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Denken: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Geistesforschung
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Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
Auszüge aus Büchern und Vorträgen von [[Michaela Glöckler]]; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/
== ENTWICKLUNG DER ORGANSYSTEME UND DENKEN ==
''In welchem Zusammenhang stehen Organentwicklung und Denkentwicklung?''
=== ''Übereinstimmung zwischen Organen und Denken'' ===
Mit Blick auf die kindliche Entwicklung ist es interessant zu sehen, wie in den Jahren zwischen Geburt und Mündigkeit im Zuge der kindlichen Entwicklung ein Organsystem nach dem anderen heranreift. Dabei herrscht eine wundervolle Übereinstimmung zwischen diesen Organsystemen und dem sich entsprechend entwickelnden denkenden Bewusstsein.
==== '''·''' Nervensinnessystem – 1. Jahrsiebt ====
Das erste Organsystem, das bereits ''in den ersten neun Lebensjahren'' seine Grundausreifung und damit nahezu seine Erwachsenenfunktion erreicht, ist das Nervensystem mit den Sinnesorganen, wobei letztere am frühesten voll funktionstüchtig werden. Die das Nervensystem und die Sinnesorgane aufbauenden Kräfte werden entsprechend als erste frei für die denkende Tätigkeit. Daher hat das kindliche Denken einen stark bildlichen Charakter. Alles, was die Sinne erleben, wird lebhaft vorgestellt und phantasiereich ausgestaltet. Das phantasievolle Übersprudeln des beginnenden kindlichen Denkens hängt mit den Wachstumsten­denzen zusammen, die den kindlichen Organismus bestimmen. Diese Periode endet etwa mit dem 9., 10. Lebensjahr. Dann haben die Kinder ihr bildhaftes, an den Sin­neserfahrungen orientiertes Denken zur vollen Reife gebracht und verfügen jetzt meist auch über eine ausgezeichnete Merkfähigkeit.
Das ent­spricht der ausdifferenzierten Organstruktur der Sinnes- und Nervenorgane, in denen ab diesem Stadium kein Wachstum mehr, sondern nur noch Regeneration geschieht. Es finden keine weiteren Zell­teilungen mehr statt, jegliche Wachstumstätigkeit hat auf­gehört. Das regenerierende Bewahren der bis dahin ausgebildeten Form steht ab da im Vor­dergrund. Das gibt auch dem kindlichen Denken dieses Alters den Charakter. Was Mutter oder Vater bzw. der Lehrer gesagt haben, hat Gültigkeit und wird vom Kind zunächst so festge­halten und bewahrt.
==== '''·''' Herzkreislauf-System und Atmung – 2. Jahrsiebt ====
''Zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr'' steht das Heranreifen von Herz-Kreislaufsystem und Atmung im Vordergrund. Diese erlangen jetzt ihre Funktionsreife und damit auch die für das Erwachsenenleben typische Frequenz ihrer Rhythmen: etwa 20 Atemzüge und 80 Pulsschläge pro Minute in Ruhelage. Diese Or­gane brauchen bis zum 16. Lebensjahr, um annähernd ihre Erwachsenenfunktion zu erreichen. Daher ist es sportmedizinisch nicht zu vertreten, Ju­gendliche vor dem 16. Lebensjahr hart für den Leistungssport trai­nieren zu lassen. Da diese Organsysteme vor diesem Zeitpunkt noch nicht genügend herangereift und stabilisiert sind, können Schäden am Herzen und am Bewe­gungsapparat entstehen, die das ganze folgende Leben be­lasten können.
Entsprechend der Entwicklung dieser rhythmisch tätigen Or­gane zeigt sich in diesen Jahren auch eine neue Qualität im Denken des Heranwachsenden: eine zunehmende Fähigkeit zur selbständigen Urteilsbildung. Nicht neue Gedanken sind hier das Entscheidende – der Bildgehalt des Denkens ist ja bereits entwickelt. Er kann zwar noch bereichert werden, das würde aber keine neue Qualität im Denken bewirken. Das Neue hängt vielmehr mit einer an­deren Art des Umgangs mit den vorhandenen Gedanken zusam­men, so wie dies bei der urteilenden Tätigkeit der Fall ist. Die Urteilsfähigkeit stellt eine neue Möglichkeit dar, Gedanken zu bewegen und gegeneinander abzuwägen.
Diese Tätigkeit des Abwägens entspricht dem Ein- und Ausatmen, dem rhythmischen Aufnehmen und Abgeben, in­dem man zunächst den einen Gedanken aufnimmt und prüft und ihn dann wieder vor sich hinstellt und dann dasselbe mit einem an­deren tut. So wird im Abwägen zwischen unterschiedlichen Gedanken ein Urteil gebildet.
Wer Kinder dieses Alters beobachtet, wird auch bemerken, dass es sich bei dieser erwachenden Urteilsfähigkeit nicht um ein abstraktes Ur­teilsvermögen handelt, sondern in erster Linie um ästhetische Ur­teile: ob etwas schön oder hässlich, gut oder böse, gemein oder nicht gemein ist, ob Kinder in der Schule „doof“ oder „nett“ sind, ob die Lehrer etwas taugen oder nicht. Das ist das Feld, auf dem intensiv geurteilt wird. Das Mitschwingen von Gefühlen beim Bilden ästheti­scher Urteile hängt mit dem Zusammenspiel mit Atmung und Kreis­lauf zusammen. Auch noch im Erwachsenenalter wirkt sich jede Gefühlsregung unmittelbar auf Atemtiefe und -frequenz oder auch auf die Blutzirkulation aus, indem wir erröten oder erblassen.
==== '''·''' Gliedmaßen- und Stoffwechselsystem – 3. Jahrsiebt ====
Nach der Pubertät reifen die Gliedmaßen aus, die ihre endgültige Größe ''zwischen dem 18. und 22. Jahr'' erlangen, und mit ihnen auch der gesamte innere Stoffwechsel. In dieser Zeit werden die hormonelle Regulationsfähigkeit sowie die volle Funktionstüchtigkeit der Reproduktionsorgane erworben. Blickt man auf das sich jetzt auch weiterentwickelnde Denkvermögen des Jugendlichen, so fallen einem sofort zwei ganz neue Qualitäten ins Auge:
Auf der einen Seite der '''''starke Wille, im Denken eine eigene Meinung zu bilden''.''' Diese selbst erarbeitete Meinung oder Lebensansicht wird von dem Jugendlichen als neugewonnene innere Stabilität erlebt – wie ein seelisch-geistiges Rückgrat. Die Fähigkeit zur eigenen Wahrheitssuche und die Festigkeit und Sicherheit, die durch selbsterarbeitete Wahrheiten entsteht, gibt dem Gedankenleben gleichsam eine Art inneres Skelett.
Auf der anderen Seite erleben wir beim Jugendlichen den '''''erwa­chenden Idealismus,''''' die Fähigkeit, sich für dieses oder jenes im wahrsten Sinne des Wortes zu erwärmen und zu begeistern. Es wird erlebbar, wie die Kräfte, die die Stoffwechselorgane gebildet haben, nun für das Denken mehr und mehr zur Verfügung stehen und hier nun ebenfalls die Brennwärme liefern.
Damit verbunden keimt etwas im menschlichen Denken auf, was man mit '''''individueller Verantwortungs- und Entschlussfähigkeit''''' bezeichnen kann.
Daher sollten Jugendliche erst dann für mündig erklären werden, wenn sie ausgewachsen sind, was im Durchschnitt mit dem 21. Le­bensjahr der Fall ist. Erst wenn in seinem Denken die volle Kraft der Persönlichkeit wirksam ist, kann ein junger Mensch die volle Verant­wortung für sein Handeln übernehmen. Und das ist eben erst mit dem Ausgewachsen-Sein des ganzen Organismus der Fall und nicht schon mit der Reifung des Nervensystems und der Sinnesorgane.
=== ''Gedanken entstammen dem ganzen Körper'' ===
An dieser Stelle sei gesagt, dass es eine irrige Vorstellung ist zu meinen, das Gehirn produziere Gedanken. Der ganze Organismus kann, wenn er seine Wachstumskräfte entlässt, gleichsam Gedan­ken „produzieren“ und weisheitsvolle Strukturen zur Verfügung stellen. Das Gehirn ist jedoch dasjenige Organ, an dem diese frei­werdenden Wachstumskräfte reflektiert und damit zum Bewusst­sein gebracht werden. Das Nervensystem dient demnach nur dem Bewusstwerden der Gedanken, nicht aber ihrer Produktion.
Es wäre reizvoll zu zeigen, wie viele Erfahrungen aus dem Bereich der Neurologie diese Ansicht unterstützen und sicherstellen wür­den, wenn man sie nur in Erwägung zöge. Auch die große Plastizi­tät und Übernahmefähigkeit der Großhirnrindenbezirke für neue Funktionen gehören in diesen Bereich und können dadurch ver­standen werden.
''Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Glöckler, Michaela, Verlag Urachhaus, Stuttgart''
== DIE VIER QUALITÄTEN VON DENKEN UND LEBEN ==
''Welche Gedankenqualitäten gibt es?''
''Wie kann man die Unterschiede erkennen und charakterisieren?''
=== ''Natur der vier Denkarten'' ===
Es gibt nur vier Arten des „normalen“ Denkens – wenn wir den meditativen Bereich außenvorlassen, der außerdem die Imagination, die Inspiration und die Intuition umfasst. Alles, was wir denken, ist eine Kombination aus diesen vier Arten, genauso wie der Körper nur aus den unterschiedlichen Aggregatszuständen des Stofflichen, incl. der Wärme, zusammengesetzt ist. Ich möchte im Folgenden auf die Natur dieser vier Denkarten eingehen und darauf, welche „Form“ und „Substanz“ sie haben.
==== 1. Fest – Gedanken über sinnlich Erfahrbares   ====
Allen Gedanken sinnlich-substantiellen Inhalts liegt eine ''Sinneserfahrung'' zugrunde. Es handelt sich dabei um feste Vorstellungen mit klar umrissenen Inhalten aus Sinnes- und Lebenserfahrung. Diese Sinneserfahrung ist „fest“, kann nicht verändert werden. Was man sieht, hört, riecht, wenn man sieht, wie jemand sich heute kleidet, wie die Frisur aussieht, hört wie die Stimme in einem bestimmten Moment klingt – all sind Wahrnehmungen. Wenn man es verändert, macht der Beobachter eine neue Wahrnehmung, die als solche unveränderlich ist. Der Sinneseindruck selbst kann nicht verändert werden.
==== 2. Flüssig – abstrakte Begriffe ====
Dem flüssigen Element kommt man auf die Spur, wenn man sich auf Gedanken konzentriert, die nichts mit Sinneswahrnehmungen zu tun haben, auf ''Begriffe''. Diese sind bildlos, als solche nicht „vorstellbar", obwohl man sich natürlich eine bildhafte Vorstellung von einem Begriff machen kann. Zum Beispiel ist der Begriff „Blume" nirgendwo als „die Blume schlechthin", als das „Prinzip Blume“ sichtbar. Vielmehr gibt es nur Abertausende von ganz bestimmten Blumen, die vorstellbar sind. Das normale Denken basiert auf der Verwendung von Begriffen, um Vorstellungen zu bilden. Dabei nehmen wir den „flüssigen Bestandteil“ des Denkens, die Begriffe, jedoch meist nicht wahr, weil wir es gewöhnt sind bei den sinnlichen Inhalten unserer Vorstellungen Halt zu machen.
==== 3. Luftig – plötzliche Einfälle ====
Das luftige Element hat eine vollkommen andere Dynamik, benützt aber das „Material“, das uns zur Verfügung steht: die Begriffe und Vorstellungen. Obwohl die Wesensglieder über Zeit und Raum hinausgehen, können sie nur auf das zugreifen, was in Zeit und Raum vorhanden ist.  Es handelt sich um das luftige Element des Denkens, wenn plötzlich eine ''„gute Idee“'' aufblitzt'','' man einen ''Einfall'' hat, der wie ein Windhauch ankommt und auch rasch wieder verschwinden kann. ''„Der Geist weht, wo er will“'''[1]''''', heißt es im Evangelium.
Das Luftige ist sehr individuell in seinem Auftreten: Es gibt Menschen, die ihr Leben lang keine gute Idee haben. Ich kenne andererseits Menschen, die zu Veranstaltungen oder gesellschaftlichen Anlässen eingeladen werden, nur weil sie so viele gute Einfälle haben. Zwei oder drei von ihnen an einem Ort zu versammeln, kann sehr inspirierend sein.
Meine Erfahrung mit Einfällen ist, dass ich sie allzu schnell vergesse. Ein guter Einfall erfüllt mich so sehr, dass ich immer denke, ich müsste ihn nicht aufschreiben, weil er so wunderbar ist, dass ich ihn niemals mehr vergessen werde. Im nächsten Moment habe ich ihn jedoch vergessen. Das ist die luftige Dynamik: Etwas kommt und geht, rein und raus. Es verflüchtigt sich, auch wenn es noch so konzentriert wirkt.
Zur Unterscheidung von einer Intuition:
Eine ''Intuition'' kann zwar auch in Form von Gedanken- oder Erinnerungsbildern auftreten oder auch als plötzliche Vorstellung, ist aber grundsätzlich etwas anderes als ein Einfall. Jemand, der vorhat sich umzubringen, tut es wahrscheinlich nicht, wenn im letzten Moment das Bild eines geliebten Menschen auftaucht. Plötzlich tritt etwas aus unserem gesamten Gedankenpool, aus dem, was man sich bereits angeeignet hat, vor das innere Auge. Eine Intuition kommt nicht von außen herein, sie bildet sich aus dem, was man bereits hat. Sie hat deshalb eine andere Qualität als ein Einfall, der aus dem ''ohne Willensbeeinflussung'' stattfindenden freien Gedankenfluss auftaucht. Auf Intuitionen kann man sich willentlich vorbereiten – die Intuition ist deshalb der Willensaspekt des Denkens.
==== 4. Wärme – Ideale ====
Wärme im Denken hat mit ''Idealen'' zu tun. Unabhängig davon, welche Ideale man hat, ihnen allen gemeinsam ist die Wärmequalität, die das ganze Seelen- und Geistesleben erwärmt und an­regt. Ideale sind Gedanken, deren Sinn paradoxerweise nicht mehr im Bereich des Denkens selbst liegt, sondern in dem Willen, sie zu realisieren. Nur dadurch werden es tatsächlich Ideale. Daher kann man an ihnen die spirituelle Natur des Denkens am besten erkennen. Denn der Mensch wird zu dem, wonach er idealistisch strebt. Er verwandelt sich und seine Umwelt vermöge seiner Ideale. Sie – obgleich oberflächlich gesehen „nur" Gedanken – erweisen sich als das Leben und die Arbeit beherrschende geistige Kräfte.
Man braucht nicht viele Ideale: Wenn man nur ein oder zwei Ideale im Leben hat, werfen sie Licht und Wärme auf das ganze Leben, so wie Licht und Wärme ein Zentrum haben, von dem sie ausstrahlen.
Alle Gedanken, so intelligent sie auch sein mögen, setzen sich aus diesen vier Elementen zusammen.
=== ''Zeitliche Dimension der vier Denkarten'' ===
Zeitlich gesehen können Vorstellungen veralten. Was heute sichtbar und damit vorstellbar war, kann morgen schon verschwinden oder als Irrtum erkannt sein. Hingegen können Begriffe nicht veralten. Sie machen vielmehr die gedankenschöpferische Tätigkeit in der Gegenwart aus, in der immer wieder eine neue begriffliche Verarbeitung des Wahrgenommenen und Vorgestellten stattfindet.
Neues, Zukünftiges, Werdendes hingegen kommt erst durch Ideen und Ideale in das Denken herein. Das Gedankenleben umfasst und integriert somit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es entspricht der Zeitstruktur lebendiger Wesen. Denn ihre Art zu werden und zu vergehen, zu sterben und geboren zu werden, macht das Fundament der Lebensgesetzlichkeit aus.
''Vgl. Ausführungen in einer Arbeitsgruppe an der JK Sept. 2007''
----[1] Neues Testament, Joh. 3, 8: ''„Der Wind weht wo er will. Du hörst sein Sausen, weißt aber nicht woher er kommt und wohin er geht. So ist jeder, der aus dem Geist geboren ist.“''
== BILDERDENKEN, DIALEKTISCHES UND IDEALISTISCHES DENKEN ==
''Welchen Kräften verdanken wir die verschiedenen Arten zu denken?''
''Inwiefern sind unsere Wesensglieder daran beteiligt?''
=== ''Denken dank Metamorphose der Wesensglieder'' ===
Die Wesensglieder sind einerseits an der Leib- bzw. Organbildung und andererseits, wenn sie leibfrei geworden sind, an der Bildung seelisch-geistiger Organe bzw. Kompetenzen beteiligt. Die Metamorphose der Formkräfte des Ätherleibes, die auch Gestaltungs- bzw. Bildekräfte genannt werden, der differenzierenden Kräfte des Astralleibes und der Integrationskräfte der Ich-Organisation stellt im Zuge der Entwicklung einen kontinuierlichen Prozess dar. Spannend ist, dass die Art des Wirkens der Wesensglieder auf körperlicher Ebene sich auf seelisch-geistiger Ebene deutlich erkennbar widerspiegelt.
==== '''·''' Bilderdenken durch freiwerdende Formkräfte ====
Dieser Zusammenhang wird für Eltern gut nachvollziehbar, wenn man sie darauf hinweist, dass nach der Formung des Leibes und der Organe ''im 1. Jahrsiebt'' die Kinder in Bildern, also Bildformen, denken.
==== '''·''' Dialektisches Denken durch freiwerdende Differenzierungskräfte ====
Entsprechend kommt das ''am Ende des 2. Jahrsiebts'' typische dialektische Denken dadurch zustande, dass die differenzierenden Kräfte nach der Ausreifung von Atmungs- und Kreislaufsystem im 15., maximal 16. Lebensjahr bzw. nach Erreichung der Geschlechtsreife leibfrei werden. Jetzt bildet sich die Fähigkeit aus, alles als Gegensätze sehen zu können. Der Hang zur Dialektik zeigt sich darin, dass der Erwachsene das eine sagt und der Heranwachsende das andere.
==== '''·''' Idealistisches Denken durch freiwerdende Integrationskräfte ====
Diesem Reifungsschritt folgt das idealistische Denken, das dem leibfrei Werden der integrierenden Kräfte aus Stoffwechsel-Gliedmaßen-System ''im 3. Jahrsiebt'' zu verdanken ist: Der junge Mensch ist jetzt in der Lage, eigenständig zu denken, sprich: geistig auf eigenen Füßen zu stehen, weil die entsprechenden Kräfte aus seinem fertig ausgebildeten Gliedmaßensystem leibfrei geworden sind. Die Kräfte, die der Brennwärme des Stoffwechsels entspringen, werden jetzt zur Brennwärme des Idealismus.
Und so kann man für die Funktion jedes physischen Organs die entsprechende Funktion im Seelisch-Geistigen finden und so den Zusammenhang mit den Wesensgliedern erkennen, wie sie jeweils leibbildend, seelenbildend und geisttragend wirken.
''Vgl. Vortrag über Wesensglieder auf der Schulärztetagung 2016''
== ZEITLICH-ÜBERZEITLICHES DENKVERMÖGEN ==
''Inwiefern ist das Denken der Zeit unterworfen?''
''Was macht die überzeitliche Qualität des Denkens aus?''
=== ''Denken als Gestalter der Zeit'' ===
Denken verläuft in der Zeit, hat aber gleichzeitig aufgrund seiner Natur einen überzeitlichen Aspekt, den man auch als das Ewige im Menschen bezeichnen kann.
==== '''·''' Nachdenken und Vergangenheit ====
Wenn wir von Denken sprechen, gibt es zunächst die Mög­lichkeit des Nachdenkens. Man denkt mit oder nach, über was man selbst oder ein ande­rer bereits gedacht hat. Das gilt auch für das gesamte Wissen über die Natur. Denn die Natur ist bereits da. Wir finden sie vor und benützen unser Den­ken dazu, sie zu verstehen, darüber ''nachzudenken'', wie sie zu dem geworden ist, was wir sehen können, welche Gesetzmäßigkeiten in ihr wirken und wie sich das Vorhandene aufgrund dieser Gesetzmäßig­keiten weiterentwickeln lässt.
==== '''·''' Vorausdenken und Zukunft ====
Mit der Frage nach der Weiterent­wicklung stoßen wir schon an die Grenze zum ''Vorausdenken''. Durch Vorausdenken können wir nicht nur in Fortset­zung des Nachdenkens Vorstellungen im Sinne einer Konsequenz für die Zukunft entwickeln, sondern wir können ganz neu und schöpferisch vorausdenken. Eine Mutter kann z.B. morgens bei der Hausarbeit plötzlich einen Einfall haben, wo die Familie im Som­mer in den Ferien hinfahren könnte. Sie erkundigt sich hinsichtlich der Mög­lichkeiten und kann so im Februar die Voraussetzungen für einen Sommerurlaub schaffen, der sich erst im August verwirklichen soll und der nur durch Vorausdenken zustande gekommen ist.
===== ''Denkrichtung und Lebensalter'' =====
Tendenziell ist es so, dass ältere Menschen mehr im Nachdenken leben, wogegen Jugendliche mit ihrem stark von Wün­schen getragenen Bewusstsein in der Zukunft zu Hause sind. In der Mitte des Lebens ist das Interesse an Vergangenheit und Zukunft oft gleich groß. Das menschliche Denken umfasst also nicht nur das geistig Wirksame bzw. Gesetzmäßige in der unbelebten, belebten und beseelten Na­tur, sondern es erweist sich auch als Gestalter und Meister der Zeit
* im ''Nachdenken'' über das, was in fernster Vergangenheit einmal ange­fangen hat
* und im ''Vorausdenken'', was in späterer Zukunft vielleicht ein­mal kommen kann.
Beides ist als Möglichkeit im Denken veranlagt, das gewaltige Zeiträume umspannen und in die Gegenwart hereinholen kann, um angemessene Entscheidungen in der Gegenwart treffen zu können.
==== '''·''' Meditation und ewiges Jetzt ====
In seiner überzeitlichen Dimension zeigt sich das Denken, wenn man begreift, dass das Gedankenleben und das Körperleben beide den ätherischen Kräften zu verdanken sind, die, wenn sie leibfrei werden unser Denken ermöglichen. Sie sind Grundlage jeglicher geistigen Tätigkeit und somit das Ewige im Menschen, wie Steiner es nannte. In der Meditation über Begriffe und Ideale, aber auch über die Natur des Denkens gehen wir bewusst mit dieser Qualität um.
''Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart''
== WAHRHEIT ALS GRUNDLAGE FÜR KÖRPERAUFBAU UND DENKEN ==
''Inwiefern liegt Wahrheit unserem Denken und unserer Leiblichkeit zugrunde?''
=== ''Wahres denken – aus Liebe handeln'' ===
Es gibt nichts in der Welt, worüber wir nicht nachdenken könnten. Die Welt, wie sie ist, kann in allen Einzelheiten bedacht und nach und nach verstanden werden. Dabei kann uns auf bestürzende Weise bewusstwerden, dass unser Denken bzw. unser Denkvermögen an sich auch „wahr“ ist, da es der Träger aller Gedanken und Gesetzmäßigkeiten ist, denen die Einzelheiten der Sinneswelt entsprechen. Dennoch ist das bloß Gedachte für uns noch nicht wahr, solange wir nicht aktiv die Beziehung zur Sinneswirklichkeit oder zu dem, worauf das Denken sich bezieht, hergestellt haben. Gelingt es, eine Übereinstimmung zwischen Gedanken und Wirklichkeit herzustellen, können wir die betreffende Wahrheit nicht nur denken, sondern auch empfinden und, wo möglich, realisieren. Es ist eine große Illusion zu meinen, es wäre schon genug, eine Wahrheit nur zu denken.
Gesellt sich zu dem, was als wahr erkannt wurde, nicht die Liebe zur Wahrheit, ist man nicht in der Lage, mit ihr im Leben und damit in der Welt des Handelns – also auf dem Boden der Wirklichkeit – so umzugehen, wie es dem Wesen der erkannten Wahrheit entspricht. Wie verletzend kann eine lieblos ausgesprochene Wahrheit für unsere Mitmenschen sein! Sie kann Kränkung bedeuten für das ganze Leben. Wird sie hingegen im rechten Augenblick und mit dem gebotenen Taktgefühl ausgesprochen, kann sie helfen, dass der andere seine Beziehung – zur Arbeit oder zu einem Menschen – neugestalten kann. Geht man mit der Wahrheit nicht in heilsamer, gesunder Weise um, wird man ihr nicht gerecht. Man läuft dann Gefahr, sie zu missbrauchen und in den Dienst persönlicher Neigungen zu stellen, indem man z.B. jemanden kritisiert, ohne sich zu vergegenwärtigen, was man damit bewirkt.
=== ''Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gesundheit'' ===
Rudolf Steiner hat deshalb im pädagogischen Zusammenhang immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Begriffe „wahr“ und „falsch“ heute ersetzt werden müssen durch „gesund“ und „krank“. So wie Irrtum und Lüge Behinderung und Unordnung bedeuten, so ist Wahrheit gleichbedeutend mit Einklang, Zusammenhang, Beziehung, Integration und Gesundheit.
Der Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gesundheit – und damit auch zwischen dem Denken und dem menschlichen Organismus – geht jedoch noch tiefer. In seinem gemeinsam mit der Ärztin Dr. med. Ita Wegman verfassten Buch ''„Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“'''[1]''''' führt Rudolf Steiner aus, dass das Denken dem Kraftsystem entspringt, nach dessen Gesetzen der menschliche Organismus aufgebaut ist. Nach Vollendung des Aufbaus wird ein Großteil dieser Kräfte aus dem Körper entlassen für das freie Gedankenspiel. Im Körper werden nur die Kräfte belassen, die zur lebenslangen Regeneration und Selbstheilungstätigkeit nötig sind.[2]
=== S''chöpferisches Potential des Denkens'' ===
Die Denktätigkeit des Menschen nicht nur als schattenhafte Reflexion anzusehen, sondern als schaffende Bildekraft der Evolution, ändert schlagartig unser Verhältnis zu dieser Welt. Eine neue Dimension der Verantwortlichkeit tut sich auf, wenn uns bewusstwird, dass die Kräfte und Gesetze, die der Schöpfung zugrunde liegen, in Form des menschlichen Denkens auch uns in die Hand gegeben wurden. Durch unsere geistigen Möglichkeiten geht die Schöpfung weiter. Wir gestalten sie verantwortlich mit, indem wir Gedanken in Wirklichkeit umsetzen.
So wie am menschlichen Organismus alle Naturgesetze in irgendeiner Form mitwirken und nahezu alle Stoffe, die auf der Erde vorkommen – zumindest in Spuren – an seinem Aufbau beteiligt sind, so finden wir auf der Gedankenebene dieses weltumspannende Zusammenspiel von Gesetzmäßigkeiten entsprechend wieder.
=== ''Leiblichkeit, Kunst und Religion'' ===
Wir finden die Gesetze, die den verschiedenen künstlerischen Disziplinen zugrunde liegen, aber auch im Aufbau des Leibes wieder: Unserem Leib liegt Architektur zugrunde, er ist eine Plastik, folgt einer Komposition, hat Farbe, einen mimischen Ausdruck, „Körpersprache“ und kann sich in Tanz und Eurythmie bewegen. All diese Gesetzmäßigkeiten tragen wir selbstverständlich auch in unserem Denken, wodurch Kunsterkenntnis und Kunstverstehen überhaupt erst möglich sind.
Unser Leib ist aber auch nach moralisch-religiösen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut, was mit dem Wort aus dem Alten Testament angedeutet wird: ''„Gott schuf den Menschen nach seinem Bild.“'' Wir können das Studium der Bildnatur des Leibes als Weg zur Gotteserkenntnis entdecken.[3] Wer den menschlichen Leib als Bild zu sich sprechen lässt, begegnet der Göttlichkeit des Menschen – dem reinsten Ideal der Menschlichkeit, das sich in Bau und Funktion des menschlichen Körpers ein physisches Abbild geschaffen hat: Die Menschengestalt hat den Kopf im wahrsten Sinne des Wortes oben und alle anderen Bereiche, auch Herz und Hand sowie die inneren Organe, die Fortpflanzungsorgane, die Beine und Füße sind diesem Kopf sichtbar untergeordnet bzw. unterstellt. Wohin die Füße den Menschen tragen, wie er mit seinen Fortpflanzungskräften umgeht, was er sich von seinem Herzen sagen lässt, all das bedarf der klärenden und ordnenden „Weisung von oben“.
=== ''Denken als Orientierungshilfe'' ===
Wer nur seinem Herzen folgt oder seinen sexuellen Neigungen oder sich vom Leben hierhin und dorthin treiben lässt, widerspricht durch sein Handeln der Bildnatur seines Leibes, die davon spricht, dass das Erkenntnisleben, das Denken, dem Herzen, der Hand und dem Fuß Perspektive und Orientierung geben muss. Die Hand des Menschen ist so geformt, dass man ihr nicht ansehen kann, ob sie im nächsten Augenblick streicheln oder schlagen wird. Die Motive für den Gebrauch der Hand können nur gedanklich gefasst und klar erkannt werden.
Das Bild des menschlichen Körpers zeigt, dass darin ein Wesen lebt, das veranlagt ist, seinen Weg zu gehen, selbst die Wahrheit zu suchen und im Denken seine Orientierung, sein inneres bewusstes Lebenselement zu finden. Das macht deutlich, nach welchem Gottesbild der menschliche Körper geformt ist: nach der Christuswesenheit, die von sich sagt: ''„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“'''[4]''','' und die durch ihre Inkarnation in einem menschlichen Leib diesen als Gottes Ebenbild in der Realität mit der Anwesenheit Gottes erfüllt hat. Damit ist das Zukunftsziel des Menschen für uns real geworden und kann nun als mögliche Wirklichkeit für unsere Selbstverwirklichung gesucht werden. Auf diesem Wege sind Lüge und Irrtum weckende Begleiter.
''Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 4. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997''
----[1] Rudolf Steiner/Ita Wegman: ''Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst'', 1925, neueste Aufl. 2000, S. 12 f.
[2] Nähere Ausführungen hierzu in: Michaela Glöckler, ''Elternsprechstunde'', 8. Aufl. Stuttgart 2008; Glöckler, M.: ''Elternfragen heute''. 2. Aufl. Stuttgart 1995.
[3] Vgl. Michaela Glöckler, ''Elternfragen heute'', 2. Aufl. Stuttgart 1995, S. 121 ff.
[4] Neues Testament, ''Johannes 14, 6.''
== DENKEN ALS BRÜCKE ZWISCHEN DER SINNESWELT UND DER WELT DES GEISTIGEN ==
''Inwiefern kann das Denken die Kluft zwischen der Sinneswelt und dem Geistigen überbrücken?''
=== ''Die Kraft gerichteter Aufmerksamkeit'' ===
''John Eccles'' hat in seinem Buch ''„Wie das Selbst sein Gehirn steuert“'''[1]''''' herausgearbeitet, in wie hohem Maß durch die Kraft der gerichteten Aufmerksamkeit, die das Ich den Dingen und Vorgängen mithilfe des bewussten Denkens zuwendet, das Gehirn erst zu seinen Leistungen angeregt wird. Die lebenslange Plastizität des menschlichen Gehirns, das heißt die Möglichkeit, das Gehirn in seinen Feinstrukturen bis ins höchste Alter verändern zu können und immer wieder neue Vernetzungsstrukturen zu veranlagen und zu benützen, ist eine Folge dieser nur beim Menschen vorhandenen Denkfähigkeit und der vom Denken gelenkten und kontrollierten Lernprozesse und Handlungsabläufe.
Dem menschlichen Denken sind alle Gesetzmäßigkeiten zugänglich, die den Dingen, der Natur und den Naturwesen, aber auch der vom Menschen geschaffenen Technik zugrunde liegen. Z.B. zeigt sich das Gesetz des freien Falls an jedem Körper, der fällt – es beherrscht ihn, ist in ihm „drin“, an ihm wirksam. Der Mensch kann dieses Gesetz denken, auch wenn es gerade bei ihm nicht wirksam bzw. in Aktion ist. Denn in der menschlichen Denkfähigkeit ist die gesamte Weisheit der Natur enthalten, die Gesetze, nach denen Minerale sich bilden und zerfallen, nach denen Erde und Kosmos verbunden sind, nach denen sich die Verinnerlichung äußerer Eindrücke vollzieht. All das kann man sich durch bewusste Seelentätigkeit zugänglich machen.
=== ''Schöpferisch durch außerkörperliche Kompetenz'' ===
Der Mensch kann diese Weisheit in abstrakter, das heißt von dem „Drin-Sein“ in den Naturvorgängen befreiter Form als Denken betätigen. Die außerkörperlich wirksame Natur des Denkens gibt uns die Möglichkeit, in freier Weise die sonst zwingend wirksamen Naturgesetze zu handhaben, spielerisch mit ihnen umzugehen, sie auch neu zu kombinieren und damit originell und schöpferisch tätig zu sein. Ja, mehr noch: Sie ermöglicht dem Menschen ein selbstbewusstes, rein geistiges Leben, die Erfahrung, ein selbstbestimmt lebender „freier Geist“ zu sein.
So gesehen erweist sich das Denken tatsächlich als Brücke „über den Strom“, der rein Geistiges von natürlichen, den Sinnen wahrnehmbaren Dingen trennt. Denn die allem materiellen Dasein innewohnende Gesetzmäßigkeit kann im menschlichen Denken durch rein geistige Tätigkeit als Gesetz erkannt werden. Über das Denken, das Geistesleben des Menschen, haben wir Zugang zu der die Materie beherrschenden Weisheit. So ist es berechtigt, das Wort „Geist“ im engeren Sinne für den von der Wirksamkeit in den Naturerscheinungen losgelösten Menschengeist zu benutzen. Es ist aber auch gerechtfertigt, im weiteren Sinne vom Geist in der Natur zu sprechen.
=== ''Denken als übersinnliche geistige Realität begreifen'' ===
Damit ist der Weg frei, im Denken eine übersinnliche – eben nur dem Denken selbst zugängliche – geistige Realität zu sehen. Gedanken als Bilder, Imaginationen, und geistige Gesetze sind Zugänge zu übersinnlichen Wesen und Vorgängen, die sich im Denken ebenso darstellen lassen wie Sinnlich-Gegebenes.
Wird uns im Nachdenken über das Denken bewusst, dass wir im Denken die sinnliche Welt verlassen können und von zwei Seiten her Botschaften empfangen – von der sinnlichen und von der geistig wesenhaften Seite, so erleben wir die Denktätigkeit als Brücke zwischen den zwei Welten. Das Denkvermögen selbst ist übersinnlicher Natur, durchdringt und versteht aber auch die Naturgesetze und damit alles sinnlich gegebene Dasein. Wird das Denken in seiner geistigen Natur erlebt, können auch meditative Wege beschritten werden, auf denen es möglich wird, das dem Denken innewohnende rein Geistig-Wesenhafte zu erfassen.
Der Gedanke des Ich kann hierbei richtungweisend sein. Denn bei ihm erleben wir genau, wie „dünn“ zunächst der bloße Gedanke des Ich ist gegenüber unserer komplexen sinnlichen Körpererfahrung. Durch Schulung unserer Aufmerksamkeit und unseres Denkvermögens können wir jedoch lernen, dessen leibfreie Natur zu erkennen und bewusst weiterzuentwickeln. Im Gedanken des Ich können wir die körperlose spirituelle Kompetenz unseres Wesens ebenso erfahren und verstehen lernen wie unsere naturgegebene körperliche Konstitution.
''Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 3. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004''
----[1] John Eccles, ''Wie das Selbst sein Gehirn steuert'', München 1996.
== FRAGEN ZUM THEMA EINFLUSS DES DENKENS AUF DIE GESUNDHEIT ==
'''FRAGE:''' ''Wie kommt es, dass man gerade heute so viele müde und verhärmte alte Menschen trifft, wo es doch eigentlich mit der geisti­gen Kraft aufwärts gehen sollte?''
'''ANTWORT:''' Ich möchte diese Frage am Beispiel einer Patientin er­läutern, bei der ich besonders gut wahrnehmen konnte, wie schwer ihr das Altwerden gefallen ist, nachdem sie das 75. Lebensjahr überschritten hatte. Sie war ein geistig sehr aktiver Mensch und verfiel dennoch in den letzten Le­bensjahren zunehmend in eine gewisse geistige Starre, die es ihr erschwerte, mit anderen Menschen Kontakte zu pflegen. Sie wurde ängstlich und argwöhnisch, und man sah, wie die Verhärtungs- und Sklerotisierungsprozesse des Alters so überhandnah­men, dass sie ihr bewusstes Gedankenleben stark beeinflussten
Sie hatte als junges Mädchen die Anthroposophie kennengelernt und seither unablässig an ihrer inneren Entwicklung gearbeitet und führte äußerlich ein erfolgreiches und tüchtiges Berufsleben. Ihr Mann war früh verstorben, sie war ganz auf sich angewiesen. In ihrer frühen Kindheit hatte sie sehr unter einem extrem strengen Vater zu leiden gehabt und war in der Situation, als ältestes von jüngeren Geschwistern viel zu Hause helfen und bis in die Nacht hinein arbeiten zu müssen.
Sie ist für mich ein typisches Beispiel dafür, wie gerade in der frühen Kindheit, in der das Nervensystem sich aufbaut, Schäden veranlagt werden können, die sich dann in stärkeren Abbauerscheinungen im späteren Alter widerspiegeln. Aufgrund ihrer erschwerten Kindheits- und Jugendentwicklung wären Erkrankungen im Alter schon früher zu erwarten gewesen. Durch ihr sehr aktives Innenleben jedoch war sie weitgehend in der Lage, diesen schwächenden Einflüssen entgegenzuwirken.
Hier liegt für mein Empfinden eine der wichtigsten Aufgaben einer zu­kunftsorientierten Erziehung, die nicht nur den Augenblickserfolg, sondern die ganze Biographie ins Auge fasst: durch die Pflege der Wachstumskräfte in der Kindheit solchen Alterungsvorgängen vor­zubeugen. Der Grund, warum es so viele Menschen gibt, die im Alter in bedauerliche Lebensumstände geraten, liegt zum einen in den unzureichenden Entwicklungs- und Erziehungsbedin­gungen unserer Zeit. Zum anderen ist die mangelhaften Aktivierung der seelisch-geistigen schöpferischen Kräfte daran schuld, die in einer durch den Materialismus geprägten Kultur zu wenig angesprochen und gepflegt werden.
'''FRAGE:''' ''Welche Möglichkeiten gibt es im späteren Leben, den durch zu frühes intellektuelles Trai­ning zu erwartenden Schäden vorzubeugen, indem Wachstumskräfte in der Kindheit übermäßig in Denkkräfte umgewandelt wurden?''
'''ANTWORT:''' Korrekturmöglichkeiten liegen immer in den Lernthemen, die für ein bestimmtes Lebensalter an der Reihe sind. Ist ein achtjähriges Kind z.B. durch überhöhten Fernsehkonsum motorisch ungeschickt, neigt zu Stereotypie in seinen Bewegungen, wiederholt ständig bestimmte Formulierungen und ist unfähig sich länger zu konzentrieren, so hat es keinen Sinn, mit einem solchen Kind die versäumte Kinderentwicklung einfach nur nachholen zu wollen.
Achtjährige brauchen Spaziergänge in der Natur, Bewegungsspiele im Freien, einfache Rätsel, Lernen von Gedichten, die immer wieder neu sprachlich geübt und erarbeitet werden, Zeichnen von einfachen Formen mit der Hand, mit dem Fuß, mit immer anderen Farben, das Malen von Bildern zu gehörten Geschichten, einfache musikalische Übungen an einem Instrument und in Form von Singen. All das sind altersent­sprechende Lernfelder, die fordert das Kind in seiner Lerndisposition herausfordern und gleichzeitig eine Beziehung zwischen Lehrer und Kind aufbauen helfen. Erst auf dieser Grundlage kann manches aus der Kleinkindentwicklung altersgemäß angepasst nachgeholt werden.
Im Erwachsenenalter lässt sich durch Arbeit an sich selbst auch noch manches nachholen. Denn jedes Alter hat seine altersspezifische Lerndisposition, weshalb wir lebenslang die Möglichkeit haben, Versäumtes bis zu einem gewissen Grad nach­zuholen, indem wir eigenaktiv seelisch-geistig heilsam auf den Leib einwirken.
'''FRAGE:'''  ''Gibt es auch eine intellektuelle Unterforderung in der Kindheit?''
'''ANTWORT:''' Es gibt natürlich auch das Problem der Unterforde­rung. Wenn Wachstumskräfte brachliegen und nicht alters­entsprechend angespannt und genützt werden, so werden dadurch möglicherweise Schädigungen für das spätere Leben veranlagt. Wachstumskräfte, die vom Organismus nicht mehr gebraucht werden und nicht rechtzeitig in Gedankenprozesse übergeführt werden, verbleiben tendenziell beim Organismus und können hier zu Krankheitsdispositionen führen, wie es Rudolf Steiner verschiedentlich beschrieben hat. Durch den Krankheitsprozess betätigen sich diese Kräfte wiederum organisch, an­statt in Gedankenkräfte umgewandelt zu werden. An­stelle geistiger Neuschöpfungen durch Gedankenarbeit entsteht jetzt eine Geschwulst. Auch hier hilft die künstlerische Tätigkeit im späte­ren Leben, solche Schäden wieder auszugleichen. Denn im künstleri­schen Schaffen werden die schöpferischen Kräfte ergriffen und die Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedankenkräfte wird stimuliert.
An den öffentlichen Schulen kommt es zudem häufig zu einer Unterfor­derung anderer Art. Intellektuell sind die Kinder zwar eher überfordert, im künstlerischen Bereich sind sie jedoch fast alle unterfordert. Dies verhindert ebenfalls, dass sich alle Wachstumskräfte in Gedankenkräfte umwandeln können. Denn in der einseitigen intellektuellen Inanspruchnahme werden nur be­stimmte Wachstumskräfte in Gedankenkräfte verwandelt und zum Denken benützt. Diejenigen Denkkräfte aber, die mit dem Phantasieleben und den schöpferischen Gestaltungsmöglichkeiten zusammenhängen, werden brachliegen gelassen.
Würde man auf diesem Felde gewissenhafte Studien durchführen, würden die Ergebnisse nahelegen, dass unsere Erziehungs- und Bildungssysteme grundlegender Veränderungen bedürfen, wenn wir als Menschheit auch im vorgerückten Alter schöpferisch und gesund bleiben wollen. Hierzu möchte die Waldorfpädagogik einen Beitrag leisten.
''Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart''

Aktuelle Version vom 25. März 2025, 20:37 Uhr

Denken – von Michaela Glöckler

Auszüge aus Büchern und Vorträgen von Michaela Glöckler; Erstveröffentlichung auf https://www.anthroposophie-lebensnah.de/home/

ENTWICKLUNG DER ORGANSYSTEME UND DENKEN

In welchem Zusammenhang stehen Organentwicklung und Denkentwicklung?

Übereinstimmung zwischen Organen und Denken

Mit Blick auf die kindliche Entwicklung ist es interessant zu sehen, wie in den Jahren zwischen Geburt und Mündigkeit im Zuge der kindlichen Entwicklung ein Organsystem nach dem anderen heranreift. Dabei herrscht eine wundervolle Übereinstimmung zwischen diesen Organsystemen und dem sich entsprechend entwickelnden denkenden Bewusstsein.

· Nervensinnessystem – 1. Jahrsiebt

Das erste Organsystem, das bereits in den ersten neun Lebensjahren seine Grundausreifung und damit nahezu seine Erwachsenenfunktion erreicht, ist das Nervensystem mit den Sinnesorganen, wobei letztere am frühesten voll funktionstüchtig werden. Die das Nervensystem und die Sinnesorgane aufbauenden Kräfte werden entsprechend als erste frei für die denkende Tätigkeit. Daher hat das kindliche Denken einen stark bildlichen Charakter. Alles, was die Sinne erleben, wird lebhaft vorgestellt und phantasiereich ausgestaltet. Das phantasievolle Übersprudeln des beginnenden kindlichen Denkens hängt mit den Wachstumsten­denzen zusammen, die den kindlichen Organismus bestimmen. Diese Periode endet etwa mit dem 9., 10. Lebensjahr. Dann haben die Kinder ihr bildhaftes, an den Sin­neserfahrungen orientiertes Denken zur vollen Reife gebracht und verfügen jetzt meist auch über eine ausgezeichnete Merkfähigkeit.

Das ent­spricht der ausdifferenzierten Organstruktur der Sinnes- und Nervenorgane, in denen ab diesem Stadium kein Wachstum mehr, sondern nur noch Regeneration geschieht. Es finden keine weiteren Zell­teilungen mehr statt, jegliche Wachstumstätigkeit hat auf­gehört. Das regenerierende Bewahren der bis dahin ausgebildeten Form steht ab da im Vor­dergrund. Das gibt auch dem kindlichen Denken dieses Alters den Charakter. Was Mutter oder Vater bzw. der Lehrer gesagt haben, hat Gültigkeit und wird vom Kind zunächst so festge­halten und bewahrt.

· Herzkreislauf-System und Atmung – 2. Jahrsiebt

Zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr steht das Heranreifen von Herz-Kreislaufsystem und Atmung im Vordergrund. Diese erlangen jetzt ihre Funktionsreife und damit auch die für das Erwachsenenleben typische Frequenz ihrer Rhythmen: etwa 20 Atemzüge und 80 Pulsschläge pro Minute in Ruhelage. Diese Or­gane brauchen bis zum 16. Lebensjahr, um annähernd ihre Erwachsenenfunktion zu erreichen. Daher ist es sportmedizinisch nicht zu vertreten, Ju­gendliche vor dem 16. Lebensjahr hart für den Leistungssport trai­nieren zu lassen. Da diese Organsysteme vor diesem Zeitpunkt noch nicht genügend herangereift und stabilisiert sind, können Schäden am Herzen und am Bewe­gungsapparat entstehen, die das ganze folgende Leben be­lasten können.

Entsprechend der Entwicklung dieser rhythmisch tätigen Or­gane zeigt sich in diesen Jahren auch eine neue Qualität im Denken des Heranwachsenden: eine zunehmende Fähigkeit zur selbständigen Urteilsbildung. Nicht neue Gedanken sind hier das Entscheidende – der Bildgehalt des Denkens ist ja bereits entwickelt. Er kann zwar noch bereichert werden, das würde aber keine neue Qualität im Denken bewirken. Das Neue hängt vielmehr mit einer an­deren Art des Umgangs mit den vorhandenen Gedanken zusam­men, so wie dies bei der urteilenden Tätigkeit der Fall ist. Die Urteilsfähigkeit stellt eine neue Möglichkeit dar, Gedanken zu bewegen und gegeneinander abzuwägen.

Diese Tätigkeit des Abwägens entspricht dem Ein- und Ausatmen, dem rhythmischen Aufnehmen und Abgeben, in­dem man zunächst den einen Gedanken aufnimmt und prüft und ihn dann wieder vor sich hinstellt und dann dasselbe mit einem an­deren tut. So wird im Abwägen zwischen unterschiedlichen Gedanken ein Urteil gebildet.

Wer Kinder dieses Alters beobachtet, wird auch bemerken, dass es sich bei dieser erwachenden Urteilsfähigkeit nicht um ein abstraktes Ur­teilsvermögen handelt, sondern in erster Linie um ästhetische Ur­teile: ob etwas schön oder hässlich, gut oder böse, gemein oder nicht gemein ist, ob Kinder in der Schule „doof“ oder „nett“ sind, ob die Lehrer etwas taugen oder nicht. Das ist das Feld, auf dem intensiv geurteilt wird. Das Mitschwingen von Gefühlen beim Bilden ästheti­scher Urteile hängt mit dem Zusammenspiel mit Atmung und Kreis­lauf zusammen. Auch noch im Erwachsenenalter wirkt sich jede Gefühlsregung unmittelbar auf Atemtiefe und -frequenz oder auch auf die Blutzirkulation aus, indem wir erröten oder erblassen.

· Gliedmaßen- und Stoffwechselsystem – 3. Jahrsiebt

Nach der Pubertät reifen die Gliedmaßen aus, die ihre endgültige Größe zwischen dem 18. und 22. Jahr erlangen, und mit ihnen auch der gesamte innere Stoffwechsel. In dieser Zeit werden die hormonelle Regulationsfähigkeit sowie die volle Funktionstüchtigkeit der Reproduktionsorgane erworben. Blickt man auf das sich jetzt auch weiterentwickelnde Denkvermögen des Jugendlichen, so fallen einem sofort zwei ganz neue Qualitäten ins Auge:

Auf der einen Seite der starke Wille, im Denken eine eigene Meinung zu bilden. Diese selbst erarbeitete Meinung oder Lebensansicht wird von dem Jugendlichen als neugewonnene innere Stabilität erlebt – wie ein seelisch-geistiges Rückgrat. Die Fähigkeit zur eigenen Wahrheitssuche und die Festigkeit und Sicherheit, die durch selbsterarbeitete Wahrheiten entsteht, gibt dem Gedankenleben gleichsam eine Art inneres Skelett.

Auf der anderen Seite erleben wir beim Jugendlichen den erwa­chenden Idealismus, die Fähigkeit, sich für dieses oder jenes im wahrsten Sinne des Wortes zu erwärmen und zu begeistern. Es wird erlebbar, wie die Kräfte, die die Stoffwechselorgane gebildet haben, nun für das Denken mehr und mehr zur Verfügung stehen und hier nun ebenfalls die Brennwärme liefern.

Damit verbunden keimt etwas im menschlichen Denken auf, was man mit individueller Verantwortungs- und Entschlussfähigkeit bezeichnen kann.

Daher sollten Jugendliche erst dann für mündig erklären werden, wenn sie ausgewachsen sind, was im Durchschnitt mit dem 21. Le­bensjahr der Fall ist. Erst wenn in seinem Denken die volle Kraft der Persönlichkeit wirksam ist, kann ein junger Mensch die volle Verant­wortung für sein Handeln übernehmen. Und das ist eben erst mit dem Ausgewachsen-Sein des ganzen Organismus der Fall und nicht schon mit der Reifung des Nervensystems und der Sinnesorgane.

Gedanken entstammen dem ganzen Körper

An dieser Stelle sei gesagt, dass es eine irrige Vorstellung ist zu meinen, das Gehirn produziere Gedanken. Der ganze Organismus kann, wenn er seine Wachstumskräfte entlässt, gleichsam Gedan­ken „produzieren“ und weisheitsvolle Strukturen zur Verfügung stellen. Das Gehirn ist jedoch dasjenige Organ, an dem diese frei­werdenden Wachstumskräfte reflektiert und damit zum Bewusst­sein gebracht werden. Das Nervensystem dient demnach nur dem Bewusstwerden der Gedanken, nicht aber ihrer Produktion.

Es wäre reizvoll zu zeigen, wie viele Erfahrungen aus dem Bereich der Neurologie diese Ansicht unterstützen und sicherstellen wür­den, wenn man sie nur in Erwägung zöge. Auch die große Plastizi­tät und Übernahmefähigkeit der Großhirnrindenbezirke für neue Funktionen gehören in diesen Bereich und können dadurch ver­standen werden.

Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Glöckler, Michaela, Verlag Urachhaus, Stuttgart

DIE VIER QUALITÄTEN VON DENKEN UND LEBEN

Welche Gedankenqualitäten gibt es?

Wie kann man die Unterschiede erkennen und charakterisieren?

Natur der vier Denkarten

Es gibt nur vier Arten des „normalen“ Denkens – wenn wir den meditativen Bereich außenvorlassen, der außerdem die Imagination, die Inspiration und die Intuition umfasst. Alles, was wir denken, ist eine Kombination aus diesen vier Arten, genauso wie der Körper nur aus den unterschiedlichen Aggregatszuständen des Stofflichen, incl. der Wärme, zusammengesetzt ist. Ich möchte im Folgenden auf die Natur dieser vier Denkarten eingehen und darauf, welche „Form“ und „Substanz“ sie haben.

1. Fest – Gedanken über sinnlich Erfahrbares  

Allen Gedanken sinnlich-substantiellen Inhalts liegt eine Sinneserfahrung zugrunde. Es handelt sich dabei um feste Vorstellungen mit klar umrissenen Inhalten aus Sinnes- und Lebenserfahrung. Diese Sinneserfahrung ist „fest“, kann nicht verändert werden. Was man sieht, hört, riecht, wenn man sieht, wie jemand sich heute kleidet, wie die Frisur aussieht, hört wie die Stimme in einem bestimmten Moment klingt – all sind Wahrnehmungen. Wenn man es verändert, macht der Beobachter eine neue Wahrnehmung, die als solche unveränderlich ist. Der Sinneseindruck selbst kann nicht verändert werden.

2. Flüssig – abstrakte Begriffe

Dem flüssigen Element kommt man auf die Spur, wenn man sich auf Gedanken konzentriert, die nichts mit Sinneswahrnehmungen zu tun haben, auf Begriffe. Diese sind bildlos, als solche nicht „vorstellbar", obwohl man sich natürlich eine bildhafte Vorstellung von einem Begriff machen kann. Zum Beispiel ist der Begriff „Blume" nirgendwo als „die Blume schlechthin", als das „Prinzip Blume“ sichtbar. Vielmehr gibt es nur Abertausende von ganz bestimmten Blumen, die vorstellbar sind. Das normale Denken basiert auf der Verwendung von Begriffen, um Vorstellungen zu bilden. Dabei nehmen wir den „flüssigen Bestandteil“ des Denkens, die Begriffe, jedoch meist nicht wahr, weil wir es gewöhnt sind bei den sinnlichen Inhalten unserer Vorstellungen Halt zu machen.

3. Luftig – plötzliche Einfälle

Das luftige Element hat eine vollkommen andere Dynamik, benützt aber das „Material“, das uns zur Verfügung steht: die Begriffe und Vorstellungen. Obwohl die Wesensglieder über Zeit und Raum hinausgehen, können sie nur auf das zugreifen, was in Zeit und Raum vorhanden ist.  Es handelt sich um das luftige Element des Denkens, wenn plötzlich eine „gute Idee“ aufblitzt, man einen Einfall hat, der wie ein Windhauch ankommt und auch rasch wieder verschwinden kann. „Der Geist weht, wo er will“[1], heißt es im Evangelium.

Das Luftige ist sehr individuell in seinem Auftreten: Es gibt Menschen, die ihr Leben lang keine gute Idee haben. Ich kenne andererseits Menschen, die zu Veranstaltungen oder gesellschaftlichen Anlässen eingeladen werden, nur weil sie so viele gute Einfälle haben. Zwei oder drei von ihnen an einem Ort zu versammeln, kann sehr inspirierend sein.

Meine Erfahrung mit Einfällen ist, dass ich sie allzu schnell vergesse. Ein guter Einfall erfüllt mich so sehr, dass ich immer denke, ich müsste ihn nicht aufschreiben, weil er so wunderbar ist, dass ich ihn niemals mehr vergessen werde. Im nächsten Moment habe ich ihn jedoch vergessen. Das ist die luftige Dynamik: Etwas kommt und geht, rein und raus. Es verflüchtigt sich, auch wenn es noch so konzentriert wirkt.

Zur Unterscheidung von einer Intuition:

Eine Intuition kann zwar auch in Form von Gedanken- oder Erinnerungsbildern auftreten oder auch als plötzliche Vorstellung, ist aber grundsätzlich etwas anderes als ein Einfall. Jemand, der vorhat sich umzubringen, tut es wahrscheinlich nicht, wenn im letzten Moment das Bild eines geliebten Menschen auftaucht. Plötzlich tritt etwas aus unserem gesamten Gedankenpool, aus dem, was man sich bereits angeeignet hat, vor das innere Auge. Eine Intuition kommt nicht von außen herein, sie bildet sich aus dem, was man bereits hat. Sie hat deshalb eine andere Qualität als ein Einfall, der aus dem ohne Willensbeeinflussung stattfindenden freien Gedankenfluss auftaucht. Auf Intuitionen kann man sich willentlich vorbereiten – die Intuition ist deshalb der Willensaspekt des Denkens.

4. Wärme – Ideale

Wärme im Denken hat mit Idealen zu tun. Unabhängig davon, welche Ideale man hat, ihnen allen gemeinsam ist die Wärmequalität, die das ganze Seelen- und Geistesleben erwärmt und an­regt. Ideale sind Gedanken, deren Sinn paradoxerweise nicht mehr im Bereich des Denkens selbst liegt, sondern in dem Willen, sie zu realisieren. Nur dadurch werden es tatsächlich Ideale. Daher kann man an ihnen die spirituelle Natur des Denkens am besten erkennen. Denn der Mensch wird zu dem, wonach er idealistisch strebt. Er verwandelt sich und seine Umwelt vermöge seiner Ideale. Sie – obgleich oberflächlich gesehen „nur" Gedanken – erweisen sich als das Leben und die Arbeit beherrschende geistige Kräfte.

Man braucht nicht viele Ideale: Wenn man nur ein oder zwei Ideale im Leben hat, werfen sie Licht und Wärme auf das ganze Leben, so wie Licht und Wärme ein Zentrum haben, von dem sie ausstrahlen.

Alle Gedanken, so intelligent sie auch sein mögen, setzen sich aus diesen vier Elementen zusammen.

Zeitliche Dimension der vier Denkarten

Zeitlich gesehen können Vorstellungen veralten. Was heute sichtbar und damit vorstellbar war, kann morgen schon verschwinden oder als Irrtum erkannt sein. Hingegen können Begriffe nicht veralten. Sie machen vielmehr die gedankenschöpferische Tätigkeit in der Gegenwart aus, in der immer wieder eine neue begriffliche Verarbeitung des Wahrgenommenen und Vorgestellten stattfindet.

Neues, Zukünftiges, Werdendes hingegen kommt erst durch Ideen und Ideale in das Denken herein. Das Gedankenleben umfasst und integriert somit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es entspricht der Zeitstruktur lebendiger Wesen. Denn ihre Art zu werden und zu vergehen, zu sterben und geboren zu werden, macht das Fundament der Lebensgesetzlichkeit aus.

Vgl. Ausführungen in einer Arbeitsgruppe an der JK Sept. 2007


[1] Neues Testament, Joh. 3, 8: „Der Wind weht wo er will. Du hörst sein Sausen, weißt aber nicht woher er kommt und wohin er geht. So ist jeder, der aus dem Geist geboren ist.“

BILDERDENKEN, DIALEKTISCHES UND IDEALISTISCHES DENKEN

Welchen Kräften verdanken wir die verschiedenen Arten zu denken?

Inwiefern sind unsere Wesensglieder daran beteiligt?

Denken dank Metamorphose der Wesensglieder

Die Wesensglieder sind einerseits an der Leib- bzw. Organbildung und andererseits, wenn sie leibfrei geworden sind, an der Bildung seelisch-geistiger Organe bzw. Kompetenzen beteiligt. Die Metamorphose der Formkräfte des Ätherleibes, die auch Gestaltungs- bzw. Bildekräfte genannt werden, der differenzierenden Kräfte des Astralleibes und der Integrationskräfte der Ich-Organisation stellt im Zuge der Entwicklung einen kontinuierlichen Prozess dar. Spannend ist, dass die Art des Wirkens der Wesensglieder auf körperlicher Ebene sich auf seelisch-geistiger Ebene deutlich erkennbar widerspiegelt.

· Bilderdenken durch freiwerdende Formkräfte

Dieser Zusammenhang wird für Eltern gut nachvollziehbar, wenn man sie darauf hinweist, dass nach der Formung des Leibes und der Organe im 1. Jahrsiebt die Kinder in Bildern, also Bildformen, denken.

· Dialektisches Denken durch freiwerdende Differenzierungskräfte

Entsprechend kommt das am Ende des 2. Jahrsiebts typische dialektische Denken dadurch zustande, dass die differenzierenden Kräfte nach der Ausreifung von Atmungs- und Kreislaufsystem im 15., maximal 16. Lebensjahr bzw. nach Erreichung der Geschlechtsreife leibfrei werden. Jetzt bildet sich die Fähigkeit aus, alles als Gegensätze sehen zu können. Der Hang zur Dialektik zeigt sich darin, dass der Erwachsene das eine sagt und der Heranwachsende das andere.

· Idealistisches Denken durch freiwerdende Integrationskräfte

Diesem Reifungsschritt folgt das idealistische Denken, das dem leibfrei Werden der integrierenden Kräfte aus Stoffwechsel-Gliedmaßen-System im 3. Jahrsiebt zu verdanken ist: Der junge Mensch ist jetzt in der Lage, eigenständig zu denken, sprich: geistig auf eigenen Füßen zu stehen, weil die entsprechenden Kräfte aus seinem fertig ausgebildeten Gliedmaßensystem leibfrei geworden sind. Die Kräfte, die der Brennwärme des Stoffwechsels entspringen, werden jetzt zur Brennwärme des Idealismus.

Und so kann man für die Funktion jedes physischen Organs die entsprechende Funktion im Seelisch-Geistigen finden und so den Zusammenhang mit den Wesensgliedern erkennen, wie sie jeweils leibbildend, seelenbildend und geisttragend wirken.

Vgl. Vortrag über Wesensglieder auf der Schulärztetagung 2016

ZEITLICH-ÜBERZEITLICHES DENKVERMÖGEN

Inwiefern ist das Denken der Zeit unterworfen?

Was macht die überzeitliche Qualität des Denkens aus?

Denken als Gestalter der Zeit

Denken verläuft in der Zeit, hat aber gleichzeitig aufgrund seiner Natur einen überzeitlichen Aspekt, den man auch als das Ewige im Menschen bezeichnen kann.

· Nachdenken und Vergangenheit

Wenn wir von Denken sprechen, gibt es zunächst die Mög­lichkeit des Nachdenkens. Man denkt mit oder nach, über was man selbst oder ein ande­rer bereits gedacht hat. Das gilt auch für das gesamte Wissen über die Natur. Denn die Natur ist bereits da. Wir finden sie vor und benützen unser Den­ken dazu, sie zu verstehen, darüber nachzudenken, wie sie zu dem geworden ist, was wir sehen können, welche Gesetzmäßigkeiten in ihr wirken und wie sich das Vorhandene aufgrund dieser Gesetzmäßig­keiten weiterentwickeln lässt.

· Vorausdenken und Zukunft

Mit der Frage nach der Weiterent­wicklung stoßen wir schon an die Grenze zum Vorausdenken. Durch Vorausdenken können wir nicht nur in Fortset­zung des Nachdenkens Vorstellungen im Sinne einer Konsequenz für die Zukunft entwickeln, sondern wir können ganz neu und schöpferisch vorausdenken. Eine Mutter kann z.B. morgens bei der Hausarbeit plötzlich einen Einfall haben, wo die Familie im Som­mer in den Ferien hinfahren könnte. Sie erkundigt sich hinsichtlich der Mög­lichkeiten und kann so im Februar die Voraussetzungen für einen Sommerurlaub schaffen, der sich erst im August verwirklichen soll und der nur durch Vorausdenken zustande gekommen ist.

Denkrichtung und Lebensalter

Tendenziell ist es so, dass ältere Menschen mehr im Nachdenken leben, wogegen Jugendliche mit ihrem stark von Wün­schen getragenen Bewusstsein in der Zukunft zu Hause sind. In der Mitte des Lebens ist das Interesse an Vergangenheit und Zukunft oft gleich groß. Das menschliche Denken umfasst also nicht nur das geistig Wirksame bzw. Gesetzmäßige in der unbelebten, belebten und beseelten Na­tur, sondern es erweist sich auch als Gestalter und Meister der Zeit

  • im Nachdenken über das, was in fernster Vergangenheit einmal ange­fangen hat
  • und im Vorausdenken, was in späterer Zukunft vielleicht ein­mal kommen kann.

Beides ist als Möglichkeit im Denken veranlagt, das gewaltige Zeiträume umspannen und in die Gegenwart hereinholen kann, um angemessene Entscheidungen in der Gegenwart treffen zu können.

· Meditation und ewiges Jetzt

In seiner überzeitlichen Dimension zeigt sich das Denken, wenn man begreift, dass das Gedankenleben und das Körperleben beide den ätherischen Kräften zu verdanken sind, die, wenn sie leibfrei werden unser Denken ermöglichen. Sie sind Grundlage jeglicher geistigen Tätigkeit und somit das Ewige im Menschen, wie Steiner es nannte. In der Meditation über Begriffe und Ideale, aber auch über die Natur des Denkens gehen wir bewusst mit dieser Qualität um.

Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart

WAHRHEIT ALS GRUNDLAGE FÜR KÖRPERAUFBAU UND DENKEN

Inwiefern liegt Wahrheit unserem Denken und unserer Leiblichkeit zugrunde?

Wahres denken – aus Liebe handeln

Es gibt nichts in der Welt, worüber wir nicht nachdenken könnten. Die Welt, wie sie ist, kann in allen Einzelheiten bedacht und nach und nach verstanden werden. Dabei kann uns auf bestürzende Weise bewusstwerden, dass unser Denken bzw. unser Denkvermögen an sich auch „wahr“ ist, da es der Träger aller Gedanken und Gesetzmäßigkeiten ist, denen die Einzelheiten der Sinneswelt entsprechen. Dennoch ist das bloß Gedachte für uns noch nicht wahr, solange wir nicht aktiv die Beziehung zur Sinneswirklichkeit oder zu dem, worauf das Denken sich bezieht, hergestellt haben. Gelingt es, eine Übereinstimmung zwischen Gedanken und Wirklichkeit herzustellen, können wir die betreffende Wahrheit nicht nur denken, sondern auch empfinden und, wo möglich, realisieren. Es ist eine große Illusion zu meinen, es wäre schon genug, eine Wahrheit nur zu denken.

Gesellt sich zu dem, was als wahr erkannt wurde, nicht die Liebe zur Wahrheit, ist man nicht in der Lage, mit ihr im Leben und damit in der Welt des Handelns – also auf dem Boden der Wirklichkeit – so umzugehen, wie es dem Wesen der erkannten Wahrheit entspricht. Wie verletzend kann eine lieblos ausgesprochene Wahrheit für unsere Mitmenschen sein! Sie kann Kränkung bedeuten für das ganze Leben. Wird sie hingegen im rechten Augenblick und mit dem gebotenen Taktgefühl ausgesprochen, kann sie helfen, dass der andere seine Beziehung – zur Arbeit oder zu einem Menschen – neugestalten kann. Geht man mit der Wahrheit nicht in heilsamer, gesunder Weise um, wird man ihr nicht gerecht. Man läuft dann Gefahr, sie zu missbrauchen und in den Dienst persönlicher Neigungen zu stellen, indem man z.B. jemanden kritisiert, ohne sich zu vergegenwärtigen, was man damit bewirkt.

Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gesundheit

Rudolf Steiner hat deshalb im pädagogischen Zusammenhang immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Begriffe „wahr“ und „falsch“ heute ersetzt werden müssen durch „gesund“ und „krank“. So wie Irrtum und Lüge Behinderung und Unordnung bedeuten, so ist Wahrheit gleichbedeutend mit Einklang, Zusammenhang, Beziehung, Integration und Gesundheit.

Der Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gesundheit – und damit auch zwischen dem Denken und dem menschlichen Organismus – geht jedoch noch tiefer. In seinem gemeinsam mit der Ärztin Dr. med. Ita Wegman verfassten Buch „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“[1] führt Rudolf Steiner aus, dass das Denken dem Kraftsystem entspringt, nach dessen Gesetzen der menschliche Organismus aufgebaut ist. Nach Vollendung des Aufbaus wird ein Großteil dieser Kräfte aus dem Körper entlassen für das freie Gedankenspiel. Im Körper werden nur die Kräfte belassen, die zur lebenslangen Regeneration und Selbstheilungstätigkeit nötig sind.[2]

Schöpferisches Potential des Denkens

Die Denktätigkeit des Menschen nicht nur als schattenhafte Reflexion anzusehen, sondern als schaffende Bildekraft der Evolution, ändert schlagartig unser Verhältnis zu dieser Welt. Eine neue Dimension der Verantwortlichkeit tut sich auf, wenn uns bewusstwird, dass die Kräfte und Gesetze, die der Schöpfung zugrunde liegen, in Form des menschlichen Denkens auch uns in die Hand gegeben wurden. Durch unsere geistigen Möglichkeiten geht die Schöpfung weiter. Wir gestalten sie verantwortlich mit, indem wir Gedanken in Wirklichkeit umsetzen.

So wie am menschlichen Organismus alle Naturgesetze in irgendeiner Form mitwirken und nahezu alle Stoffe, die auf der Erde vorkommen – zumindest in Spuren – an seinem Aufbau beteiligt sind, so finden wir auf der Gedankenebene dieses weltumspannende Zusammenspiel von Gesetzmäßigkeiten entsprechend wieder.

Leiblichkeit, Kunst und Religion

Wir finden die Gesetze, die den verschiedenen künstlerischen Disziplinen zugrunde liegen, aber auch im Aufbau des Leibes wieder: Unserem Leib liegt Architektur zugrunde, er ist eine Plastik, folgt einer Komposition, hat Farbe, einen mimischen Ausdruck, „Körpersprache“ und kann sich in Tanz und Eurythmie bewegen. All diese Gesetzmäßigkeiten tragen wir selbstverständlich auch in unserem Denken, wodurch Kunsterkenntnis und Kunstverstehen überhaupt erst möglich sind.

Unser Leib ist aber auch nach moralisch-religiösen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut, was mit dem Wort aus dem Alten Testament angedeutet wird: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bild.“ Wir können das Studium der Bildnatur des Leibes als Weg zur Gotteserkenntnis entdecken.[3] Wer den menschlichen Leib als Bild zu sich sprechen lässt, begegnet der Göttlichkeit des Menschen – dem reinsten Ideal der Menschlichkeit, das sich in Bau und Funktion des menschlichen Körpers ein physisches Abbild geschaffen hat: Die Menschengestalt hat den Kopf im wahrsten Sinne des Wortes oben und alle anderen Bereiche, auch Herz und Hand sowie die inneren Organe, die Fortpflanzungsorgane, die Beine und Füße sind diesem Kopf sichtbar untergeordnet bzw. unterstellt. Wohin die Füße den Menschen tragen, wie er mit seinen Fortpflanzungskräften umgeht, was er sich von seinem Herzen sagen lässt, all das bedarf der klärenden und ordnenden „Weisung von oben“.

Denken als Orientierungshilfe

Wer nur seinem Herzen folgt oder seinen sexuellen Neigungen oder sich vom Leben hierhin und dorthin treiben lässt, widerspricht durch sein Handeln der Bildnatur seines Leibes, die davon spricht, dass das Erkenntnisleben, das Denken, dem Herzen, der Hand und dem Fuß Perspektive und Orientierung geben muss. Die Hand des Menschen ist so geformt, dass man ihr nicht ansehen kann, ob sie im nächsten Augenblick streicheln oder schlagen wird. Die Motive für den Gebrauch der Hand können nur gedanklich gefasst und klar erkannt werden.

Das Bild des menschlichen Körpers zeigt, dass darin ein Wesen lebt, das veranlagt ist, seinen Weg zu gehen, selbst die Wahrheit zu suchen und im Denken seine Orientierung, sein inneres bewusstes Lebenselement zu finden. Das macht deutlich, nach welchem Gottesbild der menschliche Körper geformt ist: nach der Christuswesenheit, die von sich sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“[4], und die durch ihre Inkarnation in einem menschlichen Leib diesen als Gottes Ebenbild in der Realität mit der Anwesenheit Gottes erfüllt hat. Damit ist das Zukunftsziel des Menschen für uns real geworden und kann nun als mögliche Wirklichkeit für unsere Selbstverwirklichung gesucht werden. Auf diesem Wege sind Lüge und Irrtum weckende Begleiter.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 4. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997


[1] Rudolf Steiner/Ita Wegman: Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, 1925, neueste Aufl. 2000, S. 12 f.

[2] Nähere Ausführungen hierzu in: Michaela Glöckler, Elternsprechstunde, 8. Aufl. Stuttgart 2008; Glöckler, M.: Elternfragen heute. 2. Aufl. Stuttgart 1995.

[3] Vgl. Michaela Glöckler, Elternfragen heute, 2. Aufl. Stuttgart 1995, S. 121 ff.

[4] Neues Testament, Johannes 14, 6.

DENKEN ALS BRÜCKE ZWISCHEN DER SINNESWELT UND DER WELT DES GEISTIGEN

Inwiefern kann das Denken die Kluft zwischen der Sinneswelt und dem Geistigen überbrücken?

Die Kraft gerichteter Aufmerksamkeit

John Eccles hat in seinem Buch „Wie das Selbst sein Gehirn steuert“[1] herausgearbeitet, in wie hohem Maß durch die Kraft der gerichteten Aufmerksamkeit, die das Ich den Dingen und Vorgängen mithilfe des bewussten Denkens zuwendet, das Gehirn erst zu seinen Leistungen angeregt wird. Die lebenslange Plastizität des menschlichen Gehirns, das heißt die Möglichkeit, das Gehirn in seinen Feinstrukturen bis ins höchste Alter verändern zu können und immer wieder neue Vernetzungsstrukturen zu veranlagen und zu benützen, ist eine Folge dieser nur beim Menschen vorhandenen Denkfähigkeit und der vom Denken gelenkten und kontrollierten Lernprozesse und Handlungsabläufe.

Dem menschlichen Denken sind alle Gesetzmäßigkeiten zugänglich, die den Dingen, der Natur und den Naturwesen, aber auch der vom Menschen geschaffenen Technik zugrunde liegen. Z.B. zeigt sich das Gesetz des freien Falls an jedem Körper, der fällt – es beherrscht ihn, ist in ihm „drin“, an ihm wirksam. Der Mensch kann dieses Gesetz denken, auch wenn es gerade bei ihm nicht wirksam bzw. in Aktion ist. Denn in der menschlichen Denkfähigkeit ist die gesamte Weisheit der Natur enthalten, die Gesetze, nach denen Minerale sich bilden und zerfallen, nach denen Erde und Kosmos verbunden sind, nach denen sich die Verinnerlichung äußerer Eindrücke vollzieht. All das kann man sich durch bewusste Seelentätigkeit zugänglich machen.

Schöpferisch durch außerkörperliche Kompetenz

Der Mensch kann diese Weisheit in abstrakter, das heißt von dem „Drin-Sein“ in den Naturvorgängen befreiter Form als Denken betätigen. Die außerkörperlich wirksame Natur des Denkens gibt uns die Möglichkeit, in freier Weise die sonst zwingend wirksamen Naturgesetze zu handhaben, spielerisch mit ihnen umzugehen, sie auch neu zu kombinieren und damit originell und schöpferisch tätig zu sein. Ja, mehr noch: Sie ermöglicht dem Menschen ein selbstbewusstes, rein geistiges Leben, die Erfahrung, ein selbstbestimmt lebender „freier Geist“ zu sein.

So gesehen erweist sich das Denken tatsächlich als Brücke „über den Strom“, der rein Geistiges von natürlichen, den Sinnen wahrnehmbaren Dingen trennt. Denn die allem materiellen Dasein innewohnende Gesetzmäßigkeit kann im menschlichen Denken durch rein geistige Tätigkeit als Gesetz erkannt werden. Über das Denken, das Geistesleben des Menschen, haben wir Zugang zu der die Materie beherrschenden Weisheit. So ist es berechtigt, das Wort „Geist“ im engeren Sinne für den von der Wirksamkeit in den Naturerscheinungen losgelösten Menschengeist zu benutzen. Es ist aber auch gerechtfertigt, im weiteren Sinne vom Geist in der Natur zu sprechen.

Denken als übersinnliche geistige Realität begreifen

Damit ist der Weg frei, im Denken eine übersinnliche – eben nur dem Denken selbst zugängliche – geistige Realität zu sehen. Gedanken als Bilder, Imaginationen, und geistige Gesetze sind Zugänge zu übersinnlichen Wesen und Vorgängen, die sich im Denken ebenso darstellen lassen wie Sinnlich-Gegebenes.

Wird uns im Nachdenken über das Denken bewusst, dass wir im Denken die sinnliche Welt verlassen können und von zwei Seiten her Botschaften empfangen – von der sinnlichen und von der geistig wesenhaften Seite, so erleben wir die Denktätigkeit als Brücke zwischen den zwei Welten. Das Denkvermögen selbst ist übersinnlicher Natur, durchdringt und versteht aber auch die Naturgesetze und damit alles sinnlich gegebene Dasein. Wird das Denken in seiner geistigen Natur erlebt, können auch meditative Wege beschritten werden, auf denen es möglich wird, das dem Denken innewohnende rein Geistig-Wesenhafte zu erfassen.

Der Gedanke des Ich kann hierbei richtungweisend sein. Denn bei ihm erleben wir genau, wie „dünn“ zunächst der bloße Gedanke des Ich ist gegenüber unserer komplexen sinnlichen Körpererfahrung. Durch Schulung unserer Aufmerksamkeit und unseres Denkvermögens können wir jedoch lernen, dessen leibfreie Natur zu erkennen und bewusst weiterzuentwickeln. Im Gedanken des Ich können wir die körperlose spirituelle Kompetenz unseres Wesens ebenso erfahren und verstehen lernen wie unsere naturgegebene körperliche Konstitution.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 3. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004


[1] John Eccles, Wie das Selbst sein Gehirn steuert, München 1996.

FRAGEN ZUM THEMA EINFLUSS DES DENKENS AUF DIE GESUNDHEIT

FRAGE: Wie kommt es, dass man gerade heute so viele müde und verhärmte alte Menschen trifft, wo es doch eigentlich mit der geisti­gen Kraft aufwärts gehen sollte?

ANTWORT: Ich möchte diese Frage am Beispiel einer Patientin er­läutern, bei der ich besonders gut wahrnehmen konnte, wie schwer ihr das Altwerden gefallen ist, nachdem sie das 75. Lebensjahr überschritten hatte. Sie war ein geistig sehr aktiver Mensch und verfiel dennoch in den letzten Le­bensjahren zunehmend in eine gewisse geistige Starre, die es ihr erschwerte, mit anderen Menschen Kontakte zu pflegen. Sie wurde ängstlich und argwöhnisch, und man sah, wie die Verhärtungs- und Sklerotisierungsprozesse des Alters so überhandnah­men, dass sie ihr bewusstes Gedankenleben stark beeinflussten

Sie hatte als junges Mädchen die Anthroposophie kennengelernt und seither unablässig an ihrer inneren Entwicklung gearbeitet und führte äußerlich ein erfolgreiches und tüchtiges Berufsleben. Ihr Mann war früh verstorben, sie war ganz auf sich angewiesen. In ihrer frühen Kindheit hatte sie sehr unter einem extrem strengen Vater zu leiden gehabt und war in der Situation, als ältestes von jüngeren Geschwistern viel zu Hause helfen und bis in die Nacht hinein arbeiten zu müssen.

Sie ist für mich ein typisches Beispiel dafür, wie gerade in der frühen Kindheit, in der das Nervensystem sich aufbaut, Schäden veranlagt werden können, die sich dann in stärkeren Abbauerscheinungen im späteren Alter widerspiegeln. Aufgrund ihrer erschwerten Kindheits- und Jugendentwicklung wären Erkrankungen im Alter schon früher zu erwarten gewesen. Durch ihr sehr aktives Innenleben jedoch war sie weitgehend in der Lage, diesen schwächenden Einflüssen entgegenzuwirken.

Hier liegt für mein Empfinden eine der wichtigsten Aufgaben einer zu­kunftsorientierten Erziehung, die nicht nur den Augenblickserfolg, sondern die ganze Biographie ins Auge fasst: durch die Pflege der Wachstumskräfte in der Kindheit solchen Alterungsvorgängen vor­zubeugen. Der Grund, warum es so viele Menschen gibt, die im Alter in bedauerliche Lebensumstände geraten, liegt zum einen in den unzureichenden Entwicklungs- und Erziehungsbedin­gungen unserer Zeit. Zum anderen ist die mangelhaften Aktivierung der seelisch-geistigen schöpferischen Kräfte daran schuld, die in einer durch den Materialismus geprägten Kultur zu wenig angesprochen und gepflegt werden.

FRAGE: Welche Möglichkeiten gibt es im späteren Leben, den durch zu frühes intellektuelles Trai­ning zu erwartenden Schäden vorzubeugen, indem Wachstumskräfte in der Kindheit übermäßig in Denkkräfte umgewandelt wurden?

ANTWORT: Korrekturmöglichkeiten liegen immer in den Lernthemen, die für ein bestimmtes Lebensalter an der Reihe sind. Ist ein achtjähriges Kind z.B. durch überhöhten Fernsehkonsum motorisch ungeschickt, neigt zu Stereotypie in seinen Bewegungen, wiederholt ständig bestimmte Formulierungen und ist unfähig sich länger zu konzentrieren, so hat es keinen Sinn, mit einem solchen Kind die versäumte Kinderentwicklung einfach nur nachholen zu wollen.

Achtjährige brauchen Spaziergänge in der Natur, Bewegungsspiele im Freien, einfache Rätsel, Lernen von Gedichten, die immer wieder neu sprachlich geübt und erarbeitet werden, Zeichnen von einfachen Formen mit der Hand, mit dem Fuß, mit immer anderen Farben, das Malen von Bildern zu gehörten Geschichten, einfache musikalische Übungen an einem Instrument und in Form von Singen. All das sind altersent­sprechende Lernfelder, die fordert das Kind in seiner Lerndisposition herausfordern und gleichzeitig eine Beziehung zwischen Lehrer und Kind aufbauen helfen. Erst auf dieser Grundlage kann manches aus der Kleinkindentwicklung altersgemäß angepasst nachgeholt werden.

Im Erwachsenenalter lässt sich durch Arbeit an sich selbst auch noch manches nachholen. Denn jedes Alter hat seine altersspezifische Lerndisposition, weshalb wir lebenslang die Möglichkeit haben, Versäumtes bis zu einem gewissen Grad nach­zuholen, indem wir eigenaktiv seelisch-geistig heilsam auf den Leib einwirken.

FRAGE:  Gibt es auch eine intellektuelle Unterforderung in der Kindheit?

ANTWORT: Es gibt natürlich auch das Problem der Unterforde­rung. Wenn Wachstumskräfte brachliegen und nicht alters­entsprechend angespannt und genützt werden, so werden dadurch möglicherweise Schädigungen für das spätere Leben veranlagt. Wachstumskräfte, die vom Organismus nicht mehr gebraucht werden und nicht rechtzeitig in Gedankenprozesse übergeführt werden, verbleiben tendenziell beim Organismus und können hier zu Krankheitsdispositionen führen, wie es Rudolf Steiner verschiedentlich beschrieben hat. Durch den Krankheitsprozess betätigen sich diese Kräfte wiederum organisch, an­statt in Gedankenkräfte umgewandelt zu werden. An­stelle geistiger Neuschöpfungen durch Gedankenarbeit entsteht jetzt eine Geschwulst. Auch hier hilft die künstlerische Tätigkeit im späte­ren Leben, solche Schäden wieder auszugleichen. Denn im künstleri­schen Schaffen werden die schöpferischen Kräfte ergriffen und die Metamorphose der Wachstumskräfte in Gedankenkräfte wird stimuliert.

An den öffentlichen Schulen kommt es zudem häufig zu einer Unterfor­derung anderer Art. Intellektuell sind die Kinder zwar eher überfordert, im künstlerischen Bereich sind sie jedoch fast alle unterfordert. Dies verhindert ebenfalls, dass sich alle Wachstumskräfte in Gedankenkräfte umwandeln können. Denn in der einseitigen intellektuellen Inanspruchnahme werden nur be­stimmte Wachstumskräfte in Gedankenkräfte verwandelt und zum Denken benützt. Diejenigen Denkkräfte aber, die mit dem Phantasieleben und den schöpferischen Gestaltungsmöglichkeiten zusammenhängen, werden brachliegen gelassen.

Würde man auf diesem Felde gewissenhafte Studien durchführen, würden die Ergebnisse nahelegen, dass unsere Erziehungs- und Bildungssysteme grundlegender Veränderungen bedürfen, wenn wir als Menschheit auch im vorgerückten Alter schöpferisch und gesund bleiben wollen. Hierzu möchte die Waldorfpädagogik einen Beitrag leisten.

Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart