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Soziales Leben und soziale Dreigliederung
Soziales Leben und soziale Dreigliederung – von Michaela Glöckler
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
DER ANTHROPOSOPHISCHE SOZIALIMPULS
Was ist unter dem Anthroposophischen Sozialimpuls zu verstehen?
Anliegen und Menschenbild der Anthroposophie
Mit dem wunderbaren Namen Anthroposophie (anthropos = Mensch, sophia = Weisheit, Wissen) geht ein großer Anspruch einher. Denn Anthroposophie ist ein Impuls, der jeden Menschen, egal, wo er herkommt, die Frage stellen lässt:
Wer oder was ist der Mensch?
Weiß ich, wer ich wirklich bin?
Inwiefern kann mir die Anthroposophie bei der Aufklärung über mich selbst helfen?
Und wo im Menschen erwacht ein sozialer Impuls?
Denn alles, was vom Menschen ausgeht, liegt in ihm selbst begründet.
Rudolf Steiner sagte im 1. Leitsatz der Anthroposophie:[1] „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschen zum Geistigen im Weltall führen möchte.“ Es ist eine spirituelle Orientierung, die Mensch und Welt verbinden und dabei helfen möchte, die differenzierte Vielfalt des Menschseins über die Welt hin sowie die verschiedenen Kulturen, politischen Systeme, Lebensweisen und Religionen zu integrieren. Nur wenn wir das Ganze im Bewusstsein haben, können wir so auf den Menschen schauen, dass wir nicht nur hier und heute, sondern auch rückblickend in die Vergangenheit und vorausblickend in die Zukunft, die zutiefst sinnvollen Entwicklungsperspektiven des Menschen erkennen. Das zu gewährleisten, ist Anliegen der Anthroposophie.
Im Hinblick auf die Frage, welcher Sozialimpuls sich aus diesem Menschenbild ergibt, möchte ich fünf Aspekte nennen, die eng verbunden sind mit der menschlichen Konstitution, der sie entspringen.
Der Mensch als Pentagramm
Ich skizziere im Folgenden den Menschen als Pentagramm mit seinen fünf unterschiedlichen Aspekten, die ich in einem weiteren Schritt als Quelle von 5 Arten von Sozialimpulsen charakterisieren möchte.
- Ich beginne links unten mit dem physischen Aspekt (linker Fuß),
- verorte rechts oben den ätherisch-prozesshaften Aspekt (rechte Hand),
- links oben das Astral-Seelische, (linke Hand)
- rechts unten die Ich-Organisation (rechter Fuß), unsere spirituelle Persönlichkeit, unser Wesenskern, der uns sagen lässt: Ich bin ich (und nicht jemand anderes) als Qualität unserer Identität.
- Der Kopf von alledem ist die Quinta Essentia der Alchimisten, das 5. rein spirituelle Prinzip aus leibfreien, rein geistig tätigen Kräften.
Ad 1. Physischer Aspekt
Hiermit ist unser physischer Leib gemeint.
Ad 2. Ätherischer Aspekt
Er umfasst das unbewusste und bewusste Ätherwirken, das führe ich gleich näher aus.
Ad 3. Astralisch-Seelischer Aspekt
Rudolf Steiner sah das Seelische, aber auch das nachtodliche Leben in den Planeten- und Fixstern-Sphären angesiedelt und ordnete den Mikrokosmos des Menschlichen dem Makrokosmos der Welt zu. Deswegen nimmt er den Ausdruck astral, damit wir die Verbindung unserer Seele, aber auch des Nachtodlichen und der Nacht, mit den Sternen nicht vergessen.
Ad 4. Aspekt der Ich-Organisation
Hier geht es um das Wunder, dass wir, obwohl wir medizinisch-psychologisch einen so komplexen Organismus darstellen, in dem die Organe ständig arbeiten, egal, ob wir sitzen, stehen oder liegen, davon, wenn wir gesund sind, gar nichts merken. Wir haben einfach das Gefühl: Ich bin ich. Da herrscht absolute Ruhe. Die Prozesse, die uns am Leben erhalten, erledigt die Natur unterhalb der Bewusstseinsschwelle wie von selbst. Die Natur will offenbar, dass wir uns in unserem Bewusstsein auf uns und die Welt konzentrieren und von unserem Körper absehen können. Das menschliche Prinzip, das uns das ermöglicht, nennt Steiner die Ich-Organisation.
Ad 5. Das Prinzip der Quinta Essentia
Dieser Aspekt ist für den Sozialimpuls aus der Anthroposophie grundlegend. Das begreifen wir unmittelbar, wenn wir fragen:
Bezieht sich das Sozialsein nur auf unseren Umgang mit anderen Menschen und Geld?
Oder gibt es auch geistig mehr oder weniger soziale Orientierungen?
Ist es egal, was ich denke und fühle?
Ist es egal, wenn ich jemanden freundlich grüße und anschließend hinter seinem Rücken schlecht über ihn rede?
Ist es egal, wenn ich unehrlich bin und korrupt handle?
Wir spüren deutlich, dass das überhaupt nicht egal ist.
Aber können wir konkret empfinden, dass auch die unsichtbare Welt und das Unsichtbare unseres Seins Einfluss auf die Welt haben?
Denken, Fühlen und Handeln aus verwandelten Entwicklungskräften
Im Unsichtbaren unseres Denkens und Fühlens wurzelt unsere Haltung und die Art, wie wir das Sichtbare gestalten. Das fünfte Prinzip ist die Art, wie wir denken, fühlen und aus welchen Impulsen wir handeln.
Das hat bisher nur Rudolf Steiner profund erklärt, das können Sie in seinen Werken ausführlich nachlesen. Er ist der Frage nachgegangen, woher die Kraft des Denkens und Fühlens kommt. Emotionen haben ja eine Wucht, viele können es spüren, wenn jemand sie hasst oder negativ an sie denkt. Vor allem Kinder spüren, wie man ihnen gegenüber eingestellt ist. Die Magie des unsichtbar Wirksamen, das von Gedanken, Gefühlen, Bestrebungen und Intentionen ausgeht, das hat eben auch einen Ursprung. Diese Zusammenhänge erforschte Rudolf Steiner sein ganzes Leben lang immer detaillierter und beschrieb sie in seinem letzten Buch für Ärzte[2] als Metamorphose der Lebenstätigkeit oder der Wachstums- und Regenerationstätigkeit in Gedankentätigkeit.
Vgl. Vortrag „Der Anthroposophische Sozialimpuls“ in Wien, Mai 2018
[1] Rudolf Steiner, Anthroposophische Leitsätze, GA 26, S. 6 (1989).
[2] Rudolf Steiner, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
DENKEN, FÜHLEN UND HANDELN ALS SOZIALE KRÄFTE VERSTEHEN
Können wir konkret empfinden, dass auch die unsichtbare Welt und das Unsichtbare unseres Seins Einfluss auf die Welt haben?
Warum ist das möglich?
Das Unsichtbare unseres Seins als leibfreie Kräfte
Im Unsichtbaren unseres Denkens und Fühlens wurzelt unsere Haltung und die Art, wie wir das Sichtbare gestalten. Das fünfte Prinzip ist die Art, wie wir denken, fühlen und aus welchen Impulsen wir handeln.
Das hat bisher nur Rudolf Steiner profund erklärt, das können Sie in seinen Werken ausführlich nachlesen. Er ist der Frage nachgegangen, woher die Kraft des Denkens und Fühlens kommt. Emotionen haben ja eine Wucht, viele können es spüren, wenn jemand sie hasst oder negativ an sie denkt. Vor allem Kinder spüren, wie man ihnen gegenüber eingestellt ist. Die Magie des unsichtbar Wirksamen, das von Gedanken, Gefühlen, Bestrebungen und Intentionen ausgeht, das hat eben auch einen Ursprung. Diese Zusammenhänge erforschte Rudolf Steiner sein ganzes Leben lang immer detaillierter und beschrieb sie in seinem letzten Buch für Ärzte[1] als Metamorphose der Lebenstätigkeit oder der Wachstums- und Regenerationstätigkeit in Gedankentätigkeit.
· Denken durch leibfreie Wachstumskräfte
Das bedeutet konkret, dass wir mit den ätherischen Aufbau-Kräften denken, die der Körper für seine Entwicklung nicht mehr braucht.
Deswegen entwickelt sich das Denken in Kindheit und Jugend überhaupt erst von Jahr zu Jahr. Rein neurobiologisch gesehen braucht das Gehirn die aktive, selbsttätige Auseinandersetzung mit der Welt und anderen Menschen, um sich überhaupt gesund entwickeln zu können für eine autonome Selbstbestimmung und Selbstreflexion. Dieser Prozess dauert fünfzehn bis sechzehn Jahre und lässt sich nicht abkürzen. Erst mit sechzehn ist der Jugendliche demnach in der Lage selbstverantwortlich zu denken. Vorher sind die entsprechenden Ätherkräfte noch mit dem Körperaufbau beschäftigt.
Schwächung durch Missbrauch von Entwicklungskräften
Wenn man Kinder schon früh konditioniert und an wirklichkeitsfremde, virtuelle Sinneseindrücke gewöhnt, sie damit auch abhängig macht, sie zu guten Konsumenten erzieht und ihnen die Digitalisierung als die Zukunft und das Allerwichtigste verkauft, werden ihnen verfrüht Kräfte entzogen, die sie erst gar nicht zu dieser Selbständigkeit gelangen lassen. Dann hat man ständig mit Medien und virtuellen Welten befasste unterhaltungsabhängige Menschen, die nicht mehr selbständig denken (können). Eine kleine Elite weiß das, wie z.B. die großen Hightech-Chefs, wie Steve Jobbs, der Apple-Gründer, der seine Kinder auf die Waldorfschule schickte, und Jeff Bezos, der Amazon-Begründer, der seiner Tochter erst mit 14 ein Smartphone gab. Doch alle Welt sollte sich schon in der Kinderkrippe an den Umgang mit Medien gewöhnen. „Jedem Toddler sein Tablet“ ist nicht nur ein Slogan, sondern auch ein Riesen-Wirtschaftsfaktor.
Es gibt keine Studie, keine Vergleichsstudie, keine wissenschaftliche Evidenz, ob das gesund ist! Die Evidenz, dass es schädlich ist, wird nicht zur Kenntnis genommen. Politik und Wirtschaft sind noch nicht geneigt, dem nachzugehen.
Mehr Gedankenkapazität mit zunehmendem Alter
Auch beim Älterwerden verlassen die nicht mehr gebrauchten Lebens- und Regenerationskräfte kontinuierlich den Körper, weswegen wir zu schrumpeln anfangen und devitalisieren. Auf der anderen Seite aber haben wir dadurch die Chance weise zu werden, neue Denkformen zu entwickeln und auch immer sozialer zu denken. Denn man denkt auch jetzt mit den Kräften, auf die man körperlich verzichtet. Sie stehen geistig zusätzlich zur Verfügung. Wenn wir sterben, verlässt der letzte Rest der Lebenskräfte den physischen Leib, wodurch der körperliche Zerfall beginnt. Unsere Lebenszeit ist ein ständiges Weben zwischen Intellektualität und Vitalität. Deswegen wirken sich auch gute Gedanken, Sinnhaftigkeit, Meditation, Spiritualität immer wohltätig auf die Gesundheit aus. Weil beides ätherischen Kräften entspringt und sich somit entspricht und zusammengehört.
· Fühlen durch leibfreie Differenzierungskräfte
Entsprechend formulierte Rudolf Steiner, dass wir all die Kräfte, die unser seelisches Erleben ermöglichen, den leibfrei gewordenen Differenzierungskräften verdanken, die uns in Mann und Frau differenzieren, die die Zelldifferenzierung besorgen. Sie erzeugen Bewusstsein, indem sie Differenzen schaffen. Wenn diese wunderbaren Kräfte den Körper verlassen, ermöglichen sie Empathie und echtes Mitgefühl mit anderen. Wir können mit unserer Seele zu dem anderen wie hingehen, weil sie jetzt rein geistig zu agieren vermag.
· Wollen durch leibfreie Integrationskräfte
Zuletzt ermöglichen die Integrationskräfte aus der Ich-Organisation, die freiwerdenden Willenskräfte, die den Körper zu einer in sich stimmigen Ganzheit haben werden lassen, nun, nachdem sein Körper ausgewachsen ist, die Mündigkeit des jungen Erwachsenen. Jetzt erst kann er autonom und zur Gänze über sein leibfrei-geistiges Willenspotential verfügen.
Die Quinta Essentia umfasst somit die Kräfte, die aus dem Körper bereits wie herausgestorben, sprich: leibfrei geworden sind. Wie man mit diesen Kräften bei Tage umgeht, wie man denkt, fühlt und handelt, hat einen unmittelbaren Einfluss auf Regeneration und Gesundheit. Auf diese Zusammenhänge möchte ich noch kurz eingehen, bevor ich auf die konkreten Sozialimpulse zu sprechen komme.
Regeneration in der Nacht
Jede Nacht gehen Astralleib und Ich, Seele und Geist, zur Regeneration hinaus in den Kosmos, aber auch hin zu den anderen Menschen, mit denen man es bei Tage zu tun hatte. Der leibfreie Anteil des Ätherleibes dagegen geht nachts zurück in den physischen Leib, um an der Regeneration des Nervensystems mitzuwirken, das tagsüber durch die Reflexionstätigkeit des Gehirns abgebaut hat. Deshalb sind wir abends erschöpft und fühlen uns morgens wieder erfrischt. Von der Art unserer Gedanken bei Tage hängen Grad und Qualität der Erholung bei Nacht ab. In anderen Worten: Je wahrhaftiger jemand tagsüber denkt, desto mehr kann die Ordnung im Körper nachts wieder hergestellt werden. Dissoziiertes und materialistisches Denken, wirkt sich dagegen schwächend auf die Vitalität aus.
Insofern kann man sagen, dass es sehr sozial ist, gute Gedanken miteinander zu bewegen, z.B. im Rahmen der Zweigarbeit. Das teilt sich der Gedankensphäre einer Stadt mit. Wenn irgendwo gute Gedanken gedacht werden, können sie aber auch an anderen Orten „einfallen“. Das ist eine tief soziale Tätigkeit.
Vgl. Vortrag „Der Anthroposophische Sozialimpuls“ in Wien, Mai 2018
[1] Rudolf Steiner, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27.
SOZIALIMPULS AUS DEM PHYSISCHEN
Welche Sozialimpulse entspringen der physischen Seinsebene?
Ein ganz im Physischen stattfindender Sozialimpuls ist die Art, wie wir unser Schicksal oder den Karma-Impuls erleben. Wie wir über Schicksal denken und mit unserem Schicksal umgehen, hat einen eminent sozialen Einfluss. Es ist wichtig, dass ich mir bewusstwerde, dass ich selbst auch immer die Folgen meiner Taten erleben werde, dass das, was ich anderen antue, irgendwann wieder auf mich zurückkommen wird – warum? Damit ich überhaupt weiß, was ich getan habe. Wir halten unser Tun ja normalerweise für wichtig und richtig. Wie es jedoch auf andere wirkt, wie andere davon berührt werden, ist uns oft gar nicht bewusst.
Schicksalsbildung in der Nacht
Wir können die Auswirkungen unseres Tuns Nacht für Nacht erfahren und so mit unserer Seele unbewusst schicksalsbildend tätig sein. In der Nacht befragen wir die Menschen, denen wir tagsüber begegnet sind, wie diese Begegnung gewirkt hat. Wir können uns gegenseitig fragen, was wir beim nächsten Mal besser machen können. Da findet ein unbewusster Dialog statt – zum Glück unbewusst, sonst wären wir bei Tage sehr belastet, wenn wir genau wüssten, was wir anderen angetan haben. Manchmal jedoch wachen wir morgens mit anderen Gedanken über eine Situation auf und schicken eine Nachricht vielleicht nicht ab, greifen eher zum Telefon oder überlegen es uns nochmals anders – weil nachts ein Austausch stattgefunden hat.
Rudolf Steiner geht noch weiter und sagt, jede Nacht begegnen wir unserem Engel, unserem Erzengel, diesem Gruppenengel, der mit unseren Gemeinschaften, unserer Familie, unserer Nation, unserer Religion zu tun hat, und sogar den Zeitgeistern. Da gibt es auch mehrere, die Unterschiedliches wollen. Sie hängen mit unserem Willen zusammen, denn was ich tue, dient einem bestimmten Zeitgeist, ändert etwas an der menschheitlichen Situation. Wie ich fühle, ändert etwas an meinem Gemeinschaftszusammenhang, in dem ich darinnen stehe. Das interessiert den Erzengel. Und wie ich denke, interessiert den Engel. Jede Nacht sind wir meist unbewusst mit der dritten Hierarchie, der Engelwelt, zusammen und können von dort Impulse aufnehmen, vor allem, wenn wir mit folgenden Fragen in die Nacht gehen:
Was ist wesentlich für mich und für andere?
Wie kann ich meinem Leben eine noch wahrhaftigere Richtung geben?
Wofür würde sich mein Engel überhaupt interessieren?
Die Schicksalsbildung in der Nacht ist ein weites Feld, denn wir bereiten jede Nacht ein Stück Vergangenheit auf und ein Stück Zukunft vor. Das geschieht alles natürlich auch nachtodlich, weswegen der Schlaf auch der kleine Bruder des Todes genannt wird.
Vgl. Vortrag „Der Anthroposophische Sozialimpuls“ in Wien, Mai 2018
SOZIALIMPULS AUS DEM ÄTHERISCHEN
Welche Sozialimpulse erwachsen aus der ätherischen Seinsebene?
Das Soziale als Prozess
Hier geht es um das Soziale als Prozess. Alles Soziale vollzieht sich prozesshaft, muss sich entwickeln. Über das Soziale zu wissen, rettet mich nicht davor, in einer bestimmten Situation kläglich zu versagen, weil es keine Rezepte gibt für das soziale Miteinander. Was hilft, ist eine angemessene Haltung und die Fähigkeit der Prozessführung.
Wie schafft man z.B. eine gute Finanzordnung in einem Kollegium?
Indem man gegenseitig die Bedürfnisse wahrnimmt, die jeder hat, die Höhe der Ausgaben der einzelnen Kollegen berücksichtigt. Man muss zudem feststellen, wie groß die Lücke ist zwischen dem, was manche gerne an Gehalt hätten und dem, was die Ressourcen der Schulgemeinschaft sind. Man muss über die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kollegen und auch über die realen Möglichkeiten der Schule Bescheid wissen, wenn man einen konstruktiven Prozess in die Wege leiten möchte. Man muss etwas vom Leben verstehen, um sozial denken und soziale Prozesse bewusst steuern zu können. Rudolf Steiner beschrieb sieben Lebensprozesse, die man anhand der Verdauung oder anhand der Atmung studieren kann, aber sie gelten auch fürs Soziale. Sogar jede Meditation lässt sich dahingehend studieren. Die genannten Prozesse sind somit auch ein wunderbarer Weg, einen meditativen Prozess zu gestalten.
Die sieben Lebensprozesse angewandt auf das Soziale
1. Öffnung (Atmung)
Wir müssen uns in einem ersten Schritt öffnen für die Menschen, für die wir etwas sozial bewegen wollen – egal, ob es sich um Flüchtlinge, Arbeitslose oder um ein Waldorfkollegium handelt – immer muss man zuerst die Bedürfnisse wahrnehmen, die da sind.
2. Anpassung
In einem zweiten Schritt muss man sich an die Situation und die realen Gegebenheiten anpassen, muss die Ressourcen und Möglichkeiten kennen und herausfinden, welche Unterstützung man organisieren kann und welche Strukturen es braucht, damit das soziale Vorhaben gelingen kann. Nun versucht man das Mögliche im Hier und Jetzt, wissend, dass das noch nicht alles ist.
3. WinWin (Ernährung)
Hier geht es darum, dass jeder etwas bekommt, sozusagen ernährt wird, spürt, dass alle sich auf einem guten Weg befinden. Das tut gut, gibt Kraft.
4. Entscheidung
Bei einer guten Prozessführung müssen hin und wieder Entscheidungen getroffen werden. Unterlässt man sie, bekommt man Probleme, entscheidet man zu früh, zu spät oder falsch, ebenso. Hier muss man die Frage bewegen, was es braucht, um zu einer gerechten Entscheidung zu finden.
Ich liebe das Büchlein von Franz Alt und Peter Spiegel mit dem Titel „Gerechtigkeit“.[1] Diese beiden Kulturschaffenden haben die gesamte Ungerechtigkeit des heutigen Lebens daraufhin untersucht, was man tun könnte, was man anstoßen müsste, wo man hinschauen müsste, damit es gerechter zugeht. Gerechtigkeit ist ein großes Thema und hat immer mit dem Leben zu tun.
Wie werden wir einander gerecht?
Ist die Prozesssteuerung gerecht, sodass alle sich gerecht behandelt fühlen?
Wem wird ein Prozess gerecht und wem nicht?
Das sind unglaublich wichtige Fragen, die mit den richtigen Entscheidungen zusammenhängen, die dann bestimmen, wohin es gehen soll.
5. Selbsterhaltung
Dieser Prozess ist wunderschön, aber auch gefährlich. Mit dem Erhaltungsprozess gut umzugehen, ist eminent wichtig im Sozialen. Wenn man ein gutes System oder ein tolles Leitbild gefunden hat, glaubt man es zu „haben“ und will es behalten und immer so machen – bis zur nächsten Krise: Sei es, dass Neueinsteiger kommen, die alles hinterfragen und anders wollen. Man grenzt sie aus, kämpft gegen sie, will seine Macht erhalten, sich selbst verteidigen, es beginnt ein Generationenkonflikt. Man muss bei alledem begreifen, wo ein gewisses Maß an Stabilität und Sicherheit nötig ist und wo man über sich hinauswachsen muss. Das leitet über zum nächsten Lebensprozess.
6. Wachstum
Wirklich sozial wird dieser Prozess durch die Frage:
Wie kann ich meiner Mitwelt etwas von dem zurückgeben, was ich durch mein ganzes leben bis zum Stadium der Selbsterhaltung geschenkt bekommen habe?
Wir können vieles der eigenen Leistung zuschreiben, das wäre aber nur die halbe Wahrheit. Denn meine Leistungen hingen auch von den Chancen ab, die ich in Kindheit und Jugend hatte, welche Menschen mir begegnet sind, welche Bücher ich lesen durfte. Alles, was ich bin, verdanke ich genau genommen meiner Um- und Mitwelt.
Werde ich nicht erst gerade dadurch individuell, dass ich das merke und schaue, was ich zurückgeben kann?
Beim Wachstum geht es über uns hinaus. Schiller und Goethe haben das so schön ausgedrückt: Wenn die Pflanze blüht, schmückt sie ganz selbstlos den Garten und gibt zurück, was sie davor alles an sich gezogen hat an Nährstoffen. Was die Pflanze unbewusst macht, müssen wir Menschen bewusst vollziehen, wenn uns an einer gerechten Prozessorientierung liegt. Es ist sehr sozial, erst einmal autonom zu werden, auch wenn das egoistisch aussieht. Denn wenn ich nichts habe und niemand bin, kann ich auch nichts geben. Mit dem Stadium der Selbsterhaltung kommt die kritische Frage, ob und wie ich vom Empfangen zum Geben übergehe:
Was muss in mir passieren, dass ich das möchte?
7. Reproduktion
Dieser Prozess bedeutet, dass ich in der Lage bin, etwas ganz von mir abzulösen und nicht mehr darüber zu bestimmen. Wenn jemand z.B. Geld angespart hat, stehen ihm mehrere Möglichkeiten, es zu verteilen, offen. Laut Steiner gibt es prinzipiell Leihgeld, Kaufgeld und Schenkungsgeld, mit oder ohne Zweckbindung. Man kann Geld:
- einfach spenden im Vertrauen, dass es gut angewendet wird
- zweckgebunden spenden
- als Leihgeld verzinst herleihen
Im Sinne des Reproduktionsprozesses wäre es richtig, etwas von sich abzulösen und in die Freiheit zu entlassen. So wollte Rudolf Steiner Erziehung verstanden wissen: Das Kind in Ehrfurcht empfangen, es in Liebe erziehen und begleiten und es in Freiheit entlassen – das geht durch die ganzen sieben Prozesse. Das wäre gute Erziehung.
Die soziale Frage als Erziehungsfrage
Steiner geht sogar so weit zu sagen, dass alle sozialen Fragen ausschließlich Erziehungsfragen seien. Alle Menschen leben so, wie sie durch ihre Erziehung geworden sind. Wenn ein Mensch sich kriminell oder sonst wie korrupt benimmt, müsste man ihn eigentlich fragen, wie er erzogen wurde und was bewirkt hat, dass er an der Stelle einen so großen blinden Fleck hat.
Selbst, wenn wir wissen, dass man nur das und das machen müsste, damit es gerechter zugeht, würde es trotzdem nicht geschehen, weil die dafür zuständigen Menschen nicht so erzogen sind, dass sie darauf Lust haben. Es ist ein Erziehungsproblem, dass alles ist, wie es ist. Man wurde im herrschenden Erziehungssystem nicht zu Toleranz, Respekt, zum Interesse am anderen, zur Gerechtigkeit, zur Ehrlichkeit, erzogen . Das ganze System ist doch so, dass die Erwachsenen, die uns heute Ärger machen, einmal liebe Kinder waren, die ein Schulsystem durchliefen, das sie so hat werden lassen. Dass man diese Zusammenhänge nicht sehen will, ist ein großes soziales Problem. Steiner bringt es auf den Punkt, indem er sagt, die soziale Frage sei eine pädagogische Frage.
Die pädagogische Frage wiederum ist eine medizinische Frage. Denn wenn Pädagogik sich nicht an einem gesunden Menschenbild orientiert, sondern Menschen zur Karriere oder zu diesem oder jenem Ziel hin erziehen will, wenn sie an die gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst werden sollen und nicht der autonome, mündige, freie, wache mit Empathie begabte Mensch als Leitbild für die Erziehung gilt, wird die Gesundheit der Betroffenen darunter leiden. Deshalb handelt es sich hier um eine Art „Verschiebebahnhof“: Die sozialen Probleme müssen mit pädagogischen Mitteln gelöst werden und die pädagogischen Probleme brauchen eine therapeutische gesundheitlich orientierte Vorgehensweise – was uns zu den 7 Lebensprozessen zurückführt als gesundenden sozialen Impulsen aus der Anthroposophie.
Vgl. Vortrag „Der Anthroposophische Sozialimpuls“ in Wien, Mai 2018
[1] Franz Alt und Peter Spiegel, Gerechtigkeit: Zukunft für alle. Die Grundsatzerklärung, ISBN: 9783579086637.
SOZIALIMPULS AUS DEM ASTRALISCHEN (SEELISCHEN)
Welche Sozialimpulse erwachsen aus der astralischen Seinsebene?
Schwierige seelische Umgestaltung
Beim Seelischen geht es „an das Eingemachte“. Wir wissen ja alle viel mehr, was wir tun sollten, müssten, gerne würden – und wir spüren, da sind seelische Widerstände, sodass wir es nicht vermögen. Die große Frage an die eigene Seele ist:
Liebe Seele, du mit deiner Fähigkeit zu fühlen und zu wollen, mit deinen Sympathien und Antipathien, du Bewusstseinsraum in mir, was brauchst du denn, damit du empfänglich wirst für das, was dein Höheres, wahres Ich, dein besseres Selbst, wirklich will?
Das, was sich als Ich-Organisation verkörpert, gibt dem physischen Leib sein Ich-Bewusstsein. Das ist aber leibgebunden. Das ist das niedere Ich. Das Höhere Ich ist nicht leibgebunden. Daran kann ich Anschluss suchen und finden durch mein freies Wollen, durch meine Liebe zum Geist, und durch meine Gedanken der Erkenntnis, auch meine Menschenerkenntnis.
Alles, was man mit Selbstmanagement, Selbstwirksamkeit, Selbsterziehung meint, hat mit der Umgestaltung des Astralleibes hin zu einem Gefäß für das Höhere zu tun. Dass sich die Seele sozial orientieren kann, ist die Folge von Arbeit an sich selbst. Zur Selbstschulung hat Rudolf Steiner sehr viel gesagt, drei Aspekte davon möchte ich kurz nennen.
Die drei antisozialen und sozialen Triebe
Diese Triebe sind in jeder Seele zu finden. Zum ersten Trieb ein Beispiel:
1a. Antisozialer Trieb im Geistigen: den anderen überzeugen wollen
Einer redet, in dem Fall ich, die anderen hören zu. Wenn Sie nicht aufpassen, schlafen Sie entweder ein oder, wenn Sie nicht ganz wach dabei sind, laufen Sie Gefahr, von mir überzeugt zu werden. Oder Sie wehren sich dagegen und versuchen ständig, das Wenn und Aber zu finden. Den anderen überzeugen zu wollen, ist ein antisozialer Trieb im Reden. Deswegen bemühe ich mich – mit mehr oder weniger Erfolg – Dinge anzusprechen, ohne sie als das einzig Richtige darzustellen.
1b. Sozialer Trieb im Geistigen:
Wie spricht man so, dass man anderen hilft, etwas zu sehen und sie trotzdem ganz frei zu lassen?
Sozial wäre es so zu sprechen, dass der andere die Möglichkeit hat, das eine oder andere eigenständig ganz aus den eigenen Überlegungen selbst herauszufinden und aufzugreifen und zu sagen: „Das leuchtet mir ein. ICH habe es MIR klargemacht, nicht die oder der Vortragende.“ Steiner formuliert es so: In einer Art zu reden, dass der Andere sein Eigenes aus eigenem findet und nicht autoritätsgebunden. Nicht, die Wissenschaft hat es gesagt, nicht, der oder die gefällt mir, also glaube ich es auch. Gerade das nicht.
2a. Antisozialer Trieb im Fühlen: Wir täuschen uns sehr leicht in Menschen
Wir täuschen uns in anderen, weil wir unsere eigene Befindlichkeit in sie projizieren. Es kann sein, dass ich mit einer Frau spreche und sie freundlich nickt zu allem, was ich sage. Zuhause erzähle ich meinem Mann, dass sie sehr verständnisvoll zugehört und mit allem, was ich sagte, konform ging. Sie dagegen berichtet ihrem Mann von der Frau, die so viel Unsinn von sich gab, dass sie sich ihrer nur mit etwas Höflichkeit erwehren konnte und ihr deshalb immer zunickte, um sie endlich zum Aufhören zu bewegen.
Um genau dieses Phänomen geht es. Steiner sagte, dass wir beim Austausch auf der Gefühlsebene immer Gefahr laufen, uns zu täuschen. Deswegen gebe es nichts Besseres als die Ent-täuschung. Auch wenn es herb ist ent-täuscht zu werden, bedeutet es doch, dass man sich freimacht von einer Täuschung. Mit jeder Enttäuschung eine Täuschung weniger. Das ist im Grunde etwas Gutes.
Es geht darum, mit anderen Menschen so offen umzugehen, dass man immer damit rechnet, dass sie ganz anders sind, als man denkt. Damit kommt man der Wahrheit des anderen näher und ist dann erst in der Lage, sich sozial zu verhalten.
2a. Sozialer Trieb im Fühlen:
Es geht darum, den anderen zu nehmen, wie er ist und nicht so, wie ich ihn haben möchte. Das ist Steiners Leitsatz als Abhilfe gegen das Antisoziale im Seelischen: „Man nehme den anderen, wie er ist und versuche daraus, das Beste zu machen.“ Als ich das zum ersten Mal ganz bewusst gelesen habe, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich es genau andersrum mache: Ich nehme mich, wie ich bin, und erziehe mit Lust die anderen. Ich mache an den anderen rum und meine, ich dürfe so bleiben, wie ich bin. Laut Steiner haben jedoch die anderen das Recht, so zu sein, wie sie sind, und ich habe die Aufgabe, mich so zu ändern, dass ich mit ihnen zurechtkomme. Das ist gut – wenn es nur nicht so wehtun würde.
3a. Antisozialer Trieb im Willen: Wir ärgern andere, wenn wir initiativ sind
Dieser antisoziale Trieb betrifft alle Menschen, die aktiv werden. Rudolf Steiner sagt, wenn wir etwas tun, sind wir immer in der Gefahr, unsere Mitwelt zu ärgern. Wer Initiative zeigt, muss damit rechnen, dass er bestimmte Menschen ärgert.
3a. Sozialer Trieb im Willen:
Einerseits ist es gut zu wissen, dass man prinzipiell zum Ärgernis wird, wenn man etwas tut, dass das nichts Persönliches ist. Wenn man jedoch aus einem sozialen Impuls heraus aktiv werden will, geht es darum, es so zu tun, dass sich möglichst wenige dadurch gestört fühlen. Der antisoziale Trieb macht mir bewusst, dass ich es mit ganz unterschiedlichen Individualitäten zu tun habe, die alle ganz anders sind als ich. Der soziale Trieb sagt mir, dass alle zu ihrem Recht kommen müssen. Er zielt darauf ab, das, was mir wichtig ist, so zu vermitteln, dass es auch für alle anderen akzeptabel, ja vielleicht sogar nützlich ist und ihnen hilft. Das ist auf der Willensebene besonders schwierig, weil man da Geduld braucht. Man muss warten können – manchmal Jahrzehnte lang.
Geduld für Reifeprozess
Dazu ein Beispiel: Als ich ans Goetheanum kam, habe ich mir von Anfang an gewünscht, dass alle, die dort in Führungspositionen sind, wie die Sektionsleiter, harmonisch und auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Das war mein Ideal. Es hat 26 Jahre gebraucht, bis alle ganz aus sich heraus diese Form der Zusammenarbeit als Goetheanum-Leitung entstehen ließen – und nicht nur, weil ich es so wollte. Wir sagten alle, wir brauchen eine Ebene, auf der jeder, der eine Führungsposition innehat, die Möglichkeit hat, vollkommen gleichberechtigt Mitspracherecht hat beim Fällen der Entscheidungen über den Gesamtbetrieb. Darüber kann nicht nur einer entscheiden, der zwar die entsprechende Position hat, aber von der Thematik aus der Praxis der einzelnen Sektionen heraus kaum etwas versteht. Entscheidungen, die alle betreffen, müssen aus der Sache heraus gefällt werden und das geht nur, wenn die gesamte Sachkompetenz gebündelt wird. Erst dann hat man als Führungsgremium die Chance, verantwortbare Entscheidungen zu fällen. Der Prozess, bis alle das auch so empfanden und wollten, brauchte aber viel Geduld von meiner Seite. Es war ein langsamer Reifungsprozess.
Bestimmte Dinge brauchen sogar länger als man lebt und werden erst von der nächsten Generation in Angriff genommen. Der soziale Trieb im Willen ist mit Verzicht verbunden und mit der Kultur von Geduld. Warten können, bis etwas reif ist: bis der richtige Zeitpunkt, der richtige Ort und die richtigen Menschen zusammenkommen sind und eine Situation so gereift ist, dass alle merken, dass genau das jetzt dringend gebraucht wird. Wenn man dann einen Gedanken dazu äußert, sind alle froh darüber. Dann stößt sich niemand mehr daran. Der soziale Trieb im Willen arbeitet mit der Zeit, ist entwicklungs- und reifeorientiert.
Im Seelischen spielen solche Tugenden wie Geduld, Andacht, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Toleranz u.a.m. eine wichtige Rolle, das ist alles Teil der Seelenlandschaft.
Vgl. Vortrag „Der Anthroposophische Sozialimpuls“ in Wien, Mai 2018
SOZIALIMPULS AUS DEM ICH
Welche Sozialimpulse erwachsen aus der Ich-Ebene?
Die Ich-Ebene ist Ursprung der Befähigung zu einem Impuls aus der Anthroposophie, auf den viele unter euch bestimmt schon gewartet haben. Es ist der Impuls der Sozialen Dreigliederung, an dem Rudolf Steiner scheiterte, wie er es selbst ausdrückt.
Die Soziale Dreigliederung
Dieser soziale Impuls hat das Anliegen, dass der einzelne Mensch so ich-bewusst und erwachsen wird, dass er sein soziales Verhältnis zur Mitwelt selbst erkennt und eigenaktiv gestalten möchte.
Rudolf Steiner sagte, dass er 30 Jahre brauchte, um das Konzept der Sozialen Dreigliederung auszuarbeiten, bis er selbst es in seinem vollen Umfang begriff. Dieser Impuls ist reine Ich-Kultur, weswegen er bis heute kaum verstanden wird. Man verwechselt dreigliedrig mit dreiteilig und glaubt, es wäre eine Methode, die man einführen könnte im sozialen Leben. Deshalb verzweifelte Rudolf Steiner nach ein paar Jahren und erklärte den Dreigliederungsimpuls als gescheitert. Niemand hat ihn zu seiner Zeit wirklich verstanden, nicht die Arbeiter und nicht die Intellektuellen. Steiners wirtschaftliche und politische Initiativen scheiterten, nur die Waldorfschule mit ihrer Selbstverwaltung ist davon übriggeblieben.
Er nennt selbst den Grund: Zum einen hätten die Menschen das Konzept als solches nicht verstanden und zweitens hätten sie die Beispiele für die eigentliche Sache gehalten. Er nannte Beispiele, die veranschaulichen sollten, wie jeder selbst Initiativen und Projekte aus sich heraus mit der entsprechenden Orientierung hinbekommen könnte. Und die Menschen nahmen sie als Rezepte und Vorgaben. Es waren aber nur Beispiele, das ist etwas völlig anderes. Wenn man Beispiele zum Konzept erhebt, kann es nicht klappen. Dann klingt es dogmatisch und funktioniert schlicht nicht.
Es geht um die Haltung des Ich der Welt gegenüber in Bezug auf die soziale Prozesssteuerung auf den drei Feldern des Sozialen, der Wirtschaft, dem Rechtsleben und dem Geistesleben. Davon sind wir als Gesellschaft heute noch weit entfernt, was sich in allen drei Bereichen des Sozialen deutlich zeigt.
Heutige pathologische soziale Struktur und Ausrichtung
Rudolf Wirchow, der erste und größte Pathologe, hat ein wunderbares Wort geprägt:
„Politik ist, wenn man sie richtig versteht, Medizin im Großen.“
Die Politik müsste regulierend auf das Geschehen in der Welt einwirken und dafür sorgen, dass der Individualismus und der Egoismus sich nicht hemmungslos austoben. Sie müsste sich darum bemühen, dass im Sozialen und im Wirtschaftlichen genügend Brüderlichkeit herrscht. Die Politik müsste in Form eines regulierenden, gesundenden Rechtslebens wie eine Art rhythmisches System zwischen Geist und Stoff, zwischen Geistesleben und Wirtschaftsleben, wirken.
In dieser Hinsicht ist die heutige Politik absolut „schwach auf der Brust“, um im Bild zu bleiben. Viele Menschen interessieren sich überhaupt nicht für Politik, haben ein gestörtes Verhältnis zum Rechtsleben, freuen sich, wenn sie Verkehrssünder sind, spielen mit dem Recht und den Regeln, nehmen sie gar nicht ernst.
Das wirklich Schlimme ist aber, dass die Menschen nicht merken, dass das Rechtsleben heutzutage lungen- und herzkrank wird, weil es immer mehr von Angst und Sicherheitsdenken bestimmt wird. Die Angst hängt mit der Brutalität und Ethikferne der heutigen Wissenschaft zusammen, die alles zerschneidet, technisiert, zergliedert. Die Menschen haben Angst vor dieser Haltung, wollen sich schützen. Die Angst kommt aber auch vom Wirtschaftsegoismus. Man versucht Grenzen zu setzen, Zölle wieder einzuführen, diesen oder jenen Schutzmechanismus wieder zu implementieren.
Folgen eines kranken sozialen Organismus
Die Pathologie ist also, dass im Wirtschaftsleben Freiheit herrscht. Die Gemeinschaft definiert in der Wissenschaft (Geistesleben) als scientific community, was Wissenschaft ist und was nicht. Sie gibt die Regeln vor. Das ist auch im Religiösen so. Das Geistesleben spielt sich immer mehr in Gesinnungsgruppen ab, folgt nicht mehr dem Prinzip individueller Freiheit in der Forschung. Doch genau deswegen explodiert heute das Rechtsleben, es hypertrophiert als direkte Folge der Erkrankung des sozialen Organismus. Das zeigt sich in einer wachsenden Flut an neuen Bestimmungen, an noch mehr Kontrolle, noch mehr Dokumentation.
Weil das Geistes- und das Wirtschaftsleben heute nicht gesund sind, kränkelt auch das Rechtsleben und bietet keinen Raum mehr für wichtige Impulse und ihre rechtliche Absicherung. Stattdessen versucht es die Gesellschaft zu schützen vor Übergriffen seitens der Wissenschaft und der Wirtschaft. Daraus ergibt sich eine überbordende Bürokratie, die dazu führt, dass gerade Aktivitäten und Initiativen, die aus der angewandten Anthroposophie kommen, in Europa entweder gar nicht mehr erlaubt oder immer mehr eingeschränkt werden.
Das betrifft Demeter Nahrungsmittel, anthroposophische Arzneimittel, eine freiheitliche Pädagogik und selbstbestimmende Eltern, die ihre Schule selbst aussuchen wollen. In Europa ist es heute verboten, biologisch-dynamische Präparate herzustellen. Außerdem gibt es kein Gesetz, das die anthroposophischen Arzneimittel zulässt und absichert. Demeter Säuglingsnahrung darf nicht mehr hergestellt werden, weil es eine EU-Richtlinie gibt, dass Säuglingsnahrung nach amerikanischem Muster mit künstlichen Vitaminen versetzt werden muss. In den Demeter Richtlinien steht, dass man das Demeter Gütesiegel nicht mehr verwenden darf, wenn man künstliche Vitamine nimmt. Wenn wir also unseren hohen Qualitätsanspruch aufrechterhalten und mit gesundem Wachstum genügend Vitamine auf natürliche Art erhalten wollen, dürften wir keine Säuglingsnahrung mehr herstellen.
Welche Orientierung das soziale Leben gesunden lässt
Im Folgenden möchte ich kurz auf die nötige gesunde Orientierung in diesen Bereichen eingehen.
· Gesunde Orientierung im Wirtschaftsleben
Eine gesunde Wirtschaft orientiert sich an den Bedürfnissen der beteiligten Menschen.
Wenn sich die Wirtschaft jedoch am maximalen Gewinn für den einzelnen orientiert, und jeder letztlich nur für sich arbeitet und nicht für seine Kunden, Klienten, Geschäftspartner, Mitarbeiter und Kollegen, kann das nicht gutgehen. Das ergibt ein krankes Wirtschaftssystem, in dem die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Heute (2018) besitzen 8 Menschen die Hälfte des Bruttosozialproduktes weltweit. Vor 10 Jahren gab es noch 300 Milliardäre. In ein paar Jahren sind es vielleicht nur noch 2 Menschen – und dann träumt einer von den beiden vom alleinigen Besitz der Hälfte des Menschheitseinkommens. Das ist krankes Denken, krankes Fühlen, krankes Handeln.
Eine Wirtschaft, die auf Nachhaltigkeit setzt, ist bedürfnisorientiert und bemüht sich um einen gesunden Ausgleich. Man entwickelt sich ökonomisch miteinander und füreinander.
· Gesunde Orientierung im Rechtsleben
Ein gesundes Rechtsleben, zu dem auch die Politik gehört, ist überall da demokratisch, wo alle Menschen von den Folgen betroffen sind. Dazu braucht es eine Kultur des Mitspracherechts, der Information, des Dialogs, der Verständigung, damit jeder weiß, wofür er sich und worüber er entscheidet. Sonst wird man einander und dem Staats- und Sozialwesen nicht wirklich gerecht.
· Gesunde Orientierung im Geistesleben
Ein gesundes Geistesleben braucht Freiheit und krassen Individualismus. Wenn ein Mensch nicht nach seiner eigenen Façon selig werden darf, fühlt er sich unglücklich.
Ich-Kultur wäre, das Pathologische der heutigen Ausrichtung zu durchschauen und sich für gesündere Strukturen einzusetzen.
Vgl. Vortrag „Der Anthroposophische Sozialimpuls“ in Wien, Mai 2018
SOZIALIMPULS AUS DER QUINTA ESSENTIA
Welche Sozialimpulse erwachsen aus der Seinsebene der Quinta Essentia?
Ganzheitliches Denken gefragt
Der soziale Impuls aus dem 5. Prinzip, der Quinta Essentia, heraus ist der Wille und die Fähigkeit, menschheitlich zu denken. Als Rudolf Steiner den 1. Kurs für die Mediziner hielt,[1] sagte er: Wenn der Arzt einen Patienten behandelt, würde es nicht genügen, dass er nur an diesen einen Menschen denkt. Er sollte vielmehr in diesem Menschen den Angehörigen der ganzen Menschheit sehen. Denn in Krankheit und Gesundheit des einzelnen spiegelt sich nicht nur das persönliche Schicksal, sondern auch unser Gruppenschicksal und auch das Zeitschicksal der Menschheit. Dazu ein Beispiel.
Vor 20 Jahren war das Magenkarzinom in Japan das Stresssymptom der japanischen Gesellschaft schlechthin. Die meisten Magenkarzinome weltweit waren in Japan zu verzeichnen. Heute ist es das Pankreaskarzinom. Heute ist nicht nur der Stress Auslöser, sondern die tiefe Verunsicherung ob und wie man all das, was geschehen ist, wie Fukushima und anderes, verarbeiten soll. Da sind plötzlich ganz andere Organe belastet. Das Wechseln von Zeitkrankheiten ist ein Ausdruck von Zeitenschicksal, von Volksschicksal.
Menschheitsbewusstsein entwickeln
Es geht heute darum, ein Bewusstsein zu entwickeln, das den einzelnen und die Gemeinschaften wie Organe eines großen Organismus der Menschheit begreift. Wir leben in einer globalen Welt, haben alle miteinander zu tun. Deswegen ist es wichtig die eigenen Organgrenzen zu pflegen, was beim Nationalismus krankhaft übertrieben und damit wieder pathologisch wird. Aber wir brauchen eine klare Identität, um überhaupt unseren Beitrag zum Ganzen leisten zu können.
Diesen 5. Impuls aus der Anthroposophie können wir auch den christlichen Impuls nenne. Denn das Christentum ist seiner ganzen Entstehungsgeschichte nach, wo immer man auf die echten Quellen hinschaut, menschheitlich-sozial orientiert. Das Christentum hat eine konfessionell-religiöse Seite, aber auch eine ganz freie philosophische, menschheitliche Grundorientierung, die man in allen Religionen finden kann – immer da, wo Menschen sich für das Ganze interessieren und nicht nur für irgendeine Gruppierung, einen Teil davon.
Rudolf Steiner sah die Zivilgesellschaft als dritten Faktor, der mitregulieren soll. Denn Politik und Wirtschaft sind stark verflochten und werden freiwillig daran auch nichts ändern, aus Angst, ihre Macht zu verlieren. Rudolf Steiner gründete die Anthroposophische Gesellschaft als erste globale zivilgesellschaftliche Organisation überhaupt, die das rein Menschliche, die Menschenrechte sowie Freiheit und Würde als Hauptanliegen hat – die Entwicklung und den Erhalt des rein Menschlichen.
Gewissensfreiheit als Indikator für Freiheit des Geisteslebens
Mit dieser Orientierung kann man sich den gesunden Menschenverstand neu erarbeiten und auch den Mut aufbringen, Stopp zu sagen, um wieder dem eigenen Gewissen zu folgen. Aus der Perspektive dieser Menschheitswerte ist es ein Unding, dass sich Ministerien ausdenken und festlegen, was dann von allen Lehrern und Ärzten befolgt werden muss. Das geht an allem vorbei, was der Einzelne braucht. Natürlich sind Rahmenbedingung und Richtlinien nötig, um etwas zu organisieren und zu verwalten, aber der einzelne Mensch muss dennoch bekommen, was er für seine Entwicklung braucht. Das kann nur gelingen, wenn Ärzten und Lehrern wieder ein Recht auf Gewissensfreiheit eingeräumt wird. Ob man seinem Gewissen folgen darf oder nicht, zeigt, ob das Geistesleben frei ist oder nicht. Die Bürokratisierung geht so schleichend und scheibchenweise, dass man sich langsam, aber sicher, an Unzumutbares gewöhnt und Gefahr läuft, die Schwelle übersehen, ab wann ein System ins Unmenschliche kippt.
Wir haben viel zu tun in der Anthroposophischen Gesellschaft, um sie zu dem zu machen, als was sie einmal gedacht war. Es wäre ratsam, sich mit anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen, zusammenzuschließen, wenn ihr Anliegen aus einer ähnlichen Quelle kommt.
Vgl. Vortrag „Der Anthroposophische Sozialimpuls“ in Wien, Mai 2018
[1] Rudolf Steiner, Jungmedizinerkurs, GA 316.
DURCH UND FÜR DIE MENSCHHEIT LERNEN
Was verdanken wir unserem Umfeld an Erfahrungen?
Wie lassen sich Informationen und Nachrichten eigenständig so erarbeiten, dass wir sie nicht nur konsumieren, sondern wichtige Erkenntnisse daraus gewinnen?
Inwiefern stehen wir in der Schuld der Menschheit?
Lerngewinn durch eigene und Fremderfahrung
Wenn ich Antworten auf allgemein-menschliche Fragen suche, komme ich in eine Lern- und Entwicklungsebene, auf der ich enorm von Fremderfahrungen profitiere.
Ich war z.B. noch nie in Pakistan, auch nicht in Afghanistan, aber was kann ich nicht alles über die Medien und die Literatur von den Verhältnissen dort lernen! Wenn ich die Zeitung lese und ein wenig meditiere, was ich zwischen den Zeilen lese, gewinne ich enorm, weil ich aktiv und emphatisch an der Menschheitsgeschichte anteilnehme. Wir alle lernen aus Fremderfahrungen. Man braucht nur zu überlegen, was man alles durch Überlieferung weiß. Wieviel das ist, wird mir bewusst, wenn ich mir ehrlich Rechenschaft darüber ablege, was ich meinem Schicksalsumkreis verdanke und was ich mir selbst hart erarbeitet habe.
Es gibt allerdings unterschiedliche Arten mit derlei Informationen umzugehen. Große Ereignisse kann man als Nachrichten online abends noch schnell konsumieren, in nur einem Viertelstündchen. Da hat man sich jedoch noch nichts selbst erarbeitet, was Antwort auf die großen Menschheitsfragen geben könnte. Es sich selbst zu erarbeiten gleicht einem Verdauungsvorgang und erfordert Eigenaktivität und Einsatz.
Was wir uns dank der Erfahrungen anderer ersparen
Jetzt behaupte ich etwas scheinbar Paradoxes, das aber sehr viel mit Medizin und Prävention zu tun hat: Viele von uns sind nur deswegen so gute Menschen, weil sie in der Jugend nicht nur ihre eigenen Erfahrungen gemacht und daran unendlich viel gelernt haben, sondern weil sie auch aus fremdem Leid und fremder Schuld gelernt haben. Wie oft sind wir nur deshalb unschuldig, weil andere schuldig wurden.
Ich habe als kleines Kind einmal einen Betrunkenen erlebt. Er torkelte umher und hat alles vollgekotzt und ging dann auch zu Boden. Das war sehr abschreckend für mich. Ich fragte daraufhin meinen Vater, wie man so wird. Daraufhin erklärte er mir, was Alkoholismus ist. Mir war seitdem klar, dass ich Alkohol nicht anrühren würde. Die erlebte Szene, aber auch mein Vater, der mir den Zusammenhang erklärte, haben mich sehr beeindruckt. Diese Fremderfahrung war mein Schutz. Ich musste nie die Wirkungen von Alkohol am eigenen Leib erleben und dann wieder trocken werden. Ich will damit nicht sagen, dass Alkoholismus nicht auch seinen Sinn und seine Berechtigung hat. Aber es ist auch schön, seine Zeit mit anderen Erfahrungen verbringen zu dürfen.
Das Beispiel soll deutlich machen, wie viel wir den negativen Erfahrungen anderer verdanken. Man kann mit anderen so mitleiden und daraus einen ähnlichen Lerngewinn ziehen, als hätte man es selbst erlebt. Ein anderer Aspekt ist, dass andere stellvertretend für uns leiden, damit wir daraus lernen können.
Hiob und das Stellvertreterprinzip
Dieses Stellvertreter-Aspektes war sich Hiob bewusst. Er fühlte sich in der Schuld seines sozialen Umfeldes, ja der ganzen Menschheit. Überspitzt ausgedrückt, könnte man sagen, dass viele Menschen schuldig werden mussten, damit er aus ihren Erfahrungen lernen und unschuldig bleiben konnte. Seine Unschuld baute auf der Schuld anderer auf. Er lernte durch Fremderfahrungen.
Nachdem Hiob nun so viel von anderen profitiert hatte, wurde er stellvertretend für die Menschheit krank und erlebte dieses Mal am eigenen Leibe, wie es ist, unschuldig zu leiden und dadurch andere vom Lernen-Müssen durch Krankheit und Leid zu entlasten. Als Hiob diesen Zusammenhang erkannte, erkannte er den spirituellen Sinn von Krankheit: Dass die anderen nicht mehr krank werden mussten, weil er, Hiob krank geworden war. Dieser menschheitliche Aspekt ist der am schwierigsten zu verstehende Part von Hiobs Geschichte. Er ist es jedoch, weswegen das Buch „Hiob“ in der christlichen Tradition als das christlichste Buch des Alten Testamentes gilt.
Einer trage des Anderen Last
Dieser Aspekt zeigt sich mir auch in der neutestamentlichen Aufforderung „Einer trage des Anderen Last“.[1] Diese Worte drücken ein tief christliches Motiv aus. Solange Menschen noch etwas zu lernen haben, muss es auch Leid geben, das es zu tragen gilt wie eine Last. Doch unter dem oben dargestellten Blickwinkel ist es nicht so wichtig, wer leidet, um die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Die Hauptsache ist, dass das der Lerngewinn daraus der Menschheit zur Verfügung steht und sie darauf zugreifen können. Deshalb können Menschen auch stellvertretend füreinander leiden – unschuldig und ohne karmische Verstrickung.
Auch Christus litt stellvertretend für die ganze Menschheit, indem er freiwillig und unschuldig größtes Menschheitsleid, Gewalt, Folter und Mord, durchmachte. Doch sein Leiden hat noch eine andere Dimension. Er nahm dieses Leid bewusst und unschuldig auf sich, um die schlimmsten karmischen Folgen von uns abzuwenden. Das sollte uns Menschen Mut und Kraft geben, die für unsere Entwicklung nötigen Herausforderungen, die uns auf Erden begegnen, als unser Schicksal anzunehmen und auszuhalten. Indem er alles ganz bewusst durchlitt, erwarb er eine Kraft, die er fortan seinen Menschengeschwistern zur Verfügung stellt, die Kraft, das eigene Schicksal trotz Unbewusstheit und Schuld gut zu bewältigen.
Die Entlastung anderer ist der Sinn dieses Stellvertreterprinzips. Indem Christus als Unschuldiger bewusst Menschheitskarma auf sich nahm, erlöste er die Menschheit vor den karmischen Folgen ihrer bisherigen Entwicklung und wies ihr gleichzeitig einen neuen Weg – wie Hiob ihn zu seiner Zeit schon ging.
Vgl. Seminargruppe „Die fünf Inspirationsquellen der Anthroposophie“, Witten 2010
[1] Neues Testament, Galater 6, 2.
URSPRUNG, VERLUST UND WIEDERERLANGEN VON WÜRDE
Warum hat jeder Mensch auf dieser Erde einen unmittelbaren Bezug zur Würde?
Woher wissen wir tief in uns, welches Verhalten, welcher Umgang miteinander würdevoll ist und welcher nicht?
Was ist der Ursprung dieses Wissens um die Würde?
Ähnlich wie mit dem Begriff der Gesundheit verhält es sich mit dem Begriff der menschlichen Würde. Auch hier geht es um ein komplexes Erfahrungsfeld und gleichzeitig um eine innere Haltung.
Ursprung des Wissens um Würde
Kulturhistorisch wird der Begriff der „Würde“ von der Gottebenbildlichkeit des Menschen abgeleitet, so wie er im ersten Buch Mose beschrieben wird.
Neurobiologisch führt Gerald Hüther den Ursprung unseres Wissens um Würde auf intrauterine Erfahrungen zurück, die jeder als Embryo in ähnlicher Weise macht:
„Durch vielfältige Untersuchungen ist in den letzten Jahren belegt worden, was Kinder bereits vor der Geburt alles lernen können und wie im Mutterleib gemachte Erfahrungen im sich entwickelnden kindlichen Hirn verankert werden. Mit Abstand am wichtigsten sind die beiden Grunderfahrungen, die die gesamte vorgeburtliche Entwicklung aller Kinder überall auf der Welt bestimmen und auch noch nach der Geburt zumindest eine Zeit lang gemacht werden: die Erfahrung engster Verbundenheit mit einem (und später hoffentlich noch weiteren) anderen Menschen einerseits. Und die aus dieser Verbundenheit heraus möglich werdende Erfahrung eigenen Wachstums, eigener Weiterentwicklung, eigener Gestaltungsmöglichkeiten andererseits. Erst viel später wird ein Kind auch lernen, diese beiden Grunderfahrungen in Worte zu fassen und eine bewusste Vorstellung einer aus der eigenen Verbundenheit erwachsenden Autonomie und Freiheit zu entwickeln. Und noch später wird es vielleicht auch verstehen lernen, dass es eine besondere Art der Begegnung gibt, die Menschen miteinander so tief und verlässlich verbindet und ihnen aus dieser Verbundenheit heraus hilft, Gestalter ihres eigenen Lebens zu werden, sich weiterzuentwickeln und sich in dieser Verbundenheit als völlig freie und autonome Subjektive zu erleben.“[1]
Dass jeder Mensch im Grunde genommen weiß, was Menschenwürde ist, beruht auf dieser gemeinsamen vorgeburtlichen Erfahrung, die sich im embryonalen Gehirn und seiner Verbindung zu den anderen Organsystemen eingeprägt hat als Erlebnis: Meine Umgebung lässt mich werden – sie will offenbar meine Autonomie, mein Sosein.
Verletzung der Menschenwürde
Entsprechend schmerzlich und enttäuschend ist dann aber auch, wenn nach der Geburt diese Ur-Erfahrung nicht weiterhin bestätigt, bekräftigt und gepflegt wird, indem das Kind bedingungslos angenommen und geliebt wird. Dann wird der Weg in den Verlust der Würde gebahnt. Gerald Hüther formuliert es so:
„Wer von anderen Personen benutzt und zum Objekt von deren Absichten und Zielen, Erwartungen und Bewertungen, Belehrungen und Unterweisungen oder gar Maßnahmen und Anordnungen gemacht wird, fühlt sich zutiefst in seiner Subjekthaftigkeit und damit in seiner Würde bedroht. Als Objekt behandelt zu werden, verletzt sowohl das zutiefst menschliche Grundbedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit als auch das nach Autonomie und Freiheit. Unter diesen Bedingungen kommt es im Gehirn zur Aktivierung derselben Netzwerke die auch dann aktiviert werden, wenn irgendetwas im eigenen Körper nicht stimmt.“[2]
In seiner Identität nicht respektiert zu werden und Anordnungen befolgen zu müssen, die einem widerstreben, erleben wir Menschen als Zwang, um nicht zu sagen: als Freiheitsberaubung.
Menschenverachtendes Schulsystem
So prangert Hüther den Egoismus fördernden, Würde verletzenden Charakter des heutigen Bildungswesens an:
„Mir wurde (…) klar, dass unser Bildungssystem gar nicht darauf ausgerichtet ist, Heranwachsenden dabei zu helfen, ihr Empfinden für das zu stärken, was ihre Würde ausmacht, geschweige denn eine eigene Vorstellung oder gar ein Bewusstsein ihrer Würde zu entwickeln. Noch weitaus irritierender war für mich die sich daraus zwangsläufig ergebende Frage, ob es die für Kitas, Schulen, Berufsschulen und Hochschulen Verantwortlichen überhaupt wichtig finden, Heranwachsenden dabei zu helfen, sich ihrer Würde bewusst zu werden. War das jemals ihr Anliegen? Hat das ihre Herzen bewegt? Weshalb haben Sie sich dann nicht auch darum gekümmert? Das hieße ja, dass sie sich selbst ihrer eigenen Würde noch gar nicht bewusst geworden sind. Sonst hätten sie andere Vorschriften erlassen, andere Lehrpläne entwickelt und andere Bedingungen in den Bildungseinrichtungen geschaffen. (…) Heranwachsende können unter diesen Bedingungen nur genauso würdelos werden wie diejenigen, die maßgeblich für das sind, was in diesen Bildungseinrichtungen geschieht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie später, als Erwachsene, den so entstandenen Mangel eines Bewusstseins ihrer Würde in ihrem Denken und Handeln zum Ausdruck bringen, auch dann, wenn sie ihre Ausbildung mit Bestnoten abgeschlossen haben und in Führungspositionen gelandet sind.“[3]
Den Idealen von Gesundheit und Würde ist ihr altruistischer Charakter gemeinsam. Beide beruhen auf komplexen Erfahrungsfeldern, in denen die Selbstsorge und der Dienst an einem großen Ganzen harmonisch aufeinander bezogen sind.
Wiedererlangung von Würde durch Freiheitsbewusstsein
Der altruistische Charakter des Ideals der Freiheit lässt sich nur verstehen, wenn man die eigene Freiheit nicht gegen die Freiheit der Mitmenschen ausspielt, sondern sie jedem Menschen gleichermaßen zugesteht. Essentieller Bestandteil eines würdevollen Umgangs miteinander ist es, einander Freiräume einzuräumen. Ob jemand fähig und willens ist, seine Freiheit in Anspruch zu nehmen, steht auf einem anderen Blatt. Denn niemand kann uns ein Bewusstsein unserer Freiheit übermitteln – das müssen wir selbst erringen. Rudolf Steiner formuliert diesen Umstand in seiner „Philosophie der Freiheit“ folgendermaßen:
„Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann der Mensch nur selbst aus sich machen.“[4]
Im Gegensatz zu Pflanze und Tier ist der Mensch nicht in der Lage, von Natur aus ein voll ausgebildetes Menschenwesen zu werden. Seine Menschlichkeit ist natürlicherweise nur als Veranlagung vorhanden, als Potential, das im Laufe des Lebens und der Entwicklung erst voll ausgeschöpft werden muss. Ein Hund, ein Vogel, eine Biene sind dagegen von Natur aus vollkommen sind. Ihre natürliche Entwicklung und soziale und ökologische Einbindung vollziehen sich instinktiv und wie von selbst. Bei ihnen stimmen das Ideal ihrer selbst und ihre Wirklichkeit überein. Ein Hund kann nicht „hundiger“, ein Vogel nicht „vogeliger“ und eine Biene nicht „bieniger“ werden. Es gibt jedoch keinen Menschen, der nicht noch menschlicher werden könnte. – Die politischen und wirtschaftlichen Machtspiele der Gegenwart und die Weltkriege im letzten Jahrhundert zeigen, wie destruktiv sich die typischen Entwicklungsdefizite des Menschen individuell und sozial auswirken.
Wenn die Gesellschaft, wie Hüther bemerkt, kein Interesse daran hat Bedingungen zu schaffen, die es dem Menschen ermöglichen sich seiner Freiheit und Würde bewusst zu werden, sondern vielmehr alles darauf angelegt ist, dass es zu einer möglichst umfassenden Anpassung an die vorgegebenen, durch Normen und Bestimmungen geprägten gesellschaftlichen Verhältnisse kommt, so bleibt wenig Spielraum für den Einzelnen, ein „freies Wesen“ aus sich zu machen.
Soziale Gesundheit als Kulturauftrag (der Pädagogik)
Wem das Freiheitsideal hingegen am Herzen liegt, wird eine Lebenshaltung entwickeln, welche die eigene Freiheit nicht gegen die der anderen Menschen mithilfe von Macht, Normierungen oder Egozentrik durchsetzt. Eine Erziehung zur Freiheit kann nur durch eine altruistische Lebenshaltung des Lehrers gelingen, sie braucht eine Pädagogik, die nicht auf den Egoismus baut.[5] Im Grunde müsste sich jeder verantwortungsbewusste Mensch heute fragen:
Wenn Freiheit und Würde, Gleichheit und brüderliche Solidarität unsere Grundrechte und Werte sind – wie kann ich selbst praktischen Gebrauch davon machen?
Was kann ich dazu beitragen, dass diese Werte für jeden Menschen Realität werden könnten?
Das 21. Jahrhundert macht heute global deutlich, dass die kulturelle Entwicklung der Menschheit nur konstruktiv weitergehen kann, wenn es eine genügend große Anzahl von Menschen gibt, die sich ihrer Freiheit und Würde bewusstwerden und in der Lage sind, die Bedürfnisse der sozial benachteiligten Menschen nicht nur zu sehen und gegebenenfalls zu beklagen, sondern die auch nach den Bedingungen fragen, unter denen sich dieses soziale Gefälle entwickelt hat und wodurch es gesellschaftlich wie auch individuell überwunden werden kann. Es braucht eine genügend große Anzahl von Menschen, die verstehen, dass die sozialen Probleme letztlich Erziehungsfragen sind und die Erziehungsfragen durch eine umfassende gesundheitliche Orientierung gelöst werden müssen. Es braucht Menschen, die in allen Bereichen des Lebens ihren Beitrag leisten und bereit sind zur Überwindung der Schäden, die Egoismus und Machtmissbrauch im individuellen und sozialen Leben angerichtet haben.
Einen solchen Beitrag in aller Freiheit und Würde zu leisten, kann begeistern, weil man dabei empfinden kann, dass man daran mitwirkt, Bedingungen zu schaffen, welche die gesunde Entwicklung des Einzelnen sowie der gesellschaftlichen Verhältnisse fördern. In diesem Sinne kann es auch motivieren, sich konsequent dem Konditionierungszwang zu widersetzen, der von den digitalen Lernhilfen ausgeht, die von Industrie und Politik schon für Kitas, Kindergärten und Grundschulen empfohlen werden.[6]
Vgl. „Die salutogenetische Orientierung der Waldorfpädagogik“, in: Medizinisch-Pädagogische Konferenz. Heft 093 2020
[1] Gerald Hüther, Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft, München 2018, S.115.
[2] Ebd., S. 123.
[3] Ebd., S. 154 ff.
[4] Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit (GA 4), S.170.
[5] Anliegen der Waldorfpädagogik ist es z.B., junge Menschen eine Erziehung angedeihen zu lassen, die sie freiheitsfähig macht.
[6] Der Ratgeber, Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt / ISBN 978-3-9820585-0-4 gibt für alle Altersstufen die passenden Tipps, wie in den Bildungseinrichtungen die für die gesunde Hirnreifung notwendige Eigenaktivität gefördert werden kann. https://www.diagnose-funk.org/publikationen/artikel/detail?newsid=1319