, aber im Kinder­garten und in der Kinderkrippe sollten ältere, lebenserfahrene, moralisch gebil­dete Persönlichkeiten arbeiten.

Nun sind es gerade junge Leute, die sich zum Beruf des Kindergärtners oder Krippenerziehers besonders hin­gezogen fühlen; es ist ein ausgesprochener Jugendberuf. Da ist es besonders wichtig, dass man gerade für und mit diesen jungen Menschen gründlich an den altersweisen Eigenschaften und Einsichten arbeitet.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 1. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft

ELTERN INNERLICH MITEINBEZIEHEN

Warum ist es so wichtig, die Eltern in die Krippenarbeit miteinzubeziehen?

Wie wirkt sich das auf die Arbeit mit den Kindern aus?

Kindern und Eltern gerecht werden

Wenn wir über Kleinkinderbetreuung in den ersten drei Lebensjahren sprechen, dürfen wir die Kinder ohne ihre Eltern nicht einmal denken. Es wäre bereits eine Kränkung, wenn wir die Eltern, sobald sie ihre Kinder an der Tür abgegeben haben, aus dem Bewusstsein verlieren würden. Damit würden wir weder Kindern noch Eltern gerecht. Im Kleinkindalter geht es um eine ganz andere Art von Erziehung als später, wenn die Kinder älter geworden sind. In den ersten Lebensjahren ist das Kind seinem Umkreis gegenüber noch ganz offen; es erlebt sich als Teil eines Ganzen. Je mehr wir als Betreuer dieses Ganze im Bewusstsein haben, umso wohler fühlt sich das Kind.

Es dauert seine Zeit, bis man gelernt hat, nicht nur die Säuglinge, sondern auch die Eltern im Bewusstsein zu tragen. Eine Hilfe kann dabei die abendliche Rückschau sein, bei der man sich diese Ganzheit noch einmal kurz für jedes Kind vor Augen führt. Das wirkt über Nacht und schafft für den nächsten Tag eine beziehungsvolle, „heimelige” Atmosphäre.

Kind und Elternhaus zusammenschauen

Es braucht Übung, bis es einem annähernd gelingt, am Abend das Kind und das, was man von seinem Zuhause erfahren hat, in ein Bild zu bringen. Natürlich können Sie nicht, wenn Sie am Abend hundemüde sind, Elternhaus für Elternhaus in allen Details durchgehen; so ist das auch nicht gemeint. Wichtig ist vielmehr, dass Sie ein Bild von den Menschen, die am nächsten mit diesem Kind verbunden sind, vor sich entstehen lassen: Mutter, Vater, eine Nachbarin, die Großmutter oder andere Menschen, die das Kind anstelle der Eltern gebracht haben. Wenn Sie mit dem Kind etwas tun, sollten Sie vor allem das Bild der Mutter so vor sich sehen, wie sie sich Ihnen am deutlichsten als sie selbst gezeigt hat. Damit verstärken Sie das Erlebnis der Geborgenheit und der Ganzheit beim Kind.

Das ist ja auch die goldene Regel für in Scheidung lebende Paare. Wir sagen dem Elternteil, bei dem das Kind lebt: „Dein Kind wird den anderen Elternteil weniger vermissen, wenn du all das, warum du ihn überhaupt geheiratet hast, im Herzen bewahrst und über allem Hässlichen und den späteren Schwierigkeiten nicht verdrängst.” Am physisch-irdischen Ursprung des Kindes steht die Liebe zwischen den Eltern; selbst wenn es ein Vergewaltigungskind ist, steht doch auch insofern die Liebe am Anfang, als die Mutter sich entschieden hat, das Kind auszutragen und zu lieben.

Daher ist es so wichtig, dass wir die Kinder als von ihren Eltern untrennbar erleben. Wir müssen tatsächlich das Ganze ins Auge fassen – wenn auch diskret und innerlich.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft

KRITERIEN EINER PÄDAGOGISCHEN ETHIK

Welche Kriterien umfasst eine pädagogische Ethik?

Welche Fragen haben Schüler an ihre Lehrer?

Neue Ethik im Kampf um Menschlichkeit

Ethik fragt nach dem Guten, nach der richtigen Handlung. Das 20. Jahrhundert hat die Quellen des Bösen in einer nie da gewesenen Weise offengelegt. Weltkriege als Macht- und Wirtschaftskämpfe, rechts- und linksradikaler Fundamentalismus, kollektiver Sozialismus, totalitäre Regimes, Militär- und Polizeidiktaturen, Völkermord und abgrundtiefer Hass haben das Schicksal ungezählter Millionen Menschen geprägt und prägen es weiterhin.

Gut und Böse können einerseits von außen auf uns wirken, aber auch mehr oder weniger bewusst aus dem eigenen Inneren aufsteigen und so wirksam werden. So können wir fassungslos vor Beispielen von Korruption und Verlogenheit stehen, wie sie täglich durch die Medien präsentiert werden, aber gleichzeitig die Tendenzen ein und desselben Verhaltens in uns selber nicht bemerken, weil eine Gefälligkeitslüge oder eine auf eine Gegengabe abzielende „gute Tat“ uns eher selbstverständlich und harmlos erscheinen.

Eine neue Ethik ist gefragt – sie muss da ansetzen, wo der Kampf um die Menschlichkeit heute stattfindet: in jedem Einzelnen. Die Zeiten sind vorbei, in denen Entscheidungen von den Großen und Mächtigen für ein unmündiges Volk getroffen wurden. In den modernen Demokratien kommt es auf die vielen Einzelnen an, die letztlich entscheiden, wer an die Macht kommt und welche Produkte konsumiert werden. Dies ernst zu nehmen, ist der Anfang der neuen Ethik. So wie terroristische Einzelaktionen und Gewaltanwendungen jede Gesellschaft destabilisieren und chaotische Zustände herbeiführen können, so können fundamentali-stische Parolen, Gruppenmeinungen und Ausgrenzungen in jedem einzelnen Menschen neutralisiert und gestoppt werden.

Fragen der Schüler an ihren Lehrer

Genau diese Fähigkeit wollen die Schüler an ihrem Lehrer erleben. Sie sitzen oder stehen ihm mit der nonverbalen Frage gegenüber:

Wer bist Du?

Wie meisterst Du das Leben?

Wie siehst Du die Welt?

Aus welchen Erfahrungen kannst Du sprechen?

Kannst Du mir helfen, ich selber zu werden?

Folgt man Rudolf Steiners Ausführungen über die Entwicklungsfähigkeit des Menschen, so stimmt es optimistisch, wenn man in seinem Schulungsbuch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ liest: „Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann.“[1]

Jeder kann lernen, menschlicher zu werden, wenn er die göttlich-geistigen Daseinsbereiche in sich selber bewusst macht, „erweckt“. Denn Entwicklung bedeutet, dass ein Späteres aus einem Früheren hervorgeht, dass man sich verwandelt, über sich, d.h. über das Bestehende hinauswächst.

Das Leben als Einweihungsweg verstehen

Es gehört zu den ganz besonderen Begleiterscheinungen des von Steiner skizzierten Entwicklungsweges, dass er das Leben selber als Einweihungsweg beschreibt. Deutlich arbeitet er heraus, dass die Aneignung von Wissen oder meditative Übungen nur dann segensreich sind, wenn man die Ergebnisse dieser Arbeit nicht als Selbstzweck betrachtet, sondern für das tägliche Leben fruchtbar macht. Selbstentwicklung, so verstanden, bedeutet, lebenserfahren zu werden, das heißt, das Leben in all seinen Höhen und Tiefen zu entdecken und zu verstehen. Denn: Wie will man Charaktereigenschaften lernen wie Verehrung, innere Ruhe, Mut und Zuversicht, Hoffnung, Treue, Andacht, Liebe und Wahrhaftigkeit bis hin zur Autonomie – die auch die Autonomie anderer bejahen kann –, wenn diese Eigenschaften nicht so gelernt werden, dass sie auch im Alltag Bestand haben, ja geradezu deutlich wird, dass das Leben selbst der allerbeste Lehrmeister dieser Eigenschaften ist.

Das bedeutet aber auch, dass es keinen „geistlosen“ Unterricht geben kann. Man steht als Pädagoge vor der Herausforderung, Unterrichtsstoff, Methodik und Didaktik der körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklung dienstbar zu machen. Um das leisten zu können, braucht es einen Weg der Selbstentwicklung, der dies ermöglicht und fördert.

Als wegweisende Kriterien auf diesem Weg hat Rudolf Steiner sieben Charaktereigenschaften bzw. Lebenshaltungen beschrieben. Wer daran arbeitet wird bald bemerken, wie er dadurch inneren Halt und klare Lebensorientierung gewinnt. Steiner nennt diese Lebenshaltungen „die sieben Bedingungen“ für den inneren Weg und bemerkt dazu: Ganz erfüllen kann die Bedingungen niemand; aber sich auf den Weg zu ihrer Erfüllung begeben kann jeder. Nur auf den Willen, auf die Gesinnung, sich auf diesen Weg zu begeben, kommt es an.[2]

Ich werde sie im nächsten Beitrag mit direktem Bezug zum Lehrerberuf näher ausführen.

Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärzte-tagung 2013


[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, GA 10. Dornach 1993, S. 16. (Ausgabe 1992, die auch der Online-GA zugrunde liegt).

[2] Ebenda, S. 103.

DIE SIEBEN BEDINGUNGEN FÜR DEN WEG DER SELBSTENTWICKLUNG

Was gilt es auf dem Weg der Selbstentwicklung als Lehrer zu beachten?

Wie lauten die von Rudolf Steiner genannten Bedingungen für den inneren Weg?

Welche Eigenschaften bringen sie hervor?

Die sieben Bedingungen

Rudolf Steiner nannte sieben Charaktereigenschaften bzw. Lebenshaltungen als Wegweiser auf dem inneren Weg. Wer daran arbeitet, wird bald bemerken, wie er dadurch inneren Halt und klare Lebensorientierung gewinnt. Steiner nennt diese Lebenshaltungen „die sieben Bedingungen“ für den inneren Weg und bemerkt dazu: Ganz erfüllen kann die Bedingungen niemand; aber sich auf den Weg zu ihrer Erfüllung begeben kann jeder. Nur auf den Willen, auf die Gesinnung, sich auf diesen Weg zu begeben, kommt es an.[1]

1. Bedingung – Förderung körperlich-geistiger Gesundheit

„Man richte sein Augenmerk darauf, die körperliche und geistige Gesundheit zu fördern. Wie gesund ein Mensch ist, das hängt zunächst natürlich nicht von ihm ab. Danach trachten, sich nach dieser Richtung zu fördern, das kann jeder.“[2]

Man könnte nun meinen, hier sei eine Anleitung zum Gesundheitsegoismus gegeben. Im Folgenden wird jedoch geschildert, wie wir das richtige Verhältnis zum Genuss – wie auch zur Pflicht – finden können. Körper und Seele sind in die tägliche Arbeit eingespannt und es kommt vor, dass man der Pflicht zuliebe auf seine Gesundheit zu achten vergisst. Man verzichtet vielleicht auf eine Mahlzeit oder man muss eine Nacht halb oder ganz durcharbeiten, damit es weitergehen kann. Das heißt, die Arbeit veranlasst uns oft dazu, unsere Gesundheit zu vernachlässigen.

Was in diesen Fällen kränkend wirken kann, soll nun ausgeglichen werden durch das richtige Verhältnis zum Genuss. Wir können lernen, intensiv zu genießen, aber so, dass dieser Genuss uns die Kraft gibt, die Arbeit besser und zufriedener zu tun. Es geht darum, zu lernen, nie den Genuss als Selbstzweck aufzusuchen – der dann Kraft kostet –, sondern so genießen zu lernen, dass wir daraus Kraft und neue Motivation für das Leben und die Entwicklung schöpfen. Für Menschen, die nicht genießen können, ist es besonders wichtig, sich klarzumachen, dass der Genuss eine Grundbedingung für die Erhaltung der Gesundheit ist, die Seele und Leib brauchen. Das Problem ist nur, darin bewusst bleiben zu können und im richtigen Augenblick auch wieder aufzuhören, frei nach dem Motto: „Mit dem Essen aufhören, wenn es am besten schmeckt.“ Genießen wir über den Höhepunkt hinaus oder mit Hilfe von gesundheitsschädigenden Drogen oder Genussmitteln, so kostet uns das mehr Kraft, als es spendet.

2. Bedingung – sich als ein Glied des ganzen Lebens fühlen

„In der Erfüllung dieser Bedingung ist viel eingeschlossen. Aber ein jeder kann sie nur auf seine eigene Art erfüllen. Bin ich Erzieher und mein Zögling entspricht nicht dem, was ich wünsche, so soll ich mein Gefühl zunächst nicht gegen den Zögling richten, sondern gegen mich selbst. Ich soll mich so weit als eins mit meinem Zögling fühlen, dass ich mich frage: ‚Ist das, was beim Zögling nicht genügt, nicht die Folge meiner eigenen Tat?‘ Statt mein Gefühl gegen ihn zu richten, werde ich dann vielmehr darüber nachdenken, wie ich mich selbst verhalten soll, damit in Zukunft der Zögling meinen Forderungen besser entsprechen könne. Aus solcher Gesinnungsart heraus ändert sich allmählich die ganze Denkungsart des Menschen. Das gilt für das Kleinste wie für das Größte. Ich sehe aus solcher Gesinnung heraus zum Beispiel einen Verbrecher anders an als ohne dieselbe. Ich halte zurück mit meinem Urteile und sage mir: ‚Ich bin nur ein Mensch wie dieser. Die Erziehung, die durch die Verhältnisse mir geworden ist, hat mich vielleicht allein vor seinem Schicksale bewahrt.‘ Ich komme dann wohl auch zu dem Gedanken, dass dieser Menschenbruder ein anderer geworden wäre, wenn die Lehrer, die ihre Mühe auf mich verwendet haben, sie hätten ihm angedeihen lassen. Ich werde bedenken, dass mir etwas zuteilgeworden ist, was ihm entzogen war, dass ich mein Gutes gerade dem Umstand verdanke, dass es ihm entzogen worden ist. Und dann wird mir die Vorstellung auch nicht mehr ferne liegen, dass ich nur ein Glied in der ganzen Menschheit bin und mitverantwortlich für alles, was geschieht.“[3]

Wer diese Bedingung übt, wird bemerken, in wie hohem Maße er durch sein Verhalten auf andere Macht ausübt. Wir alle tun es, oft ohne uns dessen bewusst zu sein. Diese Bedingung will den Blick dafür schärfen. Wenn mich z.B. jemand ärgert und ich auf derselben Ebene reagiere, so kann die Situation leicht eskalieren oder eine anhaltende Missstimmung die Folge sein. Rudolf Steiner bringt oben das Beispiel von einem frechen Schüler, der seinen Lehrer ärgert. Anstatt sich zu einer entsprechenden Gegenreaktion hinreißen zu lassen, kann der Lehrer sich jetzt fragen:

Wie muss ich mich verhalten, damit sich dieser Schüler von seiner besten Seite zeigen kann?

Was muss in ihm vorgegangen sein, was hat er vielleicht zu Hause erlebt, dass seine Hemmschwelle so niedrig war, mir diese ganzen Unverschämtheiten so unverblümt zu sagen?

Meist spricht ein Mensch über seine Vorwürfe von sich selbst, er projiziert seinen Doppelgänger in den anderen. Daher sollte man Vorhaltungen und Urteile nie persönlich nehmen, auch wenn sie einen persönlich betreffen und treffen. Man kann das zunächst einfach stehenlassen und sich fragen:

Warum sucht der Schüler das Doppelgänger-Erlebnis gerade mit mir?

Warum ist er ausgerechnet zu mir so frech?

Was hat es mit mir zu tun als anderem „Ende der Fahnenstange“?

Was kann ich zu seiner Selbsterkenntnis beitragen, ohne dass die Beziehung negativ eskaliert oder ich selbst in meiner Würde verletzt bin?

Selbst wenn man diese Fragen nicht sogleich beantworten kann, bedeutet schon die Tatsache, dass man sie ehrlich stellt und den anderen nicht „richtet“ und verurteilt oder Gleiches mit Gleichem vergilt, einen wichtigen Schritt. Bei solchem Bemühen kommt es nicht selten vor, dass der andere sich nach einer gewissen Zeit in seinem Verhalten ändert oder sogar nach ein paar Tagen kommt und sich entschuldigt.

Das Leben als das zu nehmen, was es ist, stellt eine tolle Übung dar: Leben ist so gesehen eine doppelspurige Straße, auf der ich ständig empfange und gebe. Die anderen tragen bei zu meiner Selbsterkenntnis und zur Beziehungsgestaltung. Das zu erkennen, führt zu einer gewissen Lebenszufriedenheit, stabilisiert enorm und entängstigt zugleich.

„Man nehme den anderen, wie er ist…“

<p>Ich verliere die Angst vor dem anderen, wenn er von mir aus so sein darf, wie er ist. Stellt euch das mal konkret vor: Wer schimpft, darf schimpfen, wer aggressiv ist, darf aggressiv sein, wer nicht grüßt, grüßt nicht – das alles dürfen die Menschen um uns herum! Und ich kann mich ganz souverän fragen, wie ich damit umgehen, was ich daraus machen möchte. Wenn jemand so mit anderen umgeht, dass sie so sein dürfen, wie sie sind, wirkt das magisch auf den Betreffenden zurück. Steiner sagt als soziales „Rezept“: „Man nehme jeden Menschen, wie er ist, und versuche, daraus das Allerbeste zu machen.“[4]

Als ich das zum ersten Mal las, merkte ich, dass es sich bei mir meist umgekehrt verhält: Ich nehme mich so, wie ich bin, und mache an den anderen rum, wünsche mir die anderen anders als sie sind: Ich gebe ihnen ungefragt gute Ratschläge, kritisiere, habe gute Ideen, was sie alles besser machen könnten…

Es geht nun darum, das umzudrehen – das ist doch total spannend! Der andere darf so sein, wie er ist und ich versuche mich zu ändern, dass er besser mit mir zurechtkommt. Er hat vielleicht einen Grund und ich kann etwas von ihm lernen!

3. Bedingung – Wirkung von Gefühlen und Gedanken erkennen

Sie besagt, „(…) dass Gedanken und Gefühle ebenso Bedeutung für die Welt haben wie unsere Handlungen. Es muss erkannt werden, dass es ebenso verderblich ist, wenn ich meinen Mitmenschen hasse, wie wenn ich ihn schlage. Dann komme ich auch zu der Erkenntnis, dass ich nicht nur für mich etwas tue, wenn ich mich selbst vervollkommne, sondern auch für die Welt. Aus meinen reinen Gefühlen und Gedanken zieht die Welt ebensolchen Nutzen wie aus meinem Wohlverhalten.“[5]

Wie wirksam gute Gedanken und Gefühle im Hinblick auf andere Menschen sein können, weiß jeder, der Menschen in seinem Umkreis hat, an die er mit Liebe, Achtung und Wertschätzung denkt. Kinder, denen mit liebevollem Respekt begegnet wird, wachsen in einer solchen Atmosphäre wie in einem moralischen Schutzwall auf, der sie alltäglichen Ärger, beängstigende Erlebnisse oder Streit mit Kameraden mit einer anderen inneren Sicherheit verkraften lässt, als es ohne einen solchen Schutz möglich wäre. Sich klar zu machen, dass gute Gedanken Keimkräfte möglicher guter Taten sind, dass positive Gefühle lebensfördernd sind, ist die Aufgabe.

Auf die Frage einer Besucherin im russisch-orthodoxen Kloster Sagorsk, wo sich die Mönche rund um die Uhr in einem Gebet für den Frieden in der Welt ablösen: „Denken Sie, dass das hilft? Es gibt doch so viel Kriegszustände auf der Erde –“, wurde ihr geantwortet: „Wissen Sie wie es auf Erden zugehen würde, wenn wir hier nicht beten?“ Es ist unsere Aufgabe, mit dem Bewusstsein leben zu lernen, dass man für die Qualität der eigenen Gedanken und Gefühle ebenso Verantwortung trägt wie für das eigene Handeln. Dadurch prägen sich Stimmung und Klima, die „Aura“ einer Situation.

4. Bedingung – Wesenheit des Menschen im Inneren suchen

Hier geht es um die „(…) Ansicht, dass des Menschen eigentliche Wesenheit nicht im Äußerlichen, sondern im Inneren liegt. (…) Wer zu solchen Gefühlen vordringt, der ist dann geeignet zu unterscheiden zwischen innerer Verpflichtung und dem äußeren Erfolg. Er lernt erkennen, dass das Eine nicht unmittelbar an dem Anderen gemessen werden kann. Es gilt die rechte Mitte zu finden zwischen dem, was die äußeren Bedingungen vorschreiben, und dem, was er als das Richtige für sein Verhalten erkennt. Er soll nicht seiner Umgebung etwas aufdrängen, wofür diese kein Verständnis haben kann; aber er soll auch ganz frei sein von der Sucht, nur das zu tun, was von dieser Umgebung anerkannt werden kann. Die Anerkennung für seine Wahrheiten muss er einzig und allein in der Stimme seiner ehrlichen, nach Erkenntnis ringenden Seele suchen. Aber lernen soll er von seiner Umgebung, soviel er nur irgend kann, um herauszufinden, was ihr frommt und nützlich ist. So wird er in sich selbst das entwickeln, was man (…) die „geistige Waage“ nennt. Auf einer ihrer Waageschalen liegt ein „offenes Herz“ für die Bedürfnisse der Außenwelt, auf der anderen „innere Festigkeit und unerschütterliche Ausdauer.“[6]

Die Erfüllung dieser Bedingung ist zugleich auch ein Gradmesser für das Maß an Autonomie und innerer Unabhängigkeit, was schon errungen ist. Den Lehrer als unbestechlich und im Urteil eigenständig zu erleben, wirkt motivierend auf den Schüler, „auch so“ zu werden. Letztlich beruht darauf auch die Drogenprävention: Abhängigkeit entsteht durch die Unfähigkeit, zu sich selber zu stehen. Man sucht nicht die Selbsterfahrung, das Erlebnis, auf dem Weg persönlicher Anstrengung und Arbeit, sondern mit Hilfe von Stimulanzien und Drogen. Man macht sich nicht von sich abhängig, sondern von Stoffen, Kräften oder von Menschen und Dingen. Mit Hilfe der vierten Bedingung lernt man, sich diesen Tatbestand bewusst zu machen und zu verstehen, warum in einer so auf Äußerlichkeit und Konditionierung ausgerichteten Kultur das Phänomen ‘Abhängigkeit und Integritätsverlust’ zum Problem Nummer 1 werden kann. Denn letztlich ist nur eine geistige und emotionale Abhängigkeit „gesund“: die von sich selbst.

5. Bedingung – gefasste Entschlüsse befolgen

„(…) die Standhaftigkeit in der Befolgung eines einmal gefassten Entschlusses. Nichts darf einen dazu bringen, von einem gefassten Entschluss abzukommen, als die Einsicht, dass man im Irrtum befangen ist. Jeder Entschluss ist eine Kraft, und wenn diese Kraft auch nicht einen unmittelbaren Erfolg da hat, wohin sie zunächst gewandt ist, sie wirkt in ihrer Weise. Der Erfolg ist nur entscheidend, wenn man eine Handlung aus Begierde vollbringt. Aber alle Handlungen, die aus Begierde vollbracht werden, sind wertlos gegenüber der höheren Welt. Hier entscheidet allein die Liebe zu einer Handlung.“[7]

Arbeit zu leisten aus dem inneren Beweggrund der Liebe zur Sache oder zu Menschen und nicht aus der Begierde nach Geld, Anerkennung oder Erfolg – das ist heutzutage wie eine Botschaft von einem anderen Planeten. Dennoch kann nur eine solche Arbeitsmoral den Charakterzug der Standhaftigkeit ausbilden. Geschieht die Arbeit aus anderen Beweggründen, so begibt sich das Ich in Abhängigkeiten, die seine Standfestigkeit untergraben und es manipulierbar und bestechlich machen.

Ein Entschluss birgt die Kraft der Verwirklichung. Daher ist es eine Frage der Standhaftigkeit, der Unbeirrbarkeit, der Liebe zur Sache, ob die Ausführung gelingt. Andererseits braucht es Kraft, die Kraft selbstloser Liebe, um sich einen Irrtum einzugestehen oder eine Enttäuschung gesund zu verkraften. Auch dieses fördert die Standfestigkeit im Leben und verhindert das „Zusammenbrechen“ oder „Einknicken“, wenn Rückschläge oder Enttäuschungen kommen, die jeder Lebenslauf mit sich bringt. Wenn Schüler Lehrern begegnen, die um solche Standhaftigkeit ringen, wird ihnen die Schule zu einem zweiten Zuhause. Sie gewinnen Maßstäbe des „Leben Lernens“ und fühlen sich mit ihren eigenen Unsicherheiten, Idealen und Enttäuschungen verstanden und „angenommen“.

6. Bedingung – Dankbarkeit für alles entwickeln

Hier geht es um „(…) die Entwicklung des Gefühles der Dankbarkeit gegenüber allem, was dem Menschen zukommt. Man muss wissen, dass das eigene Dasein ein Geschenk des ganzen Weltalls ist. Was ist alles notwendig, damit jeder von uns sein Dasein empfangen und fristen kann! Was verdanken wir der Natur und anderen Menschen! (…) Wer sich solchen Gedanken nicht hingeben kann, der vermag nicht in sich jene All-Liebe zu entwickeln, die notwendig ist, um zu höherer Erkenntnis zu kommen. Etwas, das ich nicht liebe, kann sich mir nicht offenbaren. Und eine jede Offenbarung muss mich mit Dank erfüllen, denn ich werde durch sie reicher.“[8]

Gerade in der Schule ist es so notwendig, aufmerksam zu werden für die Tatsache, dass das Schicksal, die vielen kleinen und großen Begebenheiten im Leben, letztlich immer lebensfreundlich sind und Anlass geben zu lernen, etwas Positives daraus zu machen, die Entwicklung zu fördern. Schüler erleben ihren Lehrer als Lebenskünstler, wenn er an dieser 6. Bedingung arbeitet. Dankbarkeit ist die seelische Atemluft zwischen Menschen. Man fühlt sich frei und leicht in einer von Dankbarkeit geprägten seelischen Atmosphäre. Die Stimmung der Dankbarkeit schließt zusammen, bewirkt Offenheit und Vertrauen. Rudolf Steiner beschreibt das Gefühl der Dankbarkeit auch als die Brücke zu den Verstorbenen. Ist doch die Dankbarkeit dasjenige, was man aus allen Erfahrungen im Irdischen, die an Raum und Zeit gebunden sind, als das Unvergängliche herausarbeiten kann. In der Dankbarkeit findet jede noch so schwierige, schöne oder auch von Sehnsucht schmerzhaft geprägte Erfahrung ihre Beruhigung und Dauer im eigenen Wesen.

7. Bedingung – die Bedingungen als Gesamtheit im Bewusstsein behalten

„Alle die genannten Bedingungen müssen sich in einer siebenten vereinigen: das Leben unablässig in dem Sinne aufzufassen, wie es die Bedingungen fordern.“[9]

Dadurch bekommt die eigene Lebensgestaltung ein einheitliches Gepräge, eine gewisse Integrität und Geschlossenheit. Als Folge dieser Bemühungen wächst die Fähigkeit der inneren Ruhe. Der ruhende Pol in der Klasse zu sein, ist nun aber die Voraussetzung für eine konstruktive und erfreuliche Berufspraxis. Wer das Leben im Sinne dieser Bedingungen auffassen lernt, macht dieses sein Leben selber zu der großen Schule, in die er geht und dessen Lehrer der Herr der Schöpfung ist. Zu entdecken, dass die Evolution von Mensch, Erde und Weltall zusammenhängen, aufeinander abgestimmt sind, für einander und durch einander da sind, kann zur überkonfessionellen, interreligiösen Gotteserfahrung werden, zur Begegnung mit dem schöpferischen Logos in uns, um uns. Lehrplan, Methodik und Didaktik in der Schule in diesem Sinne aufzufassen und zu handhaben ist Auftrag und Engagement der Waldorfpädagogik.

Erwerb von positiven Eigenschaften

Die aus der Arbeit an den sieben Bedingungen folgenden Charaktereigenschaften bzw. „spirituellen Haltungen“ sind:

Gesunde Lebensgestaltung

Integrationsfähigkeit

Realitätssinn

Innere Selbständigkeit und Unabhängigkeit

Geduld

Schicksalsvertrauen („All-Liebe“)

Innere Ruhe

Auf der Basis einer solchen inneren Arbeit wird Pädagogik, wird der Beruf des Lehrers selbst zum Prototyp des menschlichen Entwicklungsweges. Wir sind als Menschen zwar unvollkommen und lernbedürftig. Dieses aber macht unsere Entwicklungsfähigkeit aus, deren Besonderheit die Selbstentwicklung ist. Menschlichkeit lässt sich nur lernen, wenn man bereit ist, sie zu denken, zu empfinden, zu üben und immer wieder neu zu wollen. Erzwingen lässt sie sich nicht, auch nicht von außen, „per Natur“ erzeugen. Sie ist das Ergebnis eigener seelischer und geistiger Arbeit und kommt stets von innen, „von Herzen“.

Vgl. „Die Angst in der Selbsterziehung des jungen Erwachsenen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013


[1] Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, GA 10. Dornach 1993, S. 103. (Ausgabe 1992, die auch der Online-GA zugrunde liegt.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda, S. 105.

[4] Rudolf Steiner, Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden? Vortrag vom 10.10.1916 in Zürich. In: Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten, GA 168.

[5] Ebenda, S. 107.

[6] Ebenda, S. 108.

[7] Ebenda, S. 109.

[8] Ebenda, S. 109f.

[9] Ebenda, S. 110.

ERZIEHUNG UND VORBILD

Wie kann man dem Kind in den verschiedenen Entwicklungsstufen angemessen Vorbild sein?

Was brauchen Kinder in welchem Alter?

Nonverbal Vorbild sein

In einer Zeitungsbeilage fand ich den Bericht „Ist gutes Benehmen noch gefragt?“. Dort hieß es: „Gute Lebensformen lernt man am besten im Umgang mit Menschen, genauer gesagt durch gute Vorbilder.“ Entscheidend ist jedoch, dass der Erwachsene wirklich Vor-Bild ist und dem Kind nicht permanent sagt, wie es sich vorbildlich verhalten soll. Genau da liegt heute das Problem: Viele Eltern missachten das Entwicklungsgesetz, dass im Vorschulalter die Nachahmung über die Sinne geht und nicht über das Sprachverständnis. Im Vorschulalter steht eindeutig die nonverbale Erziehung im Vordergrund.[1]

Man kann selbstverständlich seine Handlungen in Gegenwart des Kindes mit Worten begleiten (was dann nebenbei die Sprachentwicklung begünstigt), das Wirksame ist jedoch die Handlung selbst, das heißt die vollmenschliche Realität. Je weniger in diesem Alter geredet wird – „Mach dies so, lass das, ich habe dir doch schon so oft gesagt“ etc. –, um so freier fühlt sich das Kind, das zu lernen, was es sieht und interessant findet und was vom Erwachsenen ja deshalb getan wird, weil es sinnvoll und im Augenblick angebracht ist.

Erziehung über Wort und Erklärung sollte erst dann beginnen, wenn die natürliche Nachahmungsfähigkeit am Ende des ersten Jahrsiebtes abklingt und das Kind diese einmalige Begabung verliert, vollmenschlich-intuitiv aufzunehmen, was der Erwachsene denkt, fühlt und tut. Es gehört ja zu den erschütternden Erfahrungen im Umgang mit Kindern, dass sie nicht nur das miterleben und nachahmen, was sie äußerlich an Handlungsabläufen wahrnehmen. Sie ahmen auch die seelische und geistige Haltung des Erwachsenen nach, der mit ihnen umgeht.

Kinder erleben den Erwachsenen unmittelbar

In der Kindersprechstunde konnte ich oft erleben, dass die beschwörenden Worte, das Kind müsse keine Angst haben, nicht gehört wurden. Vielmehr weinte ein Kind, weil es die Spannung der Mutter miterlebte, die genau wusste, dass eine Spritze fällig war und nun Angst hatte, es könnte dem Kind weh tun.

Kleine Kinder haben noch ein unmittelbares Empfinden für Wahrheit und Lüge, für das, was der Erwachsene eigentlich meint. Sie finden z.B. sehr schnell heraus, ob ein ausgesprochenes Verbot tatsächlich als Verbot gemeint ist oder nur als ein Angebot, ein provozierendes Spiel zu beginnen. Kinder provozieren unter Umständen so lange, bis sie herausgefunden haben, ob der Erwachsene tatsächlich meint, was er sagte, oder ob er „umfällt“. Ist das Verbot von vornherein vollkommen ernst gemeint, bleiben die Provokationen in der Regel aus, weil das Kind sogleich spürt, dass es mit seiner Opposition keine Chance hat. Dann erntet der Erwachsene allenfalls ein vorübergehendes Maulen des nicht Einverstanden-Seins und die Sache kommt schnell zur Ruhe.

Es kommt vor allem darauf an, wie der Erwachsene mit sich selbst umgeht, ob er Vorbild ist z.B. im Umgang mit Konflikten. Wenn er nur stark ist in den kleinen Konflikten mit dem Kind und sich da dominant zeigt, seine eigenen Probleme aber nicht im Griff hat, wird er das Kind nicht zur Konfliktfähigkeit erziehen können, da es in diesem Falle höchstens die Überlegenheit des Erwachsenen wahrnimmt.

Orientierung am Ideal

Kleine Kinder verlangen eine tägliche Schulung in Selbstbeherrschung von ihren Eltern und Erziehern, damit diese ihrem Erziehungsauftrag gerecht werden können. Täglich werden Erfahrungen gemacht, die Wut und Ärger hervorrufen könnten: Die Garageneinfahrt ist zugeparkt, die Straßenbahn ist davongefahren, der Veranstaltungsbeginn wird verpasst, weil dieser oder jener zu lange gebraucht hat. Auf der Autobahn muss man scharf bremsen, weil ein überholendes Auto knapp vor einem einschert usw.

Wie geht man damit um?

Man bemüht sich vielleicht, seine Wut zu kontrollieren und die Vernunft einzuschalten, aber man erlebt doch auch immer wieder, dass man dem aufwallenden Ärger nicht Einhalt gebieten konnte. Man merkt, wie rasch man unter Belastung die Kontrolle verliert.

In diesem Zusammenhang ist es tröstlich zu wissen, dass Kinder sich am Bemühen des Erwachsenen, sich zu beherrschen und eigene Entgleisungen zu bemerken, orientieren, nicht an den Ergebnissen oder Fehlern. Es nimmt die Art und Weise wahr, wie der Erwachsene mit seinem Gelingen und Misslingen umgeht. Es schätzt seine Ich-Anwesenheit und ahmt sie nach. Das Kind nimmt als Vorbild, was der Erwachsene selbst hat und was als Gewissensstimme oder Lebensideal in ihm lebt, auch wenn er diesem noch lange nicht entspricht.

Kindliche Wahrnehmung von Idealen

Wenn also Erwachsene in der Erziehung zur Konfliktfähigkeit für ihre Kinder Vorbild sein wollen, können sie das nicht etwa deshalb, weil sie selbst schon konfliktfähig und vorbildlich sind – das ist nur selten der Fall. Sie können es aber durch das Lebensideal, das sie in sich tragen, an dem sie ihr eigenes Handeln unausgesetzt orientieren. Weil wir Menschen sind, wissen wir, was menschlich ist – selbst wenn wir es vielleicht nur fühlen und nicht im Einzelnen formulieren können. Wesentlich ist, dass wir es fühlen, dass es in uns anwesend ist, und dass das Kind es an unserem Verhalten wahrnehmen kann.

Gerade Kinder, die oft erleben, dass sie noch sehr viel lernen müssen, fühlen sich tief verstanden und bestätigt, wenn sie erleben, dass der Erwachsene auch ein Lernender ist. Die Gefahr, in der Vorbildfunktion eitel zu werden oder seine Übermacht auszuspielen, kann nur dadurch wirksam gebannt werden, dass man sich klarmacht, dass im Kind, ihm selbst noch verborgen, dasselbe Vorbild lebt wie im Erwachsenen, und dass man mit ihm diesbezüglich auf einer Stufe steht. Die so wichtige Fähigkeit, sich allen Menschen auf der menschlichen Ebene gleichgestellt zu erleben und keine Unterschiede zu machen nach Rang, sozialer Stellung, Alter und Geschlecht, diese wahrhaft soziale Lebenseinstellung kann sich nur ausbilden, wenn der Erwachsene sie dem Kinde auf partnerschaftliche Weise vorlebt.

Altersentsprechendes Vorbild

Die Entwicklungsstadien im Vorschulalter, Schulalter und in der Jugendzeit brauchen alle das Vorbild – nur jeweils auf einer anderen Ebene:

  • Das Vorschulkind braucht das Vorbild durch die Handlung, die Tat, das „Sein“. Es stellt damit die höchsten Ansprüche an den Erwachsenen.
  • Das Schulkind braucht das Vorbild im Wort. Es muss erleben, dass das Wort gilt und dass es zu den vom Erzieher und Lehrer beschriebenen Sachverhalten hinführt. Am leichtesten ist das in der Mathematik zu verstehen. Ohne Erklärung seitens des Lehrers kann das Kind nicht verstehen, letztlich lernt es jedoch, selbst mit der Sache umzugehen. Autorität wird von Kindern immer akzeptiert, wenn sie sachlich begründet ist und sich nicht auf persönliche Sympathie oder Antipathie stützt.
  • Im Jugendalter muss der Heranwachsende für seine eigene Weiterentwicklung Erwachsene erleben können, für die die Wahrheit bzw. die Suche nach Wahrheit der Maßstab in ihrem Denken ist. Nun ist nicht mehr der Erwachsene, der etwas erklärt und zu einer Sache hinführt, das Vorbild bzw. die führende Autorität, sondern das Erkenntnisproblem an sich als Wahrheit, die es zu verstehen gilt. Der Jugendliche muss den Erwachsenen angesichts der Wahrheit genauso als Fragenden erleben, wie er selbst ein Fragender ist. Gute Fragen stärken das eigene Denkvermögen und fördern die Selbständigkeit auf diesem Gebiet.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 10. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997


[1] Vgl. dazu auch das Kapitel Nonverbale Erziehung in: Michaela Glöckler, Elternsprechstunde. Stuttgart, 8. Aufl. 2008.

DIE HOHE BEDEUTUNG DER BEZUGSPERSON

Warum sind die Bezugspersonen sehr junger Kinder von so großer Bedeutung für deren Entwicklung?

Welche Gesichtspunkte sind dabei zu beachten?  

Frühe Prägung durch Bezugspersonen

Als Kinderärztin lernte ich viele Situationen von Müttern kennen, viele Zwischenstadien zwischen der Vollzeit-Mutter und der voll berufstätigen Mutter, die ihr Kind einer Krippeneinrichtung anvertrauten. Die Professionalität der Kinderkrippe erschien dabei entscheidend, die sich in der Qualität der dort arbeitenden Pädagogen zeigt.

Zu sagen, die Hauptsache sei, dass das Kind überhaupt eine Bezugsperson hat, ist zwar richtig, aber nicht die ganze Wahrheit. Denn diese Bezugsperson wird vom Kind extrem nachgeahmt. Wir wissen heute auch, dass die biologische Grundlage für diese Nachahmung die Spiegelneuronen sind. Kinder ahmen nicht nur die Mimik und Gestik ihrer Bezugsperson nach, sondern werden auch geprägt davon, wie sie in der Welt steht. Das heißt, die Nachahmung umfasst alle äußeren, aber auch die moralisch-inneren Verhaltensweisen zu denken und zu fühlen.  Insofern ist es nicht egal, wer die Bezugsperson des Kindes ist. Die Prägung durch den einen oder den anderen Menschen kann sehr unterschiedlich ausfallen.

Je jünger das Kind, desto größer der Einfluss

Waldorfkinderkrippenerzieher arbeiten deshalb in ihren Ausbildungen selbstkritisch an der Frage:

Wie werde ich ein moralisch integrer Mensch?

Das ist eine große Herausforderung. Doch nur so können sie sich guten Gewissens in den ersten Lebensjahren, in dem die Hauptprägung stattfindet, von den Kindern nachahmen und „einverleiben lassen“.

Rudolf Steiner schockierte in den zwanziger Jahren mit dem Ausspruch, dass je jünger die Kinder seien, desto erfahrener und reifer müssten die Pädagogen sein, die mit ihnen umgehen. In der Oberstufe könnten sich auch junge Lehrkräfte „austoben". Die Jugendlichen würden damit schon zurechtkommen. Sie wären nicht mehr so ausgeliefert, offen und prägbar. Das hat damals noch kaum jemand verstanden.

Heute versteht man diesen Ansatz Rudolf Steiners auf der Grundlage der Bindungsforschung viel besser. Auf die Gehälter der Pädagogen für unsere Jüngsten hat sich das leider noch immer nicht ausgewirkt: Akademiker, wie Oberstufenlehrer es sind, bekommen ein viel besseres Gehalt als die Kinderkrippen- und Kindergartenerzieher. Ich bin sicher, dass die Zeit kommen wird, in der man für moralische Qualität sehr viel mehr Geld ausgeben wird, nicht nur für intellektuelles Know-how und technische Geschicklichkeit.

Vgl. Vortrag „Kindsein heute – quo vadis Menschheit“, 22. Mai 2011 in Bühl/Baden

KONTINUITÄT UND WIEDERHOLUNG IM ALLTAG

Warum sind gerade für kleine Kinder Kontinuität und Wiederholung so wichtig?

Kontinuität zur Selbstversicherung des Kindes

Erziehung zu einem gesunden Selbstbewusstsein verlangt Kontinuität. Denn solange das Kleinkind noch nicht über ein abstraktes Erinnerungsvermögen verfügt, d.h. solange es alles, was es nicht sieht, sogleich vergisst, solange ist das kindliche Selbstbewusstsein ganz von den gegenwärtigen Sinneseindrücken abhängig; es muss sein Selbsterleben ständig daran erneuern. Erst wenn es zu denken beginnt, gelingt es ihm, das Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten.

Daher ist es so wichtig, dass jedes Kleinkind seine Ecke, seine Gegenstände, sein Bettchen als etwas zu ihm Gehöriges hat, worin es sich immer und immer wieder findet. Es kann sein, dass ein Kind die Mutter stark entbehrt und darunter leidet, beispielsweise dann, wenn die Mutter morgens noch stillt und das Kind danach abgibt. Dann kann es hilfreich sein, neben das Kopfkissen des Kindes eine Milchvorlage aus dem Büstenhalter der Mutter zu legen, die den Geruch der mütterlichen Brust festhält, sodass das Kind die Kontinuität der mütterlichen Geruchswahrnehmung erlebt.

Man hat festgestellt, dass Säuglinge schon in den ersten Lebenstagen, wenn sie in Bauchlage den Kopf gerade ein wenig anheben können, das Gesicht sofort auf die Seite drehen, auf der solche mütterlichen „Geruchsartikel” hingelegt wurden, wobei gar keine Reaktion erfolgt, wenn diese Gegenstände von einer anderen Frau stammen. Der Geruchsinn ist also ganz und gar auf die Mutter eingestellt. Manche Mütter tragen dieser Tatsache instinktiv Rechnung: Wenn die Kinder anfangen allein zu schlafen, darf noch eine Wolljacke oder ein anderes Kleidungsstück der Mutter mit ins Bettchen und der Schlaf ist ruhig.

Warum aber bedeutet die Wiederholung des Gleichen eine Verstärkung und Vertiefung des Selbstgefühls?

Warum verleihen die vertraute Umgebung, dasselbe liebe Gesicht, dieselben lachenden Augen, dieselbe warme Hand, derselbe Geruch, derselbe Geschmack Lebenssicherheit?

Dass Säuglingsernährung so langweilig, so wenig „abwechslungsreich“ ist, dass es immer gleich schmeckt, ist gerade das, was Kinder brauchen. Wir Erwachsenen haben diese Eintönigkeit nicht mehr nötig, wir essen gerne jeden Tag etwas anderes. Die Sinne des Säuglings aber verlangen nach der Wiederholung des Gleichen, weil sich das Ich nur über die Sinneserfahrung betätigen und allmählich mit dem Leib verbinden kann.

Was Quintenklänge und andere Intervalle beim Kind bewirken

Daher verwenden wir im Umgang mit kleinen Kindern auch die wundervollen Quintenklänge, die ganz und gar den Lebenssinn ansprechen und das Ich dazu anfeuern, sich selbst zu erfahren.

  • Die Quint ist der Laut des Lebens: Jeder Atemzug bewegt die Lungen im Verhältnis drei zu zwei, im Verhältnis der Quint, so wie wir auch rechts drei und links zwei Lungenlappen haben. Die Quinte ist unter den Intervallen dasjenige, durch das man sich im Körper auf harmonische Weise an der Grenze zwischen der Umwelt und der melancholischen Innenwelt erlebt; sie ist der Klang des heiteren, gesunden Selbstbewusstseins.
  • Die Terz ist Ausdruck von Melancholie, bringt einen schon ein wenig auf den Weg in das „genüssliche Deprimiertsein“.
  • Und bei der Sext und Septim ist man schon ein wenig am Aussteigen, am Exkarnieren.

Die Quintenklänge liegen gerade dazwischen. Wenn wir sie im ersten, zweiten, dritten Lebensjahr immer wieder auf der Leier erklingen lassen und mit Geschichten und Liedchen verbinden, trägt das aufs Innigste zur Stärkung des Selbstbewusstseins, zur Selbsterfahrung, zum „Mitte finden“ der Kinder bei.

Für Sie selbst wird das Herausfinden dessen, was ein Kind von Zuhause im Sinne der Kontinuität braucht, zu einer objektiven Seelenübung, in der Ihre Sympathien und Antipathien zu Wahrnehmungsorganen für das werden, was das Kind gernhat. Sie sollten nicht meinen, dass das, was Sie selbst als das Schönste betrachten, auch für das Kind das Schönste ist. Es kann durchaus dasselbe sein, muss es aber nicht.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 2. Vortrag, Kongressband Nr. 2, gelbes Heft

ERZIEHUNGSEINFLÜSSE UND IHRE FOLGEN FÜR DIE BIOGRAFIE[1]

Welche Folgen hat die Erziehung für die Biografie?

Wie kann man im Erwachsenenalter konstruktiv damit umgehen?

Prägende Einflüsse

Vieles in Bezug auf den prägenden Einfluss von Milieu und Erziehung ist heute bekannt. Wie grundlegend diese Prägung ist und auch wie bewusst sie gehandhabt werden sollte, beschreibt Rudolf Steiner mit den folgenden Worten:

„Wir können das ganz kleine Kind nur dadurch erziehen, dass wir in seiner Umgebung jene Tätigkeiten und Vorgänge hervorrufen, die das Kind nachahmen soll, damit es stark an Geist, Seele und Leib werde. Denn das, was sich da nicht nur seinem Geist und seiner Seele, sondern auch seinem Leibe einpflanzt, wie sich innerlich die Organe verstärken, das bleibt als eine Konstitution das ganze Leben hindurch. Wie ich mich neben einem Kinde von vier Jahren benehme, daran hat das Kind bis in sein sechszigstes Jahr hinauf in seinem Leben zu tragen; so dass es mein Verhalten neben ihm im spätesten Lebensalter als sein Schicksal empfindet.“[2]

Pädagogisches Gesetz und Wesensglieder

Darüber hinaus sei „das pädagogische Gesetz“ genannt, das genau beschreibt, wie das jeweils nächsthöhere Wesensglied sich erzieherisch oder schädigend auf das nächstniedere auswirkt:

  • Was im Ich erlebt wird, ruft im Astralleib Reaktionen hervor.
  • Wie der Astralleib reagiert und welche Gefühle erregt werden, beeinflusst den Lebenszustand und das Lebensgefühl des Ätherleibes.
  • Die Verfassung des Ätherleibes hingegen wirkt sich gesundend oder kränkend auf den physischen Leib aus.[3]

Dieses Gesetz gilt nicht nur im Zusammenhang mit der Selbsterziehung, damit man lernt, mit seinen Erlebnissen konstruktiv umzugehen. Es gilt auch in jeder zwischenmenschlichen Beziehung und insbesondere für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Denn diese sind noch nicht fähig, ihre Lebenserfahrungen aus ihrem Ich heraus konstruktiv zu verarbeiten und Verletzungen eine positive Wendung zu geben. Der Heranwachsende ist ungeschützt destruktiven Haltungen, Worten und Taten ausgesetzt. Sie beeinflussen ihn unmittelbar und rufen schädigende Reaktionen an Leib und Seele hervor, mit denen er sich ein Leben lang „herumschlagen“ muss, weil sie sich seiner in Entwicklung begriffenen Konstitution „einverleibt“ haben. Das kann auch die Ursache für destruktive und kriminelle Veranlagungen sein.

Umgekehrt können alle pädagogisch wertvollen Bemühungen um einen fairen, altersentsprechenden Umgang mit Kindern und Jugendlichen gesundende Prozesse einleiten, die diese lebenslang als stärkende Kraftquelle begleitet.

Fakt ist: Was im achten und neunten Lebensjahr im Kind veranlagt wird, hat seine Wirkungen im 45.-50. Lebensjahre des Erwachsenen.[4]

Auflistung positiver Eigenschaften und ihrer karmischen Ursachen

Im Einzelnen führt Rudolf Steiner viele Zusammenhänge aus, von denen nur einige hier wiedergegeben seien:

Grundsätzlich gilt: Alle Erziehung wirkt sich bis ins Körperliche hinein aus. Das gilt auch für jeden geistigen Einfluss auf das Kind. Was die zarte Organisation des Kindes im Körperlichen aufnimmt, bleibt in seinen Wirkungen und Ergebnissen im ganzen Erdenleben bestehen, bis der Mensch stirbt.[5] Denn das Kind lernt durch Nachahmung: Es erwirbt so die besondere Art sich zu bewegen, seine Sprache und entwickelt auf diese Weise sogar die Form seiner Gedanken.[6] Es gibt sich so an die Umgebung hin, dass die Kraftlinien und Kraftstrahlen seines Willens genau das nachformen, was in der Umgebung vorgeht.[7]

Freiheitsfähigkeit wird durch möglichst intensives Nachahmen als Kind veranlagt. Denn nur was im Kindesalter in dieser Weise eingepflanzt wird, kann die Grundlage für soziale Freiheit geben.[8] Denn Freiheit und Nachahmung schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig. Wie kommt das? Alles was das Kind nachahmt, tut es ja selbst! Und es tut es auf seine Weise. Jeder Lernprozess hat Bedingungen und unterliegt Notwendigkeiten. Freiheitsfähigkeit beruht darauf, dass der Mensch möglichst ungehindert und ganz aus eigenem Interesse, eigener Neugierde heraus und nach eigenem Ermessen nachahmen darf und dann später selber entscheiden kann, wann und wie er die auf dem Wege der Nachahmung erworbenen Fähigkeiten einsetzen will.

Bis ins späte Alter gesund und frisch erhalten können sich Menschen, die im 1. Jahrsiebt aus freiem Antrieb sinnvolle Tätigkeiten nachahmen durften und nicht unter dem Zwang von Verhaltensmaßregeln standen. Sie werden immer wieder die innere Kraft haben, etwas Neues zu beginnen.[9]

Gesundes Sehen bildet sich aus, wenn man die richtigen Farben- und Lichtverhältnisse in des Kindes Umgebung bringt.[10] Dies ist heute zunehmend wichtig, weil Kinder viel zu viel vor dem Bildschirm sitzen oder mit ihren Smartphones beschäftigt sind. Dadurch kommt es zu einer Reduktion realer, komplexer Sinneseindrücke und synästhetischer Interaktion mit den anderen Sinnestätigkeiten und deren zentralnervöser Verarbeitung.

Fantasie-Tätigkeit wirkt bildend auf die Formen des Gehirns. Das Kind ist plastisch tätig an seinem Leib. Die für die plastische Gestaltung des Gehirns zuständigen Kräfte strahlen hinunter in den Organismus, greifen direkt ein in das Substanzielle und bewirken Stoffprozesse.[11] Diese Ansicht Steiners erinnert an die Auffassung des Psychiaters Thomas Fuchs, dass das Gehirn ein Beziehungsorgan ist, das sich durch Lebens- und Beziehungstätigkeit in jeder Form bildet, aber auch durch eigenständige fantasievolle Betätigung.[12]

Die physischen Formen der Organe bilden sich in der richtigen Art heraus, wenn in der Umgebung des Kindes Freude lebt, wenn es heitere Mienen der Erzieher und redliche Liebe erleben darf.[13] Freude des Gegenübers hat eine identifizierende, bestätigende Wirkung, die sich auf das gesamte körperliche Bildegeschehen erstreckt und es beeinflusst.

Die physischen Anlagen für einen gesunden moralischen Sinn in Gehirn und Blutumlauf bilden sich, wenn das Kind Moralisches in seiner Umgebung sieht.[14] Was die gegenwärtige Erforschung der Spiegelneurone[15] bestätigt, war für Steiner bereits evident: Der sinnliche Leib bildet sich an dem, was die Sinne erleben, wahrnehmen, „mitmachen“ müssen.

Indem ein Kind Dankbarkeit zu empfinden lernt für das, was es von der Umgebung empfängt, wird es später „moralischen Halt“ erleben.[16] Mit der Dankbarkeit entwickelt sich eine zarte Blüte der Liebe, die tief im Innern des Kindes wurzelt. Diese Liebe, die sich im ersten kindlichen Lebensabschnitt an der Dankbarkeit entzündet, ist die Gottesliebe.[17]

Auflistung negativer Verhaltensweisen und ihrer karmischen Folgen

Verwirrendes, chaotisches oder nicht kohärentes Sprechen, Handeln und Denken in der Umgebung des Kindes sind die eigentlichen Urheber für den Zustand, der in der heutigen Zivilisation Nervosität genannt wird,[18] der ja nichts anderes bezeichnet als inkohärentes, „fahriges“ Verhalten.

Ein Zornausbruch in der Nähe eines Kindes bis zu seinem 7. Lebensjahr schädigt den Ätherleib des Kindes, da es nachahmend ein Abbild des Zornausbruchs in seinem Innern macht, das dem Ätherleib eingeprägt wird. Davon geht dann in die Zirkulation und in den Gefäß-Stoffwechsel etwas über, was mit dem Zornausbruch verwandt ist. Der Mensch behält sein Leben hindurch, was aus einer solchen eingepflanzten Anlage kommt.[19]

Jede seelische Erregung beim Kind wirkt sich aus auf die Zirkulation, die Atmung, die Verdauung. Da Leib, Seele und Geist noch eine Einheit sind, setzt sich jeder von der Umgebung ausgeübte Reiz bis in das Leibliche des Kindes fort.[20]

Hindert man ein Kind im 1. Jahrsiebt, seinen inneren Bedürfnissen im Tun und Nachahmen zu folgen, so verarmt seine Seele leichter im Laufe des Lebens, und körperliche Gebrechen des Alters treten eher in den Vordergrund.[21]

Wird das Kind zu früh zu stark zum Denken angeregt, wird sein Organismus die Veranlagung zu einer frühen Sklerose bzw. einer frühen Arterienverkalkung entwickeln.[22]

Vgl. „Schicksalswirkungen im Lebenslauf auf Grundlage von Rudolf Steiners Karmaforschung“ Der Merkurstab 2015, Heft 6


[1] Siehe auch: Karl Rittersbacher, Wirkungen der Schule im Lebenslauf. Ein Quellenlesebuch der Pädagogik Rudolf Steiners. Basel, Zbinden Verlag 1975. 

[2] Rudolf Steiner, Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus, GA 218, Vortrag Erziehungskunst durch Menschenerkenntnis, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1992. 

[3] Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs. 2. und 4. Vortrag, GA 317, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1995.

[4] Rudolf Steiner, Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit, GA 311, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1989, S. 14.

[5] Rudolf Steiner, Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik. GA 304a, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1979, S. 131.

[6] Rudolf Steiner, Erziehung zum Leben, GA 297 a, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1998, S. 53.

[7] Rudolf Steiner, Idee und Praxis der Waldorfschule, GA 297, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1998, S. 163.

[8] Rudolf Steiner, Die Erziehungsfrage als soziale Frage, GA 296, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1991, S. 18-19.

[9] Rudolf Steiner, Erziehung und Unterricht gegenüber der Weltlage der Gegenwart (1920), In: Die Krisis der Gegenwart und der Weg zu gesundem Denken, GA 335, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 2005.

[10] Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. In: Lucifer – Gnosis. GA 34, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1987, S. 325.

[11] Rudolf Steiner, Die gesunde Entwickelung des Menschenwesens. GA 303, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1987, S. 157-158.

[12] Thomas Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Stuttgart, Kohlhammer GmbH 2007.

[13] Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. In: Lucifer – Gnosis. GA 34, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1987, S. 327-328.

[14] Ebenda, S. 325.

[15] Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die bei allem passiv Erlebten ein Aktivitätsmuster erzeugen, als hätten sie den Vorgang aktiv durchgemacht. Der Erforschung der Spiegelneuronen verdanken wir also einen sehr differenzierten Blick auf die angeborene Nachahmungsfähigkeit von Kindern.

[16] Rudolf Steiner, Der pädagogische Wert der Menschenerkenntnis und der Kulturwert der Pädagogik, GA 310, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1989, S. 119.

[17] Rudolf Steiner, Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis, GA 306, Dornach, Rudolf Steiner Verlag, 1989, S. 116-117.

[18] Rudolf Steiner, Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung. GA 307, Vortrag vom 10.08.1923, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1986. 

[19] Rudolf Steiner, Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit, GA 311, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1989, S. 25.

[20] Rudolf Steiner, Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehens, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1986, S. 15.

[21] Rudolf Steiner, Erziehung und Unterricht gegenüber der Weltlage der Gegenwart (1920). In: Die Krisis der Gegenwart und der Weg zu gesundem Denken, GA 335, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 2005.

[22] Rudolf Steiner, Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung, GA 307, Vortrag vom 12.08.1923, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1986.

WIRKUNGEN DES ERZIEHERS BZW. LEHRERS AUF DEN SCHÜLER

Welche negativen Auswirkungen kann das Verhalten des Lehrers oder Erziehers auf den kindlichen Organismus haben?

Welche positiven Qualitäten können andererseits wodurch veranlagt werden?

Kränkende Wirkung negativer Qualitäten

Das Temperament des Lehrers[1] kann in seiner Einseitigkeit folgende Veranlagungen bewirken:

Ein cholerischer Lehrer, der sich gehen lässt, kann beim Schüler für später Stoffwechselkrankheiten veranlagen, weil die Blutgefäße sich im Schreck zusammenziehen und so die Veranlagung zur Minderdurchblutung der vegetativ versorgten Organe entstehen kann.

Ein phlegmatischer Lehrer kann Nervosität veranlagen, weil er durch seine Langsamkeit die Schüler nervös macht.

Ein melancholischer Lehrer kann so wirken, dass das Kind seine Seelenregungen in sich verbirgt, in sich hineinsenkt, dass Atmung und Blutzirkulation unregelmäßig werden, wodurch potentielle Schädigungen bis hin zur Herzinfarkt-Disposition veranlagt werden können.

Ein sanguinischer Lehrer kann einen Mangel an Vitalität bewirken, einen Mangel an Lebensfreude, eine Unterdrückung von kraftvollem Willen, weil die Schüler oft erleben müssen, dass er etwas verspricht, was er dann nicht hält. Sie haben kein Vorbild für die Spannkraft, die Vorhaben durchtragen kann.

Veranlagung positiver Qualitäten

Wer im 2. Jahrsiebt zu geliebten Autoritäten aufschauen durfte, wer Andacht vor den Wundern der Natur empfand und in ehrfürchtiger Stimmung zu beten gelernt hat, hat im späteren Leben eine selbstverständliche Autorität und kann durch seine bloße Anwesenheit hilfreich, ja segnend in der Gemeinschaft wirken.[2]

Wer mit Verehrung, mit großer innerer Scheu zu Erwachsenen aufsehen konnte, kann ein wirklich freier Mensch werden. Keiner kann in Freiheit das rechte soziale Verhältnis zu seinen Mitmenschen finden, wenn er nicht zwischen dem 7. und 15. Jahr ganz selbstverständlich eine Autorität neben sich anerkannt hat.[3] Frei fühlt sich ein Mensch, der mit sich übereinstimmt. Zudem sind Verehrung und Ehrfurcht Kräfte, durch welche der Ätherleib in der richtigen Weise wächst. Fehlt Verehrung, verkümmern die lebendigen Kräfte des Ätherleibes.[4]

Veranlagung von Pflicht und Moral. Es ist bedeutsam, dass Pflicht nicht von Gefallen und Missfallen bestimmt wird, dass Pflichtgefühl nicht „eingeimpft“ wird. Nur dann erlebt man in Freiheit, dass das Moralische tiefster eigener Impuls der individuellen Menschenseele ist. Das ist der Aufgang wahrer Freiheit in der Menschenseele. Hat man das Kind in selbstverständlicher Autorität an das Moralische herangeführt, so dass es Moralisches im Gefühl empfindet, bildet sich Pflichtgefühl nach der Geschlechtsreife aus dem eigenen Innern des Menschen heraus. Da führen wir die Kinder in der rechten gesunden Weise hin zu dem, was individuelles Freiheitserlebnis ist. Dieses Erlebnis haben Menschen heute meist nicht, weil ihnen vor der Geschlechtsreife eingeimpft wurde, was gut und böse ist, was sie tun oder lassen sollen. Ein Moralunterricht, der nicht den oben genannten richtigen Stufen folgt, verödet den Menschen.[5]

Die Kraft der Menschenliebe sollte in der Zeit, wenn die Kinder die Schule verlassen, besonders gepflegt werden. Sonst wird das Wirtschaftsleben niemals durchglüht sein können von Brüderlichkeit.[6]

Vgl. „Schicksalswirkungen im Lebenslauf auf Grundlage von Rudolf Steiners Karmaforschung“ Der Merkurstab 2015, Heft 6


[1] Rudolf Steiner, Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehens, GA 308, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1986, S. 15-19.

[2] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen, GA 192, 9. Vortrag, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1991.

[3] Rudolf Steiner, Erziehung zum Leben. GA 297 a, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1998, S. 55.

[4] Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. In: Lucifer – Gnosis, GA 34, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1987, S. 330.

[5] Rudolf Steiner, Der pädagogische Wert der Menschenerkenntnis und der Kulturwert der Pädagogik, GA 310, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1989, S. 118.

[6] Rudolf Steiner, Die Erziehungsfrage als soziale Frage, GA 296, Dornach, Rudolf Steiner Verlag 1991, S. 21.

SINN FÜR KOHÄRENZ DURCH SALUTOGENETISCHE PÄDAGOGIK

Was ist Kohärenzgefühl und wie wird es erworben?

Entwicklung von Kohärenzgefühl

Der „Sense of Coherence“, der Sinn für Kohärenz bzw. das Kohärenzgefühl ist laut Aaron Antonovsky, dem Begründer der Salutogenese, „eine globale Orientierung, die das Ausmaß ausdrückt, in dem jemand ein durchdringendes, überdauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass erstens die Anforderungen aus der inneren und äußeren Erfahrungswelt im Verlauf des Lebens strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind und dass zweitens die Ressourcen zur Verfügung stehen, die nötig sind, um den Anforderungen gerecht zu werden. Und drittens, dass diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Investitionen und Engagement verdienen.“[1]

Egal, ob dieses Vertrauen-Können nun angeboren ist oder nicht, es braucht auch eine Pädagogik, die die Individualität des Kindes im Blick hat, es braucht Lehrer, die ihre Schüler zu verstehen bemüht sind und die ihnen auch Räume zum Selbstlernen eröffnen. Erst wenn die Welt durch eine solche entwicklungsbegleitende Pädagogik verständlich, sinnvoll und handhabbar wird, kann das Vertrauen des heranwachsenden Menschen in sich und seinen eigenen Entwicklungsweg so gefestigt werden, dass es zu einem verlässlichen Lebensanker wird. Antonovsky sprach von drei Komponenten des Sinnes für Kohärenz – vom

  • sense of comprehensibility (Gefühl der Verstehbarkeit),
  • sense of meaningfullness (Gefühl der Sinnhaftigkeit)
  • und sense of manageability (Gefühl der Handhabbarkeit).

Was Pädagogen dazu beitragen können

Was tragen Eltern, Erzieher und Lehrer dazu bei, dass Kinder diese überlebenswichtigen Gefühle in sich verankern können?

Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

1. Entwicklung des Gefühls, die Welt zu verstehen

Viele seelische Probleme kommen aus einem tiefsitzenden Gefühl des Ungenügens, etwas – beispielsweise Mathematik – in der Schule nicht zu verstehen oder „nie“ verstanden zu haben. Mit dem Gefühl, nicht zu verstehen, geht auch ein Stück Selbstachtung verloren, was sich kränkend auswirken kann. Umgekehrt verleiten dieses Ohnmachtsgefühl und Unverständnis zu unkritischer Bewunderung anderer Menschen, von denen man leicht glaubt, dass sie „voll durchblicken“. Dadurch können Illusionen und Abhängigkeiten von Menschen entstehen, was ebenfalls nicht gesundheitsfördernd ist. Der Betroffene will sich der Anstrengung nicht unterziehen, selbst urteilsfähig zu werden, und stagniert dadurch in seiner Entwicklung. Leben und Gesundheit sind aber Entwicklung, Verwandlung, Regsamkeit.

Kennt ein Lehrer diese Problematik, so wird er zum Wegbegleiter der Schüler und lernt von ihnen, wie er sie am besten unterstützt – nämlich genau da, wo deren Lernblockade sitzt. Je mehr er sich für diese individuellen Lernblockaden seiner Schüler interessiert, desto besser kann er sie verstehen und auflösen helfen.

2. Entwicklung des Gefühls der Sinnhaftigkeit allen Geschehens

Nicht alles, was wir verstehen, erscheint uns auch sinnhaft. Wie viel Schreckliches geschieht stündlich auf unserem Globus – geschuldet den unendlich tragischen Erziehungs- und Entwicklungsdefiziten. Die Sinngebung fällt schwer. Es braucht eine große Entwicklungsperspektive, die generationenübergreifend ist, um damit zurechtzukommen. Goethe drückt es in einem seiner Epigramme so aus: „Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.“

Es ist kein Luxus, sich mit Sinnfragen zu beschäftigen. Es geht auch nicht um Selbsttröstung oder religiöses Wunschdenken. Es geht darum, dass ein wiederholtes Erleben von Ohnmacht und Sinnlosigkeit gesundheitsschädigend ist. Daher braucht es wahrhaftige, motivierte Sinnsuche, wie sie sich am leichtesten am ehrlichen Menschen- und Geschichtsinteresse entzündet. Nicht nur der einzelne Mensch und die gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln sich – auch die Menschheit als Ganzes ist in einem ständigen Entwicklungsprozess begriffen. Mit ihr und ihrem historischen Werden kohärent zu sein, ist heilsam. Wer nicht ein dankbares „Kind seiner Zeit“ sein kann, dem fehlt ein wichtiger Gesundheitsfaktor.

Daher braucht es an den Schulen richtigen Geschichtsunterricht und nicht nur Sozialkunde. Jedoch sollte es ein Geschichtsunterricht sein, der nicht (nur) aus dem Memorieren von Zahlen und Ereignissen besteht, sondern auch die großen Kultur- und Entwicklungsepochen der Menschheit im Blick hat. Im Hinblick auf die Frage, welchen Einfluss sie auf das heutige Geschehen hatten, können sich auch Identifikationsmöglichkeiten mit dem Menschheitsganzen bilden. Sinnhaftigkeit wird immer dann erlebt, wenn man etwas, was geschieht oder von dem man Kenntnis hat, so einordnen kann, dass es für einen selbst einen Sinn ergibt. Alles Leben findet in einer Um- und Mitwelt statt. Kann man diese als sinnvoll erleben, so fühlt man sich gut. Sich nicht gut zu fühlen, ist eine der häufigsten Ursachen für den Gebrauch und Missbrauch von Drogen und Medikamenten.

3. Entwicklung des Gefühls handlungsfähig zu sein

Wenn man etwas verstanden hat und es auch einen Sinn ergibt, ist es wichtig, das Gefühl zu haben: Wenn ich wollte, könnte ich mich dafür einsetzen und etwas dazu beitragen oder sogar selbst Initiative ergreifen. Das Gefühl des Unvermögens, der Ohnmacht, der eigenen „Untauglichkeit“ lähmt und macht krank. Hingegen ist es förderlich für die Gesundheit, die eigenen Möglichkeiten gut zu kennen und sie, wo immer möglich, zu erweitern. Auch geistige Arbeit, Mitdenken mit anderen, Fürbitte und gute Wünsche gehören hierher. Viel mehr, als wir äußerlich tun können, vermögen wir seelisch-geistig zu leisten, wenn wir uns verbunden fühlen mit denen, die Wichtiges tun und leisten, und wir sie innerlich mit guten Gedanken begleiten.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003


[1] Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1987.